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Glück und Moral
ОглавлениеDas Streben nach Glück gilt nicht erst seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika als „unveräußerliches Recht“ der Menschen. Vielmehr bestimmt bereits Aristoteles die Glückseligkeit als oberstes moralisches Ziel menschlichen Strebens, „denn diese suchen wir stets wegen ihrer selbst und niemals wegen eines anderen“.1 Das bedeutet freilich nicht, dass der Zusammenhang zwischen Glück und Moral außer Frage steht, zumal die Menschen – wie auch Aristoteles betont – darüber streiten, „was […] die Glückseligkeit sei“.2 Dieses Problem gründet wohl nicht nur darin, dass wir uns subjektiv alle etwas anderes unter Glück bzw. Glückseligkeit sowie unter Moral vorstellen; vielmehr liegt es auch am Umstand, dass wir die Ausdrücke „Glück“ und „Moral“ vieldeutig verwenden.
Von Glück reden
Die Bedeutungsvielfalt des Ausdrucks „Glück“ führt uns etwa Mozart im Finale des 2. Aktes der „Zauberflöte“ vor. Dort dürfen Tamino und Pamina vor den letzten Prüfungen zum ersten Mal miteinander sprechen und einander umarmen, worauf sie singen: „O welch ein Glück!“ Dabei geht es zunächst um das Glück, das sie in diesem Augenblick empfinden, aber nicht nur darum: Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass es zu dieser Vereinigung der Liebenden kommt, sondern sie bedürfen auch des Glücks im Sinn bestimmter äußerer Umstände, die (ebenso wie die ihnen zur Hand gegebenen „Zauberdinge“) das Eintreten dieser Situation befördern (oder zumindest nicht verhindern).
Das Glück, von dem Pamina und Tamino singen, umfasst mithin ein subjektives und ein objektives Moment, wobei für den zweiten Aspekt nicht nur zufällige günstige Umstände in Frage kommen, die wir durch unser Handeln nicht oder nur begrenzt beeinflussen können, sondern auch Rahmenbedingungen für unser Handeln, die dieses insofern beschränken, als sie vorherbestimmt sind. So verkündet denn Sarastro am Beginn des 2. Aktes der „Zauberflöte“, die Götter hätten Tamino „das Mädchen Pamina bestimmt“. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, weshalb es der Prüfungen bedarf. Die Vorstellung der schicksalhaften Bestimmung scheint indes für Mozart und Schikaneder nicht die Annahme auszuschließen, dass wir uns dennoch ihrer würdig erweisen müssen und dass wir beim Versuch, ein uns bestimmtes Glück zu erfahren, auch scheitern können. Dieser uns etwas sonderbar anmutende Gedanke lässt sich (zum Teil) dadurch erklären, wie sich die Bedeutung des Wortes „Glück“ entwickelt hat.
Mit „Glück“ war ursprünglich jemandes Schicksal oder der Ausgang einer Sache gemeint; bereits im Mittelhochdeutschen entwickelte sich jedoch eine alternative Verwendungsweise, die den günstigen Verlauf eines Geschehens bezeichnet, insbesondere aber das Gelingen einer zielstrebigen Handlung aufgrund des eigenen Geschicks.3 Im Sinn eines Schicksals, dem wir ausgeliefert sind, kann sich das Glück als gut oder schlecht erweisen. Davon zeugt etwa Petrarcas 1366 verfasste Schrift „De remediis utriusque fortunae“, für deren erste, 1532 erschienene deutsche Ausgabe die Übersetzer Peter Stachel und Georg Spalatin den Titel „Von der Artzney bayder Glück, des gvten vnd widerwertigen“ wählten. Ähnlich übersetzte Stephan Vigilius für seine 1539 veröffentlichte deutsche Fassung des Werkes: „Das Glückbvch, Beydes deß Gvtten und Bösen“. Diese oft nachgedruckte Übersetzung erschien jedoch ab 1572 als „Trostspiegel in Glück und Unglück“.4
Demnach wurde der Begriff des Glücks allmählich auf ein uns geneigtes Schicksal eingeschränkt und dem des Unglücks gegenübergestellt. Diese Bedeutungsverengung beruht wohl darauf, dass sich gleichzeitig die erwähnte Bedeutungserweiterung vollzog, durch die auch das Gelingen unseres Handelns als Glück ins Spiel kam, nicht nur im Sinn eines subjektiven Empfindens, sondern auch eines objektiv feststellbaren Erfolgs, der jedoch nicht (nur) von äußeren Bedingungen abhängt, sondern (auch) von unserem eigenen Geschick. Diese Verbindung von Glück und Erfolg könnte auch auf das Schicksal zurückgewirkt haben, das nur noch im günstigen Fall als Glück angesehen wurde und wird.
Die Vorstellung von Glück als einem guten wie schlechten Schicksal wirkte freilich weiter, und zwar in mehreren Formen, jeweils unter der Annahme, dass wir das, was uns bestimmt ist, weder beeinflussen noch vorhersehen können, weshalb es uns als zufällig erscheint. Zum einen zeigt sich darin der Glaube an eine wankelmütige Gottheit wie Fortuna, die die Gaben ihres Füllhorns „blind“ verteilt, zum anderen der Versuch, Glück als das Wirken einer vernünftigen höheren Macht zu erklären. In diesem Sinn kritisiert etwa Bernard Bolzano den Irrtum vieler Menschen, auch „von solchen, die für Gebildete und Aufgeklärte gelten, […] daß es ein blindes Glück in der Welt gebe, welches die Güter der Erde nach seiner eigensinnigen und wandelbaren Laune austeilt“.5 Glück oder Unglück ist laut Bolzano vielmehr „ein jeder Vorfall, der uns unvorgesehen trifft, den aber Gott immer sehr absichtsvoll und mit genauester Beziehung auf unser eigenes Betragen herbeigeführt hat. Beides, das Glück so wie das Unglück, zielet zu unserm Wohle ab, und ist nur darin unterschieden, dass jenes gleich in der Gegenwart, dieses erst in der Folge süß und erfreulich ist“.6
Dem steht der vermutlich mit dem Aufkommen naturwissenschaftlicher Erklärungen einhergehende Gedanke gegenüber, dass der Verlauf unseres Lebens offen ist und auch durch unvorhersehbare Ereignisse beeinflusst sein kann. Wer keinem religiösen Glauben anhängt, sondern einem wissenschaftlichen Weltbild, wird also im Unterschied zu Bolzano Glücksfälle kaum als „verdiente Belohnung“ für gottgefälliges Handeln oder Schicksalsschläge als „Strafe Gottes“ und als „Erziehungsmittel“ ansehen, das letztlich unserer „Vervollkommnung und Beglückung“ diene. Auch durch Wissenschaft „Gebildete und Aufgeklärte“ können freilich wie Bolzano (obwohl aus anderen Gründen) annehmen, dass wir zumindest bis zu einem gewissen Grad „selbst Herrn des Glückes sind, das uns zu Teil wird“.7
In jedem Fall dürfte dieses Thema die Menschen seit jeher beschäftigt haben. Zur Orientierung in der Welt und zum Selbstverständnis gehört auch die Vorstellung, dass gewisse Sachverhalte ein Glück darstellen. Diese Überlegung liegt allein schon dadurch nahe, dass wir von manchen Dingen des Lebens beglückt sind (während uns andere unglücklich machen). Solche Erfahrungen rechtfertigen freilich noch nicht die Annahme, dass wir schlichtweg selbst Herren des Glücks sind, also allein unser Glück machen können und sollen, ebenso wenig wie die (von Bolzano verworfene) Vorstellung, wir seien bei allen unseren Unternehmungen darauf angewiesen, dass uns das Glück hold ist.
Anscheinend haben die Menschen schon früh die Erfahrung gemacht, dass das, was sie als Glück empfinden, nicht bloß von ihnen selbst abhängt, sondern auch von anderen Gegebenheiten, und sie versuchten zu erklären, wie sie zu ihrem Glück kommen. So bemühten sich etwa die Stoiker der Antike aufgrund der Annahme, dass alle Ereignisse im Kosmos kausal miteinander verknüpft sind, um eine „wissenschaftliche“ Erkundung des Einflusses der Gestirne auf das Schicksal der Menschen. Auch heute noch werden zumindest persönliche Horoskope mit dem Anspruch erstellt, dass sie Erklärungen des bisherigen und Vorhersagen des künftigen Lebens eines Menschen bieten können.
Für „Gebildete und Aufgeklärte“ sind solche Überlegungen reiner Aberglaube. Die „Entzauberung der Welt“, auf welche laut Weber die Aufklärung zielt, führt ja zum Glauben, dass es grundsätzlich „keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte“ gibt, sondern dass die Menschen „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen“ beherrschen können.8 Auch ein in diesem Sinn als wissenschaftlich geltendes Weltbild schließt indes eine „Glücksverheißung“ ein, nämlich die Annahme, dass für uns „im Prinzip“ alles – auch unser Glück – machbar ist und dass dann, wenn wir selbst dazu nicht in der Lage, also unglücklich sind, mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik etwas dagegen bzw. dafür getan werden kann. Zudem wird uns wissenschaftlich erklärt, dass unsere Handlungen nicht auf bewussten Entscheidungen beruhen, sondern durch Hirnprozesse verursacht sind. Demzufolge wäre Glück in Hirnstrukturen verankert – und Unglück ein „Fehler“ in neuronalen Prozessen, der durch die Gabe von Pharmaka überwunden werden kann. Diese Art von Erklärung reduziert nicht nur Glück auf den subjektiven Aspekt des Glücks-Gefühls, sondern bringt auch ebenso wie Bolzanos religiöse Deutung eine „höhere Macht“ ins Spiel, die es sozusagen gut mit uns meint.
Wenn wir unter jener „höheren Macht“ etwas verstehen, das unser Schicksal strikt vorherbestimmt bzw. determiniert, ergeben sich Probleme für die moralische Beurteilung unseres Handelns, weil als notwendige Voraussetzung dafür gilt, dass uns Handlungsalternativen offen stehen, durch die wir eine Situation beeinflussen und ein Ziel erreichen können. Selbst wenn wir eine positive Antwort auf die Frage nach der Willensfreiheit und mithin die Möglichkeit des Handelns voraussetzen,9 sind Aspekte des Glücks im objektiven Sinn zu bedenken, d. h. etwas, worauf wir nicht unbedingt durch das Handeln selbst Einfluss nehmen können. Ehe wir darauf eingehen, müssen wir jedoch das Glück im subjektiven und im objektiven Sinn sowie den entsprechenden Zusammenhang etwas genauer betrachten.
Glück haben und glücklich sein
Wenn wir von Glück reden, so können wir uns auf (objektive oder subjektive) Gegebenheiten beziehen – auf Sachverhalte, die für uns gut sind und unabhängig von unserem Bewusstsein bestehen, oder aber auf ein Gefühl, das wir als gut empfinden. Wenn der Ausdruck „Glück“ derart mehrdeutig verwendet wird (bzw. in anderen Sprachen dementsprechend mehrere Ausdrücke in Gebrauch sind10), so ist das andererseits kein Zufall, sondern dem Umstand geschuldet, dass die subjektive Empfindung von Glück etwas mit den objektiven Gegebenheiten des menschlichen Lebens zu tun hat.
Auf den ersten Blick könnten wir vermuten, dass wir von Glück im subjektiven Sinn sprechen, wenn wir auch objektiv Glück haben, doch so einfach ist es nicht. Die Psychologie unterscheidet vier Möglichkeiten, wie das subjektive Empfinden eines Menschen mit seiner objektiven Situation zusammenhängt, nämlich Wohlergehen, Dissonanz, Adaption und Deprivation:11 Von Wohlergehen ist die Rede, wenn die objektiven Bedingungen ebenso gut sind wie deren subjektive Empfindung. Im Fall der Dissonanz sind zwar die objektiven Bedingungen gut, nicht aber die dazugehörigen subjektiven Empfindungen, während bei der Adaption das subjektive Empfinden trotz schlechter objektiver Bedingungen gut ist. Mit Deprivation ist gemeint, dass die objektiven Lebensbedingungen eines Menschen ebenso schlecht sind wie seine subjektiven Empfindungen.
Selbst wenn wir mit Aristoteles annehmen, dass alle Menschen nach Glück streben, folgt daraus nicht, dass wir in allen Lebenslagen danach streben oder dass wir nur dann vernünftig sind, wenn es uns gelingt, Glück zu empfinden. Ganz im Gegenteil mag die Vernunft „gebieten“, unglücklich zu sein, nämlich dann, wenn unsere objektive Situation so schlecht ist, dass es eigenartig oder sogar dumm wäre, dennoch glücklich zu sein. Das Glücksempfinden hat demnach etwas mit einem angemessenen Verhältnis zwischen der objektiven Situation und unserer subjektiven Einstellung zu tun. Es besteht nicht einfach in einer Beziehung zwischen einem Individuum und einer objektiven Situation; vielmehr schließt es eine Bewertung dieser Situation ein, die das Individuum aus bestimmten Gründen vornimmt. Eine Person kann nämlich auch unglücklich sein, obwohl ihre objektive Situation gut ist, während andererseits jemand auch trotz einer objektiv schlechten Situation relativ glücklich sein mag.
So gesehen liegt es in doppelt subjektivem Sinn an uns, ob wir glücklich sind oder nicht: Einerseits geht es darum, ob wir prinzipiell fähig sind, glücklich zu sein, andererseits darum, ob es uns möglich ist, einen objektiv gegebenen, für uns günstigen Sachverhalt als Glück zu empfinden. Wie wir damit umgehen, hängt u. a. auch vom Verhältnis zwischen dem Maß an Glück, das wir erwarten, und der tatsächlich bestehenden Situation ab. Wie das Märchen „Hans im Glück“ zeigt, kann die sukzessive Verringerung der Erwartungen zur Adaption führen; umgekehrt erzeugen allzu hohe Glückserwartungen eine Dissonanz zwischen der objektiv bestehenden Situation und ihrer subjektiven Bewertung. Mithin ist eine von Odo Marquard empfohlene Strategie bei der Suche nach dem Sinn des Lebens auf unseren Fall übertragbar: So wie laut Marquard eine „Diätetik der Sinnerwartung“ notwendig ist, um mit der Frage nach dem Sinn des Lebens sinnvoll umzugehen,12 bedarf es auch einer Diätetik der Glückserwartung, da allzu hohe Erwartungen einen Mangel an Glücksempfindung zur Folge haben.
Insofern, als es jeweils an uns liegt, wie wir uns zu unserem Leben und den objektiven Gegebenheiten stellen, ist unser Glück nicht nur als Empfindung eine subjektive Angelegenheit, sondern auch mit Bezug darauf, ob wir einen objektiv bestehenden Sachverhalt als gut bewerten. Das bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Glück in einem radikalen Sinn subjektiv ist, dass es also bloß jemandes Belieben überlassen bleibt, ob er glücklich ist oder Glück hat. Zwar liegt es am jeweiligen Subjekt, ob es etwas als wertvoll und als Grund, glücklich zu sein, auffasst, doch ist Glück dadurch noch nicht völlig subjektiv. Vielmehr spielen dabei auch soziale und kulturelle Eindrücke sowie die Erfahrung objektiver Tatsachen eine Rolle. Dies gilt nicht nur für das Glück, sondern ebenso für Hoffnung, Sinn, Vertrauen oder Schönheit. Unsere Einstellungen dazu beruhen auch auf objektiven Tatsachen, dennoch liegt es an uns, ob wir einer anderen Person aufgrund unserer Erfahrung mit ihr trauen, ob wir Hoffnung empfinden oder nicht, ob wir unser Leben als sinnvoll erleben oder nicht und ob wir uns an der Schönheit einer Person, der Natur oder eines Kunstwerks erfreuen.
Gesellschaftliche bzw. kulturelle Faktoren beeinflussen nicht nur unsere subjektive Bewertung objektiver Gegebenheiten, sondern auch unsere Annahmen darüber, ob bzw. in welchem Maß unser subjektives Glücksempfinden von Glück im objektiven Sinn abhängt. Einer Person, die nie irgendeine Form von Glück im objektiven Sinn erfahren hat, ist damit wohl auch nicht das Glück gegeben, Glück im subjektiven Sinn zu erleben; es ist ihr also unmöglich, Glück zu empfinden, bzw. sie ist dazu unfähig. Glücklicherweise erfahren viele Menschen – unbeschadet der Tatsache schlimmer Erlebnisse – zumindest eine gewisse Anzahl von Glücksfällen, was es ihnen erlaubt, Glück zu empfinden, auch wenn eine Situation, in der sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden, für sie ein Unglück bedeuten mag.
Als Menschen sind wir sowohl empfindungsfähige Wesen, die ihren Körper und seine Zustände von innen erleben, als auch reflexionsfähige Wesen, die sich selbst quasi von außen erfahren.13 Als empfindungsfähige Wesen erleben wir nun aber Glück auf emotionale Weise, während wir als reflexive Wesen auch intellektuelle Erfahrungen von Glück machen (nicht zuletzt die, dass es uns gelingt zu verstehen, inwiefern etwas durch Zufall, durch eine wie auch immer zu deutende Schicksalsmacht oder durch unser eigenes Handeln bewirkt wird). Sowohl das innere Erleben als auch die äußere Erfahrung gehören also zur menschlichen Personalität; deshalb wäre es absurd zu sagen, dass eines davon eher das Glück im subjektiven Sinn ausmacht als das andere.
Zum emotionalen Erleben von Glück gehören nicht nur manche Gefühle, deren Gegenwart uns beglückt, sondern auch Bedürfnisse, Wünsche oder Sehnsüchte, deren Erfüllung uns erfreut. Da diese auf vielerlei Gegenstände gerichtet sind, können wir zudem in verschiedenen Hinsichten glücklich sein, zum Beispiel in Bezug auf etwas, das wir (wie Lust oder Reichtum) bekommen können, oder auf etwas, das wir (wie beruflichen Erfolg) erreichen bzw. (wie Kunstwerke oder Theorien) schaffen können; ebenso ist es möglich, dass wir zum Beispiel über bestimmte Seiten der eigenen oder einer anderen Persönlichkeit (wie Intelligenz, Freundlichkeit oder was auch immer) glücklich sind oder aber über Erfahrungen (wie Freundschaft oder Liebe), die wir mit uns selbst oder anderen Wesen machen.14
Die reflexive Erfahrung von Glück schließt ein, dass wir eine gewisse Distanz zu unseren Bedürfnissen, Wünschen, Sehnsüchten, Gefühlen usw. gewinnen und dass wir sie in den größeren Zusammenhang des gesamten Lebens einordnen. Dies mag als Nachteil oder Problem erscheinen, da die Reflexion dem Glücksgefühl scheinbar die Spontaneität nimmt; sofern Reflexion als menschliche Fähigkeit gilt, ist jedoch wohl kaum von einem grundsätzlichen Problem zu sprechen, umso weniger, als die Rolle des emotionalen Erlebens von Glück durch dessen reflexive Erfahrung ja nicht geleugnet oder geschmälert wird.
Nach Ansicht von Nietzsche müssten wir verzweifeln, wenn wir uns bewusst machen, was es heißt zu leben; das Leben schließt nämlich viele schreckliche Erfahrungen ein, die hinzunehmen schwierig ist, und es erscheint letztlich absurd, da der Tod allem menschlichen Streben ein Ende setzt. Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, bietet uns laut Nietzsche jedoch die Kunst, die ein „metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit“ schaffe. Die Beschäftigung mit diesem „Supplement“ versetzt uns in die Lage, unser individuelles Leben in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und so die „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen“, mit denen sich nicht nur „leben lässt“, sondern die wir auch als Glück erfahren können.15
Nicht nur die Kunst hilft uns freilich, sogar angesichts schrecklicher Erfahrungen (wenn auch nicht ihretwegen) Glück zu erfahren. Vielmehr bietet uns etwa ein spielerisches Handeln „auf gut Glück“ eine Möglichkeit, mit eben den Gefahren und Schrecken umzugehen, denen wir uns herausfordernd stellen. Ähnlich wie bei dem von Nietzsche ins Auge gefassten Umgang mit Kunst, setzen wir dabei unser Leben aufs Spiel, d. h. wir distanzieren uns spielerisch von all dem, was unsere physische oder psychische Existenz „in Wirklichkeit“ bedroht, und können uns diese Gefahren dadurch aus mentaler Distanz bewusst zu machen. Eine solche spielerische Distanzierung hilft uns, eine Widerstandskraft zu entwickeln, die uns laut Kant „Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können“16 , und die insofern etwas Beglückendes an sich hat.
Glück reflexiv zu erfahren, bedeutet nicht, danach zu streben, sondern vielmehr, das Leben als solches anzunehmen, einschließlich jener Aspekte, die wir mit unserem Tun nicht beeinflussen können. In Fällen, in denen wir nicht nach Glück im subjektiven Sinn streben, aber doch durch gewisse reflexive Erfahrungen mit Glück erfüllt sind, wird dieses Glück selbst zur objektiven Angelegenheit: In solchen Fällen will ein bestimmtes Subjekt nämlich nicht so sehr glücklich sein; vielmehr widerfährt ihm, dass es glücklich ist. Insofern, als es nicht selbstverständlich ist, dass wir diese Art von Glück erfahren, können wir aber auch sagen, dass dieses Gefühl aus Glück im objektiven Sinn erwächst.
Moral und Glück
Wie der Ausdruck „Glück“ wird auch der Ausdruck „Moral“ in einer Vielfalt von Bedeutungen gebraucht, wobei zwischen deskriptiven und normativen Verwendungsweisen zu unterscheiden ist. Im deskriptiven Sinn kann nahezu Beliebiges unter Moral verstanden werden, das Maximieren von Profit ebenso wie das Schaffen schöner Gegebenheiten, das Erfüllen von Gottes Willen usw. Eine Handlung ist so gesehen „moralisch richtig“, wenn sie gemäß einer vorausgesetzten Norm bzw. Regel erfolgt; wenn ich zum Beispiel ausschließlich meinen Vorteil maximiere, so handle ich in diesem Sinn ebenso „moralisch richtig“, als wenn ich an nichts anderes denke als an das Wohlergehen anderer, wenn es mir um die strikte Befolgung von irgend jemandes Willen geht usw. Der einzige Unterschied besteht darin, dass mein Handeln jeweils durch eine andere „Moral“ bestimmt ist.17
Wenn in diesem Sinn von „Moral“ die Rede ist, geht es (etymologisch gesehen korrekt) um die von Menschen de facto gepflegten Sitten. Auch die philosophische Ethik geht von einer Beschreibung dieser Sitten aus, kann jedoch nicht dabei stehen bleiben, da in diesem Sinn prinzipiell jede Verhaltensregel als „Moral“ gelten kann. Um bestimmte Formen des Handelns und Urteilens von anderen Verhaltensweisen normativ als Moral im Sinn der Sittlichkeit abzugrenzen, müssen wir gewisse Minimalbedingungen voraussetzen, etwa die von Richard M. Hare eingeführten Bedingungen der Präskriptivität und der Universalisierbarkeit von Normen,18 durch die im Wesentlichen Folgendes verlangt wird:
1 Eine Norm n ist präskriptiv genau dann, wenn eine Person x dadurch, dass x die Norm n anerkennt, auf bestimmte Handlungen festgelegt wird, die n vorschreibt.
2 Eine Norm n ist universalisierbar genau dann, wenn gilt: Wenn zufolge der Norm n ein Gegenstand x (eine Handlung, ein Mensch usw.) einen bestimmten moralischen Status hat, so haben n zufolge alle Gegenstände, die x in relevanter Hinsicht gleich sind, denselben moralischen Status.
Würde die Ethik diese Bedingungen nicht voraussetzen, so hätte dies gravierende Konsequenzen: Wenn wir etwa auf die Bedingung der Präskriptivität verzichten, lassen wir die Möglichkeit zu, dass jemand beliebig handelt, dabei aber beanspruchen darf, eine bestimmte moralische Norm zu befolgen. Und ohne die Bedingung der Universalisierbarkeit besteht die Möglichkeit, dass identische Fälle moralisch gegensätzlich beurteilt werden, dass ich also zum Beispiel für mich selbst in bestimmter Hinsicht ein Recht in Anspruch nehme, das ich zugleich jemand anderem abspreche, obwohl alle relevanten Umstände für uns beide gleich sind. Wenn Moral im Sinn der Sittlichkeit jene beiden Bedingungen voraussetzt, so folgt daraus, dass wir nur solche moralischen Normen rational vertreten können, denen zufolge Gleiches gleich behandelt wird. Wer sie ablehnt, hat nach Ansicht von Hare nicht verstanden, was Moral ist, d. h. Moral in einem bestimmten, normativen Sinn.19
Wer moralisch handeln will, muss demnach auch die Folgen in Kauf nehmen, die sich daraus ergeben. Der Anspruch, moralisch zu sein, ist also mit „Kosten“ verbunden. Dies gilt zwar etwa auch für Wissenschaft und Technik: Wer zum Beispiel beansprucht, im Rahmen einer technischen Disziplin tätig zu sein, hat nicht die Freiheit, beliebig zu handeln; vielmehr ist er verpflichtet, bestimmte methodische und andere Standards einzuhalten. Während wir dies zu akzeptieren geneigt sind, scheuen wir anscheinend die „Kosten“, mit denen moralisches Handeln im normativen Sinn einhergeht, insbesondere die Forderung, dass wir dabei (und bei moralischen Urteilen über Handlungen) alle Sachverhalte gleich behandeln sollen, die in der für die Beurteilung relevanten Hinsicht gleich sind.
Was hat Moral im normativen Sinn mit Glück zu tun? Zunächst sieht es so aus, als ob wir uns für eines von beiden entscheiden müssen, da die Forderung, alle von unserem Handeln Betroffenen in gleicher Hinsicht gleich zu behandeln, dem individuellen Streben nach Glück zu widersprechen scheint. Aber sehen wir uns die Sache genauer an.
Objektives Glück als Voraussetzung moralischen Handelns
Um moralische Ansprüche an jemanden rechtfertigen zu können, ist es u. a. notwendig, dass er oder sie über Handlungsmacht verfügt, d. h., es muss einer Person x möglich sein, einen Sachverhalt p (von dem sich die Frage stellt, ob x dafür verantwortlich ist) mit einer Handlung h kausal zu beeinflussen, also zwischen mindestens zwei Alternativen (dem Vollziehen oder Unterlassen einer Handlung h) zu wählen, wobei für mindestens eine dieser Alternativen gilt, dass x durch ihre Wahl eine gegebene Situation beeinflussen kann.20
Im subjektiven Sinn ist diese Bedingung zum Beispiel nicht erfüllt, wenn jemand aufgrund eines inneren Zwangs (wie etwa einer Neurose) nicht anders kann, als eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Im objektiven Sinn ist jemand nicht verantwortlich für eine Handlung, wenn ihm in einer gegebenen Situation wegen eines äußeren Zwangs (wie zum Beispiel der Bedrohung seines Lebens oder des Lebens eines nahestehenden Wesens) nichts anderes bleibt, als eine bestimmte Handlung zu vollziehen, oder wenn sich keine Alternative eröffnet, durch die eine Situation beeinflusst werden könnte. Wenn etwa bei einem Flugzeug alle Steuerinstrumente ausfallen, sodass der Pilot keine Möglichkeit mehr hat, den Flug zu beeinflussen, so ist er für einen Absturz und dessen Konsequenzen nicht verantwortlich zu machen.
So eigenartig die Annahme erscheinen mag, jemand habe Glück, wenn er aufgrund äußerer Umstände in die Lage kommt, so zu handeln, dass sein Handeln zum Gegenstand moralischer Urteile wird, können wir uns doch vorstellen, dass wir in einer bestimmten Situation glücklich wären, wenn wir die Möglichkeit hätten, diese durch unser Handeln zu beeinflussen, statt dass uns nichts anderes bleibt als wirkungslose Körperbewegungen. In diesem Sinn sind wir auf das Glück angewiesen, dass wir in einer bestimmten Situation überhaupt handeln bzw. wirksam eingreifen können. Dabei geht es gar nicht unbedingt um moralische Absichten, die wir beim Handeln verfolgen, oder um moralische Urteile über unser Handeln, sondern um die Möglichkeit des Handelns im Allgemeinen; freilich gilt die Überlegung auch für Handlungen, die als moralische intendiert sind und beurteilt werden.
Weitere Gesichtspunkte kommen ins Spiel, wenn wir das Moralische am Handeln genauer betrachten. Was es heißt, moralisch zu handeln, formuliert etwa Bernard Bolzano als oberstes Sittengesetz, das besagt: „Wähle von allen dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert.“21 Demnach müssen wir zunächst überlegen, welche Handlungsalternativen in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Laut Bolzano ist jene zu wählen, die insgesamt mit Bezug auf alle ihre Konsequenzen sowie alle davon jeweils Betroffenen im Ergebnis zumindest gleich gut ist wie das irgendeiner anderen Alternative.
Zwar kann es vorkommen, dass jemand durch eine Handlung unangenehm benachteiligt wird, doch ist die Handlung deshalb noch nicht unbedingt falsch, wenn ihre Konsequenzen insgesamt für alle Betroffenen immer noch besser sind als die der anderen Alternativen. Wenn wir Grund haben, das anzunehmen, so ist es Bolzanos Sittengesetz zufolge moralisch richtig, so zu handeln, denn jede andere Alternative hätte insgesamt größere Nachteile – weshalb es moralisch falsch wäre, eine von ihnen zu wählen.
In diesem Zusammenhang geht es um vorhersehbare Konsequenzen, d. h. um Handlungsfolgen, von denen mit guten Gründen anzunehmen ist, dass wir sie bei unserer Entscheidung abwägen können. Wenn wir etwas erwiesenermaßen nicht wissen können, dann ist es ebenfalls nicht gerechtfertigt, mit Bezug darauf moralische Ansprüche an uns zu stellen, da uns ja die Möglichkeit fehlt, es zu bedenken. Da Menschen endliche Wesen sind, ist nun aber nicht klar, was wir tatsächlich vorhersehen können, und dadurch kommt ein weiterer Aspekt von Glück ins Spiel, gerade dann, wenn uns daran liegt, moralisch zu handeln.
Denken wir etwa an einen Augenarzt, zu dem ein Kind gebracht wird, das wegen einer Krankheit bereits zweimal operiert wurde und dabei auf einem Auge erblindet ist. Er steht nun vor der Frage, ob er das zweite Auge operieren soll, wobei das Risiko, dass das Kind durch die Operation auch dieses verliert, sehr hoch ist (ohne Operation allerdings ebenfalls). Der Arzt erwägt quälend lange die jeweiligen Konsequenzen der Alternativen und entschließt sich zur Operation – mit Erfolg. Dafür benötigt er auch Glück, d. h. Umstände, die außerhalb seiner tatsächlichen Handlungsmacht liegen und die selbst bei geringen Abweichungen ebenso gut zu tragischen Konsequenzen hätten führen können. Ein solcher Fall ist auch ein Beispiel für eine Situation, in die niemand gerne geraten möchte – und wenn uns vergönnt ist, keine solchen Entscheidungen treffen zu müssen, so ist dies ebenfalls ein Aspekt von Glück im objektiven Sinn.
Ähnlich lassen sich Beispiele anführen, mit denen in der Ethik anhand von Extremsituationen versucht wird zu bestimmen, wo die Grenzen moralischen Handelns liegen. Stellen wir uns etwa vor, der deutsche Ornithologe Hermann, der nie eine Waffe in die Hand nehmen würde, geriete bei Forschungen im südamerikanischen Urwald in folgende Situation: „Auf einem Dorfplatz werden hundert gefesselte Indios von Soldaten zusammengetrieben und vor einem Bretterzaun aufgestellt. Die Indios sollen erschossen werden“, um die übrigen Dorfbewohner einzuschüchtern. „Adolfo, der Kommandant, begrüßt den Neuankömmling mit großem Respekt (,Mein Vater hat mir den Namen eines Deutschen gegeben, den er sehr bewunderte, und nun lerne ich endlich einen Angehörigen dieser großen Nation kennen!‘) und bietet ihm ein Gastgeschenk an: Hermann dürfe den Dorfvorsteher eigenhändig erschießen, dann werde er die anderen 99 Indios zur Feier des Tages (,Besuch eines Deutschen‘) laufen lassen.“ Andernfalls würden alle hundert erschossen. Hermann weiß, dass dieses „Angebot“ sehr ernst gemeint ist und dass er keine Chance hat, Adolfo „von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn und seine Soldaten in einem heroischen Coup zu entwaffnen. Was soll Hermann tun? 99 Indios, ihre Frauen und Kinder flehen ihn an, auf das Angebot einzugehen“.22
So unwahrscheinlich ein solcher Fall sein mag, können wir derlei doch nicht mit Sicherheit ausschließen. Wenn es dazu kommt, ist dies für uns tragisch; wenn wir davon verschont bleiben, so ist uns ein Glück im objektiven Sinn gegönnt, das uns wegen der Unwahrscheinlichkeit solcher Fälle nicht unbedingt bewusst ist, dessen wir uns aber dennoch bewusst sein sollten. Bernard Williams, von dem dieses Beispiel in seinen Grundzügen stammt,23 schreibt über solche Fälle u. a. in einem Buch mit dem Titel „Moral Luck“.24 Mit derlei Beispielen weist uns Williams darauf hin, dass das Glück im objektiven Sinn dem moralischen Denken eine Grenze setzt, nicht zuletzt der Frage nach dem moralischen Status des Handelns.
Wenn zum moralischen Handeln gehört, dass jemand in einer gegebenen Situation diejenige Alternative wählt, deren Konsequenzen für alle Betroffenen (einschließlich seiner selbst) insgesamt zumindest nicht schlechter sind als die einer anderen, so hat das Moralische am Handeln dieser Person nicht mit Glück im subjektiven oder objektiven Sinn noch mit Schicksal oder Zufall zu tun, sondern mit Vernunft, Wissen und Gewissen. Wenn in diesem Zusammenhang von Glück die Rede sein kann, dann vielmehr als etwas, das jenseits moralischer Erwägungen liegt, worüber man also in der Moral nicht sprechen kann, und zwar unabhängig davon, ob es auf eigenem Handeln, Zufall oder Schicksal beruht.
Wie schon Aristoteles betont, ist jemand für eine Handlung nur dann moralisch zu tadeln (bzw. verantwortlich zu machen), wenn diese Handlung freiwillig ist (wenn also die fragliche Person über Handlungsalternativen verfügt und deren Konsequenzen vorhersehen kann). Wenn jemand auf eine Situation „keinen Einfluß […] nehmen kann, etwa wenn der Sturm einen irgendwohin führt, oder die Menschen, die über einen herrschen“, so gebührt ihm laut Aristoteles Vergebung und manchmal sogar Mitleid.25 Wenn wir ein Ereignis nicht durch eine Handlung beeinflussen (und dieses mithin auch nicht abwenden) können, dann ist es also nicht gerechtfertigt, unser Handeln moralisch zu beurteilen, da wir das Ereignis nicht bewirken, sondern vielmehr darin auf tragische Weise verwickelt sind.
Während dies zum Bereich des Tragischen gehört, sind günstige Entwicklungen, die nicht durch unser Handeln bewirkt werden, Formen von Glück im objektiven Sinn (die uns auch Glück im subjektiven Sinn vermitteln können). Solche Gegebenheiten sind für die Moral als etwas bedeutsam, das sich der moralischen Beurteilung entzieht und als solches bewusst zu machen ist. Selbst wenn wir in der Ethik noch so „strebend uns bemühen“, werden wir nie in der Lage sein, alle Lebensprobleme endgültig in den Griff zu bekommen. Und auch wenn die Prinzipien der normativen Ethik theoretisch so gut wie irgend möglich begründet sind, haben wir keine Garantie, dass nicht manche „Dinge des Lebens“ jenseits dessen sind, was sie beurteilen kann. Es mag sein, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen handeln, aber dennoch etwas Tragisches in Kauf nehmen müssen; andererseits kann uns unter noch so ungünstigen Voraussetzungen auch das Glück hold sein. Solche „Dinge des Lebens“ fordern zwar zu philosophischer Reflexion heraus, doch handelt es sich nicht um Fragen des moralisch richtigen Handelns, sondern um etwas, das mit dessen Kategorien nicht zu fassen ist.
Subjektives Glück durch moralisches Handeln
Von Platon bis heute betonen Philosophen, dass Menschen (nur) durch moralisches Handeln glücklich sind (oder sein können). Wie bereits Kant erkannte, ist dies keineswegs selbstverständlich: Während beim Verhalten natürlicher Wesen „alles gut“ (oder genauer gesagt: moralisch neutral) ist, kam dadurch, dass der Mensch Vernunft entwickelt und sich durch die damit verbundene Kultur und Handlungsfreiheit von der übrigen Natur „abgehoben“ hat, das „Böse“ in die Welt (bzw. die bewusste Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen moralisch richtigem und falschem Handeln).26 Moralische Fragen stellen sich mithin erst für Wesen, die kognitiv so weit entwickelt sind, dass sie sich dessen bewusst werden können, was richtig und was falsch ist.
Natürlich können wir beklagen, dass uns als vernunftbegabten Wesen nicht frei steht, beliebig und dabei zugleich moralisch zu handeln, sondern dass wir wählen müssen, ob wir moralisch handeln wollen oder nicht, und dass wir (zumindest sofern wir konsequent sein wollen) die jeweiligen Folgen in Kauf nehmen müssen. Aus moralischer Sicht geht es jedoch nicht bloß um das je eigene Glück, sondern um ein Glück, das sich durch die Rücksicht auf das Glück aller ergibt, die von unserem Handeln betroffen sind. Moralisches Glück im subjektiven Sinn ist demnach weniger das unmittelbare Erleben als die reflexive Erfahrung von Glück. Daher meint wohl auch Aristoteles, dass nur Personen Glück im Sinn der „eudaimonia“ erfahren können; er spricht damit anderen Wesen (zum Beispiel Kleinkindern oder geistig Behinderten) nicht die Fähigkeit zum intensiven Erleben von Glück ab. Moralisches Handeln als beglückend zu erfahren, setzt natürlich voraus, dass wir uns prinzipiell entscheiden, so zu handeln. Es steht jedem frei, auch nicht moralisch zu handeln und zu leben sowie eventuell damit glücklich zu werden. Wer diese Alternative wählt, wird wohl nur schwer verstehen, dass jemand durch moralisches Handeln glücklich wird. Und doch ist dies in mehrerlei Sinn möglich, insbesondere durch das Glück der anderen, das beim moralischen Handeln immer mit ins Spiel kommt, aber etwa auch durch das Glück zu erfahren, dass moralisches Handeln gelingt – was weder selbstverständlich noch stets der Fall ist.
Um moralisch handeln und ein gutes Leben führen zu können, bedürfen wir nämlich der Tugend, d. h. der Tüchtigkeit im Abwägen von Interessen, Konsequenzen und anderen Gegebenheiten, die oft nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Es ist alles andere als leicht, eine Balance zwischen oft extremen Möglichkeiten herzustellen, weshalb selbst Nietzsche meint: „Die Lehre μηδὲν ᾶγαν wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft – nicht an die Mittelmäßigen.“27 Diese Verteidigung des Solonischen Weisheitsspruchs ist insofern bemerkenswert, als Nietzsche die Moraltheorie von Platon, der diese Lehre des „Nicht zuviel“ für richtig erklärt,28 ebenso kritisiert wie die Ethik des Aristoteles, dessen Mesotes-Lehre in kritischer Auseinandersetzung damit entstanden ist.29 Wir müssen die Angelegenheit nicht unbedingt so pathetisch betrachten wie Nietzsche; vielmehr steht uns allen ein im moralischen Sinn gutes Leben offen, zu dem die reflexive Erfahrung von Glück gehört.
Ohne die Bedeutung des unmittelbaren emotionalen Erlebens von Glück schmälern zu wollen, spricht zudem für das subjektive Glück im reflexiven Sinn, dass emotionale Glückserlebnisse nie von Dauer sind, sondern nur (mehr oder weniger lange) Momente. Dies hat mit der Dynamik des Lebens zu tun, die stets die Spannung zwischen Zuständen, in denen wir uns befinden, und solchen, in denen wir sein möchten bzw. die wir erreichen wollen, einschließt. Aus der Annahme eines immerwährenden Zustands solchen Glücks würde paradoxerweise folgen, dass es für Menschen überhaupt kein Glück gibt, denn das Erreichen eines Ziels bedeutet gewöhnlich, sich ein nächstes Ziel zu setzen. Solche Dynamik hindert uns freilich nicht, von Zeit zu Zeit glücklich zu sein. Dies ist mit einem Wissenschaftler vergleichbar, für den die Lösung eines Problems bedeutet, dass sich potenziell unendlich viele neue Probleme eröffnen. Doch ist das kein Grund zu verzweifeln, denn die Lösung eines Problems bedeutet einem Wissenschaftler sehr viel und schafft viele Fälle zeitweiligen Glücks.
Das Erleben von Glück stellt uns scheinbar auch insofern vor ein Problem, als rein emotionales Erleben nur möglich ist, wenn wir im jeweiligen Augenblick leben. Sowie wir das Leben in einem größeren Zusammenhang bzw. als Ganzes betrachten, können wir nicht einfach gewisse Empfindungen oder die Erfüllung von Bedürfnissen oder Wünschen genießen, da wir uns stets bewusst sein müssen, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können und dass bestimmte Gefühle in manchen Situationen nicht angebracht sind, weshalb wir darüber unglücklich sein müssten. Wenn wir es als sinnvoll ansehen, über unser Leben zu reflektieren oder ein „Leben ohne Selbsterforschung“ mit Sokrates sogar als etwas ansehen, das aus philosophischer Sicht „gar nicht verdient, gelebt zu werden“30 , d. h., wenn wir die menschliche Person und das menschliche Leben als Ganzes betrachten und überlegen, ob es möglich ist, angesichts des gesamten menschlichen Lebens glücklich zu sein, dann kommt die reflexive Erfahrung von Glück ins Spiel.
Da zur reflexiven Erfahrung von Glück eine gewisse Distanz zu unseren unmittelbaren Bedürfnissen und Empfindungen gehört, erlaubt sie uns längere Phasen subjektiven Glücks, obwohl sie wie das emotionale Erleben kein immerwährender Zustand sein kann (allein schon deshalb, weil es Situationen gibt, in denen eine solche Distanz unmöglich ist, zum Beispiel dann, wenn unserem Leben Glück im objektiven Sinn völlig fehlt, wenn wir eine uns nahestehende Person verlieren oder wenn eine Tatsache aus anderen Gründen allzu schrecklich ist, wie dies etwa auf Kriege oder die Schoah zutreffen mag). Wie Imre Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ schreibt, war es dennoch sogar in Auschwitz möglich, Augenblicke von Glück zu erfahren.31 Wenn es selbst für Menschen, die extrem leiden, möglich ist, Glück zu erleben oder zu erfahren, so besteht jedoch für uns kein Anlass, uns zu schämen, dass wir mitunter glücklich sind, obwohl es in der Welt Hunger, Folter und noch viel mehr Leid gibt.
In diesem Sinn schreibt Wittgenstein im „Tractatus“: „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“32 So gesehen verändern wir die gesamte Welt, wenn wir durch moralisches Handeln glücklich werden. Mit Wittgenstein können wir dies versuchen, auch wenn wir – mit ihm – zugestehen müssen, dass wir auch mit noch so vielen Worten nicht angemessen sprachlich ausdrücken können, was es in diesem umfassenden Sinn bedeutet, als moralisch Handelnde glücklich zu sein.33