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Kampf gegen Katholiken und Sozialdemokraten

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Der Protestantismus des Kaiserreichs kannte zwei Hauptfeinde und mehrere Nebenfeinde: die Katholiken, die Sozialdemokraten, die Juden, die Freidenker, den Positivismus und Materialismus. Bevor die durch das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878 verbotene Sozialdemokratie nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Januar bzw. September 1890 neuerlich zum Zuge kam, war der aktuelle Hauptfeind der Katholizismus. Der protestantische Antikatholizismus, genährt, doch nicht verursacht durch den Kulturkampf, trieb in den 1870er und 1880er Jahren üppige Blüten. Der Schwerpunkt des neuen Reiches lag politisch im Norden und religiös auf dem Protestantismus.

Die katholische Kirche hatte schon vor 1870/71 schmerzliche Einbußen hinnehmen müssen: die Aufkündigung der Konkordate in Baden, Württemberg und Darmstadt, außerdem den Niedergang des katholischen Österreichs 1866. Allerdings erschien der Katholizismus in den Augen vieler Protestanten politisch wie spirituell als eine aggressive Macht. Die Nutzung der demokratischen Instrumente durch die Katholiken im Revolutionsjahr 1848 war noch in wacher Erinnerung. Seit den 1860er Jahren sah man in Baden, in Preußen, im Reich eine katholische Partei aufsteigen. Aus den ersten Wahlen zum Deutschen Reichstag ging das Zentrum als zweitstärkste Fraktion hervor. Vom Regensburger Bischof Ignatius von Senestrey (1818–1906) hieß es, er habe am 22. April 1869 in öffentlicher Rede erklärt: „Wenn die Könige nicht mehr von Gottes Gnaden sein wollen, bin ich der Erste, der die Throne umstürzt“ (Johann Heinrich Kurtz, Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende, Bd. 2, Leipzig 131899, 188). Ob wahr, halbwahr oder falsch – die Katholiken galten als bedrohlich. Wie die Stimmung war, belegen viele zeitgenössische Zeugnisse. Man sprach von „fanatischer Hetze“ der Katholiken in deren Presse, im Beichtstuhl, in den katholischen Männer-, Frauen- und Gesellenvereinen, in den Kasinos und Adelskonventen. Nachdem am 8. Dezember 1854 die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens und am 8. Dezember 1864 das „Verzeichnis der wesentlichsten Irrtümer unserer Zeit, die in den Allokutionen, Enzykliken und apostolischen Briefen Pius’ IX. (1846–1878) enthalten sind“, der sogenannte Syllabus errorum, in der nichtkatholischen Welt bereits viel Kritik gefunden hatten, brachte die auf der vierten öffentlichen Sitzung des Ersten Vatikanischen Konzils am 18. Juli 1870 vorgetragene Definition der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramts das Fass zum Überlaufen. Es hätte eines unvergleichlich größeren Maßes an staatspolitischer Weisheit, kirchenpolitischer Umsicht und interkonfessioneller Geduld bedurft, als sie allen im Kulturkampf agierenden, reagierenden und kommentierenden Parteien zur Verfügung stand, um die damals tatsächlich gestellte Aufgabe zu lösen. Sie bestand im Ausgleich der staatlichen, kulturellen und kirchlichen Interessen auf dem Boden des modernen Staatsrechts, doch unter klarer Respektierung der katholischen Eigenart in Lehre und Frömmigkeit. Dieser Ausgleich war nur durch Abstriche an jedwedem Maximalismus, gleichviel ob etatistisch oder ekklesiologisch, möglich. Lediglich eine Minderheit von Protestanten sah, dass der Kampf um den Ausgleich der Rechte von Staat und katholischer Kirche ein Kampf um die Stellung der Kirche im modernen Staat generell war.

Nach der gleitenden Beilegung des Kulturkampfs während des Pontifikats Leos XIII. (1878–1903) wuchsen die Katholiken allmählich in das neue Reich hinein. Kulturell, bildungssoziologisch und berufsständisch blieben sie als konfessionelle Eindrittelminorität im Nachtrab zur protestantischen Majorität. Höchst erfolgreich allerdings war der politische Katholizismus. Die Zentrumspartei bildete eine Säule der kaiserlichen Politik. Dies, wie auch die wirksame Arbeit der katholischen Kirche im Vereinsbereich und auf den Katholikentagen, mochte erklären, dass die protestantische Majorität ihre Interessen in den 1880er Jahren neuerlich bedroht sah. Der Staat hatte den Kulturkampf eingestellt, die Kirche führte ihn weiter. Eine Folge war 1886/87 die Gründung des „Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“ unter dem Hallenser Theologieprofessor Willibald Beyschlag (1823–1900). Beyschlag meinte, „der ungeheuren römischen Organisation [müsse] eine Gegenorganisation entgegengestellt werden“ (Zur Entstehungsgeschichte des Evangelischen Bundes, Berlin 1926, 16). Die Zielsetzung des Evangelischen Bundes war gesamt-evangelisch, antirömisch und national, insofern dreifach. Der Evangelische Bund bot ein Ersatzpodium für die gescheiterten Kirchentage, ein „protestantisches Schutz- und Trutzbündnis gegen Rom“ und eine Organisation protestantischer Sinnstiftung für das Reich. Der Erfolg war beachtlich. 1887 zählte der Evangelische Bund 10.000 Mitglieder: Geistliche, Lehrer, Beamte, mittel- und kleinbürgerliche Protestanten. 1912 betrug die Mitgliederzahl 485.753, im Jahr 1913 erreichte sie die Höchstmarke mit 510.000. Damit war der Evangelische Bund der bei weitem erfolgreichste protestantische Massenverein. Die mehrfach umbenannte „Kirchliche Korrespondenz“ erschien seit 1887 in hohen Auflagen. Der Antikatholizismus des Kaiserreichs war eine protestantische Integrationsideologie ex negativo.

Ähnliches traf auf die Haltung zur Sozialdemokratie zu. 1863 hatte Ferdinand Lassalle (1825–1864), Kaufmannssohn aus Breslau, in einem „offenen Antwortschreiben“ alle bisherigen Mittel zur „Selbsthülfe“ der Arbeiter verworfen und ihre gleichberechtigte Mitsprache in Staat und Politik gefordert. 1863 entstand in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, 1869 durch Abspaltung von ihm die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 1875 auf dem Vereinigungsparteitag in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Auf dem Hallenser Parteitag 1890 benannte sie sich in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um. Die Sozialdemokratie war ein politischer und weltanschaulicher Angstgegner des Protestantismus. Die beiden Attentate auf Wilhelm I. – das Hödel-Attentat vom 11. Mai und das Nobiling-Attentat vom 2. Juni 1878 –, die zur staatlichen Ausnahmegesetzgebung führten, schienen alle Befürchtungen zu bekräftigen. Ein Klempner und ein Literat hatten sich an der Majestät vergriffen. Ehe man lernte, die Sozialdemokratie als politische Partei zu sehen, erblickte man in ihr eine Missbildung auf der Nachtseite der Zivilisation. Zeitgenössische protestantische Pamphletisten ordneten sie einer Entwicklung zu, die von François Noël Babeuf (1760–1797) und Sylvain Maréchal (1750–1803) mit seinem „Manifeste des Égaux“ von 1796 in Frankreich über das „Kommunistische Manifest“ 1847/48 von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) in Deutschland bis zum russischen Nihilismus und internationalen Anarchismus reichte. 1894 fiel der Präsident der Französischen Republik, Marie François Sadi Carnot (1837–1894), 1897 der Ministerpräsident von Spanien, Antonio Canovas del Castillo (1828–1897) und 1898 die Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837–1898) dem Anarcho-Terror zum Opfer. Sich am anarchistischen Terror, dazu noch an manch zweifelhaften Ideologieprodukten der „Linken“ festzuhalten wie etwa an den Revolutionsdiagnosen Johann Mosts (1846–1906) und Wilhelm Hasselmanns (1844–1916), unterbot eindeutig die Problemlage. Zum einen gab es in der Sozialdemokratie völlig unterschiedliche Kräfte: Radikale, Reformer, Pragmatiker. Zum anderen wies der Katalog der sozialdemokratischen Forderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie in der Staatsverfassung tatsächlich auf regelungs- und reformbedürftige Probleme der Industriegesellschaft hin. Allerdings hatte sogar der als gemäßigt geltende August Bebel (1840–1913) in seiner Rede zur Ablehnung des Militärbudgets am 24. April 1869 im Norddeutschen Reichstag bekundet: „Ich bin, meine Herren, das wissen Sie alle, ein entschiedener Gegner dieses Systems, ich bekämpfe es mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln und kann nicht anders ein Heil für das Volk selbst erblicken, als bis dieses System in Grund und Boden zerschlagen und zertrümmert ist“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags, Bd. 7, Berlin 1869, 568).

Im protestantischen Kampf gegen die Sozialdemokratie herrschten bis gegen Ende der 1870er Jahre zwei Strategien vor, der Weltanschauungskampf und die Verhandlung der Sozialen Frage. Im Weltanschauungskampf galt die Sozialdemokratie als Sammelbewegung, in der sich charakteristische Entwicklungen des Zeitalters zu bündeln schienen. Man kritisierte das positivistische Vertrauen in naturwissenschaftliche Welterklärungen und in ein Geschichtsbild ohne Transzendenz. Die Verhandlung der Sozialen Frage vollzog sich in überwiegend polemischen Formen der Abgrenzung gegen die Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien der Sozialdemokraten. Die Stereotypen dominierten: Die Sozialdemokraten wollten den Bürgern Eigentum und Ersparnisse rauben, um es in Gemeineigentum umzuwandeln. Die sozialistische Arbeitsorganisation verwandle den Staat in ein großes Zuchthaus. In Ehe und Familie würden Treue und Fürsorge aufgelöst. Durch Verachtung der Religion zerstöre der Sozialismus die Nächstenliebe, fördere den Egoismus und die sinnlichen Begierden.

Neben der antisozialistischen Polemik entwickelte sich das Bestreben, eigene tragfähige Wirtschafts- und Sozialprogramme für die Industriegesellschaft zu entwickeln. Dabei nahmen protestantische Denker manchen sozialdemokratischen Impuls auf. Von einem durchgängigen Antagonismus beider Lager kann deshalb nicht gesprochen werden. Rudolf Todt (1839–1887), Pfarrer und Superintendent in Brandenburg, folgte als „Staatssozialist“ zum Teil der linken Klassentheorie. 1877 gründete er mit Adolph Heinrich Gotthilf Wagner (1835–1917) und Adolf Stoecker den „Central-Verein für Social-Reform auf religiöser und constitutionell-monarchischer Grundlage“. Victor Aimé Huber (1800–1869), evangelischer Anwalt des Genossenschaftsprinzips, hatte ebenfalls einige Gedankenelemente der sozialistischen Bewegung aufgenommen.

Noch bevor das Sozialistengesetz erlassen war, wuchs aus dem protestantischen Milieu eine weitere Form der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie hervor, und zwar auf der Basis von Gegenparteien und -organisationen. Am 1. Februar 1878 gründete Adolf Stoecker, Sohn eines Schmieds aus Halberstadt und inzwischen Hof- und Domprediger in Berlin, unter Polizeischutz die Christlichsoziale Arbeiterpartei, die ab 1881 als Christlichsoziale Partei in Listengemeinschaft mit der Deutschkonservativen Partei stand und 1896 neu begründet wurde. Nennenswerter Erfolg blieb Stoeckers Partei versagt. Als Gegenorganisationen auf Vereinsebene bildeten sich seit 1882 Evangelische Arbeitervereine. Die Organisationsaktivitäten steigerten sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes. 1890 rief Pfarrer Ludwig Weber (1846–1922), neben dem Bergmann Ludwig Fischer der Vater der evangelischen Arbeitervereinsbewegung, zu flächendeckenden Gründungen auf. Sie seien das beste Mittel gegen die „sozialdemokratischen Irrlehren“. Am 6. August 1890 fand in Erfurt die Gründung des Gesamtverbandes evangelischer Arbeitervereine Deutschlands statt.

In engem Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Sozialdemokratie, doch auf Versachlichung gerichtet, stand auch die Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses. Seine erste Tagung hielt dieses Diskussionspodium protestantischer Sozialpolitik vom 27. bis 29. Mai 1890 in Berlin ab. Die Gründungsinitiative war von Adolf Stoecker in Gemeinschaft mit Hermann Kropatschek (1847–1906), dem Redakteur der „Kreuzzeitung“, Adolph Wagner und Ludwig Weber ausgegangen. Durch energische Einschaltung Adolf von Harnacks in die Gründungsphase wurde vermieden, den Kongress zu einem Knüppel gegen die Sozialdemokratie zu machen. Harnack bestand auf Sachlichkeit, Augenmaß und fachliche Kompetenz in der Sozialpolitik. Nach Abspaltung der Stoecker-Fraktion, die 1896/97 ihre eigene Kongressbewegung gründete, die Kirchlich-soziale Konferenz, und nach dem Auszug der „jüngeren Christlich-Sozialen“ um Friedrich Naumann (1860–1919) wurde der Evangelisch-soziale Kongress eine Richtungsbewegung des Kulturprotestantismus. Harnack fungierte von 1903 bis 1911/12 als Präsident. Auch der von Wilhelm II. und dem Evangelischen Oberkirchenrat ermunterte „sozialpolitische Aufbruch“ der preußischen Geistlichen in den Jahren 1890 bis 1895 gehörte noch in den Horizont der Bildung einer protestantischen Gegenfront gegen die Sozialdemokratie, sosehr dabei auch schon Austauschprozesse stattfanden. Paul Göhre (1864–1928) war als Kandidat der Theologie „Drei Monate Fabrikarbeiter“ – so auch der Titel seines Buches von 1891.

„Was tun wir gegen die glaubenslose Sozialdemokratie?“ So hatte 1889 die Frage des sächsischen Pfarrersohns und Vereinsgeistlichen Friedrich Naumann geheißen. Naumann sah im Programm der Sozialdemokratie ein bloßes „Phantasieideal“. Doch es zu kritisieren hieß noch nicht, ihm realpolitisch wirksam begegnet zu sein. Naumann schied 1897 aus dem Pfarramt aus und wurde Berufspolitiker. Durch seine Tätigkeit gab er dem Protestantismus sozialpolitische und allgemeine politische Impulse in Bezug auf den Verfassungsstaat und den Liberalismus, die in der Langzeitperspektive zum Wertvollsten gehörten, was aus der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie entstand.

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