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1. Räume, Grenzen, Territorien, Menschen

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Zeitgleich stehen Deutschland und Polen in der Mitte des 10. Jahrhunderts am Beginn ihrer Geschichte. In diesem Zeitraum kulminierten Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte, die nun den Beginn von etwas Neuem erkennen lassen. Von Polen oder Deutschland, von polnischer oder deutscher Geschichte vor diesem Zeitraum zu sprechen, ist kaum angemessen. Zugleich sind diese Jahrzehnte auch der Zeitraum, in dem sich erstmals Kontakte und Beziehungen zwischen Vertretern der sich formierenden vorstaatlichen Herrschaftsbildungen abzeichnen.

Die Entwicklung des Volks- und Landesnamens beider Völker verlief durchaus unterschiedlich. Für Polen ist die älteste Namengebung nur in der lateinischen Sprache dokumentiert. Die ersten Belege für Polen als Volksnamen (Palani, Polani, Poloni, Poliniani) finden sich in den ältesten Adalbert-Viten, die im Zuge der Heiligsprechung 999 beziehungsweise im ersten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts abgefasst wurden. Während in der Adalbert-Vita Bruns von Querfurt das Land der Polen als terra Polanorum oder Polonorum bezeichnet wird, spricht wenige Jahre später (1012/18) Thietmar, Bischof von Merseburg, in seiner Chronik durchweg von den Poleni und ihrem Land Polenia. Besondere Beachtung verdient, dass der abstrakte Landesname Polonia in dieser Zeit schon eine eingeführte Selbstbezeichnung war, was durch einen Denar belegt ist, der auf die ersten Jahre des 11. Jahrhunderts datiert wird und die Umschrift „PRINCES POLONIE“ trägt.1 Die Herausbildung des Volksnamens Poloni und des davon abgeleiteten Landesnamens Polonia fällt damit zeitlich mit dem historischen Auftreten der ältesten polnischen Herrschaftsbildung zusammen. Der Name selbst wird – gegen andere Vorschläge der jüngeren Zeit – als Selbstbezeichnung vom Appellativum pole (Feld) abzuleiten sein; er bedeutet so viel wie Feld- oder Landesbewohner und stellt in idealisierender Weise das eigene Siedlungsgebiet als schön, fruchtbar, gut bebaut und besiedelt heraus.2

Die Selbstbezeichnung der Deutschen ist in der Form des lateinischen Wortes theodiscus erstmals für 788 belegt und bedeutete zunächst so viel wie „volkssprachlich, zum Volk gehörig“. Bei Notker Labeo oder Notker dem Deutschen von St. Gallen († 1022) findet sich das Wort deutsch (diutisk, tiudisk) dann in der Volkssprache. Erst zu dieser Zeit, im frühen 11. Jahrhundert, bildet sich ein Sonder- und Eigenbewusstsein der vier Völker der Franken, Sachsen, Bayern und Schwaben aus, die die Basis des ostfränkisch-deutschen Reichs darstellten. Eine weitere Stufe der Wahrnehmung und Bezeichnung der Deutschen und ihrer Sprache wird in den 1070er/1080er Jahren greifbar. Dies geschah zum einen im Bereich des Geschichtsdenkens. So ist im mittelhochdeutschen Annolied aus dem Kloster Siegburg von diutischi liuti und vom diutsche lant die Rede. Zum anderen wurde ein entsprechender Begriff in der politischen Polemik, in der Auseinandersetzung des sogenannten Investiturstreits, entwickelt. Die päpstliche Propaganda stufte Heinrich IV. vom rex Romanorum zum rex Teutonicorum oder rex Teutonicus herab, der nur über ein regnum Teutonicorum oder Teutonicum herrschte. Ein noch späterer Entwicklungsschritt in der historisch-politischen Sprache ist die Verwendung der Selbstbezeichnung die Deutschen und die Verwendung der Landesbezeichnung „deutsches Land“ (diutsches lant), die sich erst im 13. Jahrhundert durchsetzte, wobei noch die Entwicklung im nieder- und oberdeutschen Sprachraum zu unterscheiden ist.3 Es verdient beachtet zu werden, dass vom Teutonici-Namen kein abstrakter Landesname, etwa Teutonia, gebildet wurde, anders als etwa der polnische Landesname.

In beiden Fällen wird nicht ein Stammesname aus der älteren Zeit fortgeführt oder verallgemeinert, sondern es handelt sich um Fremdbezeichnungen für die neuen stabilen Herrschaftsbildungen. Deren Voraussetzungen waren freilich in beiden Fällen ganz unterschiedlich.

Das spätere römisch-deutsche Reich beruhte teilweise auf dem Fränkischen Reich und beanspruchte dessen Tradition. Die fränkischen Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts (843, 855, 870, 880) verstärkten Verselbstständigungstendenzen in den drei Teilreichen, deren östlichen Teil der Sohn Ludwigs des Frommen, Ludwig mit dem modernen, anachronistischen Beinamen „der Deutsche“, über mehr als dreißig Jahre innehatte. Weitere Reichsteilungen unter Ludwigs Söhnen, das Ende der Karolinger im Mannesstamm (888), mit Konrad I. die erstmalige Wahl eines Franken ohne karolingische Legitimität zum König im Ostfränkischen Reich (911) und schließlich die Wahl Heinrichs I. aus der Familie der später so genannten Liudolfinger oder Ottonen (919) sowie der politische Erfolg seines Sohnes Otto I., für alle Zeitgenossen sichtbar im Sieg über die Ungarn (955), und die Kaiserkrönung in Rom (962) markierten den Weg vom ostfränkischen Reichsteil zum römisch-deutschen Reich, das bis in die napoleonische Zeit (1806) Bestand hatte.

Die Vorgeschichte der Herrschaftsbildung, an deren Spitze Fürst Mieszko stand und die zum Jahr 963 im kriegerischen Kontakt mit ihren westlichen Nachbarn zum ersten Mal erwähnt wird, ist ungleich schwerer zu beschreiben. Mangels schriftlicher Quellen ist man auf die Ergebnisse und Deutungen archäologischer Grabungen angewiesen. Slawische Siedlung auf dem Gebiet des späteren Polen, die sicher seit dem 6./7. Jahrhundert nachgewiesen ist, führte demnach ab dem 9. Jahrhundert zu einer Herrschaftsverdichtung, die durch intensiven Burgenbau erkennbar ist. Man nimmt an, dass der Träger dieser Herrschaftsverdichtung ab der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert ein Personen- und Familienverband war, der später als Piasten bezeichnet wurde, dessen erster historisch belegter Herrscher Mieszko war, und dem die spätere Traditionsbildung Vorfahren mit Piast als Spitzenahnen zusprach, deren Historizität jedoch nicht erweisbar ist.

Die Ausdehnung beider Länder und deren Grenzen, des frühpiastischen Staates wie des römisch-deutschen Reiches, veränderten sich in den 500 Jahren von etwa 1000 bis 1500 nicht unerheblich. Zur Zeit ihrer „Staatswerdung“, in den Jahrzehnten ab etwa 960, kann man erst von einer beginnenden Nachbarschaft sprechen: Die östliche Grenze des Reichs verlief bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts entlang der unteren und mittleren Elbe und der Saale.4 Mit der Errichtung der Mark Lausitz 965 berührte das Reich an der Oder die westliche Ausdehnung von Mieszkos Herrschaftsbereich; allerdings war die Kontaktzone noch während der folgenden mehr als fünfzig Jahre umkämpft und Gegenstand verschiedener Kriegszüge und Friedensschlüsse.

Die Ausdehnung von Mieszkos Herrschaftsbereich wird in einer Urkunde von 990/992 beschrieben, die in dem sogenannten Dagome-iudex-Regest aus den 1080er Jahren überliefert ist ( S. 30f. und 107f.). Demnach verlief die Grenze entlang der Ostsee, wobei die Frage des Grenzverlaufs an der unteren Oder (Stettin, Wollin) unklar ist; das spätere Hinterpommern zählte zum piastischen Herrschaftsbereich, während die Weichselmündung und Masowien erst ab den letzten Jahren des 10. Jahrhunderts durch die Piasten kontrolliert wurden. Umstritten ist im Osten die Zugehörigkeit der sogenannten tscherwenischen Burgen (Grody czerwieńskie), das Gebiet mit den Burgen Czerwień und Przemyśl im Gebiet zwischen Polen und der Rus; das piastische Gebiet erstreckt sich dann bis Krakau, von dort bis zur Oder und zum Gebiet der Milzener in der heutigen Oberlausitz.5

In den Gebieten östlich des Reichs und westlich des piastischen Territoriums, etwa zwischen der Elbe-Saale-Linie und der Oder, lebte als Folge der Völkerwanderung ungefähr ab dem späten 6. Jahrhundert eine slawische Bevölkerung, die sprachlich, kultisch und politisch nicht einheitlich war. Deren in der Regel kleinräumige Burgbezirke schlossen sich nur in wenigen Fällen und vorübergehend politisch-militärisch zusammen, veranlasst durch die Notwendigkeit, Schutz vor dem Ausgreifen des ostfränkisch-deutschen Reichs zu organisieren. Größere politische Bedeutung und Eigenständigkeit hatte vor allem der Stammesverband der Abodriten im Nordwesten, der von der Mitte des 9. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts eine gegenüber dem Reich und den benachbarten slawischen Stämmen selbstständige politische Position aufbauen konnte. Versuche ab der Mitte des 11. Jahrhunderts unter Gottschalk und seinem Sohn Heinrich, mit der Einführung einer Kirchenorganisation (1062 Bistum Mecklenburg, 1160 nach Schwerin verlegt) die innenpolitische Stabilität zu erhöhen, scheiterten an der innerabodritischen paganen Reaktion. Nach 1160 war die selbstständige abodritische Herrschaftsbildung beendet, das Territorium wurde Reichslehen. Vorher schon, um 1125, waren die Stammesbünde der Wilzen und später Lutizen (Liutizen) untergegangen, die nach der Mitte des 10. Jahrhunderts den Widerstand gegen das politische und kirchliche Ausgreifen des ottonischen Reichs über die Elbe hinaus organisieren konnten und im Aufstand von 983 die unlängst errichtete Kirchenorganisation jenseits der Elbe (Bischofssitze in Havelberg und Brandenburg) zerstört hatten. Brisant und schon von den Zeitgenossen, so von Brun von Querfurt, heftig kritisiert war das Bündnis, das Heinrich II. 1003 mit den Lutizen gegen Bolesław den Tapferen schloss und aus machtpolitischen Gründen bis 1017 aufrechterhielt.6

Das 12. Jahrhundert brachte für die Beziehungen zwischen Polen und dem Reich tiefgreifende und dauerhafte Veränderungen. Die Ostgrenze des Reichs wurde durch den Landesausbau in den Gebieten zwischen Elbe und Oder nach Osten verschoben, sodass das Reich und Polen nun von der Ostsee bis zur Oberlausitz eine gemeinsame Grenze hatten. Die „Grenzregionen“ erwiesen sich im deutsch-polnischen Kontaktbereich als wichtige Gebiete des Austauschs und der gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtung. Im polnischen Nordwesten konnte die nur vorübergehende Unterwerfung Pommerns durch Bolesław III. Schiefmund in der Folge nicht aufrechterhalten werden, und nach dem Aussterben der von Polen abhängigen Dynastie der Samboriden konnte Przemysł II., dem es 1295 gelang, die polnische Königswürde wieder zu etablieren, nur wenige Jahre deren Erbe seinem Herrschaftsbereich angliedern. Mit der Eroberung Pommerellens durch den Deutschen Orden 1308/09 hatte Polen bis zum Zweiten Thorner Frieden 1466 wieder den direkten Zugang zur Ostsee verloren.

Die einschneidendsten Veränderungen erfuhren die Grenzen und das Staatsgebiet des mittelalterlichen Polen im 14. Jahrhundert. Władysław Ellenlang war mit seiner Krönung 1320 die Wiedererrichtung der piastischen Königsherrschaft gelungen, worum sich Piastenherzöge seit dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts bemüht hatten, nachdem es in Polen fast 200 Jahre keine politische Zentralgewalt gegeben hatte. Das Kerngebiet piastischer Herrschaft veränderte sich in den folgenden Jahrzehnten in dreierlei Hinsicht entscheidend. Die schlesischen Herzogtümer lösten sich ab dem zweiten Drittel des 14. Jahrhundert verfassungsrechtlich von Polen und unterstellten sich der Krone Böhmen. In Verträgen von 1335 und 1348 zwischen Kasimir III. und Johann von Böhmen bzw. Karl IV. wurden diese Veränderungen festgeschrieben. Im Anschluss daran konnte Kasimir im Südosten die Grenze seines Herrschaftsgebietes erheblich verschieben. Denn nachdem die einheimischen Rjurikiden-herrscher im Fürstentum Halitsch-Vladimir 1323 ausgestorben waren und auch der ihnen folgende, aus Masowien stammende Piast Bolesław (nunmehr Jurij) 1340 starb, griff Kasimir militärisch ein und konnte diesen Gebietszuwachs nach langen Kämpfen mit dem Großfürstentum Litauen dauerhaft sichern. Zu einer letzten Gebiets- und Grenzveränderung des mittelalterlichen Polen kam es in der Auseinandersetzung mit dem Staat des Deutschen Ordens. Der Widerstand der preußischen Stände gegen die Politik des Ordens nach dem Ersten Thorner Frieden führte zum Dreizehnjährigen Krieg, der 1466 mit dem Zweiten Thorner Frieden zwischen dem Orden und Polen endete. Dieser beinhaltete den Verlust des westlichen Landesteils des Ordensstaates (Kulmer Land, Pommerellen und anderes), der der Krone Polen unterstellt wurde ( S. 164).

Diese Bemerkungen zu den Grenzen und zur Ausdehnung des Reichs und Polens können insofern falsche Vorstellungen erwecken, als lineare Grenzverläufe mindestens bis zum 13. Jahrhundert noch nicht festgelegt waren und eher von Grenz- und Kontaktzonen gesprochen werden sollte.7 Mit solchen Grenzen wurden Herrschaftsbereiche voneinander unterschieden; aufschlussreich ist dabei, dass das Wort „Grenze“ aus dem Slawischen ab dem mittleren 13. Jahrhundert ins Deutsche entlehnt wurde. Der Ausgangsbereich für diesen sprachlichen Transfer war der Kontaktbereich zwischen den polnischen Herzogtümern und dem preußischen Ordensstaat. Deutsch-polnische Beziehungen können im Mittelalter nur partiell und zeitweise als Beziehungen auf der Ebene der politischen Zentralgewalt, nicht aber als Beziehungen zwischen „Staatsnationen“ gesehen werden. Zur Erfassung der Kontakt- und Austauschvorgänge ist die territoriale Ebene von erheblich größerer Bedeutung. Dabei ist die kulturräumliche Gliederung Deutschlands und Polens unterschiedlich.

Im nordalpinen Teil des römisch-deutschen Reichs können drei große Kulturräume unterschieden werden. Zunächst sind es die keltisch-romanisch-germanisch überlagerten und geprägten Gebiete westlich des Rheins und südlich der Donau, deren spätantik-frühmittelalterliche Prägung sie in zivilisationsgeschichtlicher Hinsicht über Jahrhunderte von den nördlicher und östlicher gelegenen Teilen des Reichs unterschied. Die zweite Geschichtsregion bilden die germanisch geprägten Gebiete etwa bis zur Elbe-Saale-Linie, die vom 6. Jahrhundert bis zum Ende des 8. Jahrhunderts in das Fränkische Reich eingegliedert und kirchlich organisiert wurden. Dem schließt sich östlich eine dritte Geschichtslandschaft an, die ab dem mittleren 6. Jahrhundert slawisch sowie in den Gebieten östlich der unteren Weichsel baltisch besiedelt war. Diese Gebiete östlich der Elbe und im südlichen Ostseeraum wurden ab dem mittleren 12. Jahrhundert in das römisch-deutsche Reich einbezogen oder standen mit ihm in enger kultureller und ökonomischer Beziehung. In diesen Gebieten kam es zum Aufbau von Territorialherrschaften, Herzogtümern, die sich – nachdem mit Lothar III. 1137 der letzte römisch-deutsche König mit starker Präsenz im Norden und Nordosten des Reichs gestorben war – in relativer „Reichsferne“ entwickelten. Den Askaniern gelang nach der Mitte des 12. Jahrhunderts der Aufbau der Landesherrschaft in der Mark Brandenburg, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Oder erreichte. Das Land Lebus westlich der mittleren Oder war ab der Mitte des 10. Jahrhunderts zwischen Ottonen und Piasten umkämpft. Bolesław III. gründete hier zwar 1124/25 ein Bistum als Suffragan von Gnesen, das Land blieb aber zwischen den schlesischen und großpolnischen Piasten und den Markgrafen der Lausitz umstritten, bis sich nach der Mitte des 13. Jahrhunderts die brandenburgischen Askanier dauerhaft durchsetzen konnten. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts konnten diese auch das „Land über der Oder“ (terra transoderana, die spätere Neumark) an sich ziehen. Anders verlief die Herrschaftsbildung und Territorialisierung in den beiden Lausitzen: der Markgrafschaft Niederlausitz und dem Markgraftum Oberlausitz. Beide Territorien waren in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zwischen dem Reich und Polen umkämpft, bildeten aber später keine landsässige Dynastie aus, sondern waren als Nebenland mit anderen Reichsterritorien verbunden: die Niederlausitz mit Sachsen beziehungsweise Brandenburg und ab 1367 mit Böhmen, die Oberlausitz (mit kurzer Unterbrechung) mit der Krone Böhmen. An beiden Seiten der unteren Oder gelang der Greifendynastie der Aufbau des Herzogtums Pommern, das die Piasten nur zu Beginn des 12. Jahrhunderts kontrollieren konnten, das ab 1181 beziehungsweise 1227 aber zum Reichsverband zählte. Im östlich anschließenden Herzogtum Pommerellen regierte bis zu ihrem Aussterben 1294 die Dynastie der Samboriden. Den Kampf um die Nachfolge, an dem neben den Brandenburgern Władysław Ellenlang von Großpolen und Wenzel II. von Böhmen beteiligt waren, entschied 1308/09 der Deutsche Orden für sich. Dieser war als Landesherr im Prußenland ab 1230 Nachbar der piastischen Herzöge von Kujawien und Masowien. Wenn der Ordensstaat zwar auch verfassungsrechtlich nicht zum römisch-deutschen Reich gehörte, war er doch ein zentrales Territorium, an dem sich – auch nach dem Übergang des Westteils des Landes an die Krone Polen im Zweiten Thorner Frieden 1466 – Kontakte und Konflikte zwischen deutscher und polnischer Kultur entfalteten.

Ähnlich wie im Fall des Reichs, obschon weniger stark ausgeprägt, waren auch in Polen nicht alle Territorien in nennenswerter Intensität an deutsch-polnischen Interaktionen beteiligt. Die Regionen der polnischen Geschichte wurden in ihrem Eigengewicht nach der Krise der piastischen Herrschaftsbildung in den 1030er Jahren erstmals fassbar. Nachdem das Zentrum der frühesten piastischen Herrschaftsbildung in Großpolen gelegen hatte, verschob sich dieses nach der Mitte des 11. Jahrhunderts nach Kleinpolen mit Krakau; Masowien mit der zeitweiligen Residenzstadt Płock nahm ab dem 13. Jahrhundert eine selbstständige Entwicklung. Nach dem Tod Bolesławs III. 1138 bildeten sich in den Teilfürstentümern Großpolen, Kleinpolen, Schlesien und Masowien eigene regionale Identitäten und eigene piastische Fürstenlinien aus.8

Vor allem Kleinpolen und Masowien haben in dieser Hinsicht geringere Bedeutung. Großpolen, das Gebiet der ältesten polnischen Herrschaftsbildung, existierte ab dem Tod Bolesławs III. 1138 bis zum Tod Przemysłs II. 1296 als piastisches Teilfürstentum und stieß im Westen erst ab dem späten 13. Jahrhundert mit dem brandenburgischen Ausgreifen zusammen. Schlesien ist das piastische Territorium, in dem sich die intensivsten deutsch-polnischen Austauschvorgänge abspielten. Ursprünglich unter böhmischem Einfluss, gehörte es ab dem ausgehenden 10. Jahrhundert zum piastischen Herrschaftsbereich und nach dem Tod Bolesławs III. zur Domäne des Seniors, Wladyslaws II. Unter dessen Söhnen setzte sowohl die politische Teilung des Landes als auch – besonders nach dem Mongoleneinfall von 1241 – die wirtschaftliche Modernisierung und kulturelle Veränderung durch den Landesausbau ein. Weitere dynastische Teilungen führten ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert zu einer böhmischen Einflussnahme in die schlesischen und polnischen Verhältnisse und schließlich unter den Luxemburgern zur Etablierung von Lehnsbindungen der schlesischen Herzöge, als deren Ergebnis Schlesien in den Jahren 1335/55 zur Krone Böhmen kam.

Die demografische Dynamik war in den Gebieten des ostfränkisch-deutschen Reichs und in Polen sehr unterschiedlich. Vorsichtige Schätzungen für den Zeitraum des Mittelalters, die sich auf die Anzahl der Siedlungen, deren Größe und die besiedelte Fläche, später auch auf Abgaben- und Einkünfteverzeichnisse stützen, gehen für das 10. Jahrhundert im Reich durchschnittlich von etwa zehn Einwohnern pro km2, in Polen von etwa fünf Einwohnern pro km2 aus. Danach kann man im Reich im 11. Jahrhundert von etwa 3–3,5 Millionen, um 1300 von etwa 13–15 Millionen Einwohnern ausgehen, während im Königreich Polen zu Beginn des 14. Jahrhunderts noch weniger als eine Million Einwohner lebten. Am Ende des Mittelalters werden es – infolge der Bevölkerungsverluste durch die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – im Reich etwa zwölf Millionen, in Polen etwa drei Millionen Einwohner gewesen sein.9 Hierbei sind noch große regionale Unterschiede in der Bevölkerungsdichte zu bedenken. Der Süden, Südwesten und Westen des Reichs waren sehr viel dichter besiedelt als die Gebiete im Norden und östlich der Elbe, während innerhalb Polens Großpolen und Schlesien dichter besiedelt waren als Masowien und Kleinpolen, wo sich die Mongoleneinfälle auswirkten.

Im piastischen Herrschaftsbereich lebte vom 10. bis zum 12. Jahrhundert eine ethnisch verhältnismäßig einheitliche westslawische Bevölkerung, die politisch und kulturell geeinigt wurde. Eine nur archäologisch nachweisbare, relativ kurzfristige Anwesenheit normannischer Gruppen vor allem in Großpolen blieb ohne langfristige kulturelle Bedeutung. Ähnliches gilt für fremde Gefangene, die in geschlossenen Gruppen zwangsangesiedelt wurden. Der hochmittelalterliche Landesausbau führte – vor allem in Schlesien und Großpolen – ab der Mitte des 13. Jahrhunderts zu tiefgreifenden Veränderungen und ausgeprägten Regionalismen. Hinzu kam ab dem 13. Jahrhundert die Ansiedlung von Juden in den piastischen Ländern. Angezogen wurden sie durch Schutzprivilegien piastischer Herzöge, zunächst in Großpolen, die ab den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts von Kasimir III. bestätigt und erweitert und nach der polnisch-litauischen Personalunion auch auf litauische Städte ausgedehnt wurden.

Eine ethnisch vergleichbar homogene Bevölkerung findet sich auch in den nicht piastisch dominierten nördlichen und westlichen Nachbarterritorien. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts lebten auch hier kleinräumig und uneinheitlich organisierte westslawische Bevölkerungsgruppen, während nördlich, an Masowien anschließend, baltische Stämme (Prußen, Jatwinger, Litauer) für die masowischen Herzöge eine dauerhafte Bedrohung darstellten, was zu der Ansiedlung des Deutschen Ordens rechts der unteren Weichsel Anlass gab. Das Ausgreifen der sich herausbildenden Territorialgewalten des römisch-deutschen Reichs in die Gebiete zwischen Elbe und Oder und der Landesausbau mit Neusiedlern aus dem Westen bewirkten eine tiefgreifende Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, auch in Gebieten mit einer slawischen Dynastie wie in Mecklenburg und Pommern. Rodung, Siedlungsausbau sowie Städtegründungen nach Lübecker oder Magdeburger Recht drängten langfristig die slawische Bevölkerung zurück.

Die politische Gestalt einerseits und die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschland beziehungsweise vom römisch-deutschen Reich und von Polen andererseits veränderten sich in den fünfeinhalb Jahrhunderten von der Mitte des 10. bis zum ersten Viertel des 16. Jahrhunderts tiefgreifend.

Am Beginn stehen erste kriegerische Zusammenstöße in den 960er Jahren und die versuchte Einfügung der piastischen Macht in die Markenorganisation im Osten des Reichs in den 980er Jahren. Am Ende dieses Zeitraums, um 1500, stehen zwei große Reichsverbände, das Heilige Römische deutscher Nation und das in Personalunion mit dem Großfürstentum Litauen verbundene Königreich Polen, deren politische und intellektuelle Eliten sich im Rahmen der Konzilsbewegung des 15. Jahrhunderts nahegekommen waren.

1 PLESZCZYŃSKI: The Birth, S. 139–148.

2 ŻMUDZKI: Kulturowy kontekst, S. 165–219.

3 THOMAS, Heinz: „Sprache“ und „Nation“. Zur Geschichte des Wortes „deutsch“ vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Andreas Gardt, Berlin/Boston 2000, S. 47–101.

4 HARDT, Matthias: Zur Konzeption der Elbe als Reichsgrenze im frühen und hohen Mittelalter, in: Wasserwege: Lebensadern – Trennungslinien, hrsg. von Claus von Carnap-Bornheim/Herwig Friesinger, Neumünster 2005 (Schriften des archäologischen Landesmuseums. Ergänzungsreihe 3), S. 193–209.

5 sicut incipit a primo latere longum mare fine Bruzze usque in locum, qui dicitur Russe, et fines Russe extendente usque in Craccoa et ab ipsa Craccoa usque ad flumen Oddere recte in locum, qui dicitur Alemure, et ab ipsa Alemura usque in terram Milze, et a fine Milze recte intra Oddere ex exinde ducente iuxta flumen Oddera usque in predictam ciuitatem Schinesghe. Kanonessammlung, III, 199, S. 359; hierzu NOWAK, Przemysław: Recent work on the Dagome iudex in the Collectio Canonum of Cardinal Deusdedit, in: Sacri canones editandi. Studies on Medieval canon law in memory of Jiří Kejř, hrsg. von Pavel Otmar Krafl, Brno 2017 (Ius canonicum medii aevi 1), S. 25–39, hier S. 32–38: ausführliche Besprechung der Gebietsbeschreibung.

6 RUCHHÖFT, Fred: Vom slawischen Stammesgebiet zur deutschen Vogtei. Die Entwicklung der Territorien in Ostholstein, Lauenburg, Mecklenburg und Vorpommern im Mittelalter, Rahden/Westf. 2008 (Archäologie und Geschichte im Ostseeraum 4).

7 KARP, Hans-Jürgen: Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum, Köln/Wien 1972 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 9).

8 LÜBKE: Kernräume und Peripherien, S. 89–103.

9 KELLENBENZ, Hermann: Das Deutsche Reich. Bevölkerungsbewegung, Landesausbau und Ostsiedlung, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2, S. 508–517, hier S. 509f.; GIEYSZTOR, Aleksander: Polen zur Zeit der Piasten, ebenda S. 703–727, hier S. 706f.; KELLENBENZ, Hermann/WALTER, Rolf: Das Deutsche Reich 1350–1650, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 3, S. 822–893, hier S. 827–829; MAŁOWIST, Marian/SIMSCH, Adelheid: Polen 1450–1650, ebenda S. 1074–1086, hier S. 1078f.

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