Читать книгу WBG Deutsch-Polnische Geschichte – Mittelalter - Группа авторов - Страница 9

Einleitung

Оглавление

Das Mittelalter hat aus der Perspektive der deutschen und der polnischen Geschichte unterschiedliche zeitliche Bezugsrahmen. Die deutsche Geschichte entwickelte sich – wie man rückblickend zuordnen kann – auf gemeinsamer Basis mit der französischen Geschichte ab der Mitte des 8. Jahrhunderts aus fränkischen, karolingischen Wurzeln. Erst ab dem späten 11. Jahrhundert kann man von neuen Bezugsgrößen und einer Verselbstständigung zu einer französischen beziehungsweise deutschen Geschichte sprechen. Auch die Anfänge der polnischen Geschichte treten prozesshaft hervor. Die schriftlichen Quellen reichen hier nur bis zu den 960er Jahren zurück. Somit weichen der Beginn des deutschen und der des polnischen Mittelalters deutlich voneinander ab. Weniger gravierend sind die Abweichungen des Endes des Mittelalters in der deutschen und der polnischen Geschichte. Die Jahre um 1500 markieren mit inneren, verfassungsrechtlichen Neuerungen (Reichsreform, Sejm) und den Auswirkungen der Reformation in beiden Fällen einen Einschnitt.

Im Mittelalter vollzogen sich die Prozesse der Volkwerdung, der Ethnogenese, die es erst erlaubten, von „Deutschen“ und „Polen“ zu sprechen. Zu Beginn der gemeinsamen Geschichte, in den sechziger Jahren des 10. Jahrhunderts, wird man noch nicht von „Deutschen“ und einem Siedlungs- und Herrschaftsraum „Deutschland“ sprechen können. Erst im Verlauf des folgenden Jahrhunderts formte sich aus dem ostfränkisch-sächsischen Nachfolgereich des Frankenreichs der Karolinger das „Reich“, das „Imperium Romanum“ mit dem „rex Romanorum“ an der Spitze. Das spätere „Polen“ tritt zu dieser Zeit anlässlich erster Kontakte und Auseinandersetzungen mit den Ottonenherrschern ins Licht der Quellen. In dieser Anfangsphase handelt es sich noch nicht um unmittelbar nachbarschaftliche Beziehungen: Die Herrschaft des ottonischen Reichs reichte noch kaum über die Elbe-Saale-Linie hinaus, der Einflussbereich der piastischen Herrscher aber bis zur Oder. Im Siedlungsgebiet der Elb- und Ostseeslawen vollzog sich die erste Kontaktaufnahme, das erste Kennenlernen von Vertretern der politischen Eliten, die in der Folgezeit – bis etwa zur Mitte des 12. Jahrhunderts – die jeweiligen Herrschaftsräume absteckten und die Basis der politischen Beziehungen aushandelten.

Der historische Raum, der hier in Rede steht – sowohl die Territorien des Reichs und Polens als auch die Gebiete, die die engeren Interaktionen betrafen –, war nicht stabil, sondern Veränderungen unterworfen.

Die zeitliche Abgrenzung der Darstellung orientiert sich an naheliegenden Zäsuren. Die Mitte des 10. Jahrhunderts war der Zeitraum, in dem sich mit der Regierungszeit Ottos I. Stabilität und Legitimität des ostfränkisch-sächsischen regnum gegenüber dem noch bestehenden Westfränkischen Reich in karolingischer Tradition durchgesetzt hatten. Etwa zur gleichen Zeit vollzog sich in den Gebieten zwischen Oder und Weichsel eine großräumige Herrschaftsbildung durch einen dynastischen Verband, der erst später den Namen Piasten erhielt. Diese Herrschaftsbildung, deren Zentrum in Großpolen in dem Gebiet etwa zwischen der Warthe im Westen und Süden und der Netze im Osten lag, geriet im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen zum Jahr 963 erstmals in den Blick zeitgenössischer Beobachter im Reich, womit der Beginn „deutsch-polnischer“ Beziehungen datierbar ist. Das Ende der Darstellungszeit, die Jahre um 1500, markieren sowohl für die deutsche wie für die polnische Verfassungsgeschichte einen Einschnitt: Der Wormser Reichstag 1495 wies mit den Beschlüssen zur Reichsreform (Reichskammergericht, Reichssteuer, Ewiger Landfriede) über die bisherige Herrschaftspraxis hinaus, und zur gleichen Zeit, ab 1493, bildeten die Ständeversammlungen und der Reichstag ihre prägende Stellung im polnischen politischen System aus. Ein Ereignis von dauerhafter, auch erinnerungspolitischer Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen war das Ende des preußischen Ordensstaates durch seine Umwandlung in ein weltliches Herzogtum Preußen, das vom polnischen König lehnsabhängig war.

Die Kontakträume für deutsch-polnische Beziehungen und Verflechtungen sind in der Zeit vom 10. bis zum 15. Jahrhundert nicht stabil, sondern verschieben sich und haben zeitweise unterschiedliche Bedeutung. Fünf Räume lassen sich dabei besonders hervorheben.

Als erster Kontaktraum ist Sachsen zu nennen. Gemeint ist das alte Herzogtum Sachsen, das sich mit den Landschaften Westfalen, Engern und Ostfalen zwischen Niederrhein und unterer Elbe erstreckte und Ausgangspunkt und Zentrallandschaft der ersten „deutschen“ Dynastie, der Liudolfinger oder Ottonen, war. Der Name „Sachsen“ ging nach der Aufteilung des Herzogtums Sachsen 1180 auf den Herrschaftsbereich der Askanier über, aus dem später die Herzogtümer Sachsen-Lauenburg und Sachsen-Wittenberg – das 1356 zum Kurfürstentum erhoben wurde – hervorgingen. Ein zentraler Ort war Magdeburg als Sitz des Bistums, dem 968 die kirchliche Organisation der slawischen Gebiete östlich der Elbe übertragen worden war. Vom späten 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert waren die Vororte der Ottonen im Harzraum (Magdeburg, Quedlinburg, Merseburg) wichtige Orte politischer Kontakte zwischen den römisch-deutschen Königen und den Piastenfürsten.

Hieran schließt sich zweitens der Raum zwischen Elbe und Oder an, der in dieser Zeit von slawischen Stämmen besiedelt wurde, die sich den Zugriffen der Nachbarn im Westen und Osten zu entziehen suchten; zugleich kam es hier punktuell zu Konkurrenz- und Konfliktkonstellationen zwischen den Piasten und Vertretern des Reichs, etwa im Gebiet der Sorben, im Lebuser Land und im Siedlungsgebiet der Lutizen. Das zeigte sich auch beim Aufbau der kirchlichen Organisation im Fall der Bistümer Cammin und Lebus.

Das dritte historische Territorium, auf dem sich deutsch-polnische Austauschvorgänge und Verflechtungen konzentrierten, ist Schlesien. Ab dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde das Land in den Siedlungsausbau, der ab der Mitte des Jahrhunderts die Gebiete östlich der Elbe erfasst hatte, einbezogen. Die schlesischen Piasten förderten die Erschließung des Landes, die Anlage neuer Dörfer und Städte und die Ansiedlung fremder Siedler aus dem Reich. Das hatte auch weitreichende Folgen in kultureller Hinsicht: Die deutsche Sprache und die Adelskultur aus dem Reich prägten ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert die Herzogtümer im Oderland, und die schlesischen Herzöge standen durch vielfache Eheverbindungen in enger Beziehung mit deutschen Adelsfamilien. Diese Beziehungen und Einflüsse trugen dazu bei, dass die schlesischen Herzogtümer im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts ihr Land vom König von Böhmen zu Lehen nahmen, während das Bistum Breslau weiterhin beim Erzbistum Gnesen verblieb.

Im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts bildete sich mit dem Preußenland ein viertes Feld aus, das für die deutsch-polnischen Beziehungen in den folgenden Jahrhunderten, im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, große Bedeutung hatte. Hier dominierte aber bald nicht ein Austauschverhältnis, sondern eine konfrontative Konstellation. Dabei stand am Beginn dieser Entwicklung, der Ansiedlung des Deutschen Ordens an der unteren Weichsel mit dem Ziel, die prußischen Stämme, von denen sich die masowischen Herzöge bedroht sahen, als politischen Machtfaktor auszuschalten, keineswegs eine erkennbare deutsch-polnische Konfrontation. Mit dem Antritt des Erbes der Samboriden in Pommerellen 1309 durch den Deutschen Orden etablierte sich dann jedoch eine Konfliktkonstellation zum Königreich Polen, die über Prozesse, Kriegshandlungen, Friedensverträge, unter anderem den Ersten und Zweiten Thorner Frieden, bis zur Säkularisation des Ordensstaates 1525 anhielt.

Schließlich stellten die Kernräume der piastischen Herrschaft beziehungsweise des Königreichs Polen, Großpolen und Kleinpolen, in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten deutsch-polnische Kontaktzonen dar. Nach Großpolen, wo es sogar im Frühjahr 1000 in Gnesen und im Sommer 1157 in Krzyszkowo bei Posen zu deutsch-polnischen Herrschertreffen kam, bestanden enge politische und kirchliche Beziehungen, wenn man an die sogenannten kölnischen Zisterzienserklöster denkt. Ab dem späten 13. Jahrhundert intensivierten sich von hier politische Beziehungen zu Brandenburg. Kleinpolen entwickelte vor allem im Spätmittelalter enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zum Reich. Wichtig waren vor allem die Fernhandelsbeziehungen durch die Lage Krakaus am wichtigsten West-Ost-Landhandelsweg und die Ausstrahlung der Universität Krakau, während der dortige Landesausbau noch weniger als in Großpolen durch den Zuzug von Siedlern aus dem Reich geprägt wurde.

Die Darstellung gibt im ersten Teil (I) zunächst einen Überblick über die zeitlichen Strukturen der deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen in den mehr als fünf Jahrhunderten. In politikgeschichtlicher Perspektive lassen sich hier drei Abschnitte unterscheiden. Der erste Abschnitt setzt mit dem Beginn gegenseitiger Interaktion in den 960er Jahren ein und endet etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum zeigten die römisch-deutschen Könige immer wieder ein direktes Interesse an der Entwicklung in den piastischen Ländern und engagierten sich diplomatisch, militärisch und in persönlichen Kontakten. Spätestens mit dem Tod Friedrich Barbarossas und der Etablierung verschiedener piastischer Herzogtümer zeichnet sich eine Regionalisierung der politischen Beziehungen ab. Die späteren Herrscher hatten kein direktes nachbarschaftliches Interesse an Beziehungen zu Polen. Als Kontaktregionen für die deutsch-polnischen Beziehungen bildeten sich Pommern und Pommerellen, das Lebuser Land und Schlesien einerseits und die neuen Landesherrschaften in Brandenburg und im wettinischen Sachsen andererseits heraus. Wenn die starken landesgeschichtlichen Prägungen der deutsch-polnischen Beziehungen auch fortbestanden, so zeichneten sich ab dem 14. Jahrhundert in Polen und im Reich neue Strukturelemente ab, die auch beziehungsgeschichtlich prägend werden: In Polen ist es das wiedererrichtete Königtum und dessen Einbindung in weiter reichende politische Kontexte durch die Personalunionen mit Ungarn (1370) und Litauen (1386). Im Reich wurde die Politik in nachstaufischer Zeit durch die Wittelsbacher, Luxemburger und Habsburger geprägt, die in ihren größeren überdynastischen Planungen auch wieder auf Polen Bezug nahmen; dabei spielten auch die Auseinandersetzungen um den Deutschen Orden in Preußen eine Rolle.

Im zweiten Teil des Überblicks werden die deutsch-polnischen Verflechtungen mit Blick auf die verschiedenen sozialen Träger ins Auge gefasst. Auf der Ebene des Adels geht es um die Beziehungen zwischen Angehörigen der Piasten und der Herrscherfamilien im Reich. Von diesen Beziehungen gibt es zumindest vor dem 14. Jahrhundert kaum Niederschläge in Urkunden oder in erzählenden Quellen. Über lange Zeit stellen die Ehebeziehungen, die oft nicht zeitgenössisch dokumentiert sind, sondern sich nur im Nachhinein erschließen lassen, die einzigen Hinweise auf enge politische Kontakte auf dieser sozialen Ebene dar. Eine neue Situation trat ab der Mitte des 13. Jahrhunderts ein, als Angehörige ritterlicher Familien aus dem Reich nach Polen kamen, zunächst nach Schlesien; von mittelbarer Bedeutung waren auch die Ordensritter, die ins Ordensland kamen. Bei diesen Kontakten mit den Piastenfürsten kam es zu intensivem kulturellen Austausch, der Vermittlung der deutschen Sprache an schlesischen Piastenhöfen und von Elementen der ritterlichen Kultur. Im Zuge des Landesausbaus erfuhr die Stadtentwicklung sowohl in den deutschen Kolonisationsgebieten östlich der Elbe als auch in Polen entscheidende Impulse. Das Städtenetz wurde durch zahlreiche Um- und Neugründungen zu deutschem Recht dichter, es wurde fast überall das Magdeburger Recht angenommen, und die topografische Gestalt der Städte wies nun eine Planmäßigkeit der Straßenführung um den zentral gelegenen Marktplatz (rynek) auf. Diese Zuwanderung führte in vielen Städten zu Zweisprachigkeit im Alltag (Polnisch und Deutsch), aber auch in der städtischen Verwaltung (Latein und Deutsch). Die neuen Städte hatten prägenden Einfluss auf das Wirtschaftsleben Polens im 14. und 15. Jahrhundert, und zwar im Hinblick auf die handwerkliche Produktion und auf den Fernhandel. Überragende Bedeutung hatte hier Krakau für den Handel nach Lemberg und weiter bis ans Schwarze Meer einerseits und für den Handel nach Westen über Breslau nach Nürnberg und Frankfurt und weiter. Im 15. Jahrhundert gewann auch Posen als Markt- und Fernhandelsort nach Oberdeutschland Profil. Die bäuerliche Siedlung wurde nach dem Mongoleneinfall von 1241 bedeutsam. Sie erfasste die piastischen Länder in unterschiedlichem Maß. Von Schlesien ausgehend, wo mehrere Hundert neue Dörfer angelegt wurden, kam eine beträchtliche Anzahl von Siedlern auch nach Großpolen; deutlich geringer war die Anzahl fremder Siedler in Kleinpolen und vor allem in Masowien, die hier rasch polonisiert wurden. Kirchliche Kontakte, die von Klerikern getragen wurden, standen am Beginn deutsch-polnischer Interaktionen und werden mit der Taufe Mieszkos 965/966 eingesetzt haben. Es ist nicht erstaunlich, dass ein Großteil der führenden Kleriker in Polen im 11./12. Jahrhundert aus dem Reich stammte, und zwar nicht aus dem noch jungen sächsischen Erzbistum Magdeburg, sondern aus dem Westen des Reichs. Kirchliche Kontakte und Beziehungen drückten sich nicht nur in persönlichen Kontakten aus, sondern auch in Kultbeziehungen, die sich in der Vermittlung von Patrozinien, kirchlichen Weihetiteln, und in gemeinsamer Gebets- und Memorialpraxis niederschlugen. In der Mitte des 12. Jahrhunderts beobachtet man dann eine kirchliche Konkurrenzkonstellation in den Kontaktregionen zwischen dem Reich und Polen beim Aufbau der Bistümer Cammin und Lebus. Wichtige Träger kirchlichen Lebens waren die monastischen Institutionen, deren erste Vertreter ebenfalls aus dem Westen des Reichs stammten. Die Zisterzienser im Osten des Reichs und in Polen nahmen ihren Ausgang von den Tochtergründungen Morimonds im Reich, Kamp und Altenberg.

Die Auswahl der im zweiten Teil (II) thematisierten Fragen und Perspektiven deutsch-polnischer Verflechtungen erfolgte auch unter dem Gesichtspunkt geschichtswissenschaftlicher Kontroversen und außerwissenschaftlicher Debatten in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit über Themen der gemeinsamen mittelalterlichen Geschichte. Eine lange diskutierte Fragestellung ist die Beziehung des Reichs zu Polen in staatsrechtlicher Perspektive. Die neuere Forschung hat zu einem Wahrnehmungswechsel geführt und den politischen Stellenwert von Handlungen der symbolischen Kommunikation im öffentlichen Raum erkannt. Der Charakter eines tributären Verhältnisses der piastischen Herrscher gegenüber den römisch-deutschen Königen ist bis zum Ende des 12. Jahrhunderts erkennbar. Vielleicht noch umstrittener waren die Fragen der Beschreibung und Bewertung des hochmittelalterlichen Landesausbaus, der lange verengt als „deutsche Ostsiedlung“ oder „deutsche Ostkolonisation“ wahrgenommen wurde. Die in der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzende, von den piastischen Herzögen eingeleitete Bewegung veränderte durch den Zuzug neuer Siedler zu besonderem Recht, die Anlage neuer Dörfer und Städte und den Einsatz neuer Techniken das Gesicht des mittelalter-lichen Europas und gestaltete eine der zivilisationsgeschichtlich wichtigsten Epochen der europäischen Geschichte. Ein drittes, in den nationalen historiografischen Kulturen umstrittenes Thema waren die Tätigkeit des Deutschen Ordens in Preußen und sein Verhältnis zu Polen. Vor den nationalen Wertungen des 19. Jahrhunderts ging es um die Legitimität des Wirkens des Ordens, dessen zeitgenössische Kontextualisierung und die Beziehung zu den polnischen Herzogtümern beziehungsweise dem Königreich und später um die geschichtliche Einordnung der Geschichte des Ordenslandes. Schließlich werden drei wichtige thematische Bereiche der deutsch-polnischen Verflech-tungsgeschichte angesprochen. Fürstliche Höfe waren ab dem 10. Jahrhundert die sozialen Orte, an denen gegenseitige Wahrnehmung und in der Folge die Bildung erster Stereotype zur Einordnung des anderen sowie unmittelbarer Austausch stattfand. Hierbei erlernte man die sozialen Codes der fremden Nachbarn; ab dem 13. Jahrhundert wurden diese Interaktionen regionalisiert und gesellschaftlich ausgeweitet. Die wichtigste Region für Austauschvorgänge auf der Ebene adeliger Höfe war Schlesien, im späten Mittelalter auch Preußen mit den Hofhaltungen des Deutschen Ordens in Marienburg und Königsberg, an denen sich nicht nur Ritter aus dem Reich einfanden, und die kulturelle Ausstrahlung auf die polnische Adelskultur hatten. Die deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte kann ohne Berücksichtigung der jüdischen Bevölkerungsgruppen nur unzureichend beschrieben werden. Jüdische Gemeinden sind ab dem 11. Jahrhundert an mehreren Orten im Westen des Reichs, aber auch in Magdeburg und Prag nachzuweisen. In den piastischen Ländern sind jüdische Gemeinden in größerer Anzahl ab der sogenannten Lokationswende in der Mitte des 13. Jahrhunderts nachgewiesen, die dort wiederholt fürstliche Privilegien erhielten. Anders als im Reich lebten die Juden in Polen ohne räumliche Trennung mit der christlichen Bevölkerung zusammen. Der Verfolgungsdruck im Reich ab der Mitte des 14. Jahrhunderts verstärkte die Auswanderung nach Polen, wo es im Mittelalter nicht zu großflächigen antijüdischen Ausschreitungen kam. Intellektuelle Austauschvorgänge zwischen dem Reich und Polen setzten unmittelbar nach dem Glaubenswechsel ein und gingen zunächst von Domschulen in Ostsachsen, im Rheinland und in Franken aus. Ein quantitativ höheres Niveau erreichten sie ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert, als auch in Mitteleuropa Universitäten gegründet wurden. Polnische Studenten finden sich zunächst vor allem in Prag, Leipzig, Wien und Köln. Die Universität Krakau entwickelte ihrerseits im 15. Jahrhundert eine beträchtliche Attraktivität für Besucher aus dem Reich; vor allem in den Jahrzehnten um die Wende zum 16. Jahrhundert wurde die Universität zu einem Zentrum humanistischer und astronomischer Studien.

Die deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen im Mittelalter sind mit Blick auf die angesprochenen Zeitabschnitte und die dargestellten Themen von durchaus unterschiedlicher Art. Es handelt sich zunächst um Einwirkungen, Einflüsse aus dem römisch-deutschen Reich auf die polnische Geschichte, die sich in deutlich stärkerem Maß nachweisen lassen als entsprechende polnische Einwirkungen auf die deutsche Geschichte. In zweiter Sicht werden parallele Entwicklungen im Reich und in Polen, die ohne primäre gegenseitige Einflussnahme angestoßen wurden, angesprochen und verglichen. Drittens werden Kooperationen und Interaktionen deutscher und polnischer Akteure beschrieben, die sich vor allem ab der Mitte des 14. Jahrhunderts konkretisierten.

An verschiedenen Stellen wird die Mehrsprachigkeit des deutsch-polnischen Mittelalters angesprochen. Die moderne Wissenschaftssprache verstellt hierauf leicht den Blick, auch dadurch, dass, um Irritationen zu vermeiden, eine einheitliche Benennung der Personen und Orte erfolgen. Hier wird durchweg die deutsche Namensform benutzt, wenn sie belegt und gebräuchlich ist, auch wenn im mittelalterlichen Sprachgebrauch bei Ortsnamen vielfach die polnische Namensform verwendet wurde.

Der Stellenwert der beziehungsgeschichtlichen Aspekte für die jeweilige Nationalgeschichte ist durchaus unterschiedlich zu bewerten. Für die römisch-deutschen Könige hatten die Beziehungen zu Polen im Zeitraum von etwa 960 bis 1180 zeitweilig einen hervorgehobenen, aber keinen durchgängig bestimmenden Stellenwert. Seit der Stauferzeit waren sie angesichts ihrer regionalen Hausmacht, die keine direkten Bezüge zum polnischen Nachbarn aufwies, in deutlich geringerem Maß an der Gestaltung der Beziehungen interessiert. Diese Funktion wurde in stärkerem Maß von den Landesherrschaften im Osten des Reichs übernommen. Für die Piastenherrscher waren ebenfalls die Beziehungen zum Reich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts außergewöhnlich prägend. Danach – ab der Mitte des 14. Jahrhunderts – war die Blickrichtung stärker auf östliche Nachbarn gerichtet, den Deutschen Orden in Preußen, Ungarn und das Großfürstentum Litauen. Über die Konflikte mit dem Deutschen Orden gewannen die Beziehungen zu den römisch-deutschen Königen, vor allem zu den Luxemburger Herrschern, wieder an Bedeutung, in starkem Maß vermittelt über die kirchliche Orientierung zum Papsttum und zur konziliaren Bewegung.

Aufschlussreich sind die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster von Deutschen und Polen, die sich vor allem in der zeitgenössischen Historiografie schon ab dem späten 10. Jahrhundert fassen lassen; ab dem späten 13. Jahrhundert bildeten sich vor dem Hintergrund intensivierten Zusammenlebens durch die verstärkte Siedlung deutlich national geprägte Selbst- und Fremdstilisierungen aus. Abschließend wird die Bedeutung von Mittelalterbildern für die gegenseitige Wahrnehmung in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts angesprochen. Auf das Mittelalter wurde in zum Teil deutlich national akzentuierten Diskursen in der Geschichtswissenschaft, in der historischen Belletristik und in der Aktualisierung von Personen und Ereignissen im öffentlichen Raum, vor allem anhand von Geschichtsdenkmälern, zurückgegriffen.

Die Präsenz von Episoden der mittelalterlichen Geschichte ist im deutschen und polnischen Geschichtsbewusstsein unterschiedlich ausgebildet, rechtfertigt und erfordert aber gerade deshalb den Versuch einer Gesamtschau paralleler und interagierender Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens.

WBG Deutsch-Polnische Geschichte – Mittelalter

Подняться наверх