Читать книгу Geheime Depeschen aus Berlin - Группа авторов - Страница 8

Einleitung François-Poncet, die Diplomatie und der Nationalsozialismus

Оглавление

»Ich gab mich keinerlei Illusionen über den Charakter Adolf Hitlers hin.«

André François-Poncet 1938

André François-Poncet kam am 13. Juni 1887 als Sohn eines Verwaltungsbeamten zur Welt, wuchs in einer großbürgerlichen Familie in Paris auf und studierte an der École normale supérieure, der Kaderschmiede der humanistisch gebildeten republikanischen Elite. Als Soldat im Ersten Weltkrieg wurde er 1917 in Verdun verwundet und arbeitete danach in Bern in der Schweiz für einen Presse- und Informationsdienst des Außenministeriums. Als Germanist mit Wirtschaftskenntnissen verfolgte er aufmerksam die Entwicklungen in Deutschland1 und entschied sich nach dem Krieg für eine journalistische Laufbahn, die er Zeit seines Lebens nie ganz aufgab. Noch 1941 schrieb er für Le Figaro. Als Redakteur des von Robert Pinot herausgegebenen täglichen Bulletins für das Hüttenkomitee (Comité des Forges) der Kohle- und Stahlindustrie bildete er das Bindeglied zwischen der französischen Schwerindustrie und der politischen Rechten und wechselte schließlich ganz in die Politik. 1924 wurde er als Abgeordneter für das Département Seine gewählt. Politisch vertrat François-Poncet tendenziell den wirtschaftsnahen konservativen rechten Flügel der Republikaner. Von November 1928 bis Februar 1930 gehörte er als Unterstaatssekretär für Unterricht und Bildende Kunst der Regierung von Ministerpräsident Raymond Poincaré an. Im Anschluss fungierte er als Unterstaatssekretär im Wirtschaftsministerium in den Regierungen Laval und Tardieu. Nach einer Mission im August ernannte ihn der damalige Ministerpräsident Pierre Laval2 am 21. September 1931 zum Nachfolger von Pierre de Margerie zum französischen Botschafter in Berlin. François-Poncet blieb es also erspart, wie sonst in der Berufsdiplomatie üblich, zunächst mit wechselnden Aufgaben in Paris und ausländischen Missionen Stufe um Stufe die Karriereleiter innerhalb der Botschaftshierarchie zu erklimmen. Dass er dennoch in Berlin rasch zu Ansehen kam, lag sicher an seiner umfassenden Kenntnis von Land und Leuten, seiner verbindlichen Wesensart und vielleicht auch an seinem Fleiß, der sich nicht zuletzt in seinem berühmten diplomatischen Schriftverkehr niederschlug. Den Posten als Botschafter bekleidete er bis zu seiner Versetzung nach Rom im Oktober 1938, wo er, wie er später selbst schrieb, Mussolini zur Wahrung des Friedens in Europa zu bewegen hoffte. Sein Nachfolger in Berlin wurde Robert Coulondre.3

Als André François-Poncet nach Berlin kam, kannte er Deutschland bereits gut und sprach, wie viele gebildete Franzosen seiner Generation, fließend Deutsch. 1908 und 1909 hatte er in Berlin und München sein Germanistikstudium vertieft und dort seine Abschlussarbeit über Goethes Wahlverwandtschaften geschrieben.4 Schon früh hatte er populärwissenschaftliche Werke über Deutschland und die Deutschen veröffentlicht; im Laufe der folgenden 50 Jahre sollten weitere folgen. Er war konservativ, wenn auch mit zutiefst republikanischer Gesinnung, und ein entschiedener Gegner von Faschismus, Autoritarismus und Nationalsozialismus. Der Botschafterposten in Berlin war zu dieser Zeit schon nicht mehr der begehrteste, den das Außenministerium am Quai d’Orsay zu vergeben hatte (diesen Platz hatte Washington übernommen), zumal das Land von einer schlimmen Wirtschaftskrise und massiven sozialen und politischen Unruhen geschüttelt wurde. Immerhin fand François-Poncet dort ein gut eingespieltes Botschaftsteam vor. Auch wenn Berlin durchaus die Annehmlichkeiten einer Metropole mit blühender Kultur und regem Gesellschaftsleben bot, gab in Deutschland vieles Anlass zur Sorge, etwa die von den Kommunisten, vor allem aber den Nationalsozialisten geschürte Gewalt in den Straßen, der drohende Zusammenbruch der Wirtschaft oder das ungelöste Problem der Reparationszahlungen. Somit lagen gewaltige Aufgaben vor dem neuen Botschafter, der die in rascher Folge eintretenden Veränderungen beurteilen, deuten und seinen Vorgesetzten in Paris melden musste.

Dabei konnte André François-Poncet in Deutschland auf ein französisches Diplomatennetz zurückgreifen, das in den Dreißigerjahren sehr dicht geknüpft war, da Frankreich dem großen Nachbarn im Osten traditionell besondere Aufmerksamkeit widmete und dort zahlreiche diplomatische Vertretungen unterhielt. In der Botschaft waren 1933, abgesehen vom Botschafter selbst, folgende Mitarbeiter tätig: Pierre Arnal als Generalkonsul in der Funktion als Botschaftsrat, Roland Jacquin de Margerie als Botschaftssekretär zweiter Klasse und amtierender Erster Sekretär; Gauquié als Sekretär zweiter Klasse, Seydoux als Sekretär dritter Klasse und amtierender Sekretär zweiter Klasse, Denaint, Konsul dritter Klasse, Brincard, stellvertretender Konsul und amtierender dritter Sekretär.5 Zur Entlastung des Botschafters und seines ersten Beraters beschäftigte die Botschaft ab 1937 vier Sekretäre erster, zweiter und dritter Klasse sowie einen Botschaftsrat, einen Kanzleiangestellten als Archivar, einen Handels- und einen Finanzattaché sowie einen Handelsvertreter.6

Über die Botschaft und das Generalkonsulat in Berlin hinaus unterhielt Frankreich 1933 vier weitere Generalkonsulate in Köln (Dobler), Dresden (Boissier), Hamburg (Saugon) und Stuttgart (Henriet) sowie eine Gesandtschaft in München. Zum diplomatischen Netzwerk gehörten außerdem sieben Konsulate in Bremen (Eybert), Düsseldorf (Henry Noël), Frankfurt am Main (Dufrot), Karlsruhe (Henry Guérin), Königsberg (Gustave Martin), Leipzig (Tournès) und Mainz (Guéritte).7 1937 existierte darüber hinaus ein Konsulat in Saarbrücken.8 Zudem gab es mindestens mehrere Dutzend Honorarkonsuln; viele davon waren Juden.

Schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Berlin warnte François-Poncet in seinen Berichten vor der NSDAP, deren zunehmender Einfluss auf die deutsche Politik ihn sehr beunruhigte. Dabei kam ihm die gerade laufende Modernisierung der Kommunikationswege seines Außenministeriums zugute, die den Versand von verschlüsselten Telegrammen, Reprographien und Pressespiegeln ermöglichte. Im Vorjahr hatte die NSDAP ihren ersten großen Wahlsieg erzielt. Ohne damals schon ihre Machtübernahme mit Gewissheit vorhersagen zu können, sah François-Poncet die Partei als massive Bedrohung. Auch die Anzeichen für ein Wiedererstarken des deutschen Nationalismus beurteilte er kritisch. Ende 1931 ging es in seinen Berichten unter anderem um folgende Themen:

4. Dezember 1931, Nr. 1077: betr. die Organisation der nationalsozialistischen Sturmtruppen (Artikel im Bayerischen Kurier)

10. Dezember 1931, Nr. 1090, betr. neuerliche Gewaltexzesse der Nationalsozialisten

16. Dezember 1931, Nr. 1111, betr. die Gründung eines NS-Fliegerkorps

17. Dezember 1931, Nr. 1116, betr. eine Pressekonferenz Hitlers für britische und amerikanische Journalisten

18. Dezember 1931, Nr. 1117, betr. die Organisation der NSDAP und Frankreichs

18. Dezember 1931, Nr. 1119, betr. den Werdegang des NS-Abgeordneten und möglichen Präsidentschaftskandidaten General von Epp.

Die Berichte und Telegramme schildern zudem im Detail die extrem komplizierten Bemühungen der deutschen Regierung, die immer selbstbewusster werdenden rechtsextremen Gruppierungen im Zaum zu halten. Die durchweg schwachen Regierungen stärkten hierzu entweder die Exekutive bis hin zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten oder versuchten, das angeschlagene demokratische Staatsgefüge einigermaßen aufrechtzuerhalten. Diesen Spagat beschrieb François-Poncet etwa im April 1932 in seiner Analyse des vom preußischen Innenminister vorgelegten Berichts über die Vorbereitungen der Nationalsozialisten für die Machtübernahme.9 Der Geheimdienst der NSDAP [der spätere Sicherheitsdienst], so die Depesche, hatte nicht nur die Aufgabe, die Polizei, sondern auch die Reichswehr zu bespitzeln (das vom Versailler Vertrag nach dem verlorenen Weltkrieg zugestandene Heer), um »die Organe der Staatsgewalt von innen her zu zersetzen«. Die Erkenntnis, dass sich damit die Vereinnahmung der Staatsorgane durch die Partei im Keim bereits als typisches Phänomen und grundlegendes Ziel des Faschismus andeutete, führte 1932 vorübergehend zum Verbot der SA.10

Ein weiteres Beispiel für François-Poncets wachen Blick sind seine umfassenden Berichte über die Bemühungen des Kabinetts Schleicher, das am 3. Dezember 1932 als letzte Regierung der Weimarer Republik die Arbeit aufnahm: »Der Reichspräsident hat, wie vom Reichskanzler kürzlich in einer Rundfunkrede angekündigt, am Dienstag, dem 20. Dezember, die neue Verordnung ›zur Erhaltung des inneren Friedens‹ erlassen. Sie setzt die Verordnungen vom 14. und 28 Juni, 9. August und 2. November des Vorjahres mit einer Reihe Maßnahmen gegen politische Ausschreitungen und zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ganz oder teilweise außer Kraft. Eine weitere Folge [der neuen Verordnung] ist die Auflösung der Sondergerichte […]. Das Verbot jeglicher öffentlichen Versammlung wurde ebenso aufgehoben wie die Verpflichtung der politischen Vereine, ihre Statuten dem Innenministerium vorzulegen und auf behördliche Aufforderung abzuändern.«11 Kurt von Schleicher wurde in der »Nacht der langen Messer« im Juni 1934 ermordet.

Besondere Aufmerksamkeit widmete François-Poncet der SA, dem unter dem Namen »Stahlhelm«12 agierenden paramilitärischen Bund ehemaliger Frontsoldaten mit revanchistischen und irredentistischen Strömungen sowie weiteren der damals zahlreichen reaktionären und faschistischen Bewegungen. Noch am 11. Januar 1933, 19 Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, schilderte er in einem seiner Berichte eine Demonstration für den Anschluss Ostpreußens und damit für die Abschaffung des »Danziger Korridors«, der das deutsche Gebiet an der Ostsee seit der Neugründung Polens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vom übrigen Deutschen Reich trennte. Über die Großveranstaltungen des Stahlhelms zum zehnten Jahrestag der Ruhrbesetzung am 12. Januar heißt es: »Zum Jahrestag hatte die nationalistische Vereinigung Stahlhelm zu einer Festveranstaltung am Rhein aufgerufen; am Abend des 10. Januar wurden oberhalb des Stroms, der von der Schweizer Grenze bis nach Holland fließt, Feuer entzündet. Zeitgleich strömten aus allen Teilen des Ruhrgebiets Stahlhelm-Mitglieder mit Lastwagen in Essen zusammen und versammelten sich zu einer Kundgebung auf dem Burgplatz.«13

Ein Bericht vom 19. Januar 1933 erläuterte die Propaganda für eine Neuordnung der Ostgrenzen, ein anderer vom 24. Januar schilderte den Osthilfeskandal, der das agrarpolitische Unterstützungsprogramm für die östlichen preußischen Provinzen betraf und vom Umfang her mit dem Panamaskandal vergleichbar war. Am 25. Januar – nur sechs Tage vor der »Machtergreifung« Hitlers – machte François-Poncet sich in seinem täglichen Bericht nach Paris Gedanken über die Chancen der NSDAP bei den nächsten Wahlen: »Die bei Hitlers Anhängern seit den Wahlen vom 6. November erkennbare Zurückhaltung schien sich zu verstärken, und die Regierung hatte offenbar Sorge, der Rückgang könne schneller als erwartet oder gewünscht verlaufen, doch dann stellte der Wahlerfolg der Nationalsozialisten am 15. Januar im kleinen Freistaat Lippe den Kampfgeist des Parteichefs wieder her und beschwor zumindest vorerst erneut die Gefahr einer massiven Spaltung herauf. Doch wird der Wiederaufschwung, der Herrn Hitler gelang, auch von Dauer sein?«14

Auch wenn die heutigen Historikern wohlbekannten Geheimverhandlungen, die hinter den Kulissen längst stattfanden und letztlich Hitlers »Machtergreifung« zur Folge hatten, in den Berichten nicht im Detail erläutert werden, wurden die französischen Diplomaten unmittelbar Zeugen der brachialen Abschaffung der Demokratie. Am 2. März 1933 berichteten sie über die Unterzeichnung einer neuen »Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volke und verräterische Umtriebe«, die in ihren Augen eine »gefährliche Waffe in den Händen einer Regierung [darstellte], die zum einen die kommunistischen Umtriebe eindämmen und zugleich im Schutz eines dichten Netzes äußerst repressiver Verordnungen das Wiedererstarken Deutschlands als Militärmacht vorantreiben will«.15 Am 15. März 1933 schreiben sie über die Gründung eines Propagandaministeriums, am 16. März über die Verhaftung eines Franzosen aus Forbach namens Dr. Klauber, der enge Beziehungen zur Botschaft unterhielt (und festgenommen wurde, weil man bei ihm sozialistische Pamphlete gefunden hatte), am 3. April dann über das Verbot ausländischer Zeitungen.

Die Berichte aus Berlin und die Konsulatstelegramme behandeln eine ganze Reihe von Themen. Im Mittelpunkt stehen gleichwohl die deutsche Innenpolitik und die entsprechenden Äußerungen der Regierung, denn die vorrangige Aufgabe einer modernen Botschaft besteht ja darin, praktisch in Echtzeit über die jeweils aktuelle Lage zu berichten. Doch ebenso werden Aufbau, Führungsriege und Ideologie der NSDAP darin minutiös aufgeschlüsselt. Generell um die deutsche Gesellschaft und die öffentliche Meinung – soweit sie sich in der aus Sicht der französischen Diplomaten verblüffend schnell entstandenen Diktatur zu erkennen gab – geht es in vielen Ausführungen, etwa über die Wirtschaftskreise, die Arbeiter oder, wenn auch in geringerem Umfang, die Bauern. Die Reaktionen der Deutschen auf die brutale politische Repression und die massive Propaganda ihres neuen Regimes werden eingehend untersucht. Zahlreich sind auch Schilderungen von Aufbau und Aktivitäten der Hitlerjugend und anderer parteinaher Organisationen, der Hochschulreformen und des Bildungswesens im Allgemeinen und der damit angestrebten Verinnerlichung der neuen Rassenideologie. Im Juli 1933 beispielsweise heißt es in Bezug auf die höhere Schulbildung: »Die Geschichte, die Herr Frick den Kindern beibringen lassen will, ist nicht die Geschichte Deutschlands, sondern die der germanischen Rasse. Nach seinen Vorstellungen sollen die Lehrer die engen Bindungen der Menschen im deutschen Reich zu den Skandinaviern betonen. Zudem sollen sie ihren Schülern nahebringen, dass ein Drittel der Deutschen derzeit außerhalb der Reichsgrenzen lebt, und das Interesse der Jugend für diese Brüder im Exil wecken.«16

Da einige Texte die Rassenideologie zu erläutern versuchen, waren sich die französischen Diplomaten augenscheinlich schon früh bewusst, dass es sich beim neuen deutschen Regime nicht um eine »klassische« Diktatur handelte: »Die französische Öffentlichkeit neigt dazu, die nationalsozialistische Revolution als überwiegend politisch motiviertes, gewagtes Unterfangen abzutun, das durch Arbeitslosigkeit und Armut beflügelt und von schlichten Abenteurern in die Tat umgesetzt worden sei«, erklärt eine Depesche schon im Juni 1933. »Sie ignoriert dabei die theoretischen Grundlagen, auf die diese Abenteurer ihre Machtergreifung stützen, oder nimmt sie nicht ernst. Der ›Rassismus‹, das wiedererweckte ›Germanentum‹, die Schaffung einer neuen Welt durch ›rassenreine Arier‹ wirken [auf Franzosen] wie geradezu lächerliche Ideen, auf die man nicht allzu viel Zeit verschwenden sollte.«17

Wenn François-Poncet über die Nazi-Propaganda, die vielen spektakulär in Szene gesetzten Aufmärsche und die Nürnberger Parteitage schrieb, wurde er scharf und zugleich geradezu lyrisch. Im Bericht über den Parteitag von 1935 schilderte er ein »in jeder Hinsicht grandioses Schauspiel, dessen Szenen einem vertrauten Rhythmus folgen, mit einer überwältigenden Abfolge kolossaler Tableaux vivants, endlosen Massenversammlungen, Strömen vorbeimarschierender Menschen und Paraden, die in ihrer Stärke mit ganzen Armeen konkurrieren können. Gerade erst endete der siebte Parteitag der NSDAP, der dritte seit der Machtübernahme Hitlers und seiner Anhänger. Acht Tage lang hatte er ganz Deutschland in Atem gehalten, Hunderttausende wachgerüttelt und eine regelrechte Völkerwanderung nach Nürnberg in Bewegung gesetzt, hin zur heiligen Stätte zahlloser Massen, die alle von derselben Sehnsucht angetrieben sind, den auserwählten Mann zu sehen und zu hören, der ihr Land so sehr verzaubert hat und nach vierzehnjährigem Bemühen um die Erweckung des Nationalbewusstseins im Volk nicht nur Staatschef und Volksführer geworden ist, sondern eine Art Messias der germanischen Rasse.«18

Auch über den Stellenwert der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland schreibt François-Poncet ausführlich, oft mit großer Sorge angesichts der zunehmenden Unterdrückung vor allem der Katholiken. Ebenso interessiert ihn die Rolle der Habsburger und Hohenzollern in der neuen Führungsriege, vor allem die Frage, was es mit der von der NSDAP augenscheinlich angestrebten Restauration des Kaiserreichs wirklich auf sich hat.19 Die schnelle und tief greifende Neuordnung der deutschen Verwaltung verfolgen die französischen Botschaftsmitarbeiter sehr aufmerksam, stets in engem Kontakt mit ihren deutschen Kollegen im Auswärtigen Amt, das Gegenstand eingehender Betrachtungen ist. Große Sorge weckt vor allem die Vereinnahmung und schrittweise, wenn auch zunächst noch begrenzte (erst 1942 vollständige) Nazifizierung der Diplomatie.20 Die französischen Diplomaten erkennen den totalitären Charakter des Regimes und seine absolute Kontrolle über alle Bereiche der Gesellschaft, ohne jedoch die ganze Tragweite und Brutalität seiner Unterdrückungsmechanismen zu begreifen. Ein eigenartig reges Interesse zeigen sie für die SA, selbst nachdem deren Anführer in der »Nacht der langen Messer« im Juni 1934 ermordet worden waren, während die SS so gut wie gar nicht erwähnt wird und die Besonderheiten der erst ab 1936 Zug um Zug zusammengelegten Polizeibehörden von Gestapa über Gestapo bis Kripo in den Berichten aus Berlin nicht thematisiert werden. Auch die Konzentrationslager, die viele schon in dieser Phase voller Sorge beobachteten, kommen praktisch nicht vor.

Wirtschaftsfragen hingegen werden aufgrund von François-Poncets ausgeprägtem Interesse auf Hunderten von Seiten besprochen. Ihre Verfasser waren im Licht unserer heutigen Kenntnis der deutschen Wirtschaftsgeschichte dieser Epoche erstaunlich scharfsinnig, beispielsweise, was den vermeintlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit betrifft, den das Regime zum großen Teil künstlich herbeiführte, indem es weite Teile der Bevölkerung, allen voran Juden und Frauen, systematisch vom Arbeitsmarkt ausschloss und zudem Arbeitskräfte für Großprojekte mobilisierte. Zugleich zeigen die Berichte sehr genau die bestehenden Engpässe aufgrund fehlender Rohstoffe und Kredite auf.21

François-Poncet wiederholte sich häufig, fasste oft die bereits übersandten Informationen noch einmal zusammen, als sei es ihm ein Bedürfnis gewesen, ständig über das »Dritte Reich« zu schreiben. In seinen weitschweifigen Texten treten die Handlungsweisen des Regimes, seine unablässigen Reformen und Vorstöße und die ständige Mobilisierung der Massen plastisch hervor. Klar erkennt man die politische Landschaft, die Hannah Arendt 20 Jahre später in ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft theoretisch aufarbeitete.22

Schon bald nach der Machtübernahme des neuen Regimes war François-Poncet überzeugt, dass von dieser Seite ein erneuter Angriff drohte, auch wenn die NS-Führungsriege dies immerfort abstritt und Hitler in seinen Reden beteuerte, er strebe nach Frieden. Deutlich werden François-Poncets Befürchtungen in seinem Bericht vom 13. Juli 1933, in dem er eine Rede Görings analysiert: »Ohne die Aufrichtigkeit von Herrn Görings Erklärungen in Zweifel zu ziehen, muss man sich doch fragen, ob das Selbstvertrauen, der Heldenkult, die Hochachtung vor Stärke, der Rassenstolz, der Hass auf alles Fremde und Internationale, die Hitlers Bildungssystem die Jugend lehren soll, nicht zugleich ihrer Gewaltbereitschaft und einer gefährlichen Lust auf Eroberungen und Imperialismus Vorschub leisten.«23 Die Besorgnis, Hitler strebe einen Krieg an, schlug rasch in Gewissheit um, auch wenn weitgehend unklar blieb, welche Form dieser annehmen würde. François-Poncet bezweifelte lange Zeit, Frankreich könne das vorrangige Angriffsziel sein. Ebenfalls als Fehleinschätzung erwiesen sich seine Bedenken, das »Dritte Reich« strebe eine Wiederherstellung des 1918 verlorenen deutschen Kolonialreichs in Afrika und Asien an. Das tatsächliche Ziel der Nationalsozialisten – ein Großreich, das sich über Mittel- und Osteuropa erstrecken sollte – erfassten die französischen Diplomaten nicht.

Sorgen machten sie sich schon bald nach 1933 wegen der Wiederaufrüstungsbestrebungen. Eigentlich waren diese Beobachtungen Sache der Nachrichtendienste, doch zog auch die Botschaft Erkundigungen von freiwilligen »Spionen« in bestimmten Fabriken ein und übermittelte sie regelmäßig nach Paris. Solche Informationen ebenso wie weiteres Material aus »kommunistischen Quellen« vertrauten die Franzosen zumindest in den ersten Jahren des NS-Regimes noch relativ unbedenklich dem Diplomatengepäck an. Am 1. November 1933 beispielsweise schickte die Berliner Botschaft »fotografische Dokumente bezüglich des vom Reichsluftfahrtministerium geplanten Flugzeugbaus« nach Paris. Die Fotos zeigen 29 Flugzeugmodelle, die das Ministerium im Rahmen des Konstruktionsprogramms, das noch vor dem 1. Januar 1934 beschlossen werden sollte, anfertigen ließ. Betrachtet man sie mit der Lupe, erkennt man genau, dass es sich um Militärmaschinen handelte: »Die zweimotorigen Eindecker-Bomber vom Typ Messerschmitt M34, von denen zehn Stück gebaut werden sollen, werden voraussichtlich mit zwei Zwillingsmaschinengewehren und einem einfachen Maschinengewehr ausgestattet und können 1098 kg Sprengstoff befördern.«24

Viel Raum nehmen in den Berichten und dementsprechend auch in diesem Buch das Erscheinungsbild und die Instrumentalisierung des Antisemitismus in Deutschland und Österreich zwischen 1931 und 1939 ein – ein Thema, das uns heute besonders wichtig ist, weil die Judenverfolgung und der Holocaust in der Erforschung des Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung sind. Für mich persönlich hat es zudem aufgrund meiner Arbeiten über die Vernichtung der europäischen Juden einen besonderen Stellenwert. Dass die Situation der deutschen, später auch der österreichischen Juden, die Anfeindungen, denen sie schon vor Hitlers »Machtergreifung« ausgesetzt waren, und die antisemitische Politik der NSDAP und später des Deutschen Reichs in den Berichten eine so große Rolle spielten, hing mit dem besonderen Interesse der französischen Behörden an diesem Thema zusammen. Da Frankreich für Flüchtlinge aus dem Reich zur ersten Anlaufstelle geworden war, kam es dort in den Dreißigerjahren immer wieder zu hitzigen Debatten über die innenpolitische Bewältigung dieses Zustroms.25 Das Außenministerium, dessen diplomatische Vertretungen ja die Einreisevisa ausstellten, verfolgte deshalb sehr aufmerksam das Schicksal der Juden. Schon ab März 1933 hatte die Berliner Botschaft Anweisung, »die derzeit in Deutschland kursierenden antisemitischen Schmähschriften sowie Zeitungsausschnitte über Gewalttaten gegen Juden«26 zu sammeln und nach Paris zu schicken. Schon im Februar 1933 beschworen die Depeschen aus Berlin dramatische Bilder herauf. Auch wenn der in Diplomatenkreisen übliche Stil den Verfassern kaum Gelegenheit gab, ihre wirklichen Gefühle angesichts der Tragödie der deutschen Juden auszudrücken, ist die Missbilligung nicht zu übersehen. Scharfsichtig schrieb François-Poncet am 3. April 1933: »Erschrocken sind die deutschen Juden weniger über die körperlichen Misshandlungen. Weitaus mehr fürchten sie eine systematische perfide Verfolgung, die Juden, den Angehörigen der freien Berufe und sogar den kleinen kaufmännischen Angestellten die Lebensgrundlage entziehen und sie zu Bürgern zweiter Klasse machen, die an den Rand der deutschen Gesellschaft und in eine Art ›moralisches Ghetto‹ gedrängt werden. Tausende Existenzen werden auf diese Weise zerstört.«27

Im Laufe dieser Monate und Jahre beschreiben die als Diplomatengepäck übersandten Texte, die chiffrierten und unchiffrierten Telegramme die zunehmende Ausgrenzung der deutschen Juden, manchmal nur am Rande wie in einer Depesche von Januar 1936, die den Ausschluss von »Nichtariern« von der Deutschen Arbeitsfront28 erwähnt, manchmal sehr detailliert. Obwohl die Depeschen sich um Objektivität bemühen, sind ihre Verfasser selbst nicht ganz frei von antisemitischen Klischees, etwa wenn die Rede davon ist, einige Juden entzögen sich durch Bestechung der NS-Behörden dem Schicksal ihrer Glaubensgenossen, oder wenn es augenscheinlich überzogen heißt, 80 Prozent der Mitglieder der Anwaltskammer seien Juden.

Auch wenn die Analysen des nationalsozialistischen Antisemitismus eher knapp ausfielen, da sie eigentlich nicht Aufgabe der Diplomaten waren, lassen sie dennoch erkennen, dass es sich um eine ganz eigenständige Form des Judenhasses handelte, der nicht lediglich als Aufhänger für die Mobilisierung der Massen diente, sondern ein zentrales Element der nationalsozialistischen Ideologie und eine klare Vorgabe für das Regime bildete. Die NS-Größen überboten sich gegenseitig, um die antisemitische Politik maßgeblich zu beeinflussen. Die Situation der Juden in Berlin selbst erschloss sich den Botschaftsangehörigen durch Beobachtungen der Gewalt in den Straßen, der Boykotte und Angriffe gegen jüdische Geschäfte, aber auch aus der Presse und aus Gesetzestexten. Die Depeschen der außerhalb der Hauptstadt ansässigen Konsuln lassen enge Verbindungen zu jüdischen Funktionären erkennen, die sie häufig (und stets anonym) zitieren. Am engsten und beständigsten waren diese Kontakte offenbar vor allem in München.29

Als weitere Folge der antisemitischen Politik des »Dritten Reichs« mussten die diplomatischen Vertretungen Frankreichs und der übrigen Länder sich um das Schicksal ihrer jüdischen Landsleute kümmern, die in Deutschland in Schwierigkeiten geraten oder verhaftet worden waren. Bei den französischen Staatsbürgern handelte es sich oft um Elsässer und Lothringer, die nach 1918 ins deutsche »Altreich« in den Grenzen von vor 1870 übersiedelt waren und nun von dort ausgewiesen wurden. War eine Haft- oder Geldstrafe gemäß den geltenden »Judengesetzen« verhängt worden, sandte die Botschaft, meist auf Antrag des Außenministeriums, eine Verbalnote,30 gelegentlich auch eine Bitte um »Gnade«, an ihre offiziellen Ansprechpartner in der Wilhelmstraße. Das war beispielsweise der Fall bei Alfred Lévy, den ein Gericht in Offenburg wegen illegalen Devisenverkehrs zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe abzüglich der viermonatigen Untersuchungshaft und einer Geldstrafe von 30 000 Reichsmark verurteilt hatte. Der Hintergrund: Lévy hatte ohne Genehmigung Geld ins Ausland überwiesen. Manchmal verliefen die Interventionen der Botschaften erfolgreich, etwa im Fall Manfred Dreyfus, der wegen eines Verstoßes gegen das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes« inhaftiert worden war und dessen Freilassung und Abschiebung nach Frankreich das Außenministerium der Botschaft im Januar 1938 mitteilte.31 Die diplomatischen Vertretungen setzten sich auch dafür ein, dass die im Deutschen Reich ansässigen französischen Juden ihre Vermögen in die Heimat ausführen durften.32

Aus welchen Quellen bezogen Frankreichs Botschaft und Konsulate in Deutschland eigentlich ihre Informationen? Angesichts des raschen und stetigen Aufstiegs eines in der Geschichte einzigartigen politischen Regimes und der Schwierigkeit, sich über eine Diktatur und eine gründlich mundtot gemachte öffentliche Meinung ein Urteil zu bilden, ist die Frage sicher berechtigt. Obwohl das Regime schon früh eine strikte Zensur verhängte, die jegliche Veröffentlichung auf das Strengste kontrollierte, blieb die Presse für die Botschaft dennoch bis 1939 eine wichtige Informationsquelle. Nicht selten hatten die Diplomaten Mühe, Meldungen zu deuten, von denen sie wussten, dass sie im Grunde nichts als offizielle Verlautbarungen oder reine Propaganda darstellten. Eine weitere wichtige Quelle waren die offiziellen und inoffiziellen Kontakte zu Diplomaten anderer Staaten. François-Poncet traf sich einmal monatlich zum Abendessen mit seinen Kollegen aus den mit Frankreich verbündeten Ländern,33 doch im Zuge der Erfolge der deutschen Diplomatie fanden sich nach und nach immer weniger dazu ein. Eine Quelle für Informationen waren auch deutsche Funktionäre, wobei die Kontakte zu NS-Größen in der offiziellen Korrespondenz eigenartigerweise nicht erwähnt werden, ganz so, als hätten die Franzosen sie nicht als vertrauenswürdig eingestuft. André François-Poncet jedenfalls war, wie gesagt, im Umgang mit der Nazi-Prominenz eher zurückhaltend, auch wenn er und seine Frau mehrmals auf Görings Landsitz Carinhall nördlich von Berlin zu Gast waren.34 Auch mit Hitler traf sich François-Poncet mehrfach unter vier Augen. Daher hatte er zweifellos Gelegenheit, den ersten Eindruck zu revidieren, den er bei einem Empfang in der italienischen Botschaft am 9. Februar 1933 von Hitler gewonnen hatte; in seiner Schilderung dieses Abends bezeichnete er ihn als »Dorf-Mussolini«.35 Ein letztes Mal vor seiner Abreise nach Rom traf er am 18. Oktober 1938 im Kehlsteinhaus (das unter Diplomaten »Adlerhorst« genannt wurde) in den Berchtesgadener Bergen mit Hitler zusammen.36 In seinem letzten Bericht aus Berlin schilderte François-Poncet diese Begegnung sehr eingehend und griff sie auch 1946 in seinem Buch wieder auf. Diese abschließende Einschätzung Hitlers lässt den Scharfblick vermissen, den der Botschafter sonst in vielen seiner Depeschen bewiesen hatte. Er zögert regelrecht, ein negatives Urteil über den Führer zu fällen: »Offenbar sah er im Geist schon die Möglichkeit einer neuen Krise, vielleicht eines allgemeinen Krieges. Vielleicht auch war er in seinem Innern skeptisch gegenüber den Aussichten, eine solche Tragödie noch zu verhüten? Auf jeden Fall schien er von dem Wunsche erfüllt, es zu versuchen, oder froh, es versucht zu haben, um, wenn auch nicht sein eigenes, so doch das Gewissen seines Volkes zu erleichtern. Und er meinte, durch Frankreich und die Mithilfe Frankreichs sollte zur Tat geschritten werden.« François-Poncet weiter: »Ich gab mich keinerlei Illusionen über den Charakter Adolf Hitlers hin. Ich wusste, er war wechselnd, heuchlerisch, widerspruchsvoll, und es war kein Verlass auf ihn. Derselbe Mensch, der ein freundliches Wesen zeigte, Empfinden für die Schönheiten der Natur verriet, der mir am Teetisch vernünftige Gedanken über die europäische Politik darlegte, war schlimmster Raserei, wildester Erregung, wahnwitzigster Pläne fähig.«37

Um mehr über das Regime in Erfahrung zu bringen, schickte François-Poncet zudem seine Botschaftsmitarbeiter als Beobachter zu Aufmärschen und Kundgebungen und ließ sich von ihnen ausführlich berichten, was sie auf privaten Reisen innerhalb Deutschlands erlebt und gesehen hatten. Darüber hinaus hatte die Botschaft im Stillen einige Informanten, darunter hochrangige Wirtschaftsvertreter und Journalisten, insbesondere der liberal-konservativen Frankfurter Zeitung. Dass ihre Namen im diplomatischen Schriftverkehr nirgends auftauchen, belegt zweifellos, dass die Franzosen ihre Kommunikation mit Paris selbst in Form von Diplomatengepäck nicht als hundertprozentig sicher einschätzten. Einer ihrer wichtigsten Gewährsmänner, dessen Ansichten augenscheinlich sehr geschätzt und in langen Berichten übermittelt wurden,38 war von 1931 bis 1933 Ernst Graf zu Reventlow, ein Aristokrat aus uraltem Mecklenburg-Holsteiner Adel, Autor zahlreicher Werke über geschichtliche Themen, glühender Antisemit und überzeugter Nationalist. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er sich in rassistischen und revanchistischen Kreisen bewegt.39 Er war 1927 in die NSDAP eingetreten, jedoch einem Bericht zufolge möglicherweise schon »seit 1921 ein Gefährte Hitlers«. Zudem galt er als außenpolitischer Fachmann. Seine Nähe zu den französischen Diplomaten beruhte vermutlich darauf, dass seine Frau Französin war und er neben anderen altgedienten Nazis wohl vergleichsweise vertrauenswürdig wirkte, zumal er bei seinen revanchistischen Ansichten Frankreich ausklammerte. Sehr wahrscheinlich suchte er sogar im Auftrag der Partei das Gespräch mit Franzosen und bemühte sich, ihre Bedenken bezüglich Hitlers Absichten zu zerstreuen. Im November 1931 beispielsweise äußerte er gegenüber einem Franzosen, der sich auf der Durchreise in Berlin aufhielt: »Der Eifer der Jugend drückt sich stärker durch Gewalt aus, als zu wünschen wäre, aber man darf solchen Auswüchsen keine Bedeutung beimessen, die ihnen in Wahrheit nicht zukommt.«40 Der Verfasser des Berichts zog daraus den kurzsichtigen Schluss: »Eine regierende nationalsozialistische Partei kann letzten Endes keine andere Außenpolitik betreiben als jede andere deutsche rechte Regierung.«

Im Laufe der Jahre flossen die Informationen insgesamt immer spärlicher. Die französischen Diplomaten waren mehr und mehr isoliert und verfügten über weniger Informanten. Bis in die späten Dreißigerjahre verwertete die Botschaft auch illegale Zeitungen insbesondere kommunistischer Gruppierungen, etwa das Blatt Der Rote Standard, das als Quelle im diplomatischen Schriftverkehr allerdings ungenannt bleibt.41 Wichtige Informationen erhielt die Botschaft auch durch die diskrete Befragung von Elsässern und Lothringern. Viele von ihnen waren Arbeiter, die von ihrem Alltag in deutschen Fabriken erzählten. Aufgrund ihrer Schilderungen der harten Arbeitsbedingungen, aber auch der alltäglichen Probleme im Werk, wussten die französischen Diplomaten, dass sie dem vollmundigen Jubel der NS-Propaganda über die wirtschaftlichen Erfolge des Regimes keinen Glauben schenken konnten. Ein interessantes, bisher noch nicht untersuchtes Phänomen bildeten die vielen anonymen Schreiben, die in der Botschaft eingingen. Ihren Verfassern war daran gelegen, die Ausländer für die Brisanz der NS-Politik zu sensibilisieren; viele der Schreiben waren Hilferufe. Sie trafen je nach Lage der Ereignisse in Wellen ein, die letzte davon unmittelbar nach der »Reichskristallnacht« im November 1938.42

André François-Poncet spielte aufgrund seines unermüdlichen Einsatzes in den Dreißigerjahren nicht nur eine zentrale Rolle in den diplomatischen Kreisen Berlins, sondern dürfte von allen dort akkreditierten Kollegen auch am besten im Bilde gewesen sein. Das erkannte übrigens Hitler selbst in einem seiner »Tischgespräche« an. Im Februar 1942 bemäkelte er, ein Diplomat wisse gewöhnlich nichts über das Volk, weil er mit ihm gar nicht in Berührung komme: »Immer die gleiche Gesellschaftsschicht ist es, in der er nun kreist. Ein ganz kleiner Kreis, der sich selbst genügt, eine vollkommen abgeschlossene Welt, die keine Ahnung hat, was sich im Lande tut.« Auf François-Poncet gemünzt, dessen Kenntnis der deutschen Kultur er zuvor in den höchsten Tönen gelobt hatte, fügte Hitler hinzu: »Poncet ist als einziger herumzigeunert, das war mir manchmal fast unangenehm.«43

Wer waren die Adressaten dieses Schriftverkehrs? Die Direktionen am Quai d’Orsay, an die sich die einzelnen Sendungen richteten, waren jeweils im Briefkopf aufgeführt. Anders als heute in Diplomatenkreisen üblich und in erster Linie wohl bedingt durch die eingesetzten Kommunikationsmittel, wurde immer nur eine begrenzte Anzahl von Direktionen angesprochen. Die Konsulate schickten ihre Dokumente zum Teil unmittelbar nach Paris, zum Teil zur Weiterleitung an die Botschaft in Berlin. Sämtliche umfangreichen Berichte aus Berlin waren an die Direktion »Europa« beim Außenministerium in Paris adressiert. Abschriften erhielten gelegentlich die Vertreter Frankreichs beim Völkerbund in Genf und, soweit es um Ausweisungen ging, hin und wieder auch die Direktion der Ausländerbehörde. In seltenen Fällen gingen Kopien direkt an den zuständigen Minister oder an eine andere Botschaft, etwa in London, Washington oder Rom, manchmal auch an den Service des œuvres françaises à l’étranger, der für die Vermittlung der französischen Kultur und Sprache im Ausland zuständig war und zwischen den Weltkriegen eine wichtige Rolle spielte. Die französische Botschaft beim Heiligen Stuhl erhielt Abschriften von Depeschen über die deutschen Katholiken. Was bewirkten all diese Sendungen? Wurden davon Exzerpte angefertigt und über die Befehlskette bis zum Büro des Ministers oder sogar zu diesem selbst weitergereicht? Wurden diese Informationen über das Außenministerium hinaus weiterverbreitet? Allein anhand der Archives diplomatiques ist all das kaum festzustellen. Als gesichert gilt jedoch, dass die französischen Diplomaten über detaillierte Angaben zum »Dritten Reich« verfügten, zumindest diejenigen, die mit europäischen Angelegenheiten befasst waren. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus zogen, dürften allerdings sehr unterschiedlich gewesen sein; die Palette reichte von Beschwichtigungspolitik bis Konfrontation. Auch wie diese Kenntnisse die Haltung der Diplomaten nach 1940 beeinflussten, lässt sich nicht mehr ermitteln. Sicher ist, dass sich sehr viele von ihnen der France Libre anschlossen, überwiegend allerdings erst spät.

Diplomatische Dokumente sind etwas Besonderes. Die meisten sind eher kurz (mit Ausnahme derjenigen André François-Poncets) und in einem speziellen Stil verfasst, der vom üblichen Verwaltungsjargon abweicht. Es sind Arbeitsunterlagen, die in langen Serien aufeinander aufbauen. Der Verfasser schreibt mit Blick auf seine unmittelbaren Leser – in erster Linie den Botschafter, aber auch seine in Paris tätigen Kollegen. Zugleich ist ihm bewusst, dass diese Korrespondenz archiviert und unter Umständen eines Tages in den offiziellen Bänden der Documents diplomatiques français veröffentlicht wird. Er schreibt einerseits, um anstehende politische Entscheidungen zu unterfüttern, ohne seine eigene Rolle innerhalb der extrem bürokratischen, zentralisierten Hierarchie seines Ministeriums aus dem Blick zu verlieren, zugleich aber auch für die Nachwelt. Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen den Tätigkeiten von Diplomaten und Journalisten. Beide müssen zeitnah über tagesaktuelle Ereignisse berichten, bei ihren Lesern Anklang finden, dabei aber mit geringen Mitteln auskommen. Wie die in Berlin tätigen französischen Journalisten das »Dritte Reich« darstellten, ist bisher übrigens noch nicht umfassend erforscht.

In diesem Buch habe ich den diplomatischen Schriftverkehr von Berlin nach Paris nach Themenkreisen zusammengestellt. Innerhalb der Kapitel erscheinen die Berichte und Telegramme in chronologischer Reihenfolge. Die meisten Dokumente sind dabei bewusst nicht in voller Länge wiedergegeben, denn es geht mir nicht um die Veröffentlichung historischer Dokumente. Ich möchte dem Leser das »Dritte Reich« vielmehr so vorstellen, wie es sich vor den Augen der zeitgenössischen französischen Diplomaten entwickelte und wie sie es schilderten. Die Auslassungen sind in den Dokumenten jeweils gekennzeichnet. Auch wenn einige der Unterlagen erst nach der Amtsübergabe an Roger Coulondre entstanden, ist André François-Poncet dank seines präzisen Stils und seiner scharfsinnigen Schilderungen die Hauptfigur dieses Buchs. Trotz seiner Fehleinschätzung der gegenüber dem »Dritten Reich« notwendigen Politik war er, wie dieser Band belegt, einer der bedeutendsten Zeitzeugen für den Aufstieg des Nationalsozialismus und dessen Weg in die europäische Katastrophe.


Abb. 3. »Es wäre naiv, die Anziehungskraft dieses Ideals für die deutsche Jugend leugnen zu wollen.« BDM-Mädchen marschieren durch das Brandenburger Tor in Berlin, 1933.

1 Zum Verhältnis André François-Poncets zu Deutschland vor 1933 siehe Schäfer, S. 24–67.

2 Annuaire diplomatique français, 1939, André François-Poncet, S. 275–276. Die offiziellen Nominierungen fanden am 20. August 1931 (kommissarisch) und am 1. März 1932 (endgültig) statt. Die Botschaft in Rom übernahm François-Poncet offiziell zum 18. Oktober 1938.

3 Robert Coulondre (1885–1959) war als Botschafter ab 1936 in Moskau, von 1938 bis zur Kriegserklärung in Berlin und ab 1940 in Bern tätig. Seine Erfahrungen in den Dreißigerjahren fasste er in seinen Memoiren zusammen: De Staline à Hitler. Souvenirs de deux ambassades: 19361939, Paris 1950.

4 Messemer, S. 506.

5 Annuaire diplomatique français, 1933, S. 33.

6 Annuaire diplomatique français, 1937, S. 37.

7 Annuaire diplomatique français, 1933, S. 33.

8 Annuaire diplomatique français, 1937, S. 35.

9 Centre des archives diplomatiques de Nantes (CADN), Berlin, Botschaft, A–419, Nr. 289. Soweit nicht anders angegeben, stammen alle im Folgenden zitierten Dokumente aus dem in Nantes aufbewahrten diplomatischen Archiv.

10 Die Ende 1921 gegründete „Sturmabteilung“ (SA) bildete den paramilitärischen Arm der NSDAP. In der Weimarer Republik war die SA teilweise verboten, dann wieder offiziell erlaubt. 1933 soll sie bis zu 400 000 Mann stark gewesen sein. Ihr Befehlshaber war bis zu seiner Ermordung 1934 Ernst Röhm.

11 Berlin, Botschaft, A–422, Nr. 1158: Die ersten Verordnungen des Kabinetts Schleicher, 21.12.1932.

12 Der »Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, war eine der wichtigsten nationalistischen paramilitärischenOrganisationen in der Weimarer Republik und wurde bis 1935 von der NSDAP geduldet.

13 Der Burgplatz ist ein zentraler Platz in der Essener Innenstadt. Berlin, Botschaft, A–422, Nr. 45.

14 Berlin, Botschaft, A–422, Nr. 96.

15 Berlin, Botschaft, A–423, Nr. 216.

16 Berlin, Botschaft, A–424, Nr. 425, 13.7.1933, Kopie an die Dienststelle für französische Werke im Ausland Nr. 20, »Une circulaire du Ministre de l’Intérieur du Reich sur l’enseignement de l’Histoire«.

17 Berlin, Botschaft, A–424, Depesche Nr. 660, 22.6.1933; Studie über Hitlers Ideologie.

18 Berlin, Botschaft, A–437, Nr. 1344

19 Heute ist bekannt, dass es solche Bestrebungen nicht gab, sondern das totalitäre Regime um eine Einbeziehung des Hochadels nicht umhinkam. Zu diesem Thema vgl. Jonathan Petropoulos: Royals and the Reich. The Princes von Hessen in Nazi Germany, Oxford 2006.

20 Heute beschäftigen sich zahlreiche Arbeiten mit der Rolle der Diplomaten und des Auswärtiges Amts im Nationalsozialismus. Vgl. insbesondere den von Ex-Außenminister Joschka Fischer in Auftrag gegebenen umfangreichen Sammelband von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann (Hg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. Analysen weiterer Werke finden sich in Dominique Trimbur: Le ministère allemand des Affaires étrangères entre Troisième Reich et République fédérale d’Allemagne, in: Francia, Bd. 42 (2015), S. 371–386.

21 Eine neuere Arbeit zu diesem Thema ist Adam Tooze: The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, dt. Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2008.

22 Arendt, Hannah, Les Origines du totalitarisme, hg. von Pierre Bouretz, Paris 2002, S. 821ff., dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986.

23 Berlin, Botschaft, A–425, Nr. 772, Kopie beim Service des œuvres françaises à l’étranger, Nr. 20.

24 Berlin, Botschaft, A–426, Nr. 1199, und Völkerbund (VB), Nr. 1200.

25 Caron, Vicki: L’Asile incertain. La crise des réfugiés juifs en France, 19331942, aus dem Engl. von Simon Duran, Paris 2008, engl. Originalausgabe: Uneasy Asylum: France and the Jewish Refugee Crisis, 1933–1942, Stanford 2002.

26 Berlin, Botschaft, A–423, Nr. 85, 22. März 1933.

27 Berlin, Botschaft, A–422, Nr. 324, Depesche vom 5. März 1933. Das getippte Datum der Depesche ist der 5. März, das ist aber offensichtlich ein Tippfehler, die Depesche wurde nach dem 1. April 1933 geschrieben.

28 Berlin, Botschaft, A–439, Nr. 117.

29 Als Sonderfall in der französischen Diplomatie, die traditionell wenig Sympathien für den Zionismus und Israel aufbrachte, kann der Dichter Jean Bourdeillette gelten. Er war von 1933 bis 1937 Konsul in Nürnberg und danach bis 1939 in Frankfurt am Main und setzte sich aufgrund seiner Erfahrungen im Deutschland der Dreißigerjahre intensiv für einen jüdischen Staat ein und war 1959 bis 1965 als Botschafter in Israel tätig. 1968 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel Pour Israël (Für Israel).

30 Als Verbalnote bezeichnet man ein Schreiben einer diplomatischen Vertretung an das Außenministerium des Gastlandes.

31 Berlin, Botschaft, B–213, Depesche Nr. 22 vom 7. Januar 1938, betr. Freilassung von Manfred Dreyfus.

32 Berlin, Botschaft, A–439, Depesche Nr. 209 vom 1. Februar 1936, betr. Rückführung der Guthaben jüdischer französischer Staatsangehöriger.

33 François-Poncet, Botschafter in Berlin, S. 186–187.

34 Hermann Göring nutzte Carinhall zur prunkvollen Inszenierung des »Dritten Reichs« für das diplomatische Korps, vgl. Knopf, Volker u. Martens, Stefan: Görings Reich. Selbstinszenierungen in Carinhall, Berlin 1999. Göring nahm im »Dritten Reich« eine Schlüsselrolle ein und übte zahllose Ämter aus, u.a. als Innenminister, Ministerpräsident von Preußen, Reichsminister für Luftfahrt und Beauftragter für den Vierjahresplan (Wiederaufrüstung).

35 Vgl. den Wortlaut des Berichts (auf Französisch) in Schäfer, S. 327–329 sowie S. 168. Das Dokument gehört zu den persönlichen Papieren André François-Poncets, die im Nationalarchiv unter der Signatur AP/462 verwahrt werden, in diesem Fall AP/462 Nr. 14.

36 François-Poncet, Botschafter in Berlin, S. 395ff.

37 Ebd., S. 402.

38 Vgl. z.B. Berlin, Botschaft, A–413, Nr. 1013, Gespräch mit Graf zu Reventlow, 3. November 1931.

39 Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 493.

40 Berlin, Botschaft, A–413, Nr. 1013, 3. November 1931, Gespräch mit Graf zu Reventlow, S. 3. Eventuell stand Reventlow auch nach 1933 noch in Kontakt mit der Botschaft, doch taucht sein Name nicht mehr auf.

41 Vgl. z.B. Berlin, Botschaft, A–437, Nr. 979, 10. Juli 1935, VB, Nr. 980, Kommunistische Propaganda in Hitlers Formationen.

42 Archives diplomatiques, La Courneuve, Correspondance diplomatique et commerciale, Allemagne, Nr. 705, 15. November 1938, Nr. 1234, Hitlers Pogrom vom 10. November 1938.

43 Werner Jochmann (Hg.): Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, Hamburg 1980, S. 254 (2.2.1942).

Geheime Depeschen aus Berlin

Подняться наверх