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Mein anderes Europa Amani Abuzahra

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Ich bin etwas aufgeregt. Es ist eine der ersten Lesungen meines Buches „Kulturelle Identität in einer multikulturellen Gesellschaft“. Der Saal ist gut gefüllt mit einer bunt gemischten Zuhörerschaft. Ich werde begrüßt, vorgestellt und halte anschließend meine Lesung. Die Zeit vergeht wie im Flug. Als ich fertig bin, habe ich ein gutes Gefühl; die wichtigsten Stellen habe ich klar artikuliert und bin nun gespannt auf die Reaktionen des Publikums.

Es meldet sich ein Mann mittleren Alters, der zunächst weit ausholt, über sich und seinen wissenschaftlichen Werdegang erzählt, um dann seine Frage zu formulieren. Eine Frage, die ich immer wieder gestellt bekomme in unterschiedlichen Kontexten, ob in einem Dialog im Alltag, im Rahmen einer Podiumsdiskussion oder unter einem meiner Postings auf Social Media, ja sogar in einem Workshop für DoktorandInnen, als ich meinen Forschungsschwerpunkt präsentierte. Die Frage lässt viele nicht los. Sie ist eine immer wiederkehrende. Aber für mich keine irritierende. Sie zeigt mir vielmehr die Irritation meines Gegenübers. Die Frage verdeutlicht, was ich bei meinen GesprächspartnerInnen oder manchen im Publikum auslöse.

Zurück zur Lesung: Es handelt sich also um die erste Rückmeldung, die ich nach meinen Ausführungen von dem Zuhörer erhalte: „Warum kritisieren Sie nicht Ihre eigene Gesellschaft? Warum bemängeln Sie nicht zuerst Ihre Gemeinschaft, bevor Sie uns kritisieren?“ Diese Fragen sind eigentlich keine Fragen, vielmehr ein Kommentar. Es stört ihn, dass ich in meinem Buch unter anderem Europa und Österreich kritisiere – die europäische Gesellschaft. Ob das nicht authentischer wäre, wenn ich meine eigene kritisiere, will er wissen?

Ich erwidere fragend, was er denn unter „meine eigene“ subsumiere? Und frage mich weiter: Ist wohl eine Gesellschaft gemeint, die sich jenseits der Landesgrenzen Europas verorten lässt – vermutlich gar ein sogenanntes „muslimisches“ Land (wie auch immer man das definieren mag)? Oder etwa gleich „der Islam“ oder „die muslimische Gemeinschaft“, wenn er „meine Gemeinschaft“ anspricht? Oder zielt er mit der Frage nach „meiner Gemeinschaft“ auf die der PhilosophInnen ab, deren ich mich durch mein Studium und Forschen zugehörig fühle?

Ich bin erstaunt. Eigentlich irritiert mich ja der Duktus dieser Fragen nicht (mehr). Und doch bin ich überrascht, da ich mir dieses Denken in „Wir“ versus „Ihr“ in diesem Rahmen nicht erwartet hätte. Naiv, ich weiß.

Durch seine Fragen zieht er eine Trennlinie: „Wir“ versus „Ihr“. Sollte ich mich demnach nicht viel mehr in Demut üben und dankbar sein, in Europa zu leben statt Kritik auszuüben, so der Grundton der darauffolgenden Diskussion.

Und hier kommt der springende Punkt: Das ist mein Europa. Mein Österreich. Meine Gemeinschaft. Und insofern erachte ich meine vorgelegte Kritik in diversen Formen auch immer als eine Selbstkritik. Indem ich von diesem, meinem Recht Gebrauch mache, widerspreche ich auch dieser Unterteilung, die den Anschein erwecken soll, es stünden sich zwei in sich geschlossene Pole gegenüber: „die Muslimin“ versus „die Europäerin“, oder „der Islam“ versus „der Westen“. MuslimInnen erachten sich als vitaler Bestandteil Europas: eingesessen oder zugewandert, verbunden aufgrund der Tatsache, dass hier der Geburtsort liegt oder sie hier sozialisiert sind. Für viele ist Europa ein Ort, an dem sie ihre Zukunft sehen.

MuslimInnen nehmen insofern des Öfteren eine Rolle der GrenzgängerInnen ein. Denn obwohl sie sich verbunden fühlen, sich in der Mitte der Gesellschaft wahrnehmen, kann es durchaus sein, dass sie in der medialen und politischen Debatte am Rand der Gesellschaft verortet werden. An der Grenze sind Beobachtungen aus einer gewissen Distanz möglich, die bestimmte Missstände oder Entwicklungen sichtbar(er) machen. Die Verortung an der Grenze birgt also eine Chance.

In diesem Sinne möchte ich einige Anmerkungen zu Europa aus meiner Perspektive machen: aus der Mitte der Gesellschaft, aber auch vom Rand aufgrund der Erfahrungen der Fremdverortung.

Europa steht am Scheideweg. Zwischen Rassismus und Hoffnung. Zwischen Extremismus und Zuversicht. Zwischen Populismus und Frieden.

Der Philosoph Jacques Derrida nimmt als Pendler zwischen Algerien und Frankreich sowohl eine Innen- als auch Außenperspektive auf Europa ein. Der Grenzgänger beschreibt in „Das andere Kap“ein Europa, das sich in einem Zustand zwischen Hoffnung und Bedrohung befindet. Nämlich Hoffnung darauf, dass eine Zeit kommt, in der Ausgrenzung im Namen der Religion oder Nationalität als überholt gilt, und zugleich Furcht davor, dass Fanatismus jeglicher Couleur überhandnimmt. Die Sorge steigt, dass Nationalismus am Erstarken ist und eine Politik, die exkludiert. Zugleich gibt es Gegenstimmen und Menschen, die für ein Miteinander eintreten. Welchen Lauf das Friedensprojekt Europa nehmen wird, ist aktuell ungewiss.

Der Politikwissenschaftler Dominique Moïsi zeichnet in seinem Buch „Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen“ eine Landkarte der Emotionen. Europa sei geprägt von Angst. Dies lässt sich vor allem an der Zunahme der Sicherheitskontrollen und Beschneidung der individuellen Freiheit messen, so Moïsi. Die gefühlte Unsicherheit (gefühlt deswegen, weil im Vergleich zu anderen Ländern europäische Länder als die sichersten und friedlichsten gelten, laut dem Global Peace Index 2016, erhoben vom Institute for Economics and Peace, IEP) bewirkt, dass die Menschen nach einfachen Antworten sowie Halt und Orientierung suchen. Diese werden mitunter von rechtspopulistischen Parteien geboten, mit simplen (Ant-)Worten in einer zunehmend komplexer werdenden Welt, die nicht selten auf Europas Identität abzielen.

Ein großes und vor allem umkämpftes Thema ist die Zugehörigkeit zu Europa: Wem „gehört“ Europa, wer wird als zugehörig erachtet, wer als fremd und wer bleibt außen vor? Die europäische Identität wird zur Verhandlungssache. Verschiedene AkteurInnen verhandeln, wofür Europa steht. Die Fähigkeit zur Etablierung eines bestimmten Europabildes im historischen und gegenwärtigen Kontext ist eine Machtfrage. Dieses fortzuschreiben ist ebenso eine Frage, wessen Geschichte erzählt und wem zugehört wird. Welche Perspektive geht dabei verloren oder wird unterdrückt und welche verstärkt?

Die feministische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie warnt in ihrem TedX-Talk „Die Gefahr der einzigen Geschichte“ mit folgenden Worten: „Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.“

Die Auseinandersetzung mit dem Werden und der Formierung Europas und das Verhältnis zum „Anderen“ kann sich am Beispiel der Konstruktion des „Orients“ und der Reduzierung und steten Wiederholung einer Geschichte offenbaren. Die Theorie der postkolonialen Studien besagt, dass die Bildung Europas ohne Konstruktion des „Anderen“ nicht denkbar wäre. (Dhawan/Said).

Über „den Anderen“ kursieren Geschichten, die als repräsentativ dargestellt werden. Entspricht man dieser einseitigen Darstellung nicht, so sei man die Ausnahme, denn alle anderen wären doch anders. Über „die muslimische Frau“ kursieren beispielsweise folgende Klischees:

Die muslimische Frau – sie sei die tiefverschleierte, um genau zu sein:

zum Kopftuch gezwungene,

vom Vater zwangsverheiratete,

vom Mann geschlagene,

vom Bruder bewachte,

von jeglicher Bildung fern gehaltene,

um nicht zu vergessen eingesperrte,

mit ihrem Schicksal zufriedene – Ayse?

Der Diskurs über die muslimische Frau ist dabei einseitig geprägt. Stereotypen und Verallgemeinerungen wirken omnipräsent in der Diskussion rund um die Frau. Diese Konstruktion „der Muslimin“ wird oftmals außerhalb des Zugehörigkeitsspektrums Europas verortet.

Um dies zu verändern, kann ein Blick auf Derridas Werk Das andere Kap helfen. Es trägt den wichtigen Untertitel Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen. Er schreibt, dass ein Erinnern an die Vergangenheit Europas unumgänglich ist. Er meint, dass es sich in der Gegenwart zu verantworten gilt und auf die Fragen der Zukunft Antworten zu finden seien.

Von der Vergangenheit,

derer es sich zu erinnern gilt

Das Erinnern an Europas Vergangenheit kann helfen, neue Blickwinkel zu eröffnen, um Gegenwärtiges besser zu verstehen, und Ansätze für eine inklusive europäische Identität liefern.

Es gilt kritisch nachzuhaken: Wie erinnern? Woran erinnern?

Ein neuer Blick auf die Vergangenheit ist vonnöten, sodass andere Narrative Eingang finden in unser kollektives Bewusstsein, um „den Islam“ und „den Westen“ nicht als homogene, in sich abgeschlossene Entitäten gegenüberzustellen.

Umgemünzt auf mein Erlebnis bei der Buchpräsentation würde sich daraus die Frage ergeben, ob MuslimInnen in Österreich oder gar in Europa eine historische Relevanz haben.

Die Geschichte des Islams beginnt in Deutschland und Österreich definitiv nicht mit der Arbeitsmigration ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Den ersten Kontakt gab es bereits im Jahr 800, als sich muslimische Reitervölker in den hiesigen Breiten niederließen. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass MuslimInnen seit vielen Jahrhunderten die gesamte Region, aber im Speziellen auch Österreich, mitgestaltet haben. Mehr dazu ist in dem Sammelband „Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte“ nachzulesen. Der Kontakt zwischen Europa und den islamischen Kulturen mündet nicht nur in Konfrontationen, sondern auch in einem Austausch, der die jeweils andere/n Kultur/en befruchtet. Die jeweilige Wirklichkeit wurde nachhaltig geprägt und geformt. So finden sich Spuren der Begegnung im heutigen Europa in der Architektur, in der Kunst, der Philosophie, der Medizin und weiteren Naturwissenschaften, der Sprache, in der Kulinarik, aber auch in Traditionen. Diese Prägung eröffnet eine neue Perspektive auf den gegenwärtigen Europadiskurs.

Es ist eine reichhaltige Geschichte, die jedoch in manchen Schulbüchern (in Österreich beispielsweise) sehr verkürzt und oft negativ dargestellt wird, wie zum Beispiel in der Studie der beiden Wissenschaftlerinnen Christa Markom und Heidi Weinhäupl nachgewiesen wird. Unter dem Titel „Die Anderen im Schulbuch. Rassismen, Exotismen, Sexismen und Antisemitismus in österreichischen Schulbüchern“ werden aktuelle Schulbücher des österreichischen Schulsystems einer kritischen Analyse unterzogen. Die Forscherinnen gehen der Frage nach, wie Migrationsgeschichte dargestellt wird, auf welche Weise eine gewisse Norm suggeriert wird und welche Konzepte SchülerInnen präsentiert werden. Die Analyse zeigt, dass beispielsweise „der Islam“ als eine totalisierende Kraft dargestellt wird, Stereotype bedient werden und das kritische Hinterfragen der Geschichte Europas nicht unbedingt gefördert wird. Leider ist das Wissen um die reichhaltige Geschichte und Beeinflussung der islamischen Kulturen im Detail nicht sehr ausgeprägt unter den muslimischen Communities, sodass oftmals SchülerInnen muslimischen Glaubens überfordert sind, wenn sie zu StellvertreterInnen des Islams auserkoren werden und sich zu der Thematik im Unterricht positionieren sollen.

Betrachten wir Europas Verhältnis zu MuslimInnen im historischen Kontext, so zeigt sich, dass diese seit Langem in diesen Breitengraden beheimatet sind. Insofern hilft ergänzend zu einem interkulturellen Dialog der intrakulturelle: nämlich einen Blick auf die eigene Kultur zu werfen, um zu erkennen, dass „den Anderen“ kennenzulernen bedeutet, sich selbst kennenzulernen und zu entdecken, wie stark die Vernetzung zu dem vermeintlich Fremden ist. Dieser Zugang schafft ein Verständnis der europäischen Identität, in der MuslimInnen sich genauso kritisch gegenüber Zuständen äußern können, ohne darauf hingewiesen zu werden, zuerst „das Eigene“ zu kritisieren. Denn „das Eigene“ ist Europa.

In der Gegenwart

gilt es sich zu verantworten

Derrida spricht in diesem Zusammenhang von gewissen Pflichten Europas, wie zum Beispiel der Öffnung. Dies erlangt eine Aktualität aufgrund der Fluchtbewegungen und der politischen Debatte, wie man mit den Geflüchteten umgehen soll. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind sich uneinig, wie hier zu verfahren ist. Religion wird zum Spielball der politischen Überlegungen.

Viele der Geflüchteten seien MuslimInnen und insofern „anders“ als die Einheimischen. Polen, Ungarn beispielsweise verweigern eine weitere Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen mit dem Argument, dass von ihnen eine Gefahr von terroristischen Anschlägen ausgeht. So fordert der Innenminister Polens Mariusz Błaszczak ein Einreiseverbot für Flüchtlinge aus „islamischen Staaten“.

Derrida erinnert, dass es Europas Pflicht ist, Fremde aufzunehmen und somit Verantwortung zu zeigen. Um dies umzusetzen, brauche es jedoch eine Neuorientierung Europas und eine Achtung der Differenz. Differenzen hinzunehmen und mit Widersprüchen umzugehen, lässt sich unter Ambiguitätstoleranz zusammenfassen. Vor allem in Migrationsgesellschaften ist eine Ambiguitätstoleranz vonnöten, denn es treffen Menschen aufeinander, die verschiedene Lebensstile, religiöse Zugehörigkeiten, sexuelle Orientierungen haben, die sich vom Nächsten unterscheiden.

Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer übernimmt das Konzept der Ambiguitätstoleranz aus der Psychologie und überträgt diese auf die kulturelle Ebene. In seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ erläutert er die Kompetenz durch eine Untersuchung der islamischen Geschichte unter dem Blickwinkel, wie ausgeprägt diese beispielsweise im 14. Jahrhundert war. Er konstatiert, dass dies eine Herausforderung darstellt, die Toleranzfähigkeit wiederzubeleben – vor allem in einem Europa, das gegenwärtig stark geprägt ist von einem Denken der Dichotomie, in Entweder-oder-Kategorien.

Als ob man sich ständig entscheiden müsse und das andere zu negieren habe. Es steht im Widerspruch zu der Lebensrealität von vielen jungen Menschen, die in einem Europa der Vielfalt aufwachsen. Jene, die sich mehreren Kulturen zugehörig fühlen und von verschiedenen Sprachen geprägt sind, passen nicht in das einfache Schema.

Der Mangel an Akzeptanz des Vieldeutigen zeigt sich im Wahn auf der Suche nach Eindeutigkeiten. Dies hat eine Auswirkung auf das Individuum. „Das Andere“ wird in Frage gestellt, da es potentiell die eigene Identität in Frage stellen könnte. In einer ungünstigen Konstellation kann dies in „Entwertung, Vertreibung oder Unterwerfung“ des Anderen münden, laut Thomas Meyer (Identitätspolitik 2012).

Es bedarf einer Entwicklung zu einer wertschätzenden Haltung gegenüber Unterschieden und das Erkennen von Gemeinsamkeiten. Menschen eint die Sorge bezüglich (Aus-)Bildung, Finanzierung der Familie, Zukunft und vielem mehr. Hier schließt sich der Kreis, wenn man erkennt, dass die Sorgen, unabhängig von religiöser, kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit, gemeinsame sind und es auch Handlungsbedarf gibt.

Antworten für die Zukunft

Derrida verweist auf die Wichtigkeit, Antworten für die Zukunft zu finden. Sie geben uns Orientierung, eine gewisse Ausrichtung zu finden. Auf Europa bezogen bedeutet dies, dass die Demokratie nicht außer Acht gelassen werden darf.

Derrida spricht von dem europäischen Erbe der demokratischen Idee, das es anzunehmen gilt. Die Demokratie ist jedoch fragil, immer wieder im Entstehen und birgt somit Veränderungen in sich.

An dieser Idee der Demokratie gilt es so viele wie möglich zu beteiligen und nicht willkürlich Menschen auszuschließen.

Mark Terkessidis tritt dafür ein, dass die Zukunft zum gemeinsamen Projekt erklärt wird. Denn die Zukunft hat das Potenzial, zu verbinden, Energien zu bündeln. Es ist ein Projekt, wofür es sich lohnt, sich einzusetzen, denn es geht nicht nur um die gesellschaftliche, sondern auch um die individuelle Zukunft. Und dafür braucht es neben einem Begegnen auf Augenhöhe auch konkrete Orte, um diese Zukunftsfragen auszuverhandeln. Und vor allem Raum für Kritik. Denn Kritik ist gut, wichtig und notwendig; Selbstkritik oftmals besser, ehrlicher und nachhaltiger.

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