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|45|Bartolus de SaxoferratoBartolus de Saxoferrato (1313/14–1357)

(1313/14–1357)


Geb. 1313 oder 1314 in Ventura bei Sassoferrato; seine erste Ausbildung erhält er bei dem Franziskaner Petrus de Assisi; ab 1327 Studium des Zivilrechts in Perugia bei Cinus de Pistoia; 1333 Wechsel nach Bologna, wo Jacobus Buttrigarius, Rainerius de Forli und Oldradus de Ponte seine Lehrer sind; in Bologna folgt 1334 die Promotion zum „doctor iuris civilis“; in der Zeit zwischen seiner Promotion und dem Beginn seiner Zivilrechtslehrertätigkeit in Pisa 1339 widmet er sich vermutlich schwerpunktmäßig der praktischen Jurisprudenz; nachweisen läßt sich seine Arbeit als Assessor in Todi, Cagli und Pisa; 1343 (oder bereits im Herbst 1342) beginnt seine Lehrtätigkeit in Perugia; hier gehören zu seinen Schülern → BaldusBaldus de Ubaldis (1319/27–1400), Angelus und Petrus de Ubaldis; 1348 wird B. gemeinsam mit seinem Bruder Bonaccursius das Ehrenbürgerrecht der Stadt Perugia verliehen; Kaiser Karl IV. macht ihn 1355 in Pisa, wo er als Gesandter Perugias auftritt, zum „consiliarius et familiaris domesticus commensalis“, verleiht ihm ein Familienwappen und gesteht ihm und seinen Nachfahren das Privileg zu, Schüler zu legitimieren und für volljährig zu erklären. B. stirbt im Juli 1357 in Perugia.

B. ist der berühmteste und wohl auch bedeutendste Vertreter der Schule der Kommentatoren (früher eher abwertend als „Postglossatoren“ bezeichnet), die vom späten 13. bis zum Ende des 15. Jh.s auf die Glossatorenschule folgte. Den Namen erhielt diese Schule von der in ihr vorherrschenden Literaturgattung, dem Kommentar, der breit angelegten Erläuterung des Rechtssatzes als Ganzes. Die Wurzeln dieser Schule sind bei Rechtsgelehrten wie Jacobus de Ravanis, Petrus de Bellapertica und Johannes Faber, den sogenannten „doctores ultramontani“, in Orléans und Toulouse zu suchen; ihre Lehren wurden den italienischen Juristen vor allem durch Cinus de Pistoia, den Lehrer des B., vermittelt. Oft bezeichnet man die Kommentatoren auch als Konsiliatoren, um ihre Praxisnähe im Gegensatz zu den Glossatoren |46|hervorzuheben; indessen ist zweifelhaft, ob darin wirklich das unterscheidende Merkmal liegt.

Ein Grund für den großen Ruhm, der B. aus der Menge der Rechtsgelehrten seiner Zeit hervorhebt, liegt in seiner Vielseitigkeit. Seine Werke behandeln Themen aus dem Zivilrecht, dem Strafrecht und dem öffentlichen Recht, aber auch das internationale Privatrecht, das internationale Strafrecht und völkerrechtliche Probleme. In Anbetracht seines nur etwa 43 Jahre dauernden Lebens hat B. ein sehr umfangreiches literarisches Werk hinterlassen. Hierzu gehören Kommentare zu allen Teilen des Corpus iuris civilis (die Institutionen ausgenommen), zahlreiche Traktate zu juristischen Einzelfragen, des weiteren Repetitiones und Quaestiones und schließlich beinahe 400 Rechtsgutachten. Viele dieser Werke gehen auf die Unterrichtstätigkeit des B. zurück. Die außerordentliche Popularität des B. war aber auch der Grund dafür, daß ihm viele Werke zugeschrieben wurden, die gar nicht aus seiner Feder stammten; bis heute ist bei zahlreichen Werken, wie z.B. bei dem Traktat „Quaestio inter virginem Mariam et diabolum“, die Frage der Urheberschaft des B. nicht restlos geklärt. Auch inhaltlich kommt B.s Schriften große Bedeutung zu. Häufig wird die gedankliche Schärfe und die Kürze seiner Werke gelobt; demgegenüber hat die Kritik am schlechten lateinischen Stil des B. seinem Ruhm kaum geschadet.

Große Bedeutung hatten B. und die anderen Kommentatoren für die Herausarbeitung einer Theorie des internationalen Privatrechts und des internationalen Strafrechts, einer Theorie, die wegen der Rechtszersplitterung in Italien aufgrund der unterschiedlichen Statuten der einzelnen Städte erforderlich war. Nach Auffassung der Kommentatoren hatte das jeweilige Recht der Städte zwar den Vorrang vor dem römischen Recht, gleichwohl wurden die Statuten durch B. und die anderen Kommentatoren romanisiert, zumal sie eng ausgelegt und die so entstandenen Lücken dann mit Hilfe des römischen Rechts geschlossen werden sollten. Die Fragen, die durch das Aufeinandertreffen der verschiedenen örtlichen Statuten entstanden, wurden ebenfalls diskutiert und durch Einzelfallösungen beantwortet. B. hat es sogar zu einem „kleinen System des internationalen Strafrechts“ (Meili) gebracht; auf Widerspruch stieß in diesem Zusammenhang jedoch seine These, daß ein Dieb, der eine auswärts gestohlene Sache in ein Staatsgebiet hineinbringt, dem internen Strafrechtsstatut unterworfen sei. Nach verschiedenen Überlieferungen soll diese Auffassung Tausenden von Dieben das Leben gekostet haben.

|47|Besonders wichtig war B. für das Zivilrecht, das er über die Rechtsquellen und die Glosse hinaus weiter entwickelte. Bemerkenswert ist schon die Interpretationsmethode, derer sich B. bei seiner Arbeit an den Quellentexten bediente: Er ging, ebenso wie → BaldusBaldus de Ubaldis (1319/27–1400), bei seinen Analogiebildungen bisweilen so weit, daß er eine Vorschrift aus ihrem Zusammenhang nahm und zu einem allgemein geltenden Rechtsgedanken entwickelte. B.s rechtsschöpferische Fähigkeiten zeigen sich in vielen seiner Lehren. So hat er z.B. die Theorie von der rückwirkenden Kraft der Bedingung entwickelt, die sich bis in das 19. Jh. hinein behauptet hat. Zum kanonischen Zinsverbot fand B. eine praktikable Zwischenlösung (Lange): Er erkannte es zwar grundsätzlich an, sah aber auch, daß seine strikte Durchführung nicht mit der damaligen Wirtschaftspraxis vereinbar war, und erklärte deshalb, daß gesetzliche Ansprüche durch das Zinsverbot nicht ausgeschlossen und Verzugszinsen daher zulässig seien. Von einiger Bedeutung ist auch die Schrift „De fluminibus seu Tyberiadis“, worin B. die mit den Flüssen in Zusammenhang stehenden Eigentumsfragen untersucht; dieses Werk weist ihn als einen profunden Kenner der Geometrie aus. Schließlich muß auf die schadensersatzrechtliche Interessenlehre des B. hingewiesen werden, die dem Geschädigten unter gewissen Umständen auch den Ersatz des Affektionsinteresses gewährte.

Wichtige Anstöße hat B., wie überhaupt die Schule der Kommentatoren, für die Entwicklung des Handelsrechts und der damit zusammenhängenden Materien gegeben, die für die aufstrebenden oberitalienischen Handelsstädte, in denen die Kommentatoren zunächst hauptsächlich wirkten, von großer Bedeutung waren. Zum Beispiel setzt sich B. in dem Traktat „De insigniis et armis“ (ca. 1355) unter anderem mit dem Problem der Schutzmarken auseinander, wobei für ihn der Verbraucherschutz ganz im Mittelpunkt steht.

Schließlich war B. auch einer der Ersten, der sich mit Fragen des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts systematisch beschäftigte. So interessierte ihn z.B. das Problem, wie weit die Jurisdiktionsgewalt eines Staates auf das offene Meer hinausreiche. In seinem Traktat „De Tyrannia“ befaßt er sich ausführlich mit der Frage der Legitimität von Herrschaftsmacht. Allerdings besteht über die staatsrechtliche und politische Grundeinstellung B.s keine Einigkeit. Zum Teil sieht man ihn, der in seiner Geisteshaltung den Franziskanern nahestand, noch ganz dem mittelalterlichen Denken verpflichtet (Chiappelli); gestützt wird diese Ansicht auf die theokratischen Aspekte des Staates und der Gesellschaft im Werk des B. und auf einen gewissen Mystizismus, der |48|sich bei ihm finden läßt. Andere Autoren (z.B. Woolf) finden bei B. aber auch modernere Züge.

Die Vielseitigkeit des B. und die inhaltliche Bedeutung vieler seiner Schriften machen seinen enormen Ruhm verständlich. Schon bald wurde der Name des „Principe de’giureconsulti“ in einem Atemzug mit Homer, Cicero und Virgil genannt. Der Satz „nemo bonus iurista nisi bartolista“ zeigt die Wertschätzung, die man B. in der Folge entgegenbrachte. Seine Lehrmeinungen wurden in vielen Fällen zur alleinentscheidenden Ansicht; in Spanien und Portugal hatten sie sogar Gesetzeskraft. Das größte Verdienst des B. und der anderen Kommentatoren ist darin zu sehen, daß durch ihre Arbeit dem römischen Recht der Siegeszug durch die gesamte europäische Rechtswissenschaft ermöglicht wurde. Eine kritische Sicht der Kommentatorenschule, ihrer Werke und ihrer Arbeitsweise setzte erst mit der humanistischen Rechtswissenschaft ein (→ AlciatusAlciatus, Andreas (1492–1550), → BudaeusBudaeus, Guilelmus (Guillaume Budé) (1467–1540),Zasius).

Hauptwerke: Gesamtausgaben: Basel 1588–1589, 10 Bde.; Venedig 1590; Venedig 1603; Venedig 1615; München 1845–1846, 8 Bde. Eine ausführliche kritische Aufstellung der Werke findet sich in: DBI VI, 644–663, ein Verzeichnis zahlreicher Gesamtausgaben bei van de Kamp (s.u.), 109–119.

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A. Krauß

Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten

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