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Das blaue Haus

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Der Junge mit den Wassereimern war gerade am Brunnen angekommen, als er in der Entfernung Astelli über die Brücke kommen sah.

Nur einen kurzen Moment hielt der Junge inne und sah herüber. Nein, diese Gestalt kannte er nicht; er hatte sie auch sicherlich noch nie gesehen. Ein kleiner Körper in einem flatternden grauen Mantel, mehr war da nicht, kaum etwas, worüber man sich Gedanken machen musste. Nicht, wenn man Wasser zu holen hatte, Wasser für die Suppe zu Abend, in die Mutter Kohl, Speck, Graupen und jede Menge andere leckere Sachen schneiden würde...

Während Astelli langsam näher kam, knotete der Junge seinen ersten Eimer am Seil der Winde fest, welche am Brunnen vor sich hin rostete. Wahrscheinlich würden sie nach dem nächsten Winter eine neue Winde brauchen, dachte der Junge, aber nun war erst Spätsommer, noch lange nicht die Zeit, daran zu denken, was im Winter sein würde. Vielleicht würde sein Vater mit der neuen Winde auch einen neuen Schöpfeimer anbringen, so dass er nicht, wie jetzt, immer wieder die Knoten binden und lösen musste.

Der Junge ließ den ersten Eimer in den Brunnen hinab, hörte das Quietschen der altersschwachen Winde und dann das Klatschen von Holz auf Wasser. Seine Finger umgriffen den Griff der zerfallenden gußeisernen Kurbel und drehten dann den Eimer wieder nach oben, gefüllt mit klarem, kalten Wasser. Er löste den Knoten, band den zweiten Eimer fest, dann wiederholte sich der Vorgang. Quietschen, klatschen, kurbeln, den Knoten lösen. Der Junge packte beide Eimer, einen links, einen rechts, dann wandte er sich zum Gehen.

„Warte noch“, rief ihm Astelli zu.

Der Junge blieb stehen, setzte die Eimer ab und wandte sich um. „Ja?“ fragte er.

„Warte noch“, wiederholte Astelli. "Ich möchte dich etwas fragen."

„Ja“, sagte der Junge. „Was ist?“

Astelli trat zu ihm und deutete mit dem Finger an ihm vorbei auf den dunkelgrün bewachsenen Hügel. „Wem gehört das blaue Haus dort oben?“

Der Junge sah sich um und lächelte. „Das ist unser Haus“, sagte er stolz. „Dort wohnen wir. Mein Vater, meine Mutter und ich.“

„Es ist das erste blaue Haus, das ich sehe, seitdem ich hier in diesem Land angekommen bin“, sagte Astelli. „Es gibt nicht viele davon, oder?“

„Natürlich nicht"“, antwortete der Junge, und sein Stolz legte sich wie eine Maske über sein Gesicht. „Nur reiche Leute können sich blaue Farbe leisten.“

Astellis Augen wanderten vom Haus zum Jungen. „Und ihr seid reiche Leute?“

„Oh ja.“ Der Junge blickte Astelli an, und zu seiner Verwunderung bemerkte er zum ersten Mal, dass er einem anderen Kind gegenüberstand, kaum älter oder größer als er selbst. Struppiges Haar von einem seltsamen strohblonden Ton drängte unter der Kapuze des grauen Mantels hervor und fiel in ein schmales, fast hageres Gesicht mit einer kaum dazu passenden Stupsnase, der sich ein dünner, blasser Mund anschloss. Die Augen schienen tiefer in ihren Höhlen zu liegen, als es ihnen gut tat, und der Junge konnte nicht feststellen, welche Farbe sie hatten, geschweige denn, ob sie ihn ansahen oder einfach durch ihn hindurch blickten.

Mit einem Mal wurde es dem Jungen unangenehm, neben Astelli zu stehen. „Ich muss dann wieder“, sagte er. „Wasser holen.“ Er griff nach den Eimern.

„Warte noch“, sagte Astelli. „Wie ist dein Name?“

„Ivano“, sagte der Junge, und im selben Moment ärgerte er sich, das getan zu haben. Wozu hatte er sich vorgestellt? Er kannte das fremde Kind ja noch nicht einmal.

„Ich bin Astelli“, sagte Astelli, als wären Ivanos Gedanken deutliche Worte gewesen und als sei dies die Antwort auf diese Gedanken. „Es ist schön, mit jemandem zu sprechen. Ich bin schon lange auf der Reise, und seit Tagen habe ich niemanden mehr getroffen. Es leben nicht mehr viele Menschen zwischen hier und der westlichen Grenze, oder?“

Ivano seufzte. „Ich weiß es nicht“, sagte er. „Wahrscheinlich liegt es an der Revolution.“

„Revolution?“ Astellis Augen weiteten sich ein wenig. „Ich wusste nicht, dass es in diesem Land eine Revolution gibt."

„Vater sagt auch immer, sie wäre nicht der Rede wert.“ Ivano winkte ab und sah zum blauen Haus - seinem blauen Haus - hinauf. „Ich verstehe auch nicht, was die Landarbeiter wollen. Die ganzen Jahre haben sie bei uns auf dem Hof immer gut arbeiten können, und wir haben uns gut um sie gekümmert. Und jetzt plötzlich verschwinden sie alle und rotten sich zusammen. Vater sagt, wenn sie sich auch nur in der Nähe der Hauptstadt zeigen, werden sie alle erschossen. Sie haben keine Gewehre.“ Der Junge griff wieder nach den Eimern. „So, aber jetzt muss ich wirklich zurück.“

„Warte noch“, sagte Astelli und berührte Ivano an der Schulter. „Lass mich dir beim Tragen helfen.“

Ivano wandte den Kopf wieder zu Astelli, senkte aber den Blick, bevor er wieder die seltsamen Augen erreichen konnte. „Nein, das geht schon“, murmelte er. „Ich kann das auch alleine.“

„Ich möchte aber“, sagte Astelli und griff kurzerhand nach einem der Henkel der Eimer. „Ich möchte helfen. Bitte.“

„Du bist komisch“, gab Ivano zurück, ließ dann aber einen der Eimer gehen, so dass Astelli ihn nehmen konnte. „Warum willst du helfen? Glaubst du, ich lasse dich dann in unser Haus mit hinein?“

Astelli schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Ich möchte einfach nur helfen.“

„Und warum?“

Mit beiden Händen und sichtlicher Mühe hob Astelli den hölzernen Eimer an. “Ich bin auf Pilgerschaft. Arbeit gehört zu meinen Pflichten als Pilger.“

„Pilgerschaft?“ Ivano sah mißtrauisch auf, wobei er sich bemühte, Astellis Blick zu vermeiden. „Wohin bist du unterwegs - nach Avenamice?“

Astelli schüttelte den Kopf und machte sich mit schweren Schritten auf den Weg in Richtung des blauen Hauses. „Ich reise. Das ist meine Pilgerschaft. Ich habe nicht vor, irgendwo anzukommen.“

„Aha?“ sagte Ivano und folgte dem Kind in einem halben Schritt Abstand. „Davon hab ich noch nie was gehört.“

„Es passiert auch nicht oft.“ Astelli wandte den Kopf um, und der Junge konnte deutlich sehen, dass die blassen Lippen leicht lächelten. „Aber so ist es nun mal.“

Ivano überlegte ein wenig. „Bist du nicht ein bisschen jung, um alleine auf Reisen zu gehen? Du bist doch höchstens zehn oder elf.“

„Zwölf.“ Astelli blickte wieder nach vorne. „Aber ich bin nicht alleine.“

„Nicht? Aber du...“

„Ich bin auf Pilgerschaft“, sagte Astelli mit einem seltsamen Unterton. „Auf Pilgerschaft ist man nie ganz alleine.“

Ivano blieb stehen. „Das verstehe ich nicht“, gab er zurück.

„Ich auch nicht“, sagte Astelli und ließ den Wassereimer fallen.

„Was tust du?“ schrie der Junge erschrocken auf, setzte seinen eigenen Eimer eilig ab und sprang nach vorne. Zu spät: das Wasser, das Astelli getragen hatte, war bereits ausgelaufen. „Du Esel! Warum hast du das getan?“

Astelli trat einige Schritte zur Seite. „Verzeih mir.“ In den seltsam überschatteten Augen lag echtes Bedauern. „Verzeih mir.“

„Jetzt muss ich das Mistding nochmal füllen! Du bist auch zu gar nichts nutze!“ Ivano hob den leeren Eimer auf und marschierte zornig zum Brunnen zurück. Zum Glück war er noch nicht weit gekommen. Immer noch mit Wut im Bauch griff er nach dem Seil an der Winde und machte sich daran, den Henkel festzuknoten.

„Warte noch“, sagte Astelli.

„Warten worauf?“ fragte der Junge.

In diesem Moment hörte er die Schüsse.

Sie kamen oben vom Hügel her, vom Haus, von seinem blauen Haus, und es waren viele. Ivano warf sich erschrocken hinter den Brunnen, Astelli huschte neben ihn, und dann blickten die beiden nach oben, über den grünen Hügel, hinauf zum blauen Haus, wo die Scheiben unter den Gewehrkugeln zersprangen, als die Landarbeiter, die Landarbeiter in ihrem schmutzigen Braun heraufstürmten, Gewehre schwenkend und immer wieder Schüsse abfeuernd.

Und dann sah Ivano seinen Vater, wie er die Tür aufstieß, die große blaue Tür des Hauses, und der Junge sah, wie er aus zwei Pistolen auf die heranstürmenden Landarbeiter feuerte und wie einer zu Boden ging, und er sah seinen Vater zucken, als die Kugeln ihn trafen und sein Blut rot an der blauen Tür herablief, als die Landarbeiter in das blaue Haus stürmten und weiter feuerten.

Ivano wollte aufspringen, auf das Haus zulaufen, irgend etwas tun, doch da spürte er Astellis Hand auf seiner Schulter. "Warte noch", sagte Astelli.

Und Ivano wartete. Wartete hinter dem Brunnen. Wartete, bis die Schüsse aufhörten. Wartete, bis das blaue Haus, sein blaues Haus, in Flammen aufging und die Landarbeiter in ihrem schmutzigen Braun und mit den rauchenden Gewehren wieder gingen und nach einem neuen Haus suchten, das sie niederbrennen konnten.

Erst jetzt hob sich Astellis Hand von Ivanos Schulter. Der Junge sah auf, und seine Augen waren ebenso leer wie die in Astellis Gesicht.

„Ich ziehe weiter“, sagte Astelli und stand auf. „Tut mir leid, das mit deinen Eltern.“

Ivano sah zu Astelli auf, mit Tränen in den Augen, aber unfähig, sich zu rühren. „Du wusstest es doch", wisperte er. „Du wusstest doch, was passieren würde. Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte Vater warnen können...“

„Ich bin auf Pilgerschaft“, sagte Astelli leise und mit einem kleinen Hauch von Schwermut in der Stimme. „Nur auf Pilgerschaft. Nichts weiter.“

Und das waren die letzten Worte, die Ivano von Astelli hörte. Am nächsten Tag sah man ihn auf der Straße nach Westen, gekleidet in einen flatternden grauen Mantel, und wer ihn sah, fragte sich, warum ein so junges Kind ganz alleine auf Reisen war.

Astellis Pilgerschaft

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