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Der beste Platz

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Es war noch eine halbe Stunde bis zu seinem Dienstschluss, als der Wachmann Astelli bemerkte. Bei einem Kind hätte er normalerweise nicht nachgefragt, doch hier ließen ihn einige Dinge stutzen: der graue Kapuzenmantel, den es trug, die Richtung, aus der es kam, und die Tatsache, dass er es nicht bemerkt hatte, ehe es nur noch wenige Schritte vom mächtigen, bronzenen Tor der Stadt entfernt war.

„Du da“, fuhr er das Kind an, „bleib stehen!“

Astelli hielt inne und wandte den Blick zum Wachmann. „Ja?“

Der Wachmann schauderte einen Moment, als ob er Astellis schattenhafte Augen nicht nur sehen, sondern ihren Blick auf seiner Haut spüren konnte, und die Empfindung missfiel ihn zutiefst. Unwillig riss er sich zusammen, nahm sein Gewehr fest vor die Brust und schritt auf das Kind zu. „Wer bist du und woher kommst du?“ fragte er einer Stimme, die sein Unbehagen nur ganz leicht zu erkennen gab.

„Ich bin Astelli“, sagte Astelli,“und ich komme gerade aus Skruland.“

„Aus Skruland?“ Die Finger des Wachmanns schlossen sich unwillkürlich fester um das Gewehr, und er versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass das aufgesetzte Bajonett auch gut befestigt war. „Bist du ein Revolutionär?“

Astelli schüttelte den Kopf. „Ich bin auf Pilgerschaft.“

„Das ist offensichtlich“, gab der Wachmann zurück. „Zu welchem Tempel gehörst du?“

„Tempel?“ Astelli schien nicht zu verstehen. „Was meinst du damit, zu welchem Tempel ich gehöre?“

Jetzt lag die Verwirrung beim Wachmann. „Du kommst nach Avenamice und weißt nicht, zu welchem Tempel du gehörst?“

„Nein“, sagte Astelli. „Ist das wichtig?“

„Und wie!“ entgegnete der Wachmann entgeistert. „Avenamice ist doch überall in der Welt bekannt als die Stadt der zehntausend Tempel. Für jemanden, der auf Pilgerschaft ist, ist das der beste Platz.“

„Oh“, entgegnete Astelli. „Das hier ist also Avenamice?“

Der Wachmann nickte. „Nicht mal das wusstest du? Ich dachte doch, drüben in Skruland kennt jeder unsere Stadt.“

„Ich bin durch Skruland nur durchgereist“, sagte Astelli. „Und weil dort gerade Revolution ist, kann man die Leute nur schwer nach dem Weg fragen.“

„Ach so, jetzt verstehe ich.“ Der Wachmann entspannte sich ein wenig und ließ das Gewehr sinken; wenn das Kind hierher mehr oder minder geirrt war, dann erklärte das seine offensichtliche Verwirrung ein wenig. „Na ja, jetzt bist du ja endlich hier angekommen. Wohin in der Stadt willst du denn?“

Astelli zögerte einen Moment. „Ich suche eine Unterkunft für eine Nacht. Ein Gasthaus wäre gut.“

„Ein Gasthaus?!“ Die Entrüstung stand dem Wachmann wie ins Gesicht geschrieben. „Du meinst... wo man für die Übernachtung bezahlt?“

„Ja, so in der Art.“ Astellis Finger wühlten in den Taschen des Kapuzenmantels. „Ich habe Geld, wenn es das ist, was dir Sorgen macht...“

„So etwas gibt es in Avenamice nicht“, entgegnete der Wachmann schroff. „Gasthäuser - so etwas Profanes! Avenamice ist der beste Platz für Pilger! Natürlich wirst du in einem der Tempel unterkommen.“

Astelli sah überrascht auf. „Tatsächlich? Zu welchem Tempel kann ich denn gehen?“

„Das hängt davon ab“, sagte der Wachmann, „welchem Glauben du angehörst. Wenn du aus dem Osten kommst, bist du bestimmt ein Monoterrarier.“

„Ich weiß nicht“, sagte Astelli. „Woran glauben Monoterrarier?“

„An die Göttlichkeit unserer einen Erde und daran, dass sie alle Menschen in ihrer Gnade einzigartig erschaffen hat.“

Astelli schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“

„Dann bist du bestimmt einer der Gefolgsleute des großen Himmelsschafes, dessen Wärme den Funken der Gemeinschaft in den Menschen erweckt hat“, mutmaßte der Wachmann.

„Auch nicht.“

„Hm. Kult des reinigenden Blutes der gepeinigten Seelen?“

In Astellis Gesicht trat zum ersten Mal ein Ausdruck des Unbehagens. „Ich glaube, dass ich nicht mal wissen will, was dieser Kult genau macht.“

Der Wachmann grübelte. „Ja, um der Ungezählten Himmel Willen“, wollte er wissen, "an welche Götter glaubst du dann?"

„Ich glaube an gar keine Götter“, sagte Astelli. „Ich...“

„Ach so!“ Erleichtert seufzte der Wachmann auf. „Du gehörst also zur Gemeinschaft der vereinigten Atheisten.“

Astelli blinzelte unsicher. „Atheisten?“

„Du glaubst, dass es keine Götter gibt und dass der Glaube an Götter eine verfehlte Weltanschauung ist. Die Straße runter, das große dreistöckige Gebäude gleich rechts vom Marktplatz.“

Sofort schüttelte Astelli den Kopf. „So was würde ich nie sagen! So viele Leute sind glücklich, weil sie an Götter glauben, da kann ich doch nicht behaupten, das wäre falsch!“

„Ja verflixt noch mal!“ Der Wachmann starrte Astelli an. „Vielleicht bist du ja einer der Erleuchteten Agnostiker?“

Das Kind sah nun reichlich hilflos drein. „Was ist das schon wieder?“

"Die Erleuchteten Agnostiker sagen, dass man die Frage, ob es Götter gibt, nicht beantworten kann und dass kein Mensch das sicher wissen kann."

„Das ist es auch nicht“, sagte Astelli und spähte am Wachmann vorbei durch das Tor, wo unzählige Tempel die Straßen säumten. „Ich weiß, dass es Götter gibt. Ich glaube nur nicht an sie.“

Einen langen Moment sah der Wachmann Astelli an. Dann lächelte er plötzlich. „Jetzt verstehe ich“, sagte er. „Du bist ein Religionsstifter.“

„Ein was?“

„Du hast eine ganz neue Idee für eine Religion. Eine Religion, in der man weiß, dass es alle Götter gibt, an die andere glauben, aber in der man selbst an keinen Gott glaubt. Eine Religion, in der sich die Menschen von den Göttern befreien und alle aufnehmen, die den Glauben an ihre eigenen Götter verloren haben.“

„Hm.“ Astelli schien zu überlegen. „Wenn ich ein Religionsstifter wäre, bekäme ich dann in Avenamice ein Zimmer für die Nacht?“

„Ein Zimmer?“ Der Wachmann lachte auf. „Dann bekommst du sogar ein ganzes Haus! Geh einfach nur ins Westviertel, da sind alleine im letzten Jahr zwei Sekten und drei dunkle Kulte erloschen. Die Tempel stehen jetzt leer. Such dir einfach einen, der dir gefällt. Ich bin sicher, es wird sich schnell herumsprechen, dass es in Avenamice eine neue Religion gibt, und dann hast du schon bald Pilger.“

„Pilger?“ Astellis Blick zeigte leichtes Entsetzen. „Ich werde Pilger haben?“

„Natürlich!“ Der Wachmann zeigte sein strahlendstes Lächeln. „Avenamice ist der beste Platz für Pilger!“

Entschlossen machte Astelli zwei Schritte rückwärts. „Ich glaube“, sagte das Kind, „ich möchte doch kein Zimmer hier in der Stadt. Gibt es hier in der Nähe noch andere Menschen? Vielleicht einen Bauernhof oder so etwas...“

„Du willst lieber zu einem Bauernhof statt nach Avenamice?“ Dem Wachmann stand vor Verwunderung der Mund offen. „Aber ich denke, du bist auf Pilgerschaft!“

„Schon“, sagte Astelli, „aber ich bin auf der Durchreise. Ich kann hier nicht bleiben und eine neue Religion gründen; ich habe nur einen Tag Zeit, und ich möchte nicht, dass hierher Pilger kommen, die von mir gehört haben und mich suchen und mich dann nicht finden.“

„Aber was wäre daran so schlimm?“ wollte der Wachmann wissen. „Wer nach Avenamice kommt, der sucht nach Antworten, und in der Stadt gibt es zehntausend davon. Irgendeine wird er schon finden, die für ihn richtig ist, auch wenn es nicht deine ist.“

„Und du glaubst“, wollte Astelli wissen, „dass es keinen Unterschied für einen Pilger macht, ob er hier findet, wonach er gesucht hat, oder etwas anderes?“

„Ich weiß“, sagte der Wachmann, „dass es keinen Unterschied macht. Avenamice ist der beste Platz für Pilger, eben weil hier jeder etwas findet, das ihm gefällt. Bestimmt sogar du!“

Aber Astelli schüttelte nur den Kopf. „Nichts von dem, was ich suche, ist in Avenamice. Das weiß ich jetzt. Ich danke dir dafür. Du hast mir sehr geholfen. Jetzt brauche ich nur noch eine Unterkunft für die Nacht. Kannst du mir sagen, wo ich eine finde?“

Der Wachmann öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Einige Herzschläge lang schien er zu überlegen, dann trat ein seltsam trauriger Blick in seine Augen. „Nein“, sagte er schließlich. „Ich weiß es nicht. Ich weiß zwar, wo man die Leute findet, die acht Millionen Geister anbeten, und ich kenne die Flammenden Ritter, die den Unglauben mit Feuer bekämpfen, und ich kann dir sagen, wo die Weinenden Schwestern leben, aber ich kenne keinen Ort, an dem man einfach so eine Unterkunft für die Nacht bekommt. Oder an dem man hingehen kann, wenn man nicht auf Pilgerschaft ist.“

„Bist du ein Pilger?“

„Nein, ich...“

„Warum bist du dann noch hier?“ wollte Astelli wissen.

„Weil...“ Der Wachmann stockte. Er atmete zweimal tief durch, dann traten Tränen in seine Augen. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“

Astelli nickte langsam. „Es tut mir leid, dass ich hergekommen bin. Aber du weißt, dass ich es tun musste. Ich bin auf Pilgerschaft, und Avenamice ist der beste Platz für Pilger, nicht wahr?“

„Ja“, sagte der Wachmann leise, während seine Tränen liefen, „der beste Platz. Ich habe es nur nicht früher gemerkt.“

Er sah an sich herunter, blickte über seine blaue Uniform mit den blinkenden Bronzeknöpfen, sah zu dem Gewehr mit dem langen Bajonett am Lauf und drehte sich dann um, um langsam zum Tor zu gehen, wo er die Waffe an die Wand lehnte. Als er sich wieder umdrehte, war Astelli bereits auf dem Weg, die Straße wieder zurückzugehen.

„Warte!“ rief der Wachmann Astelli nach. „Warte einen Moment!“

Astelli blieb stehen und blickte über die Schulter. „Ist noch etwas?“

„Komm noch mal her!“

Etwas verwundert kehrte Astelli um und trat auf den Wachmann zu. „Was ist denn?“

Der Wachmann lächelte, auch wenn seine Mundwinkel immer noch ein wenig zitterten. „Ich weiß doch einen Ort, an dem du eine Unterkunft für die Nacht bekommen kannst. Er wird dich drei Unzen Silber kosten. Hast du so viel?“

Überrascht nickte Astelli und griff in die Tasche des Kapuzenmantels. Es klimperte, und drei Silbermünzen mit einem fremden König darauf kamen zum Vorschein. „Reicht das?“

„Das reicht“, bestätigte der Wachmann, griff seinerseits unter sein Wams und zog einen großen Schlüssel hervor. „Das hier öffnet die Tür zur Unterkunft. Das Bett ist frisch bezogen, im Schrank stehen Früchte und Käse; auf dem Tisch ist ein Tontopf mit Brot. Wenn du willst, darfst du den Ofen auch benutzen. Du musst aber morgen spätestens um elf fort sein. Dann ist der Appell vorbei.“

Astelli tauschte Münzen gegen Schlüssel und lächelte dem Wachmann zaghaft ins Gesicht. „Danke. Wo ist das Zimmer?“

„Es ist da drüben“, sagte der Wachmann und zeigte auf ein kleines Haus direkt hinter dem Stadttor. Es schloss sich gleich an die Mauer an.

Erstaunt starrte das Kind einige Sekunden lang zu dem Gebäude. „Aber das ist doch das Wachhaus!“

„Richtig.“

Astelli wandte den Kopf zum Wachmann um, doch der war bereits auf dem Weg die Straße hinunter, mit dem Rücken zu Avenamice und den Blick nach Osten gerichtet. Langsam knöpfte er sich im Gehen die Uniformjacke auf, und sein Gewehr stand immer noch an die Mauer gelehnt.

Vorsichtig nahm Astelli das Gewehr am Lauf, hielt es weit von sich entfernt und marschierte dann auf das Wachhaus zu. Niemand nahm Notiz von dem Kind. Religionen, in denen Waffen verehrt wurde, gab es genug. Und Avenamice war eben doch der beste Platz für Pilger.

Astellis Pilgerschaft

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