Читать книгу Eiskaltes Versprechen - Gudrun Weitbrecht - Страница 7

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Er empfand keine Furcht, keine Reue.

Dunkelheit umgab ihn. Die Bäume schienen ihm wie riesige Dämonen, die lauerten, darauf achteten, dass er es zu Ende bringen würde.

Er hatte sich mit der Last durch das Gebüsch gezwängt und wollte sie gerade ablegen, da hörte er ein Geräusch, ein Knacken, Rascheln. Ein Tier? Ein Mensch?

Es schien ihm Stunden her zu sein, dass er abgebogen und nach Norden gefahren war. Zuerst auf der Straße, dann auf dem rissigen Asphalt, der in einen Schotterweg überging, später auf dem Waldweg. Als der Pfad immer enger wurde, ließ er sein Auto stehen.

Der Schnee fiel in leichten Flocken, ganz sanft, stetig. Er hatte sich vorgestellt, seine Spuren später mit einem Tannenzweig zu verwischen. Aber schon nach kurzer Zeit waren seine Stiefelabdrücke und die Schleifspur des Sackes im Licht der Taschenlampe nicht mehr zu sehen. Laut Wetterbericht sollte es in der Nacht weiterschneien, frostig bleiben. Er hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Unter seinen Füßen gab der Untergrund nach, er war in eine Senke getreten und knickte leicht um. Wenn er jetzt fiel und hilflos liegen blieb? Aber er hatte schon gefährlichere Touren im Gebirge bewältigt, das hier war ein Kinderspiel.

Mittlerweile spürte er die Kälte nicht mehr. Schweißtropfen liefen an ihm herunter. Er fuhr mit der Hand unter seine Jacke. Sein Shirt fühlte sich klamm an.

Die Last im Plastiksack war schwerer, als es den Anschein gehabt hatte. Endlich fand er eine geeignete Stelle. Er schlang den Strick um den Ast.

Schon von Weitem roch er seine Beute. Seit Tagen hatte er keine Nahrung zu sich genommen, nur hier und da ein paar Abfälle oder einen kleinen Vogel verschlungen. Der Hunger überwältigte ihn, nagte an ihm. Er fraß ein Loch in seinen Bauch, so als ob ein anderes Wesen in ihm hauste.

Der Instinkt seiner Vorfahren, seiner Art, kam zurück, je länger er unterwegs war. Der Instinkt zu fressen, zu überleben.

Zeitweise begleitete ihn eine Gefährtin, heimatlos wie er, die ihn aber nach kurzer Zeit verließ. An ihren Geruch konnte er sich nur noch schwach erinnern. Auch an den Geruch des anderen zweibeinigen Weibchens, das sein Futter besorgt und ihn dann in dieser fremden Umgebung zurückgelassen hatte. Ganz zu Anfang suchte er die Spur, sein Heim, aber die Fährte verlor sich genau dort, wo die Frau ihn in dem rollenden Zuhause hingebracht und ausgesetzt hatte.

Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er wollte an einem warmen Ort unterschlüpfen, aber vergebens. Er fand nur Erdlöcher, Verschläge, manchmal auch einen ausgehöhlten Baumstumpf.

Vor ihm baumelte die Beute, nicht sehr hoch, er konnte sie knapp erreichen. Grimmig knurrte er, öffnete sein Maul, die riesigen Reißzähne, die bisher so nutzlos gewesen waren, zeigten sich. Speichel rann ihm über die Lefzen.

Nichts hielt ihn mehr davon ab, weder seine Erziehung noch seine Scheu, dem Herrn zu schaden, sein Verlangen war übermächtig. Gierig sprang er hoch, schnappte danach, zerrte und riss, dann nagte er das Fleisch von den Knochen ab.

„Was sagt euer ALAN?“, fragte Patrick genervt in die Runde.

Zu blöd, er hatte sich überreden lassen mitzumachen. Natürlich köderte ihn wieder Christian. „Das ist wie moderne Schnitzeljagd, Geocaching nennt man das, keine Sorge, die GPS-Geräte bringe ich mit“, hatte Christian gestern erklärt und ihm auf die Schulter geklopft. „Alter, du musst mal raus, immer nur in der Stube hocken bringt doch nichts. Lernen kannst du später, wenn die Semesterferien vorbei sind. Bella macht auch mit.“

Das hatte Patrick überzeugt. Er kannte Bella seit sie gemeinsam in die Grundschule gegangen waren. Seitdem waren Bella, Christian und er Freunde. Damals waren sie noch zu viert gewesen. David gehörte auch dazu. „Die vier Musketiere“ wurden sie genannt. Einer für alle, alle für einen, hatten sie sich geschworen. Bis der große Streit sie entzweite.

David – was wohl aus ihm geworden war? Patrick hatte ihn schon seit einiger Zeit – ja, es war fast schon zwei Jahre her – nicht mehr in der Fakultät gesehen. David sei im Ausland, erzählten einige Kommilitonen. Andere meinten, ihn neulich in der Stadt gesehen zu haben. Aber Genaues wusste niemand.

Patrick sah Bella an. Heute sah sie mal wieder niedlich mit ihrer bunten Norwegermütze aus. Besonders, wenn sie ihren Schmollmund machte, ähnelte sie einer älteren Pippi Langstrumpf.

Seitdem sie alle an der Uni in Vaihingen studierten, aber verschiedene Fächer belegt hatten, wurden Patricks Gefühle für Bella, die über den kumpelhaften Umgang mit ihr hinausgingen, immer stärker. Aber so sehr er sich auch anstrengte, bisher hatte er noch keine Anzeichen entdeckt, dass sie seine Verliebtheit bemerkte oder gar erwiderte. Dabei blieb er nur ihretwegen in Stuttgart und wohnte noch immer bei seiner Mutter, obwohl diese ihm manchmal auf den Wecker ging, weil sie es einfach nicht lassen konnte, sich einzumischen. Auch legte sie ihr gluckenhaftes Gehabe nicht ab, besonders seitdem sie geschieden war und ihre ganze Liebe auf ihn projizierte. Aber schließlich war er mit 23 inzwischen erwachsen und konnte für sich alleine entscheiden!

Vielleicht fand Bella ihn zu gewissenhaft, überlegte Patrick, zu bieder, das Leben zu schwernehmend. Ganz im Gegensatz zu Christian, der eine Leichtigkeit an den Tag legte, dem alles zuflog, der nie ernsthaft lernen musste, um gute Noten zu erreichen, den alle mochten. Auch hatte Christian viel mehr Zeit als er, konnte sich mehr leisten. Seine Eltern erfüllten ihm jeden Wunsch.

Fast die gesamten Semesterferien hatte Christian mit ihnen in der Karibik verbracht. Zwar lud er Bella und ihn ein mitzukommen, aber Patrick hatte abgelehnt. Er jobbte währenddessen in einem Wirtshaus, damit er seiner Mutter nicht ganz auf der Tasche lag. Vor Weihnachten und an Silvester gaben die Gäste das Trinkgeld besonders spendabel. Auch wollte er Christian oder seinen Eltern nicht verpflichtet sein. Das „Geschmäckle“, dass man ihn als armen Studenten aushalten wollte, konnte er nicht verdrängen.

Wahrscheinlich aber setzte Christians Vater den Trip sowieso als „Besondere Werbeausgaben“ in der Steuererklärung ab und er hätte sich darüber keine Gedanken machen müssen. Trotzdem hielt ihn Stolz davon ab, diese großzügige Geste anzunehmen. Bella ließ sich natürlich die Gelegenheit nicht entgehen, etwas umsonst zu erleben.

Vorgestern waren die Urlauber braun gebrannt und gut gelaunt zurückgekehrt und hatten nichts Besseres zu tun, als ihn in die Kälte mitzuschleifen.

War zwischen den beiden etwas vorgefallen? Eigentlich konnte es nicht sein. Patrick versuchte schon den ganzen Morgen, im Verhalten von Bella und Christian einen Hinweis zu finden, aber beide frotzelten sich wie immer unbekümmert an.

Und nun stiefelte er mit den Freunden durch den Schnee, um so eine olle Tupperdose mit dem Cache darin zu finden. Keine Menschenseele unterwegs, liegen wahrscheinlich noch alle in den Federn. Wäre mir heute auch glatt lieber gewesen, dachte Patrick.

„Ist es euch auch so saukalt?“, fragte er und zog seine Jacke fröstelnd enger, während Bella und Christian das GPS-Signal auf dem ALAN Map 500 ablasen. Um das Objekt zu finden, hatten sie die Koordinaten von dem Internetportal Geocaching auf das Gerät übertragen: „Suche die Infotafel auf folgenden Koordinaten. Auf ihr befindet sich eine Zahl. Diese Zahl musst du an earthcache.vaihingen@pfadfinder.de einmalig senden. Dann erfährst du Weiteres“, war dort zu lesen gewesen.

„Klar ist mir ein wenig kühl, nach den 35 Grad in der Karibik. Hättest schließlich mitkommen sollen, Alter“, entgegnete Christian spöttisch und setzte nach: „Also, das ist mal eine blöde Gegend, um was zu verstecken. Die Exkursion zur Zugspitze war geil gewesen. Aber da hast du auch nicht mitgekonnt, stimmt’s, Patrick?“

Bella sah Christian missbilligend an. „Hier sind nur Felder und Pflanzungen, bis auf die Privatgärten, in die wir nicht reinkommen. Es wird doch wohl nicht die Jugendfarm oder die Tennisanlage sein?“

Christian zuckte mit den Schultern, er wich Bellas Blick aus. „Wenigstens ist das Areal zu Fuß vom Campus aus zu erreichen.“ Obwohl er lieber mit seinem Porsche bis kurz vor das Ziel gefahren wäre, wies die Vorgabe auf der Website einen Fußmarsch von der Universität aus, quer durch Vaihingen. Erst heute Morgen fiel ihm das auf. Zurück konnte er nicht mehr, schließlich hatte er das Ganze angeleiert. Nun biss er wohl oder übel in den sauren Apfel. Vor Patrick, dem gewissenhaften Streber, und Bella würde er bestimmt keine Schwäche zeigen.

„Wahrscheinlich müssen wir jetzt in Richtung Sonnenberg gehen, dort muss es liegen“, erklärte Bella, während sie das handliche Gerät ablas.

Patrick ignorierte Christians spitze Bemerkung. Er nahm sein Fernglas aus dem Köcher und blickte hindurch. Vielleicht entdeckte er den Hinweis so besser. Ein rotes Band, das angeblich auf das Versteck hinweisen sollte. Rot musste im Schnee doch auffallen!

Kriminalrätin Anne Wieland saß vor ihrem Computer und versuchte sich zu konzentrieren, aber immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. An Arbeiten war an diesem Morgen nicht zu denken. Sie stand auf und sah zum Fenster hinaus. Das Außenthermometer zeigte seit Tagen konstant minus sechs Grad – und das, obwohl Feuerbach nicht gerade als Stuttgarts Kälteloch bezeichnet werden konnte. In der Nacht hatte es wieder geschneit.

Im Haus war alles ruhig, selbst von draußen kam kein Laut herein. Der Schnee dämpfte alle Geräusche. Fast schien es, als ob die Welt zum Stillstand gekommen sei. In der Schreinerei gegenüber waren Betriebsferien, kein Handwerkerlärm drang zu ihr. Auf den Straßen herrschte wenig Verkehr. Selbst wenn heute kein Feiertag gewesen wäre, hätten viele ihr Auto wegen der vereisten und ungeräumten Straßen stehen lassen. Der Frost wich noch nicht einmal tagsüber.

In der letzten Woche gähnte in den Geschäften eine ungewohnte Leere, nachdem die Menschen anscheinend wie jedes Jahr vor den Festtagen in Panik verfallen waren und eingekauft hatten, als ob der Weltuntergang bevorstünde. Auch Anne war kurzzeitig in Hektik verfallen und hatte ihre Vorräte aufgefüllt.

Zwischen Weihnachten und Silvester gab es im Morddezernat nur alte Fälle zu bearbeiten. Deshalb wollte Anne eigentlich ihren Resturlaub nehmen. Aber Verbrecher hielten sich nicht an Ruhetage, geschweige denn an christliche Feiertage. Ihre Abteilung litt an chronischer Unterbesetzung. Sie war heute für die Bereitschaft eingeteilt, zumal sie an Heiligabend und am Neujahrstag keinen Dienst schieben musste.

Bevor sie zum Polizeipräsidium fuhr, beschloss Anne zuerst einmal, die alten, geerbten Glaskugeln – einige befanden sich schon seit der vorletzten Jahrhundertwende im Besitz der Familie – und die Halter mit den heruntergebrannten Kerzen vom Christbaum abzunehmen. Anschließend wollte sie den Baum in den Garten schleppen.

Als sie den Topf mit der einen Meter fünfzig großen Douglasie kurz vor dem ersten Advent gekauft und ihn in ihre Etage gewuchtet hatte, erfüllte das Wohnzimmer ein harziger Tannengeruch. Anne drückte ihre Nase ganz tief an die Zweige und inhalierte. In ihr stieg die Erinnerung an frühere Weihnachten hoch, als ihr Sohn Julian noch klein war und juchzend den Christbaum bewunderte – wie sie davorstanden und sangen: „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter.“

Aber obwohl Anne Wasser in den Topf eingefüllt hatte, ließen nun einzelne Äste ihre Nadeln abfallen.

Inzwischen hatte sich der Waldgeruch verflüchtigt. Und es war Zeit, die Tanne hinauszustellen, damit sie nicht noch mehr unter der Heizungsluft litt. Wenn der Baum bis dahin durchhielt, wollte Anne ihn im Frühjahr im Garten einpflanzen.

Auf dem Zimmerboden, unter den herabhängenden Zweigen, stapelten sich noch die Geschenktüten und Einpackpapiere. Anne hob sie auf, strich sie glatt, um sie nachher in den Dielenschrank zu legen.

Ihre fast 85-jährige Mutter Magda Wieland, zu der Anne nach ihrer Scheidung vor sechs Jahren mit ihrem damals zehnjährigen Sohn Julian gezogen war, wohnte im Erdgeschoss des Hauses und hatte die Angewohnheit, alles aufzuheben, weil man es ja irgendwann wieder gebrauchen könnte.

Falls ihre Mutter das Papier im Container entdecken würde, machte ihr die alte Dame bestimmt wieder Vorwürfe. „Das ist viel zu teuer gewesen, wir bügeln es und benutzen es im nächsten Jahr wieder.“

Ja, der Schwabe verschwendet nichts, dachte Anne seufzend.

Überhaupt wurde es immer schwieriger mit Magda. Manchmal tat sie ganz unsinnige Dinge: Sie hatte neulich die Tiefkühltruhe ausgeschaltet, weil dort ein Licht brannte und das Geld kostete. Als Anne es entdeckte, waren die Lebensmittel bereits aufgetaut. Sie warf die stinkenden Vorräte weg. Ihre Mutter hatte das in ihrem plötzlichen, wahnhaften Spardrang nicht bedacht.

Einmal verbrannten auf Magdas Herd die Kartoffeln so lange, bis die Nachbarn die Feuerwehr alarmierten. Ein anderes Mal kokelte ein Stummel der Brissago – ihre Mutter rauchte heimlich Zigarillos und dachte, Anne würde es nicht bemerken – munter auf dem Teppich weiter. Nur durch das beherzte Eingreifen von Julian konnte Schlimmeres verhindert werden.

Anne war dem neuen Dezernatsleiter Münch dankbar, dass sie an den vergangenen Festtagen nicht hatte arbeiten müssen. So konnte sie auf ihre Mutter aufpassen, damit diese nichts anstellte und womöglich das Haus in Brand steckte. Einen eigenen Christbaum hatte Anne ihr zwar verweigert mit dem Hinweis, dass sie sowieso im ersten Stock in ihrer Wohnung mit Julian feiern würden und ein Baum im Haus ausreiche. Aber wer wusste, was Magda sonst noch für Possen ausheckte?

Es musste dringend eine Lösung für die Betreuung gefunden werden. Nächste Woche fing die Schule wieder an und Julian fiel dann aus. Außerdem wollte sie ihm die Verantwortung nicht länger aufbürden. Dolores, ihre Haushaltshilfe, kam an den Wochentagen, besaß aber selbst eine Familie, um die sie sich kümmern musste. Sie blieb freiwillig länger, als es ausgemacht war und Anne sie eigentlich entlohnen konnte.

Denn Anne musste den Unterhalt, den sie nach der Scheidung für ihren Sohn erhalten hatte, an ihren Exmann Günther Wöhrhaus zurückzahlen. Das riss ein großes Loch in ihren Sparstrumpf. Sie hatte Günther bewusst zehn Jahre lang über den wahren Erzeuger von Julian getäuscht. Im Nachhinein konnte sie ihrem Exmann keinen Vorwurf wegen der Vaterschaftsanfechtung machen. Es nagte ein bitteres Gefühl von Schuld an ihr.

Aber etwas Gutes hatte die Auseinandersetzung vor Gericht gehabt: Nun musste sie sich nie mehr privat mit Günther beschäftigen. Schlimm genug, sich dienstlich mit ihm zu befassen, denn im Mai letzten Jahres stand er zeitweilig unter Verdacht, den Vorsitzenden einer Kleingartenanlage ermordet zu haben. Letztendlich hatten ihr Assistent Marco Schneller und sie dann doch die wahren Schuldigen entdeckt. Anne reagierte erleichtert darüber, dass sich der Verdacht gegen ihren Ex nicht bewahrheitete. Schließlich hatte sie mit ihm einige Jahre Tisch und Bett geteilt – und in der ersten Zeit waren sie auch glücklich gewesen.

Vorsichtig nahm Anne die Glaskugeln ab und legte sie in eine Schale. Die Kartons konnte sie später vom Dachboden holen. Sie dachte darüber nach, wie sie es zeitlich hinbekam, den Geschenkgutschein ihrer Mutter einzulösen, als Julian hereinstürmte.

„Ma, kann ich einen Hund haben? Maria kennt jemanden, der kleine Labradorwelpen verkauft.“

„Einen Welpen? Einen Labrador? Warum, um Himmels willen? Bist du nicht mit fast 16 ein bisschen zu alt für diesen Wunsch? Die werden riesig! Die Diskussion hatten wir doch schon früher! Der Hund kostet in der Anschaffung und frisst uns später die Haare vom Kopf. Ganz zu schweigen von der Arbeit. Er muss zweimal am Tag ausgeführt werden. Und wer bringt ihn zum Tierarzt?“

„Das mach ich“, protestierte Julian.

„Ja, genauso wie damals mit dem Hamster Max. Ich kann mich noch gut erinnern, dass du nach kurzer Zeit weder den Käfig gesäubert noch Max gefüttert hast. Als sein Fell ausfiel, hab ich ihn zum Tierarzt gebracht. Damals hatten wir ausgemacht: kein Haustier mehr. Vor allen Dingen kein Käfigtier“, widersprach Anne.

„Stimmt, aber so ein Hund ist kein Käfigtier, außerdem bin ich jetzt älter!“

„Du meinst, auch verantwortungsbewusster? Kann schon sein, aber du bist fast nie zu Hause, entweder in der Schule oder beim Sport oder bei deiner Freundin. Nicht zu vergessen deine Bandproben. Wir haben genug damit zu tun, uns um Oma zu kümmern. Du weißt ganz genau, dass sie eigentlich dauernde Aufsicht braucht.“

Na prima, da hätten wir das Problem mal wieder. Morgen muss ich unbedingt etwas organisieren, überlegte Anne beinahe panisch.

„Ach, Ma! Bitte!“, schmeichelte Julian und blickte Anne treuherzig an.

Wer konnte diesen großen dunklen, Augen widerstehen? Anne schmunzelte. „Also gut, ich denke darüber nach. Aber versprechen kann ich es nicht!“

Versprechungen müssen ohne Wenn und Aber gehalten werden – das war eine von Annes Leitlinien in Julians Erziehung. Auch wenn dies manchmal bedeutete, dass so ein Versprechen im Fiasko endete. Die Fahrt ins Disneyland in Paris, die sie Julian zugesichert hatte, war ihr noch gut in Erinnerung. Der Aufenthalt stellte sich als reine Zeitverschwendung und Katastrophe heraus, weil sie vor jeder Attraktion stundenlang in der Sonne anstanden und Julian und sein Freund, den Anne mitgenommen hatte, die Lust verloren. Sie quengelten dauernd „total ätzend“ und wollten nach Hause. Selbst der sonst so geliebte Hamburger und das Cola-Gesöff hellte die miese Laune der Kids nicht auf.

Noch während Anne darüber nachdachte, wie sie ihren Sohn von dem Wunsch nach einem Hund ablenken konnte und ob Julian „Unsere kleine Farm“ gesehen hatte – die Serie wurde im Fernsehen wiederholt –, vibrierte ihr privates Handy. Sie schaute auf das Display und drückte den Anruf weg. Fast gleichzeitig klingelte ihr Diensthandy. Erleichtert nahm sie es in die Hand. „Wieland, ja? Was gibt es?“

Sie flüsterte Julian zu: „Wir unterhalten uns ein anderes Mal weiter, das ist beruflich. Du passt doch auf Oma auf?“ Dann sprach sie wieder ins Telefon: „Wo ist der Tote?“

„Sie haben das Ziel erreicht“, ertönte die sterile Stimme aus dem Navigationsgerät. Schon von Weitem sah Anne das Absperrband, das die Schutzpolizisten rund um den Tatort gezogen hatten.

In Möhringen, vorbei an der Kreuzung mit der Apotheke und dem „Schwarzen Haus“, war sie nach rechts abgebogen. Die schmale, unbefestigte, mit Schotter belegte Nebenstraße führte entlang eines ungepflegten Tennisplatzes und umzäunter Gärten. Auf einem dieser Grundstücke ließ der Besitzer seiner künstlerischen Ader freien Lauf und stellte Metall- und Schrottinstallationen aus.

Die kleine Straße endete an einem engen Weg, der in das Wäldchen an der Gemarkungsgrenze von Möhringen und Sonnenberg führte. Die Schwälblesklinge grenzte an den Waldfriedhof. In der Senke unterhalb des Kohlhau lag Kaltental.

Als Anne mit ihrem Peugeot Cabrio anhielt und ausstieg, sank sie tief in den Neuschnee ein. Darunter befanden sich eine Eisschicht und verharschter Altschnee.

„Mist“, fluchte sie. „Schon wieder Natur! Lässt sich niemand mehr zu Hause ermorden?“ Anne erinnerte sich an das Verbrechen im Schrebergarten. Damals, im letzten Mai, hatte es in Strömen geregnet und ihre Ballerinas waren nach nur kurzer Zeit völlig durchgeweicht.

Aber diesmal war sie gerüstet. Sie stülpte eine Wollmütze über, ging zum Kofferraum, streifte den weißen Schutzanzug über ihre Daunenjacke und nahm wieder auf dem Fahrersitz Platz. Sie schlüpfte zuerst aus einer, dann aus der anderen Lederstiefelette und zog ihre Moonboots an. Vermummt wie eine Astronautin, dachte Anne, während sie sich im Seitenspiegel des Autos begutachtete.

Ihr Assistent Marco Schneller unterhielt sich mit zwei Polizisten, entdeckte Anne und winkte ihr ungeduldig zu. Neben ihnen wartete der Frischling Leni Grimm. Die Kommissarin war während des letzten Mordfalls von Betrug und Computerkriminalität in Annes Dezernat gewechselt.

Anne fiel auf, dass Leni in ihrem cremefarbenen Designer-Outfit mal wieder aussah, als sei sie dem Titelblatt der „Vogue“ entsprungen. Sie trug fast kein Make-up. Die junge Kommissarin war mit ihren mandelförmigen, dunklen Augen eine natürliche asiatische Schönheit. Bisher hatte Anne sich jung gefühlt, aber mit einem Mal kam sie sich mit ihren fast 50 Jahren alt und verbraucht vor.

Etwas abseits der Polizisten stand ein zitterndes, weinendes Mädchen zwischen zwei jungen Männern, die tröstend ihre Arme um sie gelegt hatten. Alle drei bibberten vor Kälte und der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

„Also, was haben wir?“, fragte Anne Marco, der wie immer als Erster am Tatort bereitstand, obwohl er zuerst den Dienstwagen und Leni vom Polizeipräsidium abgeholt hatte. Er schob die Kapuze seines Parkas ein wenig zurück. Mit dem Schopf ähnelt er ein bisschen Tim, dem Reporter aus dem Comic „Tim und Struppi, dachte Anne.

Marco erwiderte den Anflug ihres kleinen Lächelns mit gewohnt spitzbübischem Grinsen. Der jungenhafte Eindruck, den ihr Mitarbeiter machte, täuschte. Anne wusste seine überragenden fachlichen Fähigkeiten zu schätzen. Sie sagte „Hallo“ in Lenis Richtung, dann drehte sie sich wieder ihrem Assistenten zu.

„Entschuldige die Verspätung, wegen des Schnees habe ich viel länger gebraucht, als ich eingerechnet hatte. Die Leute fahren, als ob sie auf rohen Eiern unterwegs wären. Und dann hat mich mein Navi noch falsch gelotst. Ich musste es erst neu programmieren. Diese Waldwege sind anscheinend nicht drin.“

„Kein Problem, Chefin. Mich wundert’s auch manchmal, dass nicht öfter Leute im Neckar landen! Aber Spaß beiseite! Also, wir haben eine fragliche Selbsttötung. Mann, Mitte 20.“

Marco forderte Anne mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. „Es geht weiter ins Unterholz, da drüben hängt er. Erschrecken Sie nicht, kein schöner Anblick.“

Was soll mich jetzt noch erschrecken, dachte Anne.

Arian durchkraulte in kräftigen Zügen seinen auf 23 Grad beheizten Außenpool. Nichts konnte ihn von seinem morgendlichen Ritual abbringen. Er genoss es, den Tag so zu beginnen, bevor er sich den Geschäften zuwandte.

Energie und Zielstrebigkeit waren die Voraussetzungen gewesen, es bis hierher zu bringen. Er musste lachen, als er daran dachte, wie einfach es tatsächlich gewesen war, die Menschen für seine Zwecke einzuspannen. Einige protegierten ihn, weil er sich in der Vergangenheit für sie als nützlich erwiesen hatte. Diejenigen, die ihn als Arian kannten, ihm vertraut hatten, mit denen er Geschäfte machte, ahnten nicht, wer er in Wirklichkeit war oder was er zu tun gedachte.

Sein Plan stand schon seit über zehn Jahren und bald würde es so weit sein. Auch wenn sich in den letzten Wochen einige Schwierigkeiten ergeben hatten – der Zeitpunkt war gekommen. Ihn noch länger hinauszuschieben, konnte das ganze Projekt gefährden. Er fand es schade, dass gerade jetzt die Hilfskraft ausfiel, die eigentlich für einen Teil der Sache ausgebildet worden war. Aber einen neuen Mitarbeiter einzustellen, ging in der kurzen Zeit nun nicht mehr. Dazu war das Gesamtprojekt zu komplex. Den zweiten Teil würde er alleine bewältigen müssen. Egal, wie eifrig, wie fähig seine Mitarbeiter waren, Arian hatte gelernt, dass er niemandem außer sich selbst trauen konnte.

Ihm fiel der Ausspruch seines Vaters ein: „Wenn du etwas richtig machen willst, musst du es alleine in die Hand nehmen!“ Wie recht er hatte, überlegte Arian.

Fast bedauerte er es, sein angenehmes Leben in diesem Land aufzugeben und zurück in die Heimat zu reisen. Aber ein Versprechen war ein Versprechen. Der Kanun, das Familiengesetz, musste eingehalten werden.

Arian stieg aus dem Wasser, schlüpfte in die Sandalen, hüllte sich fröstelnd in den Frotteemantel und setzte seine modische Brille aus Titan auf. Es fing wieder an zu schneien. Während er eilig der Terrassentür zustrebte, ärgerte er sich. An alles hatte dieser Architekt gedacht, nur nicht an eine überbaute Passage zwischen Schwimmbecken und Haus. Aber bald würden sich andere Mieter darüber aufregen.

Mila, seine Haushälterin, bereitete bestimmt schon das Frühstück zu. Mila stammte aus demselben Dorf wie er und kannte seine wahre Identität. Aber auf sie konnte er sich verlassen, sie war absolut verschwiegen und loyal. Und selbst wenn sie jemals auf den Gedanken kommen sollte, ihn zu verraten, würde das für sie den Tod bedeuten – das wusste sie.

Noch immer fiel Schnee, ließ die Konturen der Landschaft verschmelzen, verhüllte Hässliches. Aber den Toten ließ der Schnee nicht verschwinden. Im Gegenteil: Der Körper des schmächtigen Mannes hob sich vor der weißen Kulisse wie auf einem Diorama hervor. Als Erstes bemerkte Anne den roten Strick aus Polypropylen, der seinen Hals fest einschnürte und der mit dem anderen Ende um einen Ast geschlungen war. Die Leiche hing an einem Baum, genau über einem Grenzstein, nicht sehr hoch. Die schwarzlila verfärbte Zungenspitze hing aus einem Mundwinkel heraus, fast wirkte der Anblick obszön. Wie ein rostfarbener Wasserfall zog sich die getrocknete, breite Blutspur über das blaurot verfärbte Gesicht bis zum Kragen des weißen Hemdes. Seine offene, schwarze Winterjacke saß nicht richtig, auf den Schultern lag eine Schneeschicht. Der Bart ließ den Mann älter aussehen, als er wahrscheinlich war. Um den Hosenschlitz der Jeans hatten sich Eiskristalle gebildet. Von den Füßen waren nur Fleischfetzen und Knochen übrig geblieben. An den abgenagten Waden sah man einen schmalen Streifen bunt gekringelter Strümpfe.

„Du meine Güte.“ Unwillkürlich schüttelte Anne sich. Im selben Augenblick dachte sie: Das Ganze sieht irgendwie inszeniert und merkwürdig aus. Fast wie eine Filmszene. Wenn er sich selbst umgebracht hat, warum hängt er dann nicht wie üblich auf dem Speicher, am Kronleuchter oder im Badezimmer? Und wo sind seine Schuhe? Bei diesem Wetter barfuß? Oder sollte nur ein Selbstmord vorgetäuscht werden?

„Weiß man, wer er ist? Hat er irgendwelche Ausweise bei sich?“, fragte sie ihre Kollegen.

„Nein“, antwortete Leni. „Aber die brauchen wir auch im Augenblick nicht, die drei Zeugen kennen ihn.“ Sie zeigte auf die jungen Leute. „Das sind Isabel Ebert, Patrick Klein und Christian von Perrier. Sie sagen, er sei ihr ehemaliger Kommilitone David Hoyer.“

In diesem Moment stiegen die Kollegen der Spurensicherung, Roller und Bämpfle, aus einem silberfarbenen Van. Sie grüßten mundfaul mit einem knappen „Hallo“ und holten ihre Metallkoffer aus dem Wagen. Anne hatte mit beiden schon ein paarmal zusammengearbeitet und wusste, dass die Kollegen auch ohne ihre Anweisung das Metier beherrschten.

Zeitgleich versuchte der Fahrer eines 6er-BMWs, direkt hinter dem Van einen Stellplatz auf dem befestigten Weg zu finden, musste aber auf die Wiese ausweichen und landete mit dem linken Vorder- und Hinterreifen in einer tiefen Rille.

„Oh, da kommt Jochen, ich meine – Herr Sommer!“, rief Leni. Anne sah, dass die jüngere Kollegin sichtlich verlegen mit ihren langen, schwarzen Haaren spielte, die aus ihrer Mütze hervorlugten.

Staatsanwalt Sommer, gestylt und gut aussehend wie ein junger Harrison Ford, begutachtete währenddessen kopfschüttelnd die Schräglage seines Autos.

„Die Staatsanwaltschaft ist ja mal wieder besonders eifrig“, brummte Bämpfle in Richtung BMW.

Anne drehte sich abrupt um, zog Einmalhandschuhe an und durchsuchte die Kleidung der im Schneegestöber leicht schaukelnden Leiche. Keine Geldbörse, kein Ausweis noch ein anderer Hinweis auf seine Identität. Selbst ein Handy fehlte.

Falls er sich selbst umgebracht hat, wollte er vielleicht nicht, dass es zu Hause vor seinen Angehörigen geschieht. Aber sollte es Mord sein, dient der Ort der Vertuschung, was aber wiederum nicht sein kann, da dieses Wäldchen sicherlich ein nahes Ausflugsziel für die Bürger der umliegenden Stadtteile ist. Die letzten Wohnhäuser liegen nur etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt. Merkwürdig, dachte Anne.

„Woher kommt das Blut?“, fragte sie Marco.

„Wie es aussieht, von einer Wunde am Kopf“, antwortete er und fügte hinzu: „Ist wahrscheinlich nicht die Todesursache!“

„Todeszeitpunkt vor über 24 Stunden“, warf Leni ein.

Anne verzog ihr Gesicht und runzelte die Stirn. „Sollten wir diesen Befund nicht lieber dem Notarzt oder Rechtsmediziner überlassen?“, fragte sie spöttisch in Lenis Richtung.

„Natürlich, ich dachte nur ...“ Die Kommissarin riss erstaunt ihre Augen auf, zuckte mit den Schultern und sah Marco fragend an, der anscheinend genauso irritiert wie die Kollegin über das Verhalten seiner Chefin war. So kannte er sie nicht. Vielleicht war sie mit dem falschen Fuß aufgestanden oder sie litt an der Frauensache. Seine Melanie war dann auch immer grätig.

Anne untersuchte den Fundort. Unter der Leiche hatte sie bisher noch keine verwertbaren Fußspuren entdecken können, der Schnee überdeckte inzwischen auch die Abdrücke der Polizisten. Sie sprach ihren Bericht in das Handy. Dann erst ging sie auf die Zeugen zu.

„Lassen Sie es uns kurz machen, Sie wollen wohl sicher bald ins Warme. Also, wer von Ihnen hat Ihren ehemaligen Kommilitonen entdeckt?“

„Wir alle drei“, entgegnete Christian von Perrier, ein blonder, blauäugiger Student, der größere und schlankere der beiden Männer. Anne bemerkte die etwa zwei Zentimeter lange Narbe auf seiner Wange. Ihr fiel auch auf, dass er Markenkleidung trug, wie für eine Gebirgstour ausgerüstet war und eine teure Armbanduhr sein Handgelenk umspannte.

„Nein, das stimmt nicht“, widersprach das blonde Mädchen, das eine Norwegermütze trug, leise. „Ich bin Isabel – Bella. Patrick hier“, sie zeigte auf den zweiten Studenten mit braunen, kinnlangen Haaren und kantigem Gesicht, „hat als Erster den roten Strick gesehen. Wir sollten nach einem roten Hinweis Ausschau halten, und dann ...“ Sie brach in heftiges Schluchzen aus.

„Wieso nach einem roten Hinweis?“, fragte Anne erstaunt und hakte nach. „Was suchten Sie denn hier?“

„Wir machen einen Geocaching-Ausflug.“

„Aha“, meinte Anne und blickte Rat suchend zu Marco hin.

„Chefin, ist ’ne neue Trendsportsache. Eine Art moderne Schatzsuche mit einem GPS-Empfänger.“

Leni mischte sich ein: „Da wird so ein Signal von einem Satelliten ...“

„Ich weiß, was ein GPS ist. Mein Navi hat sich heute trotzdem damit verfahren, schon vergessen?“ Ohne sich weiter um die junge Kommissarin zu kümmern, wandte sie sich wieder dem Toten zu.

„Sollen wir ihn runternehmen, Frau Wieland? Der Ast hält nicht mehr lange bei dem Hin- und Hergeschaukle“, unterbrach Leni noch einmal.

Annes braungrüne Augen funkelten die Kommissarin missbilligend an. „Gleich, aber ich muss ihn mir erst selbst noch einmal ansehen. Ich will zusätzliche Fotos vom Seilknoten und dem Toten mit meinem Handy machen.“

Seitdem einmal Tatortfotos durch einen Computerabsturz beinahe nicht mehr zu rekonstruieren gewesen waren, ging sie auf Nummer sicher. Dann fiel ihr etwas auf. „Wie ist er überhaupt hierhergekommen? Habt ihr ein Auto oder Motorrad, vielleicht ein Fahrrad entdecken können? Reifenspuren?“

Marco schüttelte seinen Kopf. „Nada, außerdem schneit es ja schon seit gestern.“

„Sind Blutspuren bei eurer Ankunft auf dem Boden zu objektivieren gewesen? Sind seine Schuhe oder Reste der Füße gefunden worden?“

Bei der letzten Frage kam ein entsetzter Schrei aus Bellas Mund. Die junge Frau hatte das Gespräch mitbekommen, obwohl sie und ihre Begleiter immer mehr vom Tatort zurückgewichen waren und nun abseits warteten.

„Nichts hier, aber wir werden unseren Suchradius weiter ausdehnen“, schlug Marco vor.

„Ja, mach das mal, bevor die Verbrechens-Touris auftauchen und alles zertrampeln. Wundert mich, dass es noch nicht geschehen ist. Und nimm die Schupo und Frau Grimm mit“, ordnete Anne an. Sie ging zu den Studenten und befragte sie weiter: „Entschuldigen Sie. Also, Sie sind sicher, dass der Tote David Hoyer heißt?“

Nach kurzem Zögern antwortete Patrick: „Ja, ich bin mir sicher, er ist es. Obwohl er mit dem Bart verändert aussieht.“

„Sie sagen, Herr Hoyer ist ein Exkommilitone und hat mit dem Studium aufgehört?“, fragte Anne.

„Ja, stimmt, ist schon eine Weile her“, meinte Patrick. „Irgendjemand hat uns erzählt, er würde jetzt arbeiten und in Vaihingen wohnen. Aber wir haben ihn schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen.“

„Und wann haben Sie ihn hier aufgefunden?“

„So vor einer Stunde. Wir haben dann gleich die Polizei alarmiert.“

Anne nickte. „Das war richtig so. Ihre Personalien sind ja notiert und Sie dürfen gehen. Halten Sie sich aber für weitere Zeugenaussagen bereit.“

„Ja, ich will hier weg, lasst uns gehen“, schluchzte Bella und fügte hinzu: „Ich verstehe nicht, warum er das getan hat?“

„Glauben Sie, dass Herr Hoyer sich selbst erhängt hat?“, hakte der Staatsanwalt nach, der sich vom Anblick seines Autos gelöst und inzwischen zu der Gruppe gesellt hatte.

Patrick hob verwundert seine Augenbrauen hoch. „Wer sollte es sonst gewesen sein?“

Christian, der sich bisher nur ein einziges Mal geäußert hatte, fragte Anne: „Was meinen Sie? Es sieht doch nach Selbstmord aus?“

Anne überlegte nicht lange, sie würde eine solche Frage nie sofort beantworten. „Dazu können und wollen wir im Augenblick nicht endgültig Stellung nehmen. Aber wie es sich bisher darstellt, hat sich Herr Hoyer selbst getötet. Falls wir etwas anderes herausfinden, werden wir Sie benachrichtigen und sicherlich noch einmal befragen müssen. Sollen die Bereitschaftspolizisten Sie jetzt nach Hause fahren?“

„Nein, um Himmels willen, das fehlt noch, dass wir mit den Cops vorfahren. Geht schon, wir rufen ein Taxi“, entgegnete Christian bestimmt.

Anne schaute den dreien nach, als sie den Tatort verließen und im Gehen ihre Handys hervorzogen.

„Wir sind allein, kannst du mir mal sagen, was los ist?“, fragte der Staatsanwalt Anne. „Warum drückst du meine Anrufe weg und antwortest nicht auf meine Mails oder SMS?“ Nichts in seinem Gesicht verriet, dass er wusste, warum Anne sich so abweisend verhielt.

Sie verzog ihren Mund zu einer schmalen Linie. Kühl antwortete sie: „Lass uns das ein anderes Mal bereden. Ich habe jetzt keine Zeit und Lust, mich darüber zu unterhalten. Außerdem ist das hier wohl nicht der richtige Ort dafür.“

Anne wollte gehen, machte einen Schritt zurück und rutschte auf der Eisfläche aus, konnte sich aber wieder fangen.

Na toll! Ab jetzt herrscht Eiszeit zwischen uns, dachte Anne, während sie Jochen abwimmelte und innerlich fluchte. Sie fühlte sich verletzt und gedemütigt. Seit über einem halben Jahr schlief sie wieder mit ihm. Zwar seltener in letzter Zeit, weil sie ihre Mutter Magda nicht so oft allein lassen konnte. Aber Anne hatte das Gefühl gehabt, dass zwischen ihr und Jochen alles stimmte und sie ein Paar waren. Anne war zwölf Jahre älter als der Staatsanwalt, was ihr bisher kein Kopfzerbrechen bereitet hatte. Aber seit der Silvesternacht, seitdem sie ihn und Leni gesehen hatte, überlegte sie hin und her, ob das nicht der Grund für sein Verhalten sein konnte.

Sie würde es nicht vergessen: Kurz entschlossen hatte sie vor Mitternacht ihr kürzestes, tief ausgeschnittenes Cocktailkleid angezogen und war, ohne sich anzukündigen, zu Jochens Haus in die Weißenhofsiedlung gefahren. Während der Fahrt hatte sie sich vorgestellt, „Überraschung“ zu rufen und als „Silvesterknaller“ bei ihm aufzutauchen. Leise war sie um das Gebäude herumgegangen und hatte durch die Terrassentür in den Raum gespickt. Obwohl im Wohnzimmer nur Kerzen brannten, konnte Anne es ganz genau beobachten: Eng umschlungen tanzte Jochen mit Leni Grimm und küsste sie, lang und innig. Es gab keine anderen Gäste. Die beiden hatten so vertraut ausgesehen, dass es Anne den Atem verschlug. Erst als sie wieder im Auto saß, spürte sie die Enttäuschung wie einen Schlag in den Magen. Nie hätte sie Jochens Verlegenheit und Ausflüchte in diesem Augenblick ertragen können. Dabei hatte sie seine Einladung zur Party nur abgesagt, weil es ihrer Mutter an dem Tag schlecht ging und Anne bei ihr bleiben wollte. Die Neue musste da schon in den Startlöchern gestanden haben.

Voller Wut und Enttäuschung hatte sich Anne in ihrem Schlafzimmer vergraben, während Böller krachten, das Feuerwerk über Stuttgart leuchtete und die Glocken das neue Jahr einläuteten. Seitdem ging sie Jochen aus dem Weg. Aber sie musste es klären. Nur heute nicht. Hoffentlich zermürbte sie die Angelegenheit bis dahin nicht.

„Wann denn? Und wo sollen wir uns unterhalten?“, fragte Jochen, wurde aber durch das Auftauchen von Annes Kollegen unterbrochen.

„Chefin, wir haben an einer Stelle im Wald, auf einem fast schneefreien Stück unter den Bäumen, Tierspuren entdeckt. Vielleicht von einem Wolf! Daneben lag das hier, haben nur einen gefunden.“

Heftig schnaufend, weil er die letzte Strecke im Sprint hingelegt hatte, hielt Marco eine Plastiktüte in der Hand und zeigte den Inhalt: ein zerrissenes, bunt gekringeltes Sockenstück, an dem ein blutiger Fleischfetzen klebte, und ein zerfledderter Turnschuh.

„Von einem Wolf? Nicht sehr wahrscheinlich, die kommen hier nicht vor. In Schweden vielleicht, aber hier? Wohl eher nicht, Marco. Könnten Wildschwein- oder Hundespuren sein. Sind die Fotos und Gipsabdrücke gemacht?“, erkundigte sich Anne.

„Natürlich!“, entgegnete Leni und hielt ihr Handy und die Gipsplatte hoch.

Anne reagierte nicht darauf und ärgerte sich gleichzeitig über ihre mangelnde Professionalität und ihr zickiges Verhalten. Sie ermittelte hier als Polizistin und eigentlich durfte ihre private Befindlichkeit ihre berufliche nicht beeinträchtigen.

Aber Anne war gekränkt und konnte nicht verzeihen. Sie wusste um ihren Charakterfehler, es jemandem jahrelang nachzutragen, wenn er sie einmal enttäuscht oder ihr wehgetan hatte.

Neben ihnen tauchte eine ältere, stämmige Frau auf, die einen Pilotenkoffer in der Hand trug und sich mit resoluter Stimme vorstellte:

„Grüß Gott! Doktor Herder. Bin angefordert worden. Hier soll ein Toter hängen? Hat leider etwas länger gedauert. Entschuldigung. Aber besser spät als nie!“ Die Ärztin lachte kurz und rau auf.

„Kriminalrätin Wieland“, sagte Anne. „Und das sind die Kommissare Schneller und Grimm.“

„Schön, schön, dann wollen wir mal. Aber zuerst muss er abgenommen werden, sonst kann ich ihn nicht untersuchen“, entschied die Ärztin.

„Wie kriegen wir eigentlich die Leiche runter?“ Roller maß kritisch die Asthöhe und den Toten ab.

„Vielmehr ist die Frage: Wie konnte er sich selbst dort aufknüpfen? Der Mann ist nur etwa 1,78 Meter groß!“ Marco stutzte und klickte auf seinem iPhone die Landkarte an. Dann sah er auf den Grenzstein, auf dem sich eine eingemeißelte Fahne befand. „Den Stein hat jemand verschoben. Eigentlich müsste der doch an der Gemarkungsgrenze stehen. Entweder war es der Tote selbst oder sein Mörder. Aber bei diesem Wetter ist es fraglich, ob wir überhaupt Fingerabdrücke darauf finden.“

„Den Stein brauche ich nicht. Auch keine Leiter. Ich hol den so runter.“ Polizist Bämpfle, dessen beachtliche Körpergröße von fast zwei Metern immer wieder Anlass für Späße gab, hob beide Arme. Tatsächlich erreichte er mit seinen Händen das Seil.

„Na, so was.“ Anne konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.

Mit dem linken Arm umfasste Bämpfle den Toten in der Mitte, hob ihn ein wenig an, versuchte mit der rechten Hand die Schlinge vom Ast zu streifen. „Geht nicht, Frau Wieland. Ich muss den Knoten öffnen“, sagte er schnaufend.

Anne nickte. „Alles klar, den habe ich bereits fotografiert. Sie können ihn lösen. Herr Roller, sind Sie so gut. Auch du, Marco, hilf mal.“

Während Roller und Marco die Beine des Toten umklammerten, anhoben und festhielten, knüpfte Bämpfle den Knoten am Ast auf. Der Strick wand sich jetzt nur noch um den Hals des Opfers. Marco hatte bereits eine Plane auf dem Boden ausgelegt und die drei Polizisten legten den Leichnam vorsichtig darauf. Marco löste das Seil und zog es über den Kopf.

„Zwei Strangfurchen“, stellte Anne fest. „Ich muss mich revidieren: sehr wahrscheinlich keine Selbsttötung. Fragt sich nur, ob die Kopfwunde vorher oder nachher entstanden ist.“

Routiniert untersuchte die Ärztin den Körper.

„Leider kann ich den genauen Todeszeitpunkt nicht feststellen.“ Sie zog die lange Nadel des Thermometers unter dem rechten Rippenbogen heraus und las die Anzeige ab. „Wenn ich die Temperatur der Leber und die Außentemperatur berücksichtige, sind es über fünf Stunden her, sehr wahrscheinlich aber über zwölf. Der Frost verhindert eine Zersetzung des Gewebes und die Lösung des rigor mortis – der Leichenstarre. Aber es gibt eine vorläufige Methode, den ungefähren Zeitpunkt herauszufinden.“

Frau Doktor Herder schob Jacke und Hemdsärmel des Leichnams bis zum Bizeps hoch und ballte dann eine Faust. Zur Verdeutlichung ihrer Aussage schlug sie mit ihrer Faust kräftig auf den Muskel des Toten, worauf sich ein schwacher Wulst bildete.

„Wenn der Hubbel 24 Stunden stehen bleibt, liege ich mit meiner Berechnung richtig. Für Ihren Rechtsmediziner vermerke ich das mal in meinem Bericht.“

Sie richtete sich auf und schaute zufrieden in die Runde der verblüfft zusehenden Polizisten.

„Nicht schlecht für eine niedergelassene Gynäkologin im Bereitschaftsdienst“, meinte sie und packte ihren Koffer zusammen.

Nach Sicherung aller Spuren am Tatort und dem Abtransport des Opfers mit dem Bestatterwagen war es inzwischen 16.00 Uhr geworden.

„Lass uns gehen, hier richten wir nichts mehr aus, die Dunkelheit bricht herein und kälter wird es auch.“ Anne stapfte zu ihrem Peugeot und holte eine Thermoskanne hervor. „Magst du?“, fragte sie ihren Assistenten.

„Heißer Kaffee? Klaro“, freute sich Marco, der seinen Rucksack mit der Vesper im Präsidium vergessen hatte.

Anne sah zu Leni hin, die sich ans Steuer des Dienstautos setzte. Die Kommissarin war angewiesen, alleine zurück ins Polizeipräsidium zu fahren, um ihre vorläufigen Tatortbefunde in den Polizeicomputer zu übertragen.

Eiskaltes Versprechen

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