Читать книгу Eiskaltes Versprechen - Gudrun Weitbrecht - Страница 8
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ОглавлениеGegen Abend erreichten Anne und Marco den Lauchhau.
„Ich glaube, wir sind hier richtig. Mal sehen, ob wir einen Hinweis finden. Lass uns zuerst die Wohnungsschlüssel vom Hausmeister holen, damit wir rein können.“
„Geht klar, Chefin. Ich könnte aber auch mit meiner Scheckkarte ...“ Marco strahlte spitzbübisch bis zu den Ohren.
Der Lauchhau entpuppte sich als eine Ansammlung geklonter, grauer Betonhochhäuser. Die Gleichförmigkeit wurde zusätzlich durch die sich wiederholenden roten, blauen und gelben Fensterrahmen betont. Anne suchte vergebens nach einem Kiosk, einem Spielplatz oder irgendetwas, das die Monotonie unterbrach.
Als sie klingelten, hörten sie keinen Laut aus dem Hochhaus, kein Kindergeschrei, keine Musik. Hinter den dunklen Fenstern flimmerten die Fernseher.
Nur dieses Flimmern, die parkenden Autos und der Wäscheplatz mit einem vergessenen, starr gefrorenen T-Shirt auf der Leine ließen ahnen, dass hier Menschen wohnten. Alles verschmolz mit dem Häuserblock zu einem unwirtlichen Ödland.
„Ja, was denn jetzt schon wieder? Kann man denn noch nicht mal am Feiertag seine Ruhe haben?“, fragte unwirsch ein Mann, der den Summer gedrückt hatte und nun die Tür der Erdgeschosswohnung öffnete. Sein Haupt war kurz geschoren, er trug eine Jogginghose und ein schwarzes Sweatshirt, das um den Bauch herum spannte und auf dem eine weiße 88 aufgedruckt war. Marco starrte leicht pikiert auf die Zahl. In der Tür tauchte ein großer, grauer Schäferhund auf und knurrte.
Erschrocken trat Marco einen Schritt zurück.
„Hasso, sitz!“, kam der Befehl des Mannes. Er packte den Hund grob an seinem Halsband und drückte ihn herunter, bis er auf seinen Hinterpfoten saß.
Im Hintergrund konnte Anne die Vorspannmelodie von „SOKO Leipzig“ hören. Passt, dachte sie. Der Mann sprach mit einem Hauch von Sächsisch.
Marco hielt dem Hundebesitzer seinen Dienstausweis vor die Nase. „Kripo Stuttgart, Marco Schneller und Anne Wieland. Sind Sie Ronny Schmitz und als Hausmeister für dieses Gebäude zuständig?“
„Ich ziehe die Bezeichnung Facility Manager dem Hausmeister vor“, widersprach der Mann und ließ den Hund los.
Marco versuchte, nicht laut herauszuprusten. „Okay, alles klar. Wir bräuchten den Schlüssel zur Wohnung von David Hoyer, der wohnt doch hier?“
„Ist das Herr Hoyer?“, ergänzte Anne und hielt Schmitz das Foto auf ihrem iPhone hin. Sie hatte es aufgenommen, nachdem Marco und Bämpfle den Toten auf die Plane gelegt hatten.
Die Augen von Schmitz weiteten sich erschrocken.
„Ja, das ist der Hoyer. Sieht aber irgendwie komisch auf dem Bild aus. Ist das Blut? Hm, der Sonderling aus dem fünften Stock. Hat der was angestellt?“
„Nein, Herr Hoyer ist heute verstorben.“
Der Mund des Hausmeisters blieb offen stehen. Er scheuchte den Schäferhund in den Flur zurück, dann schlug er die Wohnungstür vor Anne und Marco zu.
„Hallo, Hallo! Was soll das?!“, rief Marco und donnerte mit der Faust gegen das Türblatt.
„Bin wieder da, Entschuldigung, der Schreck. Hab nur meinen Universalschlüssel geholt. Sie haben doch einen Durchsuchungsbefehl?“, fragte Ronny Schmitz, als er wieder öffnete und in Pantoffeln herausschlurfte, den Schlüsselbund klirrend in den Händen.
Marco brummte aufklärend: „Befehle hatte ich bei der Bundeswehr, bei uns heißt das Beschluss. Und klar, den haben wir.“
Anne schubste ihn verschwörerisch von der Seite an, dann fragte sie leise: „Wann warst du denn beim Bund?“
„1992 haben sie mich eingezogen, mit 19, und da war ich erst drei Jahre hier im Westen“, erklärte Marco. „Erzähl ich Ihnen ein anderes Mal, ist ’ne lange Geschichte!“
In der fünften Etage rechts befand sich eine winzige Einzimmerwohnung mit gebundener Küche. Anne fiel als Erstes die spartanische Einrichtung „Marke Elch“ auf. Ein Sofa, ein Sessel, ein Couchtisch. Ein kleiner orientalischer Teppich auf dem Boden aus Laminat. Keine Bilder an den Wänden. Ein Bücherregal, in dem politische Lektüre, einige Sachbücher über Informatik, Chemie und Physik, Bauwesen sowie eine Bibel und ein Koran standen. Eine zusammengeklappte Liege, auf der ein Schlafsack lag. Am Fenster ein Schreibtisch mit Bildschirm, Computer und Tastatur, davor ein Bürostuhl.
Marco zeigte auf das Festnetztelefon. „Wir brauchen die Verbindungsnachweise.“
Kein Fernseher. Eine Stereoanlage, einige CDs. Anne sah sie durch.
Im Schlafzimmer ein breites Bett, zerwühlte Kissen und Zudecke darauf, ein Hocker daneben, ein Schrank. Auf dem Boden eine umgeworfene Nachttischlampe mit Messingfuß. Der Boden knirschte, als Anne näher herantrat. Sie schaute in den Lampenschirm. Die Glühbirne war zerbrochen, die Glasscherben lagen zerstreut. Ein paar Bruchstücke befanden sich noch im Gewinde der Lampe.
Anne inspizierte das schmale Bad mit Duschwanne. Ein Elektrorasierer, Duschgel, Haarshampoo, Deo und ein Aftershave sowie Zahnbürste und Zahnpasta standen auf dem Ablagebrett unter dem Spiegel. Im Medizinschränkchen daneben Pflaster, Augentropfen, Aspirin und eine Packung Tampons.
„Zwar nur das Nötigste an Kosmetika und Medikamenten, aber falls er nicht an extremem Nasenbluten leidet, lebt er hier mit einer Frau – Freundin oder vielleicht einer Mitbewohnerin“, stellte Anne fest.
„Für wen sind denn die Liege und der Schlafsack? Normalerweise schläft man doch mit einer Freundin im selben Bett“, wunderte sich Marco nachdenklich.
„Hm, keine Ahnung. Jetzt lass uns zuerst nach der Geldbörse mit dem Ausweis oder nach einer Geburtsurkunde suchen, damit wir einwandfrei feststellen können, ob wir hier richtig sind. Um die Frage, wer mit wem und wo schläft, kümmern wir uns später.“
Anne schaltete ihr Handy an und klickte mit ihrem Passwort das Meldeamtsregister an, um noch einmal die Personalien von David Hoyer und dessen Passbild zu überprüfen. Ja, das war der Tote und das war offensichtlich seine Wohnung.
„Wirkt irgendwie traurig auf mich. So als ob er sich gar nicht zu Hause fühlt.“ Anne sah sich um, blickte nach oben zur Decke, dann sah sie aus dem Fenster. Genau gegenüber lagen die mit Zaun und Stacheldraht gesicherten Wohnhäuser der Patch Barracks.
Anne und Marco durchwühlten den Kleiderschrank, in dem ein Paar Jeans und einige Oberteile hingen, die darauf schließen ließen, dass der Besitzer keinen besonderen Wert auf Mode legte. Ein schwarzer Anzug, ein Paar schwarze Lederschuhe und mehrere weiße Hemden sowie ein Stapel Unterwäsche und Socken ergänzten den Bestand.
Neben dem Bett stand ein Rucksack, der eine Brotdose und einen Autoschlüssel enthielt. In der vorderen Reißverschlusstasche steckte ein Klemmausweis der Firma Weber & Söhne – Hoch- und Tiefbau AG. Weltweit.
„Wohl sein Arbeitgeber! Das Foto darauf stimmt jedenfalls!“
Dann durchforsteten die beiden Polizisten das Regal im Wohnzimmer.
„Wo bewahrt der Kerl bloß seine Unterlagen und Papiere auf?“, fragte Marco, während er die einzelnen Bücher herausnahm und ausschüttelte.
„Lass mal sehen“, sagte Anne und nahm die Bibel in die Hand. Auf dem inneren Deckblatt stand eine Widmung: „David zu seiner Konfirmation, April 2001 – Von deinen Eltern Josef und Dorothea Hoyer“.
Sie stellte die Bibel zurück und blätterte im Koran. Viele der Suren waren unterstrichen oder markiert.
Nachdenklich schaute Anne auf den kleinen Teppich. In welche Richtung lag er? Gen Mekka?
Sie inspizierte den Hängeschrank der Küche. „Körner, nichts als Körner! Was haben wir denn hier?“ Sie zog ein Fernglas mit Nachtsichtgerät hinter den Zerealiengläsern hervor.
Marco öffnete den Kühlschrank. „Manche Leute verstecken ihre Geheimnisse an den unmöglichsten Stellen. Aber hier ist nichts. Vegetarische Lebensmittel, keine Wurst, nur Tofu und Sojamilch. Überhaupt sieht es so aus, als ob nie gekocht würde.“
„Aber geputzt wird“, stellte Anne fest und zeigte auf einen roten Eimer und einen Wischmopp, die in einer Ecke der Küchenzeile standen.
Auf der Anrichte stand ein halb ausgetrunkener Becher Kaffee. Daneben ein angegessenes Fladenbrot, gefüllt mit Schafskäse und Tomaten.
„Ja, irgendwie ungemütlich und sparsam. Der Computer ist aber vom Feinsten mit allem Pipapo“, staunte Marco und schaltete den Rechner ein. „Der Bildschirm zeigt eine Passworteingabe.“
„Den Rechner soll die Spurensicherung mitnehmen“, sagte Anne. „Wie ich dich Käpsele kenne, knackst du das Passwort in null Komma nichts.“
Marco grinste. Plötzlich stutzte er, kroch unter den Schreibtisch und fuhr mit der Hand die elektrischen Leitungen nach, die zur Internetbuchse führten.
„Chefin, die Kabel sind ab dem Internetanschluss hinter der Fußleiste gebündelt.“
„Und? Ist das nicht normal?“, fragte Anne.
„Doch, aber hier auf dieser Seite des Zimmers sind die Fußleisten doppelt so hoch und doppelt so dick wie auf der anderen Seite. Das bräuchte nicht sein, die könnte man auch unter dem Schreibtisch entlangführen.“ Und als Erklärung fügte Marco hinzu: „Bin zu Hause als Hobbyelektroniker und Handwerker dauernd in Aktion.“
„Okay, was meinst du?“ Anne kniete sich neben ihn und klopfte gegen die Leiste. „Klingt dumpf, so als ob noch was anderes darunter ist! Hol mal einen Schraubenzieher oder einen Stechbeitel vom Hausmeister.“
„Nu, brauchen wir nicht“, entgegnete Marco und zog aus seiner Jackentasche ein dickes Schweizer Offiziersmesser.
„Da ist alles dran, Schere, Schraubenzieher, Flaschenöffner, was man halt so braucht, Chefin“, sagte er.
Anne lachte: „Ja, unerlässlich für ein richtiges Mannsbild, besonders der Flaschenöffner!“
Marco klappte das Messer auf und fingerte den Schraubenzieher hervor. Er setzte ihn zwischen Wand und Fußleiste an, schlug ein paarmal drauf. Dann nahm er beide Hände und hebelte mit einem kräftigen Ruck das Holz von der Wand. In die Mauer hatte jemand einen großen Hohlraum gemeißelt. Anne griff hinein und zog einen schmalen Fotostreifen hervor.
„Schau mal. Hoyer mit einem Mädchen.“
Marco warf einen Blick auf den Fotostreifen. Die Augen der Frau waren schwarz umrandet. Links am Kopf trug sie kinnlange schwarze Haare, rechts waren sie kurz geschoren und orangefarben. In der Nase steckte ein Piercing.
„Ob das sein Schatz ist? Warum versteckt er das Foto?“
„Und hier? Was haben wir denn da?“, fragte Anne. Sie hielt einen Chipschlüssel, ein dickes Bündel Geld, mehrere Papiere, ein Wegwerfhandy und zwei weinrote Pässe in ihren Händen. Sie öffnete die Pässe.
„Wann und wo haben Sie Herrn Hoyer das letzte Mal gesehen?“, fragte Anne.
Hausmeister Schmitz kratzte sich nervös am Kopf.
„Gesehen, weiß nicht, ist schon länger her. Meine Mieter sind ruhig, auch der Hoyer war von der ruhigeren Sorte. Grüßte zwar, aber knapp. Sprach mit niemandem lange, hatte wohl kein Interesse an nachbarschaftlichem Umgang. War mir auch recht.“
„Fuhr Herr Hoyer ein Auto?“
„Ja, seine Schrottkiste steht auf seinem Parkplatz 20/5a.“
„Dann hätten wir das mit dem Autoschlüssel geklärt“, meinte Anne leise zu Marco. „Auch, dass er nicht mit seinem Wagen zum Fundort gefahren sein kann.“
„Vorhin haben Sie über Herrn Hoyer gesagt, er wäre ein Sonderling. Warum das denn?“
„Ist nur so ein Gefühl. Manchmal, wenn ich Freitagnachmittag die Treppe putzte, kam aus seiner Wohnung irgendsowas Ausländisches, hörte sich an wie Türkisch oder Arabisch. Bei uns wohnen nur Deutsche. Und wenn es nach mir ginge, hätte der keine Wohnung bekommen.“
Marco runzelte die Stirn. „Es klingt, als hätten Sie den Mieter nicht besonders gemocht.“
„Ne, den konnte ich überhaupt nicht ausstehen“, kam die harsche Antwort von Ronny Schmitz.
„Meinen Sie Musik oder Gespräche?“, hakte Anne nach.
„So ein Singsang, keine Ahnung.“
„Wissen Sie, ob er bei Weber & Söhne gearbeitet hat?“
„Nein, aber soviel ich weiß, ging der regelmäßig morgens aus dem Haus. Vielleicht fragen Sie mal bei der Stadt nach, ihr gehören die Häuser. Unsere Mieter müssen im Bewerbungsbogen den Arbeitgeber angeben.“
„Hatte Herr Hoyer öfter Besuch? Von seinen Eltern vielleicht oder von jemand anderem?“, fragte Anne.
„Besuch? Warten Sie mal! Vor einem halben Jahr hat er so ’ne Schlampe mitgebracht.“
„Was für eine Schlampe?“
„Na, so ein Mädchen, sah aus wie ’ne Pennerin. Halb kahl geschoren, ’nen Ring durch die Nase wie’n Tanzbär und zerrissene Klamotten mit Sicherheitsnadeln. Die hat dann wohl ab und zu bei ihm gepennt.“
„Und jetzt?“
„Hab sie schon länger nicht mehr gesehen.“
„Woher wissen Sie das mit dem Besuch?“, wunderte sich Marco.
„Mein Küchenfenster geht auf den Parkplatz raus, wenn jemand ankommt, bellt mein Hund und ich schaue hinaus.“
„Aha“, meinte Anne. „Kann es sein, dass Sie mal jemanden nicht sehen? Uns haben Sie doch auch nicht bemerkt! Auch Ihr Hund hat nicht gebellt.“
Aufgebracht rief Schmitz aus: „Entschuldigen Sie mal, wenn im Fernsehen was Interessantes läuft und mein Hasso seinen wohlverdienten Schlaf verbringt, dann kann das schon mal vorkommen. Es ist ja nicht so, als ob ich Tag und Nacht hier Wache stehen müsste.“
Anne fragte beschwichtigend: „Ist sonst noch jemand bei Herrn Hoyer gewesen?“
„Ne, oder doch. Warten Sie mal! Gestern Abend um halb acht war so ein Typ an der Haustür, ich wollte gerade meinen Müll rausbringen. Ist an mir vorbei, ohne zu grüßen.“
„Was für ein Typ?“
„Ein junger, das hab ich bemerkt, obwohl er versucht hat, sein Gesicht mit einer Kapuze zu verstecken.“
„Warum glauben Sie, dass er jung war?“
„So, wie der sich bewegt hat, geschmeidig, irgendwie flott.“
„Und der war bei Herrn Hoyer?“
„Kann sein, ich habe den Aufzug nach oben gehört. Im Grunde genommen ist mir das egal, wer oder was zu jemandem will. Hauptsache, es kommen keine Beschwerden. Bei uns herrscht Ordnung und Ruhe!“
Herr Schmitz scheint den Typ Blockwart zu verkörpern, dachte Anne.
„Was ist jetzt? Wann wird die Wohnung frei? Stehen dafür noch einige auf der Warteliste“, brummte der Mann.
„Nein, die Wohnung wird vorerst nicht frei. Wir haben sie versiegelt und das Siegel darf nicht aufgebrochen werden, bevor die Spurensicherung durch ist und die Wohnung offiziell freigegeben ist. Haben Sie das verstanden?“ Marco sah den Hausmeister streng an.
„Ja, war’s das? Kann ich jetzt weiter fernsehen? Hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!“
„Nu! Das ist aber ein fragwürdiger Zeitgenosse, den möchte ich nicht als Hausmeister haben“, bemerkte Marco, als sie das Hochhaus verließen.
„Aber ein Landsmann von dir!“
Marco zuckte mit den Schultern. „Arschlöcher, pardon, Chefin, die gibt es überall.“
„Was ist mit dem Sweatshirt und der 88?“, erkundigte sich Anne. „Du hast so komisch geguckt.“
„Kennen Sie das nicht? In der rechtsradikalen Szene bedeutet das ‚Heil Hitler’. Das H steht an achter Stelle im Alphabet.“
„Nein, mir ist nur, Lonsdale’ bekannt“, sagte Anne. „Wie hieß noch der Schäferhund? Hasso? Blondie würde dann wohl eher zu seiner Einstellung passen. Aber da kann der Hund nichts dafür!“
„Vielleicht ist Schmitz auch blöd und das Shirt hat ihm gefallen, wer weiß?“, brummte Marco.
„Schau doch mal nach, wo die Eltern gemeldet sind“, bat Anne.
Nach nur wenigen Autominuten erreichten die beiden Kommissare den Vaihinger Ortsteil Büsnau.
„Puh, riecht das hier!“, bemerkte Anne. Obwohl die Autofenster geschlossen waren, drang der Gestank der Kläranlage durch die Lüftung ins Innere des Peugeots.
Das kleine Reiheneckhaus von Davids Eltern schien ein ehemaliges Siedlungshaus zu sein, gebaut nach Kriegsende, aufgemotzt mit einem angewinkelten, überdachten Eingang und einem winzigen Wintergarten auf der Rückseite. Durch einen handtuchbreiten Vorgarten erreichten die Kommissare die Eingangstür. Am Türschild stand: „Josef Hoyer, Oberpostsekretär a. D.“.
Eine kleine, grauhaarige, verhärmt wirkende Frau, die eine weiße Schürze trug, öffnete ihnen die Haustür.
„Grüß Gott, Polizei. Sind Sie Frau Hoyer? Dürfen wir reinkommen? Es geht um Ihren Sohn“, fragte Anne und hielt ihren Ausweis hoch.
Aus dem Inneren klang eine brüchige Altmännerstimme: „Dorothee, was ist los, wer hat geklingelt?“
„Josef, die Polizei ist da, es geht um David, sagen sie und wollen reinkommen.“
„Mein Abendessen wird kalt, ich möchte fertig essen. Meinetwegen können sie reinkommen, wenn sie nicht Schnee und Split reinbringen!“
Kritisch beäugte die Frau Marcos und Annes Winterstiefel.
„Putzen Sie mir ja Ihre Schuhe ab, mein Mann ist da eigen.“
Mit einer Handbewegung bat sie die beiden Polizisten in den engen Flur, den eine Glühbirne fahl erleuchtete.
Auch in dem Raum, der als Esszimmer und Wohnzimmer diente, wurde an Licht gespart. Verstärkt wurde der triste Eindruck durch die Deckenpaneele aus Eiche. Auf der Couch lagen Schonbezüge. Ein Weihnachtsbaum, geschmückt mit Lametta, stand auf einem Schemel in der Ecke. An den Wänden hingen alte Stiche von Königsberg und Danzig.
An einem runden Tisch mit Plastiktischdecke saß Oberpostsekretär a. D. Josef Hoyer, der mindestens 20 Jahre älter als seine Frau aussah. Vor ihm ein Teller mit Pommes frites und Frikadellen. Neben ihm auf dem Tisch lag eine Bibel, ähnlich der in Davids Wohnung.
Ohne sich um die Gäste zu kümmern, schob der Hausherr fünf Kartoffelstäbchen in eine gerade Linie nebeneinander, dann vorne und hinten zusammen. Anschließend gabelte er sie auf, tunkte sie in einen Ketchupklecks, führte sie zum Mund und aß sie langsam kauend auf.
Erst nachdem er in aller Ruhe gegessen hatte, sah er Anne und Marco an und musterte sie.
„So, so, wegen David sind Sie hier.“
„Ja, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn heute Morgen tot aufgefunden wurde. Unser Beileid.“
Die Frau schluchzte laut auf, blickte aber dann erschrocken zu ihrem Mann hin und verstummte.
„Wir haben keinen Kontakt mehr zu unserem Sohn. Für mich ist er schon lange tot“, entgegnete Josef Hoyer barsch.
Nun schrie Dorothea Hoyer auf, die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie fragte wimmernd: „Wie ist David denn gestorben?“
„Er wurde in einem Wäldchen zwischen Vaihingen und Möhringen aufgefunden. Er hing an einem Baum. Stranguliert. Wir gehen aber nicht von Selbstmord aus.“
Josef Hoyer krächzte: „Ich habe es gewusst. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“
„Wie meinen Sie das: ‚in Gefahr begeben’?“
Mit predigender Stimme entgegnete der Oberpostsekretär: „Er ist vom wahren Glauben seiner Väter abgekommen. Ruft jetzt Allah an. Das ist die Strafe dafür und auch für seine sonstigen Sünden. Ich werde ihm keine Träne nachweinen.“
„Wie kannst du nur so kaltherzig sein? Er ist doch unser Sohn. Hast du vergessen, dass wir gebetet haben, Gott soll uns ein Kind schenken? Und dann, als wir schon älter waren und kaum noch Hoffnung hatten, kam David zur Welt!“ Dorothea Hoyer hatte zu weinen aufgehört und sah ihren Mann entrüstet an. „Du bist schuld, dass David uns nicht mehr besucht, du mit deiner Selbstgerechtigkeit“, brach es aus ihr heraus.
Anne beschlich das Gefühl, dass die Frau sich wahrscheinlich zum ersten Mal gegen ihren Mann auflehnte.
„Nun beruhigen Sie sich erst einmal“, beschwichtigte Marco.
„Können Sie uns sagen, wann Sie David das letzte Mal gesehen haben? Schließlich wohnte er nicht weit von hier.“
„Ist mir egal, wo er wohnte, wir haben ihn vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen.“
Bei dieser Aussage ihres Mannes verzog Dorothea ihr Gesicht und kniff die Lippen zusammen.
„Und Sie?“, fragte Anne die Frau.
„Ich habe David ab und zu in einem Café in der Innenstadt getroffen. Das letzte Mal vor einem Monat.“
„In einem Café? Seit wann gehst du denn ins Café?“, rief ihr Mann empört aus.
„Wenn ich beim Arzt war, hinterher!“ Dorotheas Stimme hob sich triumphierend. „David hat mich angerufen, heimlich, und wir haben uns verabredet. Wenigstens einer musste sich doch um ihn kümmern! Ich bin schließlich seine Mutter!“
„Darüber sprechen wir noch, nachher.“ Josef Hoyer stand abrupt vom Esstisch auf, griff neben sich, nahm die Bibel auf, hielt sie in die Höhe und ging humpelnd auf seine Frau zu.
„Was? Willst du mir damit drohen?“
Anne stellte sich zwischen die Eheleute und griff ein. „Im Augenblick ist es das dann. Oder können Sie uns sagen, ob David mit jemandem zusammen war? Einer Frau?“
Josef Hoyer brummte: „Diese Mädchenrennerei mögen wir überhaupt nicht! Zu uns hat er jedenfalls keine mitgebracht.“
Marco zog den schmalen Streifen Fotopapier heraus. „Kennen Sie diese junge Frau?“
Frau Hoyer warf einen langen Blick darauf. „Das könnte Caro König sein. Die Königs haben früher nebenan gewohnt. Das Haus wurde versteigert, der König ist abgehauen und die Mutter ist mit Caro und ihrem Bruder umgezogen. Ich meine, die leben jetzt im Hallschlag. Die Caro hat sich aber verändert! Dieser Nasenring!“
„Hm“, sagte Anne. „Können Sie uns sagen, ob Ihr Sohn Feinde hatte?“
„Feinde? Nein, eher neue Bekannte.“ Frau Hoyer zögerte.
„Was für neue Bekannte?“
„Einmal, das war vor vier Wochen, am 6. Dezember, um genau zu sein, da hatten wir uns im Café im Kunstmuseum am Schlossplatz verabredet. Ich war viel zu früh dran. Ich habe mich noch gewundert, dass David draußen wartete. Zwar regnete es nicht, aber es war richtig ungemütlich feucht-neblig.
Neben ihm stand ein piekfeiner Herr, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Er und David haben sich heftig gestritten. Mir war das richtig peinlich und ich bin nicht näher hin. Der Mann hatte es auf einmal eilig, ich glaube nicht, dass er wusste, dass ich ihn beobachtet hatte. Aber David hat mich bemerkt, tat aber so, als ob ich eine Fremde sei. Als ich ihn nachher fragte, wer das denn gewesen sei, wich er mir aus. ‚Ach, nur ein Arbeitskollege.’ Aber ich habe gespürt, dass mein David log. Schließlich kenne ich meinen Sohn. Ich fand das merkwürdig. Mir hätte er doch sagen können, wer das in Wirklichkeit war.“
Anne notierte sich die Aussage. „Aber Sie würden den Mann wiedererkennen oder uns eine Beschreibung geben, damit wir ein Phantombild anfertigen lassen können?“
„Sicher“, entgegnete Dorothea Hoyer. „Ich weiß nicht, ob Ihnen das hilft, aber er hatte eine Tätowierung am Hals unterhalb des linken Ohrs, was ich wegen seines feinen Äußeren ziemlich komisch fand. Er zog schnell seinen Schal höher, aber ich habe sie deutlich gesehen. Es kam mir alles so merkwürdig vor.“
„Was für ein Tattoo?“
„Eine Schlange mit mehreren Köpfen.“
Marco riss seine Augen auf, zückte sein iPhone, tippte es an und hielt das Handy der Frau hin. „Sah die so aus?“
„Ja, genau so“, antwortete Dorothea Hoyer.
„Und wo ist der Mann hingegangen?“
„Zuerst sah ich ihn zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts verschwinden, aber dann ging er in die Bank gegenüber der Buchhandlung.“
„Ach, du mit deinen Beobachtungen. Hast wohl zu viel Sherlock Holmes gelesen!“ Josef Hoyer musterte seine Frau spöttisch und wandte sich dann den Polizisten zu. „Sind Sie jetzt fertig mit Ihren Fragen?“
Mit einem Mal wollte Anne weg, sie fühlte sich unwohl. Im Hinausgehen fragte sie leise ihren Assistenten: „Ist was mit der Tätowierung? Warum hast du die auf deinem Handy?“
„Erzähl ich Ihnen später, Chefin, ich muss erst was nachprüfen, bevor Sie auf dem Plan sind.“
„Tu das! Außerdem sollten wir uns morgen die Bänder der Überwachungskamera von der Bank geben lassen. Und jetzt lass uns fahren. Mir reicht’s.“
Auf der Rückfahrt blieb es still im Auto. Müde versuchte Anne, das Geschehene einzuordnen. Auch Marco schwieg, bis es aus ihm herausplatzte.
„Chefin, können Sie das verstehen, dass ein Vater seinen eigenen Sohn verstößt und keinen Kontakt mehr will? So was Läppisches, nur weil er zum Islam konvertiert ist.“
„Nein, Marco, so was ist mir völlig unverständlich.“
Na, das ist nur die halbe Wahrheit, dachte Anne. Ihr Verhältnis zur Mutter war nicht immer das beste gewesen. Anne konnte sich noch gut an ihre Kindheit erinnern. Damals hatte sie unter der Kühle und Abweisung ihrer Mutter gelitten. Sie wurde nicht geschlagen, bekam genug zu essen, auch ihre Ausbildung wurde bezahlt, aber trotzdem war da etwas gewesen, was sie damals nicht begriff. Auch wenn sie es mittlerweile verstand, warum ihre Mutter so gehandelt hatte, dass sie den Hass auf ihren Mann auf Anne projizierte und sie deshalb ablehnte, so blieb doch dieser Rest Schmerz zurück. Manchmal überkam Anne ein Gefühl des Verlassenseins, so als ob sie eine Vollwaise wäre.
Wahrscheinlich versuche ich, alles besser als meine Mutter zu machen, und reagiere deshalb bei Julian öfter übereifrig, überlegte sie.
„Und was macht dein Baby, Marco? Geht’s ihm gut? Und Melanie? Sie hat sich doch wieder gefangen und keinen Rückfall mehr gehabt?“
„Dem Kleinen geht es prima, wollen Sie mal sehen?“ Marco hielt ihr auf seinem Handy ein Foto hin, auf dem ein properer, fröhlicher Junge zu sehen war.
Anne warf einen kurzen Blick darauf, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Verkehr. Sie staunte. „Meine Güte, er ist doch erst neun Monate und schon so stramm.“
Marco strahlte breit wie ein Honigkuchenpferd. „Ja, nicht wahr. Und was das Beste ist: Melanie braucht schon seit einiger Zeit keine Medikamente mehr. Die Wochenbettdepression war wirklich heftig. Hilfreich ist auch, dass meine Mutter endlich hierhergezogen ist. Natürlich fiel es ihr nicht leicht, Leipzig zu verlassen. Jetzt unterstützt sie Melanie im Haushalt und hilft ihr mit dem Kleinen. Bisher klappt es ganz gut. Bei meinen unregelmäßigen Arbeitszeiten ist Melanie oft sauer, weil sie meint, ich wäre überhaupt nicht mehr zu Hause.“
Anne nickte. „Verstehe, aber es hat sich für dich alles zum Guten gewendet.“
Zurück im Polizeipräsidium, ließ Anne erst einmal einen Kaffee durch die Maschine laufen. Zu Hause hatte sie vorsorglich als Notration ein Putenbrust-Sandwich zubereitet und es in ihrer Umhängetasche verstaut, das sollte für den Augenblick reichen. Marco holte aus seinem Rucksack eine Thermoskanne mit Tee und eine Käsestulle.
Inzwischen spuckte der Drucker die Tatortfotos aus, die Anne und Marco vom Handy aus ins Büro gesendet hatten.
Ihr Zimmer hätte auch in jedem x-beliebigen Finanzamt sein können. Zwei Schreibtische mit Computer, an den Wänden ein Stadtplan von Stuttgart, eine große Bahnhofsuhr, die gerade 21.00 Uhr anzeigte. Eine Pinnwand und ein Whiteboard in der einen Ecke, in der anderen ein Fernseher und ein Rekorder auf einem niedrigen Regal. Der runde Besprechungstisch in der Mitte des Raumes musste vor mehr als einem halben Jahr Lenis Schreibtisch weichen. Nun war er verwaist und aufgeräumt.
„Wo ist Frau Grimm?“, fragte Anne.
„Weiß nicht, Chefin“, antwortete Marco.
In diesem Augenblick betrat Annes Vorgesetzter, Dezernatsleiter Münch, das Zimmer. Wie immer wirkte er lässig und ausgeruht. Man sah seiner sportlichen Gestalt das regelmäßige Training an. Anne hatte ihn schon mehrmals rund ums Präsidium auf den Wegen im Weinberg joggen sehen.
„Guten Abend, Frau Wieland, Herr Schneller. Frau Grimm hat mich vorhin um ein Gespräch gebeten. Sie möchte aus persönlichen Gründen zurück in ihr altes Dezernat. Ich habe ihrem Wunsch entsprochen. Sie ist mit sofortiger Wirkung von ihrer Tätigkeit hier entbunden.“
Anne zog eine Augenbraue hoch. „Wenn das ihr Wunsch ist, werde ich sie nicht aufhalten. Marco und ich schaffen das auch alleine.“ Sie sah Marco fragend an.
„Stimmt, Chefin, wir sind ein eingespieltes Team.“
„Okay, das wär’s. Informieren Sie mich morgen über Ihre vorläufigen Ergebnisse.“ Münch drehte sich um und verließ das Zimmer.
Ratlos blickte Marco Anne an. „Chefin, wissen Sie, was mit Frau Grimm los ist?“
„Nein, keine Ahnung“, log Anne. Diese Entwicklung hatte sie nicht gewollt. Aber vielleicht war es besser so. Solange sie ihre Gefühle nicht im Griff hatte und ihre Wut über Jochens Verrat an Leni ausließ, schien es besser, die Zusammenarbeit zu beenden. Ob Leni Münch die wahren Gründe berichtet hatte?
Nichts an seinem Verhalten wies darauf hin, dass er von Annes Mobbing während des heutigen Außendienstes wusste.