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Vorwort Solange noch Zeit ist
ОглавлениеDie Familie meines Vaters stammt aus Oberschlesien. Meine Großeltern und beide Tanten, damals junge Frauen, sind zunächst geflüchtet, dann für ein paar wirre Wochen nach dem Krieg zurückgekehrt, sodann nach schrecklichen Erlebnissen im Sommer 1945 enteignet und vertrieben worden. Wir lebten in Aschaffenburg, weil meine Tante nach der Flucht dort eine Anstellung als Lehrerin gefunden hatte. Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Die Familie fand sich, wie in hunderttausenden von anderen Fällen, dort zusammen, wo der Erste einen Job erhielt.
Ich bin ein Nachkriegskind. Freitagabends bin ich mit den Eltern immer zu den Großeltern gegangen, zwei Jahrzehnte lang: Schlesienabend. Es gab schlesische Gerichte mit viel Mohn und Thymian und Erinnerungen an die alte Heimat, die ich nie gesehen hatte. Ich erinnere mich vor allem an die Wehmut dieser Abende. Als Kind hat mich das manchmal irritiert. Erst später habe ich verstanden, was die Großeltern bewegte. Der Verlust der Heimat ist gerade für die Älteren ein Schmerz, der bleibt. Die Wunden der Erinnerung können heilen, doch die Narben tun immer noch weh. Aus der Heimat zu flüchten, aus dem angestammten Lebensumfeld vertrieben zu werden – für fünfzehn Millionen Deutsche war dies das traumatische Ereignis ihres Lebens. Am Ende eines Krieges, der gezeigt hat, wozu Menschen fähig sind; eines Krieges, der von deutschem Boden ausgegangen ist, den Deutsche aggressiv geführt haben – am Ende dieses Krieges sind deutsche Frauen, Kinder, alte Menschen selbst millionenfach zu Opfern geworden.
Wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Opfer des 20. Jahrhunderts gedenken, dann sollten wir uns aller Opfer erinnern – der von Krieg und Holocaust, aber auch von Flucht und Vertreibung. Und gewiss nicht nur der deutschen Opfer. Denn Vertreibung war im 20. Jahrhundert ein Verbrechen, das viele traf: Allein in Europa haben zwischen 1939 und 1948 fast fünfzig Millionen Menschen ihre Heimat unter Zwang verlassen müssen. Zwar gibt es da und dort noch Stimmen, die uns die Trauer um die eigenen Opfer untersagen wollen: weil Hitler den Krieg begonnen hat, weil Deutsche zu Tätern im Holocaust geworden sind. Doch ich halte eine solche Einstellung für anmaßend. Es hat nichts mit Relativierung oder gar Aufrechnung zu tun, wenn wir der Toten gedenken, die auf den eisigen Straßen Ostpreußens im Winter 1945 sterben mussten; wenn wir der Toten gedenken, die auf der Flucht über die Ostsee mit ihren Schiffen untergegangen sind; wenn wir der Menschen gedenken, die als Zwangsarbeiter nach Sibirien verschleppt worden sind; wenn wir der Toten gedenken, die während der Vertreibung umgekommen sind. Die Fähigkeit zu trauern geht Hand in Hand mit dem Mut, uns zu erinnern.
Es ist ein wunderbares Zeichen für ein neues Miteinander in Europa, dass es nach Jahrzehnten eifriger Polemik diesen Mut inzwischen auch in jenen Ländern gibt, die damals Schauplätze der schrecklichen Geschehnisse gewesen sind. In Polen wird der Kommandant des Flüchtlingslagers Lamsdorf vor Gericht gestellt. In Tschechien wird das Unrecht der Vertreibung von Millionen Menschen offen diskutiert; in Kroatien wird der Donauschwaben, Mitbürger von einst, gedacht. Ein Europa, das zusammenwächst, kann und darf es sich nicht leisten, die dunklen Schatten der Vergangenheit ohne Aufarbeitung zu verdrängen und zu vergessen. Schuld darf nicht aufgerechnet, aber sehr wohl ausgesprochen werden. Denn Versöhnung braucht vor allem Offenheit.
Wir schulden diese Offenheit nicht nur den nachfolgenden Generationen, nicht nur den Toten, derer wir gedenken, sondern auch den Überlebenden. Es muss den Augenzeugen von damals heute möglich sein, offen über ihr Erleben zu reden. In ein paar Jahren werden diese authentischen Stimmen verstummt sein. So gilt es jetzt, sie umfassend zu sichern. Es ist höchste Zeit.
Über tausend Interviews sind mit Zeitzeugen von Flucht, Vertreibung und Verschleppung für dieses Buch geführt worden. Die Erinnerungen sind oft schmerzlich. Schmerzlich für die Überlebenden – und schmerzlich auch für jene, die diese Geschichten zum ersten Mal lesen und hören. Ich bin dankbar, dass es nicht nur Interviews mit Deutschen waren, sondern ebenso auch Interviews mit Russen, Polen, Tschechen und Ukrainern. Wenn es heute möglich ist, zu den blutigen traumatischen Kapiteln unserer Geschichte eine gemeinsame Sprache zu finden, lassen sich die letzten Gräben überwinden – für die Zukunft aller in Europa. Wir haben erst seit ein paar Jahren die Möglichkeit, östlich von Oder und Neiße in bislang unveröffentlichte Akten einzusehen und bislang unbekanntes Filmmaterial auszuwerten. Zwar fanden wir kaum Bilder von dem Leid der Menschen, die gequält, gepeinigt und getötet wurden. Es gibt keine Filme über jene Deutschen, die ins Innere der Sowjetunion verschleppt wurden. Keine Filme von den Todeszügen, in denen Leichen waggonweise gestapelt wurden. Keine Bilder, die sich in das kollektive Bewusstsein eingebrannt haben. Doch was es gibt, ist die Erinnerung der Menschen, die all das erlebt haben.
Flucht und Vertreibung hatten nicht erst begonnen, als am 20. August 1944 ein Spähtrupp der Roten Armee östlich von Schillfelde über den Grenzfluss Scheschuppe setzte und der Zweite Weltkrieg Ostpreußen erreichte. Fünf Jahre vorher waren bereits die ersten Polen aus Posen und Westpreußen von Hitlers Helfern vertrieben worden. Drei Jahre vorher hatten bereits Himmlers Schergen von Finnland bis zum Schwarzen Meer eine Blutspur von millionenfachem Mord gezogen, um den Wahn vom Lebensraum im Osten zu verwirklichen. All das schlug nun zurück auf Schlesier und Sudetendeutsche, Ostpreußen und Pommern – kostete dreizehn Millionen Menschen die Heimat und darüber hinaus wohl bis zu zwei Millionen Menschen das Leben.
Es war die »Stunde der Vergeltung für die Qualen und Leiden, für die verbrannten Dörfer und zerstörten Städte, die Kirchen und Schulen, für die Verhaftungen, Lager und Erschießungen, für Auschwitz, Majdanek, Treblinka, für die Ausrottung des Ghettos« – so das Manifest des »Nationalen Polnischen Befreiungskomitees« vom Juli 1944. In jenem Juli 1944 hätte das Geschehen wohl zum letzten Mal noch abgewendet werden können. Wenn im Rastenburger Stadtwald das Attentat auf Hitler gelungen wäre – alles hätte anders kommen können. Dann wäre, ob durch eine provisorische Regierung Goerdeler oder durch ein Militärregime, der Krieg beendet worden – so oder so. Die Abtrennung Ostdeutschlands und die Vertreibung seiner Menschen hätten nicht verhindert werden können. Beides stand als alliiertes Kriegsziel ja längst fest. Doch dann wäre es vielleicht doch eine »Umsiedlung« geworden, halbwegs geordnet, eher im Sommer, nicht im Winter und nicht in überstürzter Flucht vor der Rache der Roten Armee. Die Rache war furchtbar. Angestachelt von den mörderischen Parolen eines Ilja Ehrenburg übten die Sowjets nun blutige Vergeltung an der deutschen Zivilbevölkerung. Von Stalingrad bis an die deutschen Grenzen waren sie den grausamen Spuren von Hitlers Vernichtungsfeldzug gefolgt. Nun zogen sie plündernd und mordend durch die deutschen Städte und Dörfer. Die Bilder jener Tage waren unbeschreiblich. Von Panzern überrollte Trecks auf vielen Straßen, ermordete Männer, vergewaltigte Frauen, getötete Kinder, erfrorene Babys – Augenzeugen, die das Grauen überlebten, werden diese Bilder nie vergessen können. Es waren keine Täter, an denen sich die Wut der Sieger austobte – es waren Wehrlose. Vor allem Frauen, Kinder, alte Menschen.
Vieles wäre der Zivilbevölkerung erspart geblieben, hätte man sie rechtzeitig evakuiert. Doch die Menschen durften ihre Dörfer und Städte nicht verlassen. Schließlich war es zu spät für eine sichere Rettung. Als die Rote Armee binnen weniger Tage die dünnen deutschen Verteidigungslinien an der Grenze zu Ostpreußen durchbrach und bei Elbing an die Ostseeküste vorstieß, saßen zweieinhalb Millionen Menschen in der Falle. So sammelten sich überall in aller Eile Trecks, die zu den Häfen strebten. Zu Fuß, mit Schlitten oder Pferdewagen versuchten die angstvollen Menschen, ein rettendes Schiff zu erreichen. Doch vor den scheinbar sicheren Häfen lag das Haff, eine bis zu zwanzig Kilometer breite, siebzig Kilometer lange Ostseebucht, die durch eine fünfzig Kilometer lange Landzunge, die Nehrung, von der offenen See getrennt ist. Schon die Überquerung des zugefrorenen Haffs war für viele ein Wettlauf mit dem Tod. In der dunklen Eiswüste kamen sie vom festen Weg ab, verirrten sich und brachen ein.
Durch den ganzen deutschen Osten zog sich eine Spur des Grauens: Kinderwagen mit erfrorenen Säuglingen standen am Straßenrand. Kadaver verhungerten Viehs säumten die Alleen – und immer wieder wurden Trecks von Tieffliegern zerschossen, von Panzern überrollt. Der britische Premier Winston Churchill schrieb am 1. Februar 1945 an seine Ehefrau: »Dir darf ich bekennen, dass die Berichte über die Massen deutscher Frauen und Kinder, die auf den Straßen in vierzig Meilen langen Kolonnen vor den vordringenden Armeen nach Westen fliehen, mein Herz mit Trauer erfüllen.«
Was die Menschen dennoch antrieb, war die pure Angst. Viele wussten nicht einmal genau, wohin. Sie wussten nur: Sie mussten fort. Denn im Rücken der Trecks brannte die Heimat.
Wer in seinem Dorf noch ausgeharrt oder sich zu spät zur Flucht entschlossen hatte, erlebte das Grauen oft in noch schlimmerer Form: Vergewaltigungen, Morde, hunderttausendfach. Ein sowjetischer Offizier schrieb in sein Tagebuch: »Vor unseren Panzern hat ein Soldat eine deutsche Frau und ihren Säugling erschossen, weil sie sich weigerte, ihm zu Willen zu sein. Es ist fürchterlich. Aber die Deutschen haben bei uns massenhaft noch viel Schlimmeres verbrochen.«
Doch inmitten der schlimmsten Exzesse unmenschlicher Brutalität finden sich auch Belege von Humanität. Lew Kopelew, der spätere Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, landete für viele Jahre in Stalins Straflagern, weil er versucht hatte, deutsche Zivilisten vor der Mordgier seiner Kameraden zu retten. Ebenso erging es Alexander Solschenizyn.
Im Gedächtnis haften bleiben den Überlebenden nicht nur die Gräuel der Eroberer, sondern auch die Perversion der NS-Amtswalter: ein Erich Koch in Ostpreußen, der die Bevölkerung zum Ausharren zwang, während für ihn selbst zwei Schiffe zur Flucht über die Ostsee bereit lagen; oder ein anonymer Polizist in Pommern, der einer jungen Frau befahl, ihren Schuhladen bei Todesstrafe offen zu halten. Eine Stunde später rollten die Sowjetpanzer vor. Die Pommerin Libussa Fritz-Osler erinnert sich, dass Flüchtlinge, die ohne schriftliche »Erlaubnis« unterwegs waren, umgehend erschossen wurden.
Wer in Ostpreußen und Pommern die brennende Heimat hinter sich ließ, wer die Hafenstädte Swinemünde, Danzig oder Pillau lebend erreichte und das Glück besaß, auf eines der übervollen Schiffe zu gelangen, die nun täglich Richtung Westen ablegten, glaubte sich gerettet. Doch der Leidensweg der Menschen war noch nicht zu Ende. Unter den vielen traurigen Geschichten jener Tage ragt eine besonders hervor – der Untergang der »Wilhelm Gustloff«. Für dieses Buch ist es gelungen, nicht nur Dutzende von Überlebenden zu befragen, sondern auch zwei Männer der Besatzung jenes U-Boots, das die »Gustloff« damals torpedierte. 9000 Menschen kamen um. Über die Hälfte von ihnen waren Kinder. Es war, bedingt allein durch die Zahl der Opfer, wohl die größte Katastrophe in der Geschichte der Seefahrt.
Während in Ostpreußen und auf der Ostsee die Menschen um ihr Überleben kämpften, vollzog sich in Schlesien eine Tragödie anderer Art. Hier hatte sich Gauleiter Hanke – wie viele seiner Amtskollegen – allen Forderungen widersetzt, die Bevölkerung rechtzeitig zu evakuieren. Stattdessen wurde die schlesische Hauptstadt Breslau zur »Festung« erklärt. Starke russische Kräfte sollten gebunden werden, um den Vormarsch der Roten Armee auf Berlin zu verzögern. Es war das Todesurteil für die Stadt.
Und wieder traf die überstürzte Flucht vor allem Frauen und Kinder. Sprichwörtlich wurde der »Todesmarsch der Breslauer Mütter«, die mit ihren Kindern im eisigen Schneesturm bei minus zwanzig Grad zu Fuß nach Westen zogen. 18 000 Menschen starben dabei – vor allem Kinder. In den kommenden zehn Wochen wurden in Breslau zehntausende von Menschen in den Tod getrieben – nicht nur durch Feindbeschuss, sondern auch durch eigenen Fanatismus. Auch hier waren es vor allem Einheiten der Hitlerjugend, die am längsten und heftigsten Widerstand leisteten. Als eine der schönsten deutschen Städte in einem Meer von Blut und Tränen unterging, verschwand ihr Gauleiter Hanke mit einem »Fieseler Storch«.
Während sich die »Festung« Breslau in einem sinnlosen Kampf aufrieb, wurden in den schon eroberten Gebieten seit dem März 1945 vollendete Tatsachen geschaffen: Im Vorgriff auf die Westverschiebung Polens, die auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 beschlossen werden sollte, kamen Pommern, Schlesien und Masuren unter polnische Verwaltung. Danzig folgte wenig später. Die Deutschen, die noch in diesen Gebieten lebten, mussten ab Ende Juni ihre Heimat verlassen. Zum Teil wurden sie vor ihrer Vertreibung in Lagern zusammengepfercht. Oft waren die Internierten dort wehrlos der Willkür der Wachen ausgesetzt.
Andere Deutsche schickte man ohne Vorwarnung auf den Weg. Innerhalb von zehn Minuten hatten sie ihre Sachen zu packen. Danach waren sie wochenlang auf der Landstraße. »Es war ein Elendszug. Wir zogen Kinderwagen, Leiterwagen, Schiebkarren, Sportwagen, man sah die unmöglichsten Gefährte. Von morgens bis abends um sieben durfte man auf der Landstraße bleiben, dann schlief man entweder im Wald, in schmutzigen Scheunen und leeren Wohnungen«, schildert eine Frau aus Sorau die Strapazen. Für sie endete der Weg in Cottbus, in der sowjetisch-besetzten Zone.
Cottbus war wie die anderen »Grenzstädte« Stettin, Frankfurt an der Oder und Görlitz im Sommer 1945 bis zum Bersten überfüllt. Neben den Einheimischen kämpften auch diejenigen ums Überleben, die hofften, in den nächsten Wochen und Monaten in ihre Heimat im Osten zurückkehren zu können. Viele Wohnungen waren zerstört, Lebensmittel kaum aufzutreiben. Typhus und andere Krankheiten grassierten.
In der Tschechoslowakei erging es den Deutschen nicht besser: Als sich die Tschechen am 5. Mai 1945 in Prag gegen die deutsche Besatzung erhoben, unterschieden sie nicht zwischen Militär, Beamten und friedlichen Bürgern. Wen die Aufständischen als Deutschen erkannten, der wurde mitgenommen, unter Stockhieben auf Lastwagen getrieben und in Schulen, Kinos oder Kasernen interniert. Dann brachte man die Deutschen als Zwangsarbeiter aufs Land oder in eines der Lager. Dort hatten sie auf ihre Ausweisung zu warten. Ob es sich bei den Aufgegriffenen um NS-Funktionäre handelte, um Flüchtlinge aus Schlesien oder um Menschen, die schon seit Generationen in Prag lebten, war einerlei.
Die Wut auf die Deutschen mündete in gezielte Diskriminierung: Eine weiße oder gelbe Armbinde mit dem Buchstaben »N« für »Němec«, Deutscher, wurde Pflicht. Die Binde kennzeichnete, wer öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen durfte oder die Sperrstunde einzuhalten hatte. Die Ausgrenzung, die wenige Jahre zuvor den Juden widerfahren war, fiel auf die Deutschen zurück. Welchen Hass die ehemaligen Besatzer auf sich zogen, zeigte sich in Aussig. Als dort am 31. Juli 1945 ein Munitionslager explodierte, vermutete man einen deutschen Sabotageakt. Eine halbe Stunde später griff eine aufgebrachte Menge Deutsche an, die über eine Brücke von der Arbeit heimkehren wollten. Über 200 Menschen verloren ihr Leben.
In Brünn, wie auch an anderen Orten, ließ man den Deutschen Ende Mai nur wenig Zeit, zusammenzupacken, bevor sie nach Westen getrieben wurden. »Wir durften uns nicht setzen, durften uns nicht ausruhen, keinen Schluck Wasser trinken, obwohl es fürchterlich heiß war. Hier hat eine Mutter nach ihrem Kind geschrien, dort haben Kinder nach der Mutter geschrien. Es war furchtbar.« Zu den Strapazen des tagelangen Fußmarschs gesellten sich der allgegenwärtige Nahrungsmangel und die wüsten Beschimpfungen und Schläge durch aufgebrachte Tschechen am Wegrand. Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde liegen gelassen oder erschossen. Unterwegs wurden die Flüchtlinge wiederholt überfallen, die Frauen mehrfach vergewaltigt. Bei ihrer Ankunft im Westen besaßen die Vertriebenen oft nur mehr das, was sie am Leib trugen.
Besonders ergreifend ist das Schicksal all der Menschen, die in jenen Tagen zur Zwangsarbeit in das Innere der Sowjetunion verschleppt wurden. Mindestens 530 000 Deutsche wurden in den letzten Kriegs- und ersten Friedenswochen von Sonderkommandos des sowjetischen Geheimdiensts gefangen genommen und deportiert. Andere Quellen sprechen von mehr als einer Million zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppten deutschen Zivilisten. Ohne Erklärung, oft völlig willkürlich wurden sie abtransportiert. Mitunter wurden alle verfügbaren Deutschen zwischen dreizehn und 65 Jahren, in Einzelfällen sogar kleine Kinder, deportiert.
Für sie war eine eigene Organisation geschaffen worden, die GUPVI. Diese »Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten« funktionierte nach demselben Schema wie der Archipel GULAG, das System der Straflager für die inneren »Feinde« der Sowjetunion.
Jahrelang fehlte jedes Lebenszeichen von den Verschleppten, die im Archipel GUPVI verschwunden waren. Während Kriegsgefangene schon in den ersten Jahren Karten an ihre Angehörigen schreiben durften, war dies den Zivilinternierten lange verboten. Von besonderer Tragik war das Schicksal jener Kinder, deren Mütter verschleppt wurden, verhungerten oder als Folge von Vergewaltigungen starben. So schlugen sich tausende ostpreußische Kinder nach Litauen durch, um dort als kleine Landstreicher ums Überleben zu kämpfen. Sie wurden »Wolfskinder« genannt – wohl, weil sie wie die Wölfe in den Wäldern lebten, allmählich ihre deutsche Sprache verlernten und sich auf Litauisch oder gar Russisch oft auch nicht recht verständlich machen konnten. Viele von ihnen suchen bis heute nach ihren Verwandten, um endlich eine Antwort auf die bohrende Frage zu bekommen: »Wo komme ich her, wer bin ich?« Sie sind die verlorenen Kinder des 20. Jahrhunderts.
Wenn wir von Hoffnung, Mut und Zuversicht in diesen dunklen Wochen hören, sind es oft Geschichten von und über Frauen. Die das grausige Geschehen überlebten, trugen die Hauptlast von Flucht und Vertreibung. Ihre Männer, Brüder, Väter, Söhne waren oft nicht da – vermisst, gefangen oder gefallen. Sie sahen sich zum Handeln gezwungen. Mochte Hitlers Reich zugrunde gehen, Hitlers Volk ging nicht zusammen mit ihm unter – auch wenn Hitler selbst dies gern gesehen hätte. Das Leben ging weiter, Kinder kamen auf die Welt. Der Kampf der Männer war vorbei, der Kampf der Frauen begann erst. Sie waren es vor allem, die für das Überleben der Familien sorgten. Es war die Stunde der Frauen.
Was allen, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, bevorstand, war die Aufnahme im Westen. Kaum einer empfing sie mit wirklich offenen Armen. Viele Geschichten zeugen von Missgunst, Ablehnung, ja offenem Hass, der den Vertriebenen und Flüchtlingen entgegenschlug.
Die Verdichtung der Bevölkerung führte angesichts von Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftselend anfangs zu enormen Spannungen. So kam es, dass die Neubürger oft als »Fremde« beargwöhnt und je nach Herkunft als »Polacken«, als »Sudetengauner« oder »Flüchtlingspack« beschimpft wurden.
Aber ohne diese Menschen wäre das viel zitierte nachkriegsdeutsche Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen. Diese Menschen mochten kein Vermögen haben – doch sie hatten Kenntnisse, sie hatten Ehrgeiz, wollten es zu etwas bringen, wieder in Würde leben. Und sie gingen dorthin, wo die Arbeit war. Das »Wirtschaftswunder« war für sie kein Wunder, sondern harte Arbeit und Verzicht auf Zeit. Ohne die Vertriebenen und Flüchtlinge von einst wäre es wohl kaum so glanzvoll ausgefallen.
Dass es nach dem Krieg gelungen ist, Millionen hungernden und heimatlosen Menschen wieder ein Dach über den Kopf zu geben, sie in Wirtschaft und Gesellschaft einzugliedern, ohne Streiks und Bürgerkrieg – das ist das eigentliche deutsche Nachkriegswunder.
Mit dem Verlust der Heimat haben sich die meisten Überlebenden inzwischen abgefunden. Viele haben sich den Traum, die alte Heimat wiederzusehen, längst erfüllt – Heimkehr auf Zeit, ohne Zorn. Die meisten wollen die Verständigung, eine Versöhnung mit den Menschen, die heute an den Stätten ihrer Jugend leben. Und viele wünschen sich vor allem eines: dass man ihnen zuhört, wenn sie sich erinnern. Sie wollen sagen können, dass auch sie sich als Opfer jenes mörderischen Krieges fühlen. Einfach darüber reden, solange noch Zeit ist.
Dem dient dieses Buch.