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Der große Treck

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Die Fläche schien endlos: Siebzig Kilometer lang und zwanzig Kilometer breit glitzerte das Eis des Frischen Haffs. Am Horizont, nur schemenhaft zu erkennen, lag die schmale Landzunge, die die Bucht vom offenen Meer, der Ostsee, trennte. Die Frische Nehrung war für viele Flüchtlinge im Januar 1945 zur letzten Hoffnung geworden. Oft waren sie wochenlang mit ihren Pferdewagen, ihren Handkarren und Schlitten umhergezogen: bei schneidender Kälte, ohne Ordnung, ohne Ziel, im Rücken die immer näher kommende Front. Am 12. Januar hatte der Sturm der Roten Armee auf Ostpreußen begonnen. Schon nach wenigen Tagen, am 23. Januar 1945, stießen sowjetische Panzer bei Elbing zur Ostseeküste vor. Damit war die Landverbindung zwischen Ostpreußen und dem Reichsgebiet im Westen abgeschnitten – über zweieinhalb Millionen Menschen saßen in der Falle. Flucht war nur noch mit dem Schiff über die Ostsee möglich. Der einzige Weg in die Hafenstädte Danzig oder Pillau führte nun über die Frische Nehrung. Doch um zur rettenden Landzunge zu gelangen, mussten die Flüchtlinge mit ihren Planwagen und Karren das Eis des Haffs überwinden. Es war für viele ein Wettlauf mit dem Tod. An manchen Stellen war die Eisfläche nur wenige Zentimeter dick, gefährliche Spalten hatten sich aufgetan. Holzpfähle oder kleine Tannenbäume, die ins Eis gesteckt worden waren, sollten den Weg für die Flüchtlinge markieren.

Es wusste keiner, ob er lebend über das zugefrorene Haff kommen würde. Hanns-Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Eine gefährliche Überfahrt: Die gleißend weiße Fläche bot keinerlei Schutz vor sowjetischen Tieffliegerangriffen. Dort, wo Sprengbomben Löcher in das Eis gerissen hatten, bildete sich bei Temperaturen von bis zu minus zwanzig Grad Kälte schnell eine tückisch dünne Eisschicht, die aber kein Gewicht tragen konnte. Immer wieder brachen Wagen ein und zogen Mensch und Tier mit in die Tiefe.

Für viele Ostpreußen zählt die Haffüberquerung zu den traumatischsten Erlebnissen der Flucht. Hildegard Rauschenbach aus dem Kreis Pillkallen war damals 19 Jahre alt. Ende Januar 1945 erreichte sie mit ihren Eltern die Küste bei Heiligenbeil. Vor dem Haff wurde die Familie auf einen großen Platz geführt, auf dem bereits Hunderte von Schicksalsgenossen warteten. Den Flüchtlingen wurde nur gestattet, ihr Handgepäck mitzunehmen. Alles andere mussten sie zurücklassen, denn die Wagen durften bei der Flucht über das brüchige Eis nicht zu schwer beladen sein. Binnen weniger Stunden türmte sich das Flüchtlingsgut am Straßenrand: Nähmaschinen, Fässer mit gepökeltem Fleisch, Radios, Federbetten, Kisten mit wertvollem Porzellan und Familiensilber. Überall wimmelte es von Menschen, Kinder weinten vor Kälte und Angst, Schreie durchschnitten die eisige Luft – inmitten des ganzen Chaos wurden Familienmitglieder voneinander getrennt, gingen Kinder ihren Müttern für immer verloren.

Damit das Eis die schwere Last tragen konnte, wurden die Wagen im Abstand von mehreren Metern nacheinander auf die vorgesehene Strecke eingewiesen. Es kam zu langen Stauzeiten. Viele versuchten das Eis im Schutz der Dunkelheit zu überqueren. Nur nachts konnten sich die Flüchtlinge vor sowjetischen Jagdbombern sicher fühlen. In der dunklen Eiswüste aber kamen viele vom Weg ab und stürzten in die Bombenkrater. Wer stehen blieb, lief Gefahr zu sinken. Schnell bildeten sich Wasserlachen um die Räder der Wagen, sackten riesige Eisschollen in die Tiefe. »Wir sind die ganze Nacht gefahren und gefahren«, erinnert sich Hildegard Rauschenbach, »mein Vater sagte: ›Wir müssten doch schon längst auf der Nehrung sein!‹ Als dann der Morgen graute – dieses Bild werde ich nie in meinem Leben vergessen -, sah ich diese endlos lange Schlange von Wagen. Ich hörte dieses leise Knirschen der Räder im Schnee. Die Pferde schnaubten mit den Nüstern und ihr Atem vermischte sich mit der eisigen Winterluft. Dann ging die Sonne auf. Es war gespenstisch still. Nur das Schnauben der Pferde und die knirschenden Räder waren zu hören.« Hildegard Rauschenbach und ihre Eltern gelangten unbeschadet über das Eis des Frischen Haffs.

Für die Ostpreußin Irmela Ziegler aus Warschfelde im Kreis Elchniederung endete die nächtliche Flucht über das Eis mit einem Unglück. Sie lief neben dem Wagen ihrer Familie her, als ein jähes Krachen die 18-Jährige aufschreckte: Unmittelbar vor ihr sank der Wagen in Sekundenschnelle. Mutter, Vater und die sechs Geschwister schienen verloren. Doch ihrem Vater gelang es, vom Kutschbock abzuspringen und die Pferde am Zügel zu greifen. Mit letzter Kraft stemmten sich die Tiere mit den Vorderhufen auf die Kante des Eises und rissen den Wagen hoch. Irmela Ziegler sah ihre Mutter starr vor Schreck im Wagen sitzen – von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Die junge Frau stellte sich auf die Eiskante, hielt sich mit einer Hand an den Pferden fest und griff mit der anderen Hand hinüber: Drei ihrer Geschwister krabbelten an der Mutter vorbei aus dem Wagen. Irmela riss sie, ohne zu zögern, zu sich. Dann aber rutschten die Pferde ab und der Wagen ging unter. Verzweifelt klammerten sich die vier Geschwister aneinander. Die Mutter und zwei weitere Geschwister hatte der Vater gerade noch aus dem sinkenden Wagen retten können. Doch für die jüngste Schwester, ein wenige Monate altes Baby, kam jede Hilfe zu spät. Die Kleine ertrank vor den Augen ihrer hilflosen Eltern.

Tag für Tag, von Januar bis März 1945, spielten sich auf dem Eis dramatische Szenen ab. Hitlerjugend- und Volkssturmeinheiten wurden abgestellt, um die Trecks auf dem Eis vor Angriffen der Sowjets zu beschützen. Ein aussichtsloser Auftrag: Auf der weiten Fläche bot der Flüchtlingsstrom den russischen Tieffliegern bei gutem Wetter ein unübersehbares Angriffsziel. Wahllos schössen die Bord-MGs der Flieger auf die Menschen, die mit ihren letzten Habseligkeiten das Haff überquerten. Fontänen spritzten hoch, wenn Bomben in das Eis einschlugen. Eis- und Granatsplitter prasselten auf die Flüchtlinge herab, die verzweifelt hinter ihren Fuhrwerken Deckung suchten. »Man hatte das Gefühl, man würde bei Gewitter fahren, so grollte und blitzte es um uns herum, Tag und Nacht«, erinnert sich Hannelore Thiele. Den Weg zur Nehrung säumten bald zerfetzte Körper und Pferdekadaver, deren Blut das Eis rot färbte. »Wir haben nichts weiter tun können, als am nächsten Morgen die Toten zu bergen«, erinnert sich Karl-Heinz Schuhmacher an seinen »Volkssturmeinsatz« auf dem Haff. »Das war wirklich ganz grausam. Alle hatten nur einen Wunsch: ›Raus, raus, raus!‹«

Wie ein dichter Waldstreifen am Horizont wirkte der kilometerlange Strom der Flüchtlingstrecks – Wagen an Wagen reihte sich auf dem Eis des Haffs. Wer die schmale Landzunge lebend erreichte, glaubte sich zunächst in Sicherheit und schöpfte wieder Hoffnung. Doch auch hier nahm das Elend kein Ende. Auf den engen Sandwegen drängten Wagen einander die Böschung hinab. Verletzt, von Kugeln getroffen, erschöpft und völlig unterkühlt blieben zahllose Flüchtlinge am Straßenrand liegen, vor allem Alte und Kinder – die Schwächsten der Schwachen. Wie Lemminge schoben sich die Menschen die Nehrungsstraße entlang, vorbei an Leichen, zerschmetterten Wagen und Bergen von Gepäck. Einige scherten aus dem Strom aus und unterbrachen die qualvolle Reise, um sich von den Strapazen der Haffüberquerung zu erholen.

Die Trecks sind meistens nachts übers Haff gefahren, weil sie am Tag beschossen wurden. Da, wo Bomben Löcher ins Eis geschlagen hatten, stand immer jemand und leitete die Wagen um das Loch herum. Tote Pferde, Hausrat und auch tote Menschen schwammen in den Löchern. Heinz Grönling, damals vierzehn Jahre alt

Auch die Familie von Irmela Ziegler machte auf der Nehrung Halt. Trotz drohender Tieffliegerangriffe trieb es den Vater an diesem Morgen nach der Tragödie noch einmal auf das Haff hinaus, um sein totes Kind aus dem Wasser zu bergen. Als er wieder unversehrt zurückkehrte, schaufelte die Familie schweigend ein kleines Grab im Sand, rollte den Säugling in einen Teppich und bestattete ihn. »Ich heulte wie ein Schlosshund«, schildert Irmela Ziegler die traurige Szene, »aber meine Mutter war völlig erstarrt. Sie hat das lange, lange nicht verarbeiten können.«

Nur wenige Monate zuvor schien der Krieg noch weit entfernt. Über den wogenden Kornfeldern lag die drückende Hitze des Hochsommers, auf den weiten Feldern und Wiesen standen Pferde und Rinder, die Bauern bereiteten die Ernte vor: Ostpreußen, die »Kornkammer Deutschlands«, wirkte weitab von allen Fronten wie eine Insel des Friedens. »Wir hatten eine sehr beschauliche Zeit im Krieg«, erinnert sich der Schriftsteller Arno Surminski, der in Jäglack im Kreis Rastenburg aufwuchs. »Jahrelang herrschte relativer Frieden. Man hörte vom Krieg nur durch die Urlauber von der Front oder durch Gefallenenmeldungen.« Während im »Reich« schon Hunderttausende von Bombenopfern zu beklagen waren und Städte wie Lübeck, Köln und Hamburg bereits in Schutt und Asche lagen, fühlten sich die Menschen in Ostpreußen vor alliierten Luftangriffen weitgehend sicher. Die Propaganda des Hitlerregimes hatte ihnen weisgemacht, keinem britischen Bomber würde es je gelingen, die weite Strecke bis Ostpreußen zurückzulegen. So trafen aus dem Westen immer öfter voll besetzte Züge ein: Mit der »Kinderlandverschickung« wurden seit 1941 Kinder aus gefährdeten Ballungsgebieten, vor allem aus Berlin, evakuiert. Das Land des Bernsteins, der dunklen Wälder und kristallenen Seen, des hohen Himmels und der vielen Störche schien wie geschaffen als Zufluchtsort für ausgebombte Reichsbewohner. Die ständig zurückweichende Ostfront beeinträchtigte das Sicherheitsgefühl der Zivilbevölkerung wenig, spielten sich die Kampfhandlungen doch noch immer nicht auf deutschem Boden ab.

Es war eine grauenvolle Fahrt: Ich hatte meine beiden kleinen Kinder fest im Arm, weil ich mir sagte, wenn wir getroffen werden würden, dann hoffentlich alle. Stephanie Lingk, flüchtete über das Haff

Dass sich jenseits von Memel und Weichsel eine Katastrophe anbahnte, ahnte im Spätsommer 1944 kaum jemand.

Dabei hatte der Untergang Ostpreußens bereits am 22. Juni 1944 begonnen. Am dritten Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion eröffnete die Rote Armee nach stundenlangem Trommelfeuer ihre Sommeroffensive. Die deutsche Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall Ernst Busch setzte sich zu diesem Zeitpunkt nur noch aus rund 500 000 Mann zusammen. Vergeblich hatten die Oberbefehlshaber Hitler darum gebeten, den fast eintausend Kilometer langen Balkon, den die Front weit nach Osten formte, aus strategischen Gründen zurückzunehmen. In blinder Verbissenheit klammerte sich der Kriegsherr an die fixe Idee, jedes einmal eroberte Fleckchen Boden »bis zum letzten Mann verteidigen zu müssen«. Den Bau von Befestigungslinien hinter der Front lehnte er ab. Stattdessen erklärte er Städte, die im Frontbereich lagen, zu »festen Plätzen« und befahl deren Verteidigung »bis zur letzten Patrone«. Es war ein Kriegsgebaren, dem inzwischen jeder Sinn für die Wirklichkeit fehlte. Schon lange verfügte die deutsche Wehrmacht nicht mehr über die Kräfte, die nötig gewesen wären, solche »Festungen« zu halten. Hitler hatte sämtliche Reserveeinheiten an die Invasionsfront im Westen abberufen. Als gut zwei Wochen nach der alliierten Landung in der Normandie 160 Divisionen der Roten Armee mit 2,2 Millionen Soldaten und über 6000 Schlachtfliegern im Osten losschlugen, vermochte die Heeresgruppe Mitte der russischen Übermacht nur wenig entgegenzusetzen. Der Angriff der Sowjets entwickelte sich für die deutschen Truppenverbände zu einer der verlustreichsten Schlachten des Krieges im Osten: Von 38 eingesetzten Divisionen wurden 25 vollständig vernichtet, rund 350 000 deutsche Soldaten verwundet oder getötet. Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte übertraf in seinen Auswirkungen sogar die Katastrophe von Stalingrad. Die Front war auf etwa 350 Kilometer aufgebrochen – der Weg zu Deutschlands Reichsgrenzen lag nun für die Rote Armee offen. In nur sechs Wochen stießen die Sowjets rund eintausend Kilometer weit nach Westen vor, durchmaßen den weiten Raum zwischen Dnjepr und Weichsel. Erst kurz vor der ostpreußischen Grenze kamen sie schließlich zum Stehen. Wer in grenznahen Gebieten wohnte, hörte in der Ferne schon das unheilvolle Grollen des Kanonendonners.

Es war immer gesagt worden: »Ihr braucht euch um nichts zu kümmern, keine Beunruhigung. Keinen Zentimeter ostpreußischen Bodens werden wir den Russen überlassen!« Marion Gräfin Dönhoff

Ende Juli zogen die ersten Flüchtlingstrecks durch Ostpreußen. Die Menschen stammten überwiegend aus dem Baltikum und dem angrenzenden Memelland, an das sich ein sowjetischer Panzerkeil bedrohlich nah herangeschoben hatte. Hitler genehmigte die Evakuierung der Memelländer, bevor die Rote Armee vorstoßen konnte. Auf einen solchen Befehl wartete die ostpreußische Bevölkerung im Januar 1945 vergeblich. Ströme von Menschen, mit hoch beladenen Kastenwagen, Pferden und Vieh, suchten nun Aufnahme bei den ostpreußischen Bauern. Ihr Anblick verursachte nur bei den wenigsten böse Vorahnungen. Viele, vor allem die Flüchtlinge selbst, waren davon überzeugt, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjets bald zurückschlagen würde und sie wieder nach Hause zurückkehren konnten. Die deutsche Propaganda hatte die meisten Menschen so indoktriniert, dass sie sich in trügerischer Sicherheit wiegten. Als es tatsächlich gelang, den russischen Einbruch in die deutschen Linien abzuriegeln und die Front vorübergehend zu stabilisieren, atmete das Land erleichtert auf. Die Memelländer beeilten sich, auf ihre Höfe zurückzukehren und die Ernte einzubringen. Und obwohl allerorts Stimmen laut wurden, dass ein weiterer Vorstoß der Russen zu befürchten sei, säten auch in Ostpreußen die Bauern Korn für das nächste Jahr aus. Die Menschen hielten an ihrem gewohnten Lebensrhythmus fest – und an der Hoffnung, dass der Spuk bald vorüber sei. Dass der Krieg gegen die Sowjetunion einmal zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren könnte, schien für die meisten unvorstellbar.

Dabei war die Zeit, als Ostpreußen zum Aufmarschgebiet für den Feldzug im Osten geworden war, noch vielen im Gedächtnis. Tagelang waren im Juni 1941 auf den Chausseen Kolonnen der Wehrmacht vorbeigezogen. Die Kinder am Straßenrand hatten den Soldaten zugewunken, die fröhlich singend in Richtung Osten fuhren oder marschierten. In Scheunen, Turnhallen und Spritzenhäusern waren Soldaten einquartiert worden und hatten ausgelassen den bevorstehenden Vormarsch gefeiert. Im August 1944 wurde die Illusion von der friedlichen Idylle jäh zerstört. Zweihundert britische Bomber erreichten in der Nacht vom 26. auf den 27. August den Luftraum über Königsberg.

Es war eine unerhört fröhliche Situation damals. Ich wundere mich im Nachhinein, dass diese Soldaten so ganz arglos ihren Weg machten. Dass sie nicht geahnt haben, dass da irgendetwas Schlimmes passieren würde. Es gibt keinen größeren Kontrast als den zwischen dieser Fröhlichkeit im Juni ‘41 und dem bitteren Ende im Januar ‘45, als die Front zurückkehrte. Da sind Welten dazwischen. Arno Surminski, Schriftsteller, Jahrgang 1934

Rund fünfhundert Tonnen Bomben gingen auf die Hauptstadt Ostpreußens nieder, 10 000 Menschen wurden über Nacht obdachlos, mehr als tausend fanden den Tod. Der zweite Angriff folgte nur wenige Tage später: Sechshundert Bomber der Royal Air Force warfen am 29. und 30. August vor allem über der Innenstadt ihre tödliche Fracht ab. Neue Brandstrahlbomben lösten verheerende Feuerstürme aus. Über 5000 Menschen starben in den Flammen, 150 000 Menschen verloren ihr Zuhause, die Zahl der Verletzten wurde nie ermittelt. Bei dem Angriff wurden über 50 Prozent der historischen Gebäude zerstört: die Fachwerkspeicher am Hafen, das Stadtschloss, die Universität, die Schlosskirche.

Auch für die Landbevölkerung Ostpreußens war der Luftangriff auf Königsberg ein einschneidendes Erlebnis. Der Feuerschein am Horizont erhellte nahe gelegene Dörfer und Gehöfte, feine Asche, Stanniolstreifen und Papierfetzen wurden durch die Luft geweht und gingen auf den Dächern und Straßen nieder. Auf den Feldern fanden die Bauern ausgebrannte Flugzeugwracks und Trümmer, die vom unerbittlichen Luftkampf über Königsberg zeugten. Die Menschen reagierten bestürzt und betroffen – es war die erste große Welle der Zerstörung in einer vom Krieg bis dahin kaum berührten Welt.

Nach dem Luftangriff auf Königsberg und dem raschen Vormarsch der Roten Armee schlug Wehrmachtsgeneral Friedrich Hoßbach, Oberbefehlshaber der 4. Armee, die »vorbeugende Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den östlichen Gebieten Ostpreußens« vor. Doch seine Rufe verhallten ungehört. Vor allem Erich Koch, Gauleiter Ostpreußens und intimer Freund von Hitlers Sekretär Martin Bormann, lehnte den Vorschlag strikt ab und verkündete stattdessen, kein Russe werde jemals ostpreußischen Boden betreten. Als »Reichsverteidigungskommissar« brüstete sich Koch mit einer Schimäre, die Ostpreußen vor dem bevorstehenden Angriff der Sowjets schützen sollte: dem Bau des »Ostwalls«. Mit Schützen- und Panzergräben meinte er den Vormarsch der Roten Armee aufhalten zu können: »Ein Aufruf an die Parteigenossen, ein leidenschaftlicher Appell des Führers an den Idealismus und die Vaterlandsliebe des gesamten Volkes würde genügen, um in wenigen Tagen hunderttausende von Freiwilligen zu den Fahnen zu rufen und einen Damm im Osten aufzurichten.« Doch weniger freiwillig als unter Androhung drakonischer Strafmaßnahmen wurden Zehntausende von ihren Arbeitsplätzen abgezogen, Männer und Frauen zum Schanzdienst verpflichtet. Mit einem wahren Massenaufgebot von Menschen, Pferden und Wagen trieb Koch den Stellungsbau voran. Theo Nicolai nahm als 16-Jähriger an der Schanzaktion teil: »Wir haben geschuftet und malocht von früh bis spät. Das war richtige Sklavenarbeit. Jeden Abend musste ein Abschnitt fertig sein, sonst konnte man nicht in sein Quartier zurück.«

Ich kann mich erinnern, dass eine Frau sagte: »Aber unser Führer wird doch nicht die Russen in unser schönes Ostpreußen hineinlassen!«, obwohl es sich schon abzeichnete. Aber wir haben bis zum Schluss noch gehofft. Es war unvorstellbar, einfach wegzugehen. Hildegard Rauschenbach, damals 18 Jahre alt

Dass der Bau des »Erich-Koch-Walls«, wie er im Volksmund bald genannt wurde, in die Erntezeit fiel und die deutsche Wehrmacht nun Kommandos stellen musste, um das Korn einzubringen, störte den Gauleiter wenig. »Ohne Partei gibt es den Frontgau Ostpreußen nicht. Nur die Partei kann sich herausnehmen, Menschenmassen zu fuhren. Innerhalb von drei Stunden nach Erhalt des Befehls standen die ersten Kolonnen abmarschbereit«, erklärte Koch triumphierend. Damit bezog er klar Stellung gegen die militärische Führung.

Zwar wurde der Verlauf der »Ostpreußenschutzstellung« von den Festungsstäben des Heeres festgelegt, doch die Einzelausführung lag in den Händen der Partei – und somit in den Händen Kochs. Als Generaloberst Georg-Hans Reinhardt Verteidigungslinien im Landesinneren statt in grenznahen Gebieten forderte, bot ihm der Gauleiter die Stirn und schmetterte sein Ansinnen als Defätismus ab. Koch nahm sich überdies heraus, in die Rüstungsproduktion des Landes einzugreifen, um sich ein eigenes Waffenlager anzulegen. Und Hitler ließ ihn gewähren. Mit der Errichtung des »Ostwalls« war es dem Gauleiter endgültig gelungen, sich zum Herrscher über Ostpreußen zu erheben. Damit stand ein Mann an der Führungsspitze der Provinz, der für seine Kälte und Unmenschlichkeit bekannt war. Als Koch 1943 als Reichskommissar der von deutschen Truppen eroberten Ukraine eingesetzt wurde, ließ er an den Mitteln seiner Politik nicht den allergeringsten Zweifel aufkommen: »Wir sind die Herrenrasse, und wir müssen hart, aber gerecht regieren. Ich werde das Letzte aus diesem Land herauspressen. Ich bin nicht hierher gekommen, um Freude zu bringen. Die Bevölkerung muss arbeiten, arbeiten und wieder arbeiten. Wir sind bestimmt nicht hierher gekommen, um Manna zu verteilen. Wir sind hierhergekommen, um die Basis für den Sieg zu schaffen. Wir sind eine Herrenrasse. Wir müssen immer wieder daran denken, dass der niedrigste deutsche Arbeiter rassisch und biologisch tausendmal wertvoller ist als die Bevölkerung hier.« Zwangsarbeit, Hunger und Erschießungen kennzeichneten Kochs Regierungszeit. Der Gauleiter wusste nur zu gut, was geschehen würde, sollte die Rote Armee die Grenzen Deutschlands überschreiten. Drei Jahre lang hatten die Menschen in der Sowjetunion unter deutscher Gewaltherrschaft gelitten. Unzählige russische Soldaten waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten, Zivilisten getötet, Städte und Dörfer zerstört worden. Immer wieder hatte die deutsche Propaganda die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« angeprangert, immer wieder hatte sie das Zerrbild vom russischen »Untermenschen« gezeichnet. Hass hatte Hass erzeugt.

Jetzt, im Spätsommer 1944, stand die Rote Armee vor den Grenzen Ostpreußens. Die Soldaten waren auf ihrem Weg durch das von Deutschen verwüstete Russland gezogen, hatten Orte gesehen, die Görings und Himmlers Befehlen von der »verbrannten Erde« zum Opfer gefallen waren. Der Vormarsch ihrer Truppen hatte die unmenschlichsten Verbrechen ans Licht gebracht. Schon waren Meldungen von Vernichtungslagern, in denen das NS-Regime einen perfekt organisierten Massenmord betrieb, an die Weltöffentlichkeit gelangt. Die Hetzparolen der russischen Propaganda fielen nun auf fruchtbaren Boden.

Ilja Ehrenburg, Schriftsteller und Journalist, zählte zu den populärsten Figuren der sowjetischen Kriegspresse. Mitte der dreißiger Jahre war er durch seine Reportagen über den spanischen Bürgerkrieg bekannt geworden. Seit Beginn des »Unternehmens Barbarossa« war er zur Berühmtheit avanciert. Seine Artikel wurden in hunderten von Frontzeitungen abgedruckt und von unzähligen Soldaten der Roten Armee verschlungen. »Katjuschas« – »Stalinorgeln« nannte man seine Aufsätze, mit denen er in der Prawda und dem Roten Stern gegen die Deutschen, die »Fritzen«, hetzte. In seinen zu Beginn der sechziger Jahre verfassten Memoiren bekannte Ehrenburg: »Ich erkannte es als meine Pflicht, das wahre Gesicht des faschistischen Soldaten zu zeigen, der mit einem erstklassigen Füllfederhalter in ein Tagebuchheft blutrünstigen, abergläubischen Unsinn über seine rassische Überlegenheit eintrug; Dinge, die so schamlos und barbarisch sind, dass sie selbst einen Kannibalen in Verlegenheit gebracht hätten. Ich musste unsere Krieger daran erinnern, dass es sinnlos war, auf die Klassensolidarität der deutschen Arbeiter, auf eventuelle Gewissensregungen bei Hitlers Soldaten zu rechnen, dass jetzt nicht die Zeit sei, in der attackierenden feindlichen Armee ›die guten Deutschem herauszufinden und dabei unsere Städte und Dörfer der Vernichtung preiszugeben. Ich schrieb: ›Töte den Deutschen!«

Gauleiter Koch verbot jede Flucht und wollte damit das sichere Gefühl vermitteln, dass die Russen nicht weiterkommen würden. Die Parole lautete: »Jeder Quadratmeter Heimatboden wird verteidigt.« Dass er den »Ostwall« hat bauen lassen, war – militärisch gesehen – völliger Unsinn. Hunderte von Frauen und Jugendlichen und alten Männern mussten im Herbst 1944 Panzergräben durch ganz Ostpreußen ziehen. Die haben hinterher gar nichts genützt. Winfried Hinz, Jahrgang 1927

Wie sehr dieser von fanatischem Hass geprägte Journalist die russischen Frontsoldaten beeinflusste, bezeugt Wladimir Korobuschin, der 1944 mit seiner Einheit vor den Grenzen Ostpreußens stand: »Der Krieg war grausam und Patriotismus bei unseren Soldaten weit verbreitet. Ehrenburg hatte großen Einfluss auf uns. Seine patriotischen Artikel riefen wöchentlich zum Hass und zum Töten auf. Aber auch ich hatte zerstörte Städte gesehen, ausgebrannte Dörfer, getötete Zivilisten. Und ich hatte viel über die nach Deutschland in Arbeitslager verschleppten Russen gehört.« Während die parteiamtliche Propaganda anfänglich noch zwischen der Naziführung und der deutschen Bevölkerung unterschied, reduzierte Ehrenburg in seinen Artikeln die Deutschen auf ein Volk von Barbaren und Verbrechern. Moskau ließ Ehrenburg gewähren. Schnell hatte die Partei erkannt, dass seine Artikel für die tägliche Stimmungsmache an der Front nur von Vorteil waren. Ehrenburgs Stil wurde schließlich vom Kriegsrat der Front in einem Aufruf an die Soldaten der Roten Armee übernommen: »Merke dir, Soldat! Dort in Deutschland versteckt sich der Deutsche, der dein Kind gemordet, deine Frau, Braut und Schwester vergewaltigt, deine Mutter, deinen Vater erschossen, deinen Herd niedergebrannt hat. Geh mit unauslöschlichem Hass gegen den Feind vor! Deine heilige Pflicht ist es, um der Gerechtigkeit willen und im Namen des Andenkens an die von den faschistischen Henkern Hingemordeten, in die Höhle der Bestie zu gehen und die faschistischen Verbrecher zu bestrafen. Das Blut unserer im Kampf gefallenen Kameraden, die Qualen der Gemordeten, das Stöhnen der lebendig Begrabenen, die unstillbaren Tränen der Mütter rufen euch zu schonungsloser Rache auf.« Einen Tag nach dem Erscheinen dieses Aufrufs, am 16. Oktober 1944, begann der russische Vorstoß nach Ostpreußen.

Es genügt nicht, die Deutschen nach Westen zu treiben. Die Deutschen müssen ins Grab gejagt werden. Gewiss ist ein geschlagener Fritz besser als ein unverschämter. Von allen Fritzen aber sind die toten am besten.

Krasnaja Swesda, sowjetische Soldatenzeitung, 24. Oktober 1944

Von Mitte August bis in den Oktober hinein war es an der Front ruhig geworden. Die Heeresdivisionen hatten die Gefechtspause genutzt, ihre Stellungen zu verstärken und auszubauen, um für den erwarteten Angriff der Sowjets gerüstet zu sein. In dieser Zeit hätte man auch die Bewohner der bedrohten Gebiete in Sicherheit bringen können. Doch war es in diesem Punkt zwischen der Gauleitung und der Heeresgruppe zu äußerst heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Hitler hatte sich strikt geweigert, Ostpreußen zum Operationsgebiet zu erklären. Damit war der Heeresgruppe die Befehlsbefugnis auch über den zivilen Bereich entzogen. Erich Koch verfügte als Gauleiter und »Reichsverteidigungskommissar« bis zur Front über die vollziehende Gewalt und bestimmte damit über Leben und Tod der ostpreußischen Bevölkerung. Obwohl der Gauleiter die bevorstehende Gefahr kannte, veranlasste er keinerlei Maßnahmen zur Räumung der frontnahen Gebiete. Stattdessen verkündete er Parolen vom »Endsieg« und verfolgte mit drastischen Mitteln jene, die daran Zweifel erkennen ließen. Landräte, Kreisbauernleiter und Bürgermeister erhielten die strikte Anweisung, jede Fluchtvorbereitung sofort zu melden. Als Mitte Oktober 1944 die Rote Armee ihre Herbstoffensive begann, war in Ostpreußen so gut wie niemand darauf vorbereitet.

Wir haben in den Zeitungen gelesen, was die Deutschen auf sowjetischem Boden angerichtet hatten. Sie hatten das Volk misshandelt, unschuldige Menschen vernichtet, massenweise. Meine Mutter, eine alte, kranke Frau, wurde direkt ins Ghetto umgesiedelt, wo sie auch starb. Moissej E. Barwinskij, damals Soldat der Roten Armee

Der Angriff erfolgte frontal von Osten in Richtung Königsberg – für die deutsche Heeresgruppe völlig unerwartet. Da die Front der 4. Armee in einem weiten Bogen nach Osten vorsprang, hatte man damit gerechnet, dass die Sowjets einen Zangenangriff versuchen würden. Nun stürmten sie mit vielfacher Übermacht gegen die deutschen Stellungen. Artilleriefeuer bislang unbekannter Stärke verwandelten das ostpreußische Grenzgebiet in eine Feuerhölle. Das dumpfe Grollen der Front erschütterte die ganze Provinz und versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Zum ersten Mal in der Geschichte jenes Krieges, den Hitler im Namen des deutschen Volkes entfesselt hatte, rollten russische Panzer auf deutschem Boden. Obwohl die sowjetischen Befehlshaber wegen des Schutzwalls zunächst Zweifel am Erfolg der Operation angemeldet hatten, war es ihnen nach wenigen Tagen gelungen, fünf Kilometer tief in ostpreußisches Gebiet vorzudringen.

Der sowjetische Stoßkeil teilte sich in drei Richtungen auf. Der mittlere, auf den Ort Nemmersdorf zielende Vorstoß war der erfolgreichste. Für die Dorfbewohner der kleinen Gemeinde brachte er Schrecken, Leid und Tod. Am 21. Oktober drangen russische Soldaten in ihre Häuser und Höfe ein. Als deutsche Einheiten das Dorf zwei Tage später zurückeroberten, bot sich ihnen ein grausames Bild: Alle, die Nemmersdorf nicht rechtzeitig verlassen hatten, waren brutal ermordet worden. Die grausame Bilanz der ersten Konfrontation russischer Kampfverbände mit deutscher Zivilbevölkerung lautete: 26 Tote, unter ihnen Frauen, Kinder und Alte.

Gnade gibt es nicht – für niemanden, wie es auch keine Gnade für uns gegeben hat. Es ist unnötig, von den Soldaten der Roten Armee zu fordern, dass Gnade geübt wird. Sie lodern vor Hass und Rachsucht. Das Land der Faschisten muss zur Wüste werden, wie auch unser Land, das sie verwüstet haben. Appell von General Iwan D. Tschernjachowskij am Vorabend des Angriffs auf Ostpreußen

Sofort lief Goebbels’ Propagandamaschinerie auf Hochtouren. Deutsche wie ausländische Zeitungen berichteten wenig später vom »Massaker in Nemmersdorf« und sparten dabei nicht an Details: »vergewaltigte Frauen und Kinder«, »brutal hingerichtete Greise«. Die deutsche Wochenschau brachte Bilder, die sich für immer in das kollektive Gedächtnis der entsetzten Kinobesucher schreiben sollten. Der Name des kleinen, einst friedlichen Dorfes am Flüsschen Angerapp ging als Fanal des Schreckens in die Geschichte ein. Auch heute noch verbinden sich mit ihm für viele Ostpreußen psychische und physische Traumata. »Über Nemmersdorf kann man nicht sprechen«, lautet die Reaktion vieler Zeitgenossen. Heute wie damals ist Nemmersdorf ein Fixpunkt der historischen Diskussion. Die 1951 vom Bundesministerium für Vertriebene in Auftrag gegebene »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa« spricht im Zusammenhang mit Nemmersdorf von »grausamen Exzessen«, während Die Zeit 1992 fast kühl bilanziert: »Im Verhältnis zur Katastrophe des Sowjetreichs, zu den Dutzenden von Millionen Toten, ist ›Nemmersdorf‹ 1944 ein winziger Punkt im All.« Was also macht Nemmersdorf bis heute zum Gegenstand zahlreicher, meist emotionsgeladener Debatten? Was lässt auch heute noch, fast sechzig Jahre nach dem Überfall, Menschen »Rache für Nemmersdorf« fordern, wie es jüngst an einer Häuserwand in der früheren ostpreußischen Grenzstadt Tilsit zu lesen war? Hartnäckig und allzu oft ungeprüft halten sich im Zusammenhang mit Nemmersdorf Berichte über beispiellose Verbrechen – Vergewaltigungen, Mord und Kreuzigungen. Der grausame Tod von 26 wehrlosen Zivilisten ist unbestritten, doch zeichnen bislang unveröffentlichte Dokumente der Geheimen Feldpolizei, Aussagen von Goebbels’ engsten Mitarbeitern und der einzigen Überlebenden von Nemmersdorf heute ein differenzierteres Bild. Was geschah wirklich in jenen Tagen im Oktober 1944 in Nemmersdorf, dem heutigen Majakowskoje?

Es war damals noch alles auf den »Endsieg« programmiert. Jedenfalls lauteten so die offiziellen Parolen der Partei. Hätte man die Zivilbevölkerung evakuiert, wäre dies ein Beweis dafür gewesen, dass man an den »Endsieg« nicht mehr geglaubt hätte. Und das wollte man auf alle Fälle verhindern. Hanns-Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Ein Rekonstruktionsversuch: Nemmersdorf gehörte als eines von sechs Kirchdörfern zum Landkreis Gumbinnen und bildete eine Art Zentrum im Südwesten. Das Dorf zählte rund 650 Einwohner, besaß einige Handwerksbetriebe und Gutshöfe, die die wirtschaftliche Existenz der kleinen Gemeinde bestimmten. Ein ruhiges und beschauliches Leben, an das sich Gerda Meczulat, die einzige heute noch lebende Augenzeugin, nicht ohne Wehmut erinnert: »Unser Ort war wunderschön gelegen. Das Flüsschen Angerapp schlängelte sich hindurch und es gab einen kleinen Birkenwald, in dem wir als Kinder immer spielten.«

Gerda Meczulat, zum Zeitpunkt des Überfalls zwanzig Jahre alt, kümmerte sich damals um ihren Vater, nachdem die Mutter früh gestorben war, und führte den gemeinsamen Haushalt. In ihre bis dahin friedliche Welt drang Mitte Oktober 1944 der schwere Geschützdonner der herannahenden Front. Die Post stellte den Dienst ein, immer häufiger wurde Nemmersdorf von russischen Tieffliegern angegriffen. Etliche Dorfbewohner trafen heimlich Vorkehrungen zur Flucht. Einige hatten bereits Familienmitglieder unauffällig zu Verwandten »ins Reich« geschickt und so in vermeintliche Sicherheit gebracht. Am Freitag, dem 20. Oktober, rumpelten Flüchtlingstrecks, die aus den weiter östlich liegenden Nachbardörfern aufgebrochen waren, über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße. Obwohl der russische Sturm nur noch neun Kilometer von Nemmersdorf entfernt war, gab es noch immer keinen Räumungsbefehl für die Gemeinde. Besorgt suchten die Dorfbewohner bei ihrem Bürgermeister Rat, der schließlich ein salomonisches Urteil fällte: Sollte die Rote Armee nicht bis zum nächsten Morgen das Dorf überrannt haben, würde er eine Flucht auch ohne offiziellen Evakuierungsbefehl genehmigen.

Die Dorfbewohner beeilten sich, ihre Habe zusammenzupacken und sich mit Proviant zu versorgen. Im nun herrschenden Durcheinander fielen jene kaum auf, die sich dem allgemeinen Aufbruch nicht anschlossen – darunter Gerda Meczulat und ihr Vater. »Mein Vater sagte: ›Die Russen sind doch auch nur Menschen.‹ Und wo sollten wir denn auch hin?« So blieben vor allem ältere Menschen und jene, denen es nicht gelungen war, ein geeignetes Transportmittel zu organisieren, in Nemmersdorf zurück. Die ganze Nacht über verstopfte der endlose Flüchtlingsstrom mit Fuhrwerken und Handkarren die Dorfstraße in Richtung Westen. Als der Geschützdonner gegen Morgen immer lauter wurde und überdies Maschinengewehrfeuer zu hören war, entschlossen sich auch die letzten Zögerer zur Flucht. Gerda Meczulat und ihr Vater, der an diesem Tag 71 Jahre alt wurde, suchten hingegen in einem für die Dorfbewohner am Kanal eingerichteten Unterstand Schutz: in einer großen Tunnelröhre, die mit Stroh ausgelegt und an den Seiten mit Bänken versehen worden war. Zwölf weitere Menschen flüchteten sich wie sie dorthin, darunter auch vier Kinder.

Danzig meldet, dass die in jämmerlichem Zustand eintreffenden Flüchtlinge aus Ostpreußen Gauleiter Koch die schwersten Vorwürfe machen. Zum Teil seien die ostpreußischen Flüchtlinge erst von den zurückgehenden Soldaten darauf aufmerksam gemacht worden, dass ihnen die Bolschewisten auf dem Fuße folgten. Aus dem Tätigkeitsbericht der Abteilung II des Propagandaministeriums vom 25. Oktober 1944

Während die Dorfbewohner im Bunker um ihr Leben bangten, entbrannte über ihnen ein unnachgiebiger und verlustreicher Stellungskampf. Gustav Kretschmer, Soldat des 2. Fallschirmjägerregiments, das zur Verstärkung herbeigerufen worden war, erinnert sich an seinen Einsatz: »Am 21. Oktober ging der Angriff los. Im dicksten Nebel, im Morgengrauen, unter Bedingungen also, unter denen normalerweise niemand angreift. Wegen des Nebels konnten auch wir nicht sehen, wo die Russen ihre Stellungen hatten. Dies hatte zur Folge, dass von den 170 Mann, mit denen wir angetreten waren, innerhalb einer halben Stunde nur noch 22 Mann übrig waren.«

Während einer der Gefechtspausen wagte es Vater Meczulat, den Unterstand noch einmal zu verlassen, um in sein Haus zurückzukehren: »Es war unheimlich still draußen, kein Schusswechsel war mehr zu hören«, erzählt Gerda Meczulat. »Mein Vater sagte: ›Ich gehe jetzt und koche uns Kaffee.‹ Wir hatten noch nicht einmal gefrühstückt und er brauchte ja nur die Straße zu überqueren. Nach einer ganzen Weile kam er tatsächlich mit frischem Kaffee und Schnitten wieder und sagte: ›Das Dorf ist voller Russen.‹« Die Sowjets hatten den alten Mann nach Waffen durchsucht und wieder laufen lassen. Immer noch hofften die Menschen in der Tunnelröhre, mit heiler Haut davonzukommen.

Als am späten Nachmittag die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff flog, waren die Rotarmisten selbst gezwungen, Schutz zu suchen – und drangen schließlich in den Bunker ein. Die Sowjets ließen die überraschten Dorfbewohner zunächst unbehelligt. Einige spielten sogar mit den anwesenden Kindern.

In der bereits genannten Ortschaft Nemmersdorf, die zwölf Kilometer westlich Gumbinnen liegt, wurden insgesamt 26 Leichen aufgefunden, darunter zwölf Frauen, neun Männer und fünf Kinder.

Aus dem Bericht des Völkischen Beobachters am 28. Oktober 1944

Erst gegen Abend kam es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall: Im Bunker erschien ein höherer Offizier und begann mit den Soldaten eine heftige Auseinandersetzung. Schließlich befahl er den Zivilisten, den Unterstand zu verlassen. Gerda Meczulat erinnert sich an die schrecklichsten Minuten ihres Lebens: »Der Offizier blieb vorne am Eingang stehen. Und dann hieß es immer: ›Paschol, paschol!‹ Als wir heraustraten, stand der ganze Abhang zu beiden Seiten des Ausgangs voller Russen – mit Maschinenpistolen. Ich hörte Schüsse und dann nur noch das Röcheln der Erschossenen.« Gerda Meczulat, die seit ihrem siebten Lebensjahr an Kinderlähmung leidet, verließ den Unterstand als Letzte. Dabei stolperte sie und fiel. Nun trat der russische Offizier von hinten an sie heran, legte die Pistole an ihren Kopf und schoss. Die Kugel zerfetzte ihren Kiefer und trat über dem Jochbein wieder aus. Wie durch ein Wunder überlebte die junge Frau – als Einzige.

Als die Deutschen am nächsten Morgen Nemmersdorf zurückeroberten, fanden sie überall in den Häusern Tote vor. In einem Haus entdeckten sie eine alte Frau auf ihrem Sofa, eine Decke über den Knien. Die Rotarmisten hatten sie mit einem Kopfschuss getötet. Ein älteres Ehepaar hatte versucht, sich hinter einer Tür zu verstecken – vergeblich. Auch sie waren von den eindringenden Rotarmisten erschossen worden. Ein junges Mädchen fanden die Soldaten aufrecht sitzend, gegen eine Wand gelehnt, ihr Kopf war gespalten. An der Brücke über die Angerapp lagen drei weitere Leichen: eine ältere Frau neben einer Mutter mit Kleinkind. Der Schnuller des Kindes lag im Staub der Straße. Die deutschen Soldaten reagierten entsetzt auf die Brutalität, mit der die Rote Armee gewütet hatte. Viele schworen Rache für die Toten von Nemmersdorf und beklagten die sinnlosen Morde an der wehrlosen Zivilbevölkerung. Trotz aller Empörung kam bei einigen der deutschen Soldaten jedoch auch das Gefühl von Schuld auf: »Wir sind erst zweitausend Kilometer weit nach Russland vormarschiert und dann zweitausend Kilometer wieder zurück. Da ist nichts ganz geblieben«, bekennt der Soldat Helmut Hoffmann heute im Rückblick und resümiert leise: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten.«

Zu unserem Entsetzen tauchten an den Hängen der Angerapp an diesem nebligen Oktobermorgen die ersten Russen auf. Sie machten zunächst einen abwartenden Eindruck, pirschten sich dann aber näher, und ehe wir’s uns versahen, standen sie vor uns. Sie nahmen den Flüchtlingen im Vorbeigehen die Uhren und den Schmuck ab. Marianne Stumpenhorst, als Flüchtling bei Nemmersdorf von den Sowjets eingeholt

Die deutsche Propaganda reagierte sofort. Schon wenige Tage nach der Rückeroberung von Nemmersdorf erschienen Reporter, darunter auch Journalisten aus neutralen Ländern wie Schweden und der Schweiz, aber auch französische Berichterstatter sowie Kameraleute und Fotografen, um am Tatort erste Aufnahmen zu machen. Joseph Goebbels hatte begriffen, dass aus dem Überfall auf Nemmersdorf Kapital zu schlagen war. Fast schien es, als habe er auf einen solchen Anlass gewartet. Nicht Verführung, sondern Angst sollte den »fanatischen Widerstand« der Bevölkerung wecken. Nur wer sich, seine Familie, Haus und Hof bedroht sehe, mobilisiere letzte Kräfte, ließ Goebbels verlauten. In seinem Tagebuch notierte er am 26. Oktober 1944: »Göring ruft mich abends an und teilt mir Einzelheiten über die von den Bolschewisten in den von uns wiedereroberten ostpreußischen Dörfern und Städten angerichteten Gräuel mit. Diese Gräuel sind in der Tat furchtbar. Ich werde sie zum Anlass einer großen Presseaufklärung nehmen, damit auch die letzten harmlosen Zeitbetrachter überzeugt werden, was das deutsche Volk zu erwarten hat, wenn der Bolschewismus tatsächlich vom Reich Besitz ergreift.«

Goebbels »Presseaufklärung« war weit entfernt von einer wahrheitsgemäßen Darstellung, sie war eine Verzerrung der Fakten und eine schamlose Inszenierung der Geschehnisse. Sein persönlicher Referent, Wilfred von Oven, bekennt heute ungeniert: »Goebbels hat auf die sowjetischen Gräuel sehr heftig reagiert und immer wieder Weisungen gegeben, diese in der Öffentlichkeit stärker in den Vordergrund zu rücken. Er hat schließlich auch dazu aufgerufen, die ohne Zweifel geschehenen Gräuel noch doller hervorzuheben. In jeder Pressekonferenz wurde darauf hingewiesen, bei der Berichterstattung an Details nicht zu sparen.« Goebbels’ Weisungen wurden befolgt. Am 27. Oktober titelte der Völkische Beobachter: »Das Wüten der sowjetischen Bestien – Furchtbare Verbrechen in Nemmersdorf« und berichtete ausführlich von Mord, Brandschatzung und Vergewaltigung. Auch die ausländische Presse, darunter das norwegische Blatt Fritt Folk und der in der Schweiz erscheinende Courrier de Genève, brachte Berichte über das sowjetische Massaker. Die Fotos, heute im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrt, sollten die abscheulichen Verbrechen der Roten Armee belegen.

Hanns-Joachim Paris, der damals als Kriegsberichterstatter vor Ort war, erinnert sich: »Man hatte mit dem Aufräumen gewartet, bis die ausländischen, neutralen Journalisten gekommen waren und alles dokumentiert hatten.« Auf einem Acker liegend, wurden die Toten »öffentlichkeitswirksam« präsentiert: die Frauen mit entblößtem Unterleib, daneben tote Kinder und Greise. Helmut Hoffmann, der das Dorf als einer der ersten Soldaten nach der Rückeroberung betreten hatte, ist überzeugt: »So wie sie dalagen, so wie sie fotografiert wurden, so hatte man sie im Nachhinein hingelegt. Man hatte ihnen die Kleider hochgeschoben und die Schlüpfer heruntergezogen.« Auch Gerda Meczulat, die das brutale Vorgehen der Rotarmisten am eigenen Leib erfahren musste, weiß nichts Gegenteiliges zu berichten. Die Russen hätten sich, bis der Offizier den Befehl zum Erschießen gab, ganz ruhig verhalten. Zu Belästigungen oder gar Vergewaltigungen sei es nicht gekommen.

Mord – aber keine Vergewaltigung? Angesichts 26 unschuldiger Opfer eines brutalen Verbrechens erscheint diese Frage absurd. Und doch entzündet sich daran eine hoch emotionale Debatte. Nemmersdorf ist für viele Ostpreußen ein immer noch unbewältigtes Kapitel ihrer Vergangenheit: Es steht für das schreckliche Leid, das die ostpreußische Bevölkerung erfahren und ertragen hat. Die Vorstellung, Nemmersdorf könnte sich als Trugbild der deutschen Propaganda erweisen, ist schmerzlich. Die Aussagen der Zeitzeugen legen jedoch nahe, dass an den Leichen nachträglich manipuliert wurde.

Wir haben ungefähr zwei Dutzend Tote zusammengetragen. Viele wiesen Einschüsse auf und hatten starke Verletzungen im Kopfbereich. Wir fanden auch Frauen verschiedener Altersgruppen, deren Kleidung um den Unterleib herum zerrissen war, zum Teil blutig. Ob es Vergewaltigungen waren oder nicht, konnten wir Soldaten nicht feststellen, weil wir keine Mediziner waren. Doch die Anzeichen dafür waren da. Harry Thürk, damals Soldat, war in Nemmerdorf

Zwischen Rückeroberung und dem Auftauchen der Presse vor Ort lagen mindestens vier Tage – Zeit genug, um ein grausames Verbrechen noch grausamer zu gestalten. Ein bislang unveröffentlichtes Protokoll der Geheimen Feldpolizei vom 25. Oktober 1944, das bei Recherchen im Archiv des Auswärtigen Amts entdeckt wurde, bestärkt den Verdacht. Dort heißt es: »Außer dem GFP-Kommando waren eine Parteikommission, eine Kommission von der Sicherheitspolizei Tilsit und eine Kommission vom Kommando Nordost der SS-Standarte Kurt Eggers erschienen. Wie in Erfahrung gebracht wurde, ist am 24. Oktober 1944 der SS-Gruppenführer Prof. Dr. Gebhardt, Leibarzt des RF SS, am Tatort gewesen und soll ärztliche Untersuchungen getroffen haben.«

Was hatte die SS in Nemmersdorf zu suchen? Und vor allem: Mit welchem Auftrag war Heinrich Himmlers persönlicher Leibarzt, Prof. Dr. Karl Gebhardt, bereits am 24. Oktober 1944, also wenige Stunden nach der Rückeroberung, in die Kleinstadt nach Ostpreußen geeilt? Im Protokoll heißt es weiter: »Gemeinsam wurde der Friedhof aufgesucht, wo eine Anzahl von Leichen in einem noch offenen Grab vorgefunden wurde. Die Leichen wurden aus dem Grab entfernt.« Hat man die Leichen – die Ehre der Toten missachtend – danach für die Presse »präpariert«, um, wie Hanns-Joachim Paris vermutet, »mehr Wirkung zu erzielen« und »gegen die Sowjetunion Propaganda zu machen«? Die Tagebucheintragung des Propagandaministers vom 10. November 1944 klingt fast wie ein Geständnis: »Der Bericht der Reichspropagandaämter ist wieder einigermaßen entmutigend. Die Gräueltaten würden uns nicht mehr abgekauft. Insbesondere hätten die Nachrichten von Nemmersdorf nur einen Teil der Bevölkerung überzeugt.« Nemmersdorf – ein Lügengebilde der NS-Propaganda?

Die sich bis heute hartnäckig haltenden Berichte über Frauen, die die Rotarmisten bei lebendigem Leib an Scheunentore genagelt hätten, scheinen hingegen nicht dem erfindungsreichen Gehirn des Propagandaministers zu entstammen. Einige Zeitzeugen, so auch der Kriegsberichterstatter Hanns-Joachim Paris, bestätigen: »Ein grauenhaftes Bild: Junge Mädchen und Frauen waren nackt an die Scheunentore genagelt worden. Es war grausam und wirklich kaum vorstellbar.« Doch weder der Völkische Beobachter noch andere Presseorgane haben je davon berichtet. Hätte die deutsche Propaganda solche bestialischen Verbrechen verschwiegen? Helmut Hoffmann, einige Tage früher als Paris vor Ort, glaubt: »Wenn da geschrieben wurde, es sind Frauen gekreuzigt oder angenagelt worden, dann ist das ungeheurer Blödsinn.« Auch sein Kamerad Gustav Kretschmer hat die Kreuzigungen nicht mit eigenen Augen gesehen: »Mein Kommandeur hat mir später davon erzählt«, bekennt der um Glaubwürdigkeit bemühte Soldat. Erst 1953, fast zehn Jahre nach dem Überfall, gab Volkssturmmann Karl Potrek in der »Dokumentation der Vertreibung« zu Protokoll, er habe sechs unbekleidete, an Scheunentore genagelte Frauen gesehen. In den Wohnungen seien insgesamt 72 Frauen und Kinder tot aufgefunden worden. Legendenbildung oder Wahrheit? Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die »Dokumentation der Vertreibung« ihre Entstehung politischer Initiative verdankt und das Ministerium für Vertriebene nach Meinung des Historikers Matthias Beer »entsprechend der Zahl in einem Bericht enthaltenen Fälle wie etwa Mord, Totschlag oder Vergewaltigung honorierte«, ist auch bei Potreks Aussage Vorsicht geboten. Die Zahl der Todesopfer, die Potrek in seinem Bericht mit 72 angab, lässt vermuten, dass die Toten des Landkreises Gumbinnen, zu dem auch Nemmersdorf zählte, zusammengefasst wurden. Denn auch in Nachbargemeinden wie Alt-Wusterwitz und Tutteln war es zu Erschießungen – und Vergewaltigungen – gekommen.

Der Offizier blieb vorne am Eingang stehen. Und dann hieß es immer: »Paschol, paschol!« Ais wir heraustraten, stand der ganze Abhang voller Russen – mit Maschinenpistolen. Ich hörte Schüsse und dann nur noch das Röcheln der Erschossenen. Gerda Meczulat, Überlebende von Nemmersdorf

Erfinden brauchten sie das Ganze nicht. Leichen mussten sie auch nicht von woanders her zu holen – die waren da. Man hatte ihnen die Leichen und das, was dort geschehen war, sozusagen auf dem Präsentierteller serviert. Dass sie es vermarktet haben, wie man heute sagt, darüber besteht kein Zweifel. Harry Thürk, damals Soldat, zur deutschen Propaganda über Nemmersdorf

Die Bilder von den vergewaltigten oder getöteten Frauen hat man auf Plakate gebracht, und diese Plakate hingen überall. Man glaubte, dass der Russe mit jedem, den er erwischt, macht, was er will. Winfried Hinz, Jahrgang 1927

Trotz aller Zweifel bleibt am Ende generell festzuhalten: Die Rote Armee hat beim Überschreiten der deutschen Grenze in Ostpreußen und anderswo schreckliche Verbrechen gegen wehrlose Zivilisten begangen. Freilich hat Goebbels versucht, die grausame Wahrheit bewusst noch grausamer zu gestalten. Doch mit seiner Nemmersdorf-Kampagne hatte sich der sonst so wirkungsvoll agierende Propagandaminister verrechnet: Statt den Widerstandswillen zu stärken, brach unter der Bevölkerung Panik aus. In den Wochen nach dem Überfall auf Nemmersdorf setzte in Ostpreußen eine erneute, unkontrollierte Fluchtbewegung ein, die Goebbels’ Durchhalteparolen Lügen strafte. Schließlich gestattete die Gauleitung auf Drängen des Militärs – und nicht zuletzt, um wieder Herr der Lage zu werden – die Evakuierung eines etwa dreißig Kilometer langen Streifens hinter der Front.

Nemmersdorf war zum Fanal geworden. Das Schreckensbild, das die deutsche Propaganda gezeichnet hatte, sollte in den kommenden Monaten noch übertroffen werden. Denn das Massaker blieb kein Einzelfall, es war nur Auftakt einer Reihe schrecklicher Exzesse sowjetischer Soldateska gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Heute erinnert ein sowjetisches Ehrenmal in Majakowskoje an die Ereignisse im Herbst 1944. Doch es wurde für die gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet, nicht für die 26 Dorfbewohner, die damals im Oktober 1944 den Tod fanden.

Am 18. Oktober, auf dem Höhepunkt der russischen Herbstoffensive und zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, hatte Hitler zur Bildung eines Volkssturms aufgerufen. »Während der Gegner glaubt, zum letzten Schlag ausholen zu können, sind wir entschlossen, den zweiten Großeinsatz unseres Volkes zu vollziehen. Es wird uns gelingen, wie in den Jahren 1939 und 1940, ausschließlich auf unsere Kraft bauend, nicht nur den Vernichtungswillen der Feinde zu brechen, sondern sie wieder zurückzuwerfen und so lange vom Reich abzuhalten, bis ein die Zukunft Deutschlands, seiner Verbündeten und damit Europas sichernder Friede gewährleistet ist.« Längst hatte der Diktator jeden Sinn für die Wirklichkeit verloren. Mit seinem Aufruf, der allen »waffenfähigen Männern von 16 bis sechzig Jahren« galt, glaubte er dem Millionenheer der Alliierten, ihrer Übermacht an Panzern und Flugzeugen standhalten zu können. Dabei versuchte das NS-Regime einmal mehr, mit Parolen aus vergangener Zeit letzte Kräfte zu mobilisieren. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!« – ein Lied des Freiheitsdichters Theodor Körner aus der Zeit der Befreiungskriege musste als »Volkssturmparole« herhalten. »Wie damals im Freiheitskrieg hat heute der Volkssturm die Aufgabe, überall dort, wo der Feind unseren Heimatboden betritt, ihn fanatisch festzuhalten und womöglich aufzureiben«, verkündete Heinrich Himmler, der als Befehlshaber über das Ersatzheer eingesetzt wurde.

Alte Männer, die kaum noch in der Lage waren, ein Gewehr zu schultern, und Jungen, die mehr Kinder als Männer waren, sollten Hitlers Wahn vom »Endsieg« geopfert werden. Dabei hatte Heinz Guderian, Chef des Generalstabs des Heeres, Hitler lediglich vorgeschlagen, in allen bedrohten ostdeutschen Gebieten einen Landsturm einzuberufen, der militärisch ausgebildet und ausgerüstet werden sollte. Wenig später verkündete Hitler, die Idee des Landsturms solle in Gestalt des »Volkssturms« nicht nur im Osten, sondern im ganzen Reichsgebiet verwirklicht werden. Allein die Partei nahm den Aufruf mit Begeisterung auf, allen voran der Gauleiter Ostpreußens, Erich Koch. Schon beim Bau des Ostwalls hatte er mit der Bildung eines »Grenzschutzes Ost« experimentiert, nun meldete er seinem »Führer« voller Stolz: »Das erste Bataillon Garde steht!« All jene wurden eingezogen, die bisher vom Wehrdienst verschont geblieben waren – auch die, die man zuvor als »wehruntauglich« ausgemustert hatte. Mehr als eine Million Männer umfasste reichsweit Hitlers »letztes Aufgebot«. Bewaffnung und Versorgung unterstanden der Partei, die häufig nicht einmal in der Lage war, Uniformen, Decken oder feste Schuhe auszugeben: Eine Armee der Kinder und Greise in Halbschuhen sollte den Ansturm der größten Armee der Weltgeschichte zurückwerfen. Spottverse kursierten und machten klar, was man im Volk über die Kampfkraft dieser Truppe dachte: »Nach Rache und Vergeltung lechz’ ich,/drum auf zum Volkssturm, lieber Klaus!/Du bist erst 12, ich 66,/doch sehn wir fast wie Männer aus./Wir hissen die zerfetzten Segel/und wandern froh an Hitlers Stab/mit Mann und Maus und Kind und Kegel/ins Massengrab, ins Massengrab.«

Im Grunde genommen hat Nemmersdorf die Fluchtbewegung letztlich ausgelöst. Ansonsten hätten viele gesagt: »Ach, was sollen wir im Winter auf die Straße gehen, wir bleiben zu Hause, egal, was passiert.« Durch Nemmersdorf aber waren auch die Letzten so verängstigt worden, dass sie wegwollten, weil sie ahnten, es würde kein gutes Ende nehmen. Arno Surminski, Schriftsteller, Jahrgang 1934

Auch die Wehrmacht war über diese »Hilfe« wenig erfreut. Als Kampftruppe der Partei unterstanden die Männer mit der gelben Armbinde der Befehlsgewalt Himmlers; vor Ort hatten die Gauleiter das Sagen. Erich Koch, Gauleiter von Ostpreußen, weigerte sich, seine Volkssturmeinheiten der Armee zur Verfügung zu stellen, die dringend neue Divisionen bilden musste. Stattdessen betrachtete er sie als seine Privatarmee und legte sich den Titel »Führer des ostpreußischen Volkssturms« zu. Militärischer Erfolg bestand allenfalls darin, den aussichtslosen Krieg, den Hitler im Namen des deutschen Volkes führte, um einige Wochen zu verlängern – und damit auch die Leiden, die er schuf.

Ende Oktober nahmen die Angriffe der Sowjets schließlich ab. So dramatisch das Vordringen der Roten Armee in deutsches Gebiet für die Bevölkerung Ostpreußens gewesen war, für das sowjetische Oberkommando bedeutete die Herbstoffensive einen operativen Misserfolg. Trotz beträchtlicher Übermacht war es der Roten Armee nicht gelungen, tiefer als bis zur Rominter Heide nach Ostpreußen vorzustoßen und deutschen Boden zu gewinnen. Nemmersdorf und Goldap waren nach erbitterten Kämpfen von der Wehrmacht zurückerobert worden.

Meine ältere Schwester sollte 1945 konfirmiert werden. An Weihnachten 1944 fand dann aber eine Notkonfirmation dieser Altersgruppe statt, weil die Jungs mit ihren vierzehn, fünfzehn Jahren anschließend eingezogen wurden. Sie sollten konfirmiert an die Front kommen. Hannelore Thiele, Jahrgang 1932

Der Herbst 1944 brachte für die Rote Armee keine durchschlagenden Erfolge mehr. In den folgenden Monaten erstarrte die Front, während das Moskauer Oberkommando folgendes Fazit zog: »Die unbefriedigenden Ergebnisse des Oktobers zeigten, dass wir den schon länger im Einsatz befindlichen Divisionen eine Ruhepause gönnen, unsere Truppen umgruppieren, die rückwärtigen Dienste nachziehen und die für einen Durchbruch sowie für die anschließende Entwicklung der Operation erforderlichen materiellen Vorräte schaffen mussten.« Noch zehn Wochen waren es bis zum Januar 1945 – über Ostpreußen lag die »Ruhe vor dem Sturm«.

Während sich die ostpreußische Bevölkerung – eingelullt in falsche Versprechungen der deutschen Propaganda – allmählich wieder in Sicherheit wähnte, verließ bei Nacht und Nebel ein Mann heimlich die dunklen Wälder Ostpreußens, der kurz zuvor noch verkündet hatte, er wolle in keinem Falle fortgehen, solange die Krise noch andauere: Adolf Hitler. Bereits vor dem Russlandfeldzug im Herbst 1940 hatte sich der Diktator im Herzen Ostpreußens, im Rastenburger Stadtwald, ein gewaltiges Hauptquartier, die »Wolfsschanze«, errichten lassen. Gut getarnt, mit eigenem Flugplatz und Bahnhof ausgestattet, war binnen weniger Monate eine militärische Festungsanlage entstanden, die mit mächtigen Betonmauern und unterirdischen Bunkern Hitler und seinen Militärs Schutz vor Luftangriffen der Alliierten bieten sollte. Doch der gefährlichste Angriff kam nicht von außen, sondern von innen: Am 20. Juli 1944 detonierte eine Sprengladung, die den Tyrannen verfehlte. Nun war die letzte Chance auf Umsturz, ja auf Frieden gescheitert. Fortan herrschte in der »Wolfsschanze eine etwas deprimierte Stimmung«, wie der Besucher Goebbels im September 1944 in seinem Tagebuch notierte. Obwohl alle Spuren des Sprengstoffattentats beseitigt worden waren, konstatierte der Gefolgsmann bei Hitler eine »sehr starke Angeschlagenheit«. Die gedrückte Stimmung wurde in den folgenden Monaten durch die immer ernster werdenden Lageberichte von der Ostfront noch verstärkt.

Das war die Ruhe vor dem Sturm: Die Russen waren noch vor der ostpreußischen Grenze. Sie haben erst im Oktober, November langsam die ostpreußische Grenze überschritten. Dann kam die Winteroffensive im Januar 1945. Und da ging alles Hals über Kopf, schlagartig. Heinz Grönling, damals vierzehn Jahre alt

Hitlers Helfer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl drängten ihren Kriegsherrn, die gefährdete »Wolfsschanze« zu verlassen. Bislang hatte Hitler gezögert, da er überzeugt davon war, seine Anwesenheit gäbe vielen Ostpreußen das nötige Vertrauen und zwänge die Divisionen zu entsprechenden Anstrengungen. Nach dem unerwartet heftigen Vorstoß der Roten Armee im Oktober 1944 war die Situation in und um Rastenburg jedoch bedrohlich geworden. Bomben waren auf einen Teil des »Führerhauptquartiers« gefallen, ohne jedoch größeren Schaden anzurichten. Obwohl Hitler um die Übermacht der Sowjets wusste und alles dafür sprach, dass weitere Schläge der Roten Armee folgen würden, befahl er, mehrere Divisionen aus Ostpreußen und von der Weichsel nach Westen zu verlegen. Damit wurden der Ostfront die letzten Reserven abgezogen. Der Diktator plante eine Offensive, die die Kriegswende erzwingen sollte: den Durchbruch in den Ardennen. Eine sinnlose Operation, die nach ihrem Scheitern die Situation an der Westfront dramatisch verschlechtern sollte. Doch Hitler hatte, allen Widersprüchen des Generalstabs zum Trotz, seinen Operationsbefehlen hinzugefügt: »Änderungen nicht zulässig!« Verzweifelt und blind für die Realität klammerte er sich an die letzte große Gegenoperation der deutschen Wehrmacht, mit der er die alliierten Armeen zu bezwingen hoffte. Am 20. November 1944 verließ der »Führer« sein Hauptquartier im Rastenburger Wald in Richtung Berlin. »Im Osten kann ich noch Raum verlieren«, entschied Hitler zynisch und gab damit Millionen Menschen in den deutschen Ostprovinzen der Willkür seiner Gegner preis.

Mein Vater war immer der Meinung, Hitler würde das noch schaffen. Irgendwie würde der die Russen zum Stehen bringen und Deutschland und auch Ostpreußen nicht aufgeben. Irmela Ziegler, Jahrgang 1926

Von alldem ahnte die Mehrheit der ostpreußischen Bevölkerung nichts. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür – viele, die im Herbst aus den bedrohten Gebieten evakuiert worden waren oder auf eigene Faust die Flucht angetreten hatten, suchten nun wieder ihre Dörfer auf. Zu präsent war die Erinnerung an die Zeit des Ersten Weltkriegs, als Ostpreußen schon einmal von russischen Truppen überrannt worden war. Auch damals hatten viele die Flucht ergriffen und ihre Heimat verlassen. Doch in der legendären Schlacht bei Tannenberg war es Hindenburg und Ludendorff gelungen, die Russen zu vertreiben. Schon nach wenigen Wochen konnte die ostpreußische Bevölkerung zurückkehren. Die Erinnerungen an 1914 waren dreißig Jahre später wacher denn je. Vor allem die Alten, die die Schlacht bei Tannenberg miterlebt hatten, waren davon überzeugt, dass sich die Geschichte wiederholen würde. Wie jedes Jahr wurden die Weihnachtsbäume geschmückt, man bereitete sich auf die Festtage vor. Auch die deutsche Führung zeigte sich demonstrativ zuversichtlich. In seiner Rundfunkansprache zum Jahreswechsel erklärte Joseph Goebbels: »Wir haben ein Jahr hinter uns gebracht, wie es einzigartig ist in der deutschen Geschichte. Das deutsche Volk zeigt in diesem Krieg eine Höhe seiner moralischen Widerstandskraft, die nur Bewunderung verdient.« Nur knapp zwei Wochen später, am 12. Januar 1945, brach über Ostpreußen die Katastrophe herein.

Wir hatten über Weihnachten Einquartierung im Dorf, eine Einheit aus Sachsen. Die haben sehr häufig gesagt: »Mein Gott, haut bloß ab, das wird hier ganz schlimm.« Arno Surminski, Schriftsteller, Jahrgang 1934

Als »größten Bluff seit Dschingis Khan« hatte Hitler die Zahlen, die ihm die Abteilung »Fremde Heere Ost« vorlegte, verächtlich abgetan. Von einer bis zu zwanzigfachen Überlegenheit der russischen Truppen war darin die Rede gewesen. Doch Hitler und seine Paladine spielten die drohende Gefahr herunter. »Ich glaube nicht, dass die Russen überhaupt angreifen. Die Zahlen sind maßlos übertrieben. Ich bin fest überzeugt, dass im Osten nichts passiert«, kommentierte Himmler alle Warnungen. Seit den frühen Morgenstunden des 12. Januar 1945 jedoch dröhnten überall an der Ostfront russische Geschütze und zermalmten deutsche Stellungen. Innerhalb weniger Tage gelang es den Sowjets, bis zur Ostseeküste vorzudringen und der Bevölkerung den Fluchtweg über das Land abzuschneiden. Von Tilsit bis Johannisburg, von Goldap bis Elbing saßen zweieinhalb Millionen Menschen, deren Leben bei einer rechtzeitigen Evakuierung zu retten gewesen wäre, in der Falle. Von drei Seiten eingekesselt, war Flucht nur noch mit Schiffen über die Ostsee möglich. In Panik begaben sich die Menschen auf ihren verzweifelten Weg zu den Hafenstädten. Die Parteiführung, allen voran Gauleiter Koch, hatte restlos versagt. Nichts war vorbereitet – die Evakuierungspläne lagen unberührt in den Schubladen. Vielerorts warteten die Menschen vergeblich auf einen Fluchtbefehl. Oft waren es gerade die Ortsgruppen- oder Kreisleiter selbst, die angesichts der drohenden Gefahr als Erste Hals über Kopf türmten. In aller Eile verbrannten sie Akten und Papiere und verließen klammheimlich die Amtsstuben. Ihre Schützlinge, denen monatelang jede Vorbereitung zur Flucht unter Todesstrafe verboten worden war, mussten allein zusehen, wie sie ihr Leben retten konnten.

Eine junge Frau, im Januar 1945 gerade 36 Jahre alt, ergriff angesichts des Versagens der Parteileitung selbst die Initiative: Marion Gräfin Dönhoff. Seit 1939 hatte sie die Verwaltung der Familiengüter im Kreis Preußisch-Holland übernommen und fühlte sich für die Menschen, die auf den Gütern lebten und arbeiteten, verantwortlich. Als die Nachricht vom Heranrücken der Front kam, ließ sie die Leute in einem Inspektorenhaus zusammenrufen und erklärte ihnen, dass man nun gemeinsam die Flucht antrete. »Sie waren vollständig konsterniert«, beschreibt die Gräfin die Szene, »man hatte ihnen so viel vom Endsieg erzählt und davon, dass ›der Führer‹ es nie zulassen werde, dass auch nur ein Fußbreit ostpreußischen Bodens verloren ginge. Sie konnten diese Nachricht einfach nicht fassen.« Ein letztes schweigsames Abendbrot, dann verließ Marion Gräfin Dönhoff die Güter, die sechshundert Jahre lang im Besitz ihrer Familie gewesen waren. Auf dem Tisch blieben Speisen und Silber zurück, die Türen wurden nicht verschlossen. Sie fühlte: Es war ein Abschied für immer. Seit Monaten hatte sie geahnt, dass der endgültige Aufbruch bevorstand.

Mein Vater sagte: »Bei uns waren die Russen schon 1914. Die kommen wieder, aber die hauen auch wieder ab. Alles bleibt so wie es ist.«

Heinz Grönling, damals vierzehn Jahre alt

An den Flüchtlingskolonnen, die im Sommer 1944 aus Litauen und dem Memelland durch Ostpreußen zogen, hatte die Gräfin insgeheim Studien betrieben: Wie sahen die Planwagen aus? Wie schützte man sich unterwegs am besten vor Kälte und Regen? Welche Dinge waren auf der Flucht nützlich? Heimlich hatte sie Wagen bauen lassen und Fluchtpläne vorbereitet – bis Mitte Januar 1945 ein Vertreter der Kreisleitung erschienen war und ihr einen schweren Verweis der Gauleitung in Königsberg übermittelte: Sollte sie weiterhin solch »defätistische Vorbereitungen zur Flucht« treffen, müsse sie sich auf harte Maßnahmen gefasst machen. Dennoch ließ die Gräfin genaue Karten zeichnen, auf denen alle Landwege eingetragen waren. Der überraschend schnelle Zusammenbruch der Front warf aber am Ende all ihre Vorbereitungen über den Haufen. Ein Rucksack mit Kleidung und Papieren, eine Satteltasche mit Waschzeug und einem alten Kruzifix – nur mit dem Allernotwendigsten versehen – bestieg die Gräfin ihr Reitpferd. Zusammen mit ihren Schutzbefohlenen reihte sie sich ein in den kilometerlangen Strom von Flüchtlingen, der die eisglatten Straßen Ostpreußens verstopfte. Die meisten waren erst aufgebrochen, als der Geschützdonner die Fensterscheiben erzittern ließ. Allerorts hatte die Großoffensive der Roten Armee die Menschen überrascht. Nur vage Vorahnungen hatten wie dunkle Gewitterwolken das Leben in Ostpreußen überschattet. Als der Ruf »Die Russen kommen« im ganzen Land erschallte, machte sich die traurige Erkenntnis breit, dass die Stunde des Abschieds gekommen war und es diesmal keine Rückkehr mehr geben würde.

Für die damals dreizehnjährige Hannelore Thiele kam der jähe Aufbruch in den frühen Morgenstunden des 27. Januar 1945. In aller Eile packte die Familie ihr Hab und Gut zusammen. Auch die kleine Hannelore machte ihren Schulranzen fertig und griff nach ihrer Lieblingspuppe, ohne die sie ihr Zuhause nicht verlassen wollte. Doch die Anweisungen der Eltern waren streng und unerbittlich: Alles, was unterwegs überflüssig war, musste zurückbleiben, auch die geliebte Puppe. Als der voll bepackte Panjewagen auf die holprige Landstraße rumpelte und sich mehr und mehr von ihrem Zuhause entfernte, vergossen nicht nur die Kinder bittere Tränen. »Ich habe damals meinen Großvater zum ersten Mal weinen sehen. Das werde ich nie vergessen. Er drehte sich immer wieder um, aber es gab kein Zurück mehr. Und da haben auch wir begriffen, dass wir nicht wieder zurückkommen werden«, schildert Hannelore Thiele die Abfahrt, die ihr bis heute in schmerzhafter Erinnerung geblieben ist.

Auch für Arno Surminski kam der Abschied von der Heimat plötzlich und unerwartet. Die Tage zuvor war das kleine Dorf Jäglack von heftigem Kanonendonner erschüttert worden. Nun lag ein beängstigendes Schweigen über dem Land, das an den Nerven der Menschen zerrte. Gegen Mittag zogen Soldaten durch das Dorf und waren entsetzt, so nah an der Front noch Zivilisten vorzufinden. In aller Hast entschlossen sich die Jäglacker endlich, Wagen zu packen: Über die aus Latten und dünnen Brettern gefertigten Dachkonstruktionen wurden Teppiche und Strohmatten gespannt; Bettzeug, Hafer für die Pferde, Kleidung zum Wechseln und Lebensmittel im Inneren der Wagen verstaut. Als der Dorftreck schließlich am Nachmittag loszog, begann es leicht zu schneien. Am Horizont sahen die Dorfbewohner einen hellen Feuerschein – Nachbardörfer brannten bereits lichterloh, die Front war bis auf wenige Kilometer an sie herangerückt. Dem damals zehnjährigen Arno Surminski erschien die Flucht, die sein Leben schlagartig verändern sollte, zunächst wie ein großes Abenteuer. Durch knirschenden Schnee lief er mit anderen Jungen seines Alters neben dem Treck her. Der Mond erleuchtete die Szenerie, der Nachthimmel glühte rot von den Feuersbrünsten, die in der Ferne loderten. Allmählich begriff auch der Zehnjährige den Ernst der Lage: »Ich hatte anfangs immer noch das Gefühl, alles würde gut gehen, Vater und Mutter machten das schon. Aber als ich sah, wie hilflos die Erwachsenen waren und dass auch sie selbst allem willkürlich ausgesetzt waren, da war ich sehr verunsichert.«

Jeden Abend haben wir in den Nachrichten gehört, dass die Front näher kommen würde. Eines Morgens dann, wir waren wie immer vom Internat zur Schule und in unsere Klasse gegangen, empfing uns der Hausmeister und sagte: »Es ist keine Schule mehr. Die Studienräte sind alle fort, ihr müsst sehen, wie ihr nach Hause kommt.« Ich habe meine Sachen gepackt und bin zum Bahnhof geeilt und wollte mir eine Fahrkarte kaufen, um nach Hause zu fahren. Aber es fuhren auch keine Züge mehr. Dann machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Am übernächsten Morgen, um neun, halb zehn, war ich zu Hause. Da war schon angespannt für die Flucht. Mein Vater hatte sich Pferd und Wagen besorgt. Und am Nachmittag, so um vier, sind wir dann losgetreckt. Heinz Grönling, damals vierzehn Jahre alt

Abschied nicht nur von der Heimat, sondern auch von der Kindheit. Ein abrupter, grausamer Abschied: Bruno Behrendt war gerade fünfzehn Jahre alt, als er seine geliebten Hunde erschießen musste. Der Junge hatte mit seinen Eltern friedlich in einem abgelegenen Forsthaus gelebt, da überraschte die Familie die Nachricht vom Zusammenbruch der Front. »Ich hatte nicht viele Spielkameraden. Meine drei Hunde waren mein Ein und Alles.« Die Augen Bruno Behrendts füllen sich noch heute mit Tränen, wenn er an den Abschied denkt. Doch auf die Flucht konnte der Junge seine treuen Spielgefährten nicht mitnehmen. Wie alle Flüchtlinge packte auch Familie Behrendt nur das Notwendigste ein – keiner wusste, wie lange die Flucht dauern würde und ob die Lebensmittelvorräte ausreichten. Ausgehungerte, verwilderte Hunde konnten für die Menschen auf der Flucht zur Gefahr werden. Das war auch dem Jungen bewusst, als er mit der Waffe des Vaters den schwersten Dienst seines Lebens antrat.

Die Flucht ins Ungewisse veränderte das Leben der Menschen plötzlich und schonungslos. Nichts war fortan mehr so, wie es gewesen war. Helmut Molinnus aus dem Memelland hatte im Sommer 1944 mit seinen Eltern schon einmal die Heimat verlassen. Damals war alles noch ruhig und organisiert verlaufen. Niemand brach in Panik auf, alle waren sicher, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Doch die vergangenen Monate hatten die Menschen eines Besseren belehrt. Jetzt, Mitte Januar 1945, hatten sie jede Hoffnung verloren. Helmut Molinnus, begeistertes Mitglied der Hitlerjugend, hatte heimlich seine Uniform auf die Flucht mitgenommen. Als die Mutter sie in einer Kiste entdeckte, wies sie ihren Sohn strikt an, sich der braunen Kluft so schnell wie möglich zu entledigen. Sollten die Sowjets das Kleidungsstück entdecken, sei die ganze Familie verloren. Der Junge war verzweifelt: Die Uniform war sein bestes Kleidungsstück. Als Bauernsohn war er besonders stolz auf sie gewesen, hatte sie geliebt und gepflegt. Nun suchte er dafür nach einem Versteck – denn verbrennen, das brachte der Fünfzehnjährige nicht übers Herz. In einem Misthaufen vergrub er sie schließlich. Für Helmut Molinnus brach damals eine Welt zusammen. Was für den Jungen oberstes Gesetz war, was ihm Halt und Kraft gegeben hatte, wie er sagt, das galt nicht mehr. Es sollte Jahre dauern, bis er einsah, dass sein Idealismus missbraucht worden war.

Auf der Flucht reichte die Solidarität nicht über die eigene Familie hinaus. Die Konkurrenz um Wasser, einen Schlafplatz oder warmes Essen war hart. Das Bisschen, das man bekam, wurde in der Familie aufgeteilt – man gab nichts ab. Siegfried Quandt, Jahrgang 1936

Endlos reihten sich die Flüchtlingswagen aneinander. Durch ganz Ostpreußen zog der große Treck – immer in Richtung Westen, doch wohin genau, das wusste keiner. Die Quecksilbersäule war mittlerweile auf Temperaturen von 25 Grad unter null gesunken. Hoher Schnee und heftiges Schneetreiben behinderten die Flucht. In den Schneemassen blieben die Räder der Wagen stecken, brachen die Achsen der Fuhrwerke. Auf eisglatten Straßen rutschten die Pferde immer wieder aus, Wagen stellten sich quer und behinderten die nachfolgenden Karossen. Die ohnehin schmalen Landstraßen und Alleen waren geteilt worden: Eine Seite musste für die Fahrzeuge der Wehrmacht freigehalten werden, die sich ihren Weg zur Hauptkampflinie bahnten. Dabei kam es immer wieder vor, dass schwere Lastwagen und Panzer die Flüchtlinge beiseite drängten, mitrissen und ihre Wagen schwer beschädigten. Die Soldaten aber hatten keine Zeit, sich um das Schicksal der Flüchtlinge zu kümmern. Die militärische Lage war katastrophal – überall waren die deutschen Linien durchbrochen worden, ertranken die Einheiten in der Flut der russischen Übermacht. Die Soldaten kämpften um ihr eigenes Leben – und waren überdies bestrebt, die Front solange zu halten, bis die Zivilbevölkerung halbwegs in Sicherheit war.

Trotzdem kam es vor, dass sie anhielten, um mit den erschöpften Flüchtlingen eine warme Suppe zu teilen oder Alte und Schwache einige Kilometer auf den Militärwagen mitzunehmen. Selbst altgediente Landser, die auf ihrem Weg durch Russland schon viel Leid gesehen hatten, packte das Mitleid beim Anblick des Flüchtlingselends. »Wir in unseren Militärfahrzeugen waren ja meist gegen die Witterung geschützt, aber die Flüchtlinge waren ihr hilflos ausgesetzt. Diese armen Leute, die damals mit den Trecks geflüchtet sind! Hinten am Wagen hingen vielleicht ein, zwei Kühe, vorne zogen ein paar magere Pferde. Ach, das war wirklich ein Elend!«, erinnert sich der ehemalige Panzerfahrer Fritz Busse.

Den Glauben an Gott hatte meine Mutter verloren. Sie sagte: »Wenn ein Gott mit ansehen kann, dass unschuldige Menschen so gestraft werden und so leiden müssen, dann kann es doch gar keinen Gott mehr geben.« Hannelore Thiele, Jahrgang 1932

Die grimmige Kälte forderte bald erste Opfer. Schon wenige Stunden nach ihrem Aufbruch waren viele Menschen durchgefroren und verzweifelt. Vor allem für Kleinkinder und alte Menschen war die Eiseskälte eine tödliche Gefahr. Ohne ausreichende Kleidung, geschwächt durch die Strapazen der Flucht und mangelnde Ernährung starben die Kleinen zuerst: Babys erfroren in den Armen ihrer Mütter, die sie verzweifelt an den Leib gepresst hielten. Mit der Wärme ihres eigenen Körpers versuchten sie, die Kinder vor der unerbittlichen Kälte zu schützen. Waren erst einmal alle Windeln durchnässt, keine trockenen Kleidungsstücke mehr zum Wechseln vorhanden, hatten die Jüngsten kaum noch eine Überlebenschance. Eine Spur des Grauens zog sich durch ganz Ostpreußen: Kinderwagen mit kleinen, steif gefrorenen Leibern standen am Wegesrand, in Lumpen gewickelte Kinderleichen ragten aus den Schneeverwehungen. Für eine Bestattung blieb selten Zeit. Im hart gefrorenen Boden wäre ohnehin jeder Versuch, ein Grab auszuheben, gescheitert. Rudi Powilleit, als 16-Jähriger im »Volkssturm« eingesetzt, erinnert sich mit Entsetzen an den Anblick einer jungen Mutter, die ihren Säugling verloren hatte: »Sie hatte das Baby auf dem Arm – das war erfroren, tot. Und die Frau ist richtig durchgedreht, sie schrie und weinte. Aber was sollten wir Jungs denn machen? Es war fatal!«

Das Elend der Evakuierten, die in den großen Trecks unendliches Leid erdulden, geht dem Führer sehr zu Herzen.... Aber was kann man dagegen machen? Wir tun, was man überhaupt tun kann; das andere ist Schicksal. Das deutsche Volk durchlebt jetzt die Probe seiner Bewährung, und die muss es bestehen, wenn es nicht überhaupt sein nationales Dasein verlieren will. Joseph Goebbels, Tagebucheintrag am 25. Januar 1945

Der Anblick von Leichen wurde für die Flüchtlinge bald zur grausamen Gewohnheit. Mit jedem Schritt auf ihrem qualvollen Weg in Richtung Westen stumpften viele Menschen ab, blieben Mitleid und Solidarität mehr und mehr auf der Strecke. Die eigene existenzielle Bedrohung machte nicht selten blind für das Leid des anderen. Siegfried Quandt aus Tharau, damals acht Jahre alt, hat die Teilnahmslosigkeit der Menschen auf der Flucht erlebt: »Hilfe gab es nur innerhalb der Familie oder einer Gemeinschaft, nicht aber einem anderen gegenüber. Kostbare Lebensmittel oder heißes Wasser wurden nicht geteilt. Jeder hat nur an sich gedacht.« Bei vielen waren schon nach ein paar Tagen die Vorräte knapp geworden. Nur die Umsichtigsten hatten damit gerechnet, dass die Flucht Wochen, ja Monate dauern könnte. Als die Gläser mit dem Eingemachten, die Fässer mit Gepökeltem zur Neige gingen oder wegen Überladung der Wagen am Wegesrand liegen bleiben mussten, tunkten die Flüchtlinge gefrorenes Brot in heißes Wasser, das sie aus geschmolzenem Schnee gewonnen hatten. Zum klirrenden Frost gesellte sich beißender Hunger. Manchmal gelang es, eine Kuh zu melken, denn überall zogen in jenen Tagen riesige Viehherden übers Land oder standen auf verschneiten Wiesen und Feldern und brüllten. Die Bauern hatten die Tiere bei der Flucht losbinden und ihrem Schicksal überlassen müssen. Der überwiegend ländlichen Bevölkerung, die mit den Tieren seit Generationen in Gemeinschaft lebte, war dieser Schritt sehr schwer gefallen. »Was das für die Menschen dort bedeutete, einen Stall mit zwanzig Kühen oder mit zehn Schweinen, Pferden, Hühnern allein zurückzulassen! Und das im Winter, wo sich die Tiere ja nicht selbst verpflegen konnten, wo die Wasserstellen zugefroren waren! Das war wirklich grausam«, fasst Arno Surminski rückblickend zusammen. Da die Tiere nicht gemolken wurden, schwollen ihre Euter an, eiterten und schmerzten. »Meine Mutter schnappte sich einen Behälter und rannte, wie viele andere Frauen auch, hinaus auf die Weide, um wenigstens ein Tier von seinen Qualen zu erlösen«, schildert Ida Slomianka die Szenerie. »Das Brüllen der Kühe war ganz unheimlich und machte uns alle furchtbar nervös.« Trotz einiger Tropfen Milch führte die Mangelernährung bei vielen zu Schwächeanfällen und Magen-Darm-Krankheiten. Besonders ältere Menschen waren den Strapazen der Flucht oft nicht gewachsen. Im hinteren Teil der Panjewagen unter Decken zusammengekauert, starben sie meist lautlos und unbemerkt. Den Angehörigen blieb nichts anderes übrig, als die Toten notdürftig im Schnee zu verscharren und ein kurzes Gebet zu sprechen, bevor sie der endlose Strom der Flüchtlinge wieder verschluckte. Auch andere Kolonnen zogen nun über die vereisten Straßen Ostpreußens: Angesichts des bevorstehenden Untergangs wurden in aller Eile Konzentrationslager geräumt und die geschwächten Häftlinge auf Todesmärsche geschickt. Martin Bergau, damals 16, wurde Zeuge eines solch grausamen Zuges. Eines Nachts wurde der Junge von lauten Stimmen, Schüssen und Gewehrfeuer geweckt. Er lief nach draußen, um zu sehen, was geschehen war. Obwohl es noch dunkel war, erkannte er in dem vom Schnee reflektierten Licht eine lange Kolonne, die sich von Süden her durch den Ort langsam fortbewegte. Dann stürzte eine in Lumpen gekleidete Frau in den Vorgarten. Als sie ihn erblickte, machte sie kehrt und rannte wieder auf die Straße zurück – plötzlich fielen Schüsse. Die Frau brach tot zusammen. Martin Bergau wurde von seinem Vater ins Haus zurückgezerrt. Es sei nur ein Transport von Kriegsgefangenen, erklärte er ihm. Doch der Junge hatte längst erkannt, dass es keine Männer waren, die sich dort wimmernd und keuchend über die Straße schleppten: Es waren jüdische Frauen in gestreifter Häftlingskleidung, die von SS-Wachen brutal vorangetrieben wurden. Als der Junge am nächsten Morgen auf die Straße trat, war der Spuk längst vorüber. An der Stelle aber, an der die Frau niedergeschossen worden war, fand er blutige Spuren im Schnee.

Es waren ja nicht nur Deutsche, die auf der Flucht waren, es gab auch Gefangenentrecks, die zu Fuß unterwegs waren, wie die russischen Kriegsgefangenen, die aus Königsberg abtransportiert wurden. Diese armen Menschen hatten weder etwas zu essen noch ein Dach über dem Kopf. Wir hatten ja wenigstens unseren Verdeckwagen, aber die hatten nun gar nichts. Hannelore Thiele, Jahrgang 1932

Als um den 23. Januar 1945 die Nachricht durchsickerte, die Russen hätten die Küste bei Elbing erreicht und damit den Landweg nach Westen abgeschnitten, beschlossen viele Flüchtlinge, wieder umzukehren. Auch der Treck, der von den Dönhoff’schen Gütern aufgebrochen war, sah in der Flucht keinen Sinn mehr. »Wenn wir doch unter die Russen fallen, dann schon lieber zu Hause«, lautete der Beschluss. Die Leute glaubten, dass die Sowjets sie in Ruhe lassen würden, wenn sie bereit wären, für sie zu arbeiten. Wie sich bald herausstellen sollte, war dies eine Illusion.

Marion Gräfin Dönhoff hingegen versuchte, sich allein mit ihrem Pferd bis in den Westen durchzuschlagen. Adelige konnten von den Sowjets keine Gnade erwarten. »Kein großer Abschied«, schrieb die Gräfin Jahre später in ihren Erinnerungen. Doch es war ein zweiter schmerzlicher Abschied für sie – binnen weniger Tage erst von der Heimat, dann von den ihr anvertrauten Menschen. »Ich war ganz verzweifelt, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte«, gibt die Gräfin heute zu. »Sollte ich meine Leute im Stich lassen? Das war doch unmöglich!« Als sie ihr Pferd schließlich doch in Richtung Westen lenkte, versuchte sie jeden Gedanken an ihre Schutzbefohlenen zu verdrängen. Tagelang ritt sie im Schneckentempo des dahinkriechenden Flüchtlingsstroms, der zeitweise nur zwei bis drei Kilometer in der Stunde zurücklegte.

Auf den Gutshöfen lebten überwiegend Wohlhabende. Die meisten von ihnen hatten aus der UdSSR verschleppte Menschen beschäftigt und behandelten sie wie Sklaven. Wir haben beobachten können, wie anderthalb Dutzend unserer befreiten Bürger eine Züchtigung ihres Herren vornahmen. Sie führten ihn aufs Feld außerhalb des Gutshofs und ließen ihn nackt und barfuß im Kreis laufen und spornten ihn mit der Peitsche an. Eine moralische Rache für unmenschliche Behandlung. Grigorij I. Micheenko, damals Soldat der Roten Armee

Stundenlang mussten die Menschen in der Kälte ausharren, mit blau gefrorenen Füßen, die entsetzliche Schmerzen verursachten. Der Schnee wirbelte durch die Luft, der eisige Wind riss an ihren Mänteln und Kleidern. Wie ein riesiger Lindwurm sah der Treck aus, der ganz Ostpreußen im weißen Schleier des Morgennebels durchmaß. Den Versuch, auf einen Acker auszuweichen, den Treck links oder rechts zu überholen, gaben die meisten nach kurzer Zeit wieder auf: In den Schneeverwehungen sanken die Pferde bis zum Bauch ein. Ein Fortkommen war unmöglich. Doch plötzlich, nach tagelangem Geschiebe und Gedränge auf engstem Raum, riss der Strom der Flüchtlinge auf einmal ab. Kurz vor Marienburg, an der großen Eisenbahnbrücke über die Nogat, entkam die Gräfin dem »Fleischwolf« und befand sich unversehens allein in der endlos weiten Schneewüste: »Weit und breit nichts. Diese völlige Einsamkeit war eigentlich noch erschreckender als der grauenhafte Strom vorher«, erinnert sich Marion Dönhoff. Ein seltsam schlürfendes, rhythmisches Klopfen weckte schließlich ihre Aufmerksamkeit. Über die Brücke schleppten sich drei erbarmungswürdige Gestalten in Uniform: Verwundete Soldaten, die sich humpelnd auf den Weg gemacht hatten, ihr Leben zu retten. Das Lazarett, aus dem sie kamen, hatte den Kranken freigestellt, zu gehen und sich aus »eigener Kraft« in Sicherheit zu bringen. Von etwa eintausend Verwundeten waren nur noch diese drei dazu in der Lage gewesen. Wie lange wohl würde ihre Kraft noch ausreichen, um gegen Schnee und Kälte anzukämpfen? »Für mich war dies das Ende Ostpreußens: drei todkranke Soldaten, die sich über die Nogat-Brücke nach Westpreußen hineinschleppten. Und eine Reiterin, deren Vorfahren vor sechshundert Jahren von West nach Ost in die große Wildnis jenseits dieses Flusses gezogen waren und die nun wieder nach Westen zurückritt – sechshundert Jahre Geschichte ausgelöscht«, bilanzierte Marion Gräfin Dönhoff traurig in ihren Erinnerungen.

Die Menschen, die umgekehrt waren und den Sowjets in die Hände fielen, hatten keineswegs das bessere Los gewählt. Das wenige, das die Flüchtlinge noch besaßen, wurde ihnen von den Rotarmisten genommen. Uhren, Schmuck und Wertgegenstände verschwanden in den Taschen von Stalins Soldaten. In den meisten Fällen blieb es nicht allein bei Plünderungen. Zivilisten wurden wahllos erschossen, Frauen und Mädchen brutal vergewaltigt. Auch Helga Schneider aus Rhein, damals fünfzehn Jahre alt, musste die schreckliche Tortur immer wieder über sich ergehen lassen. Eine Mutter, die versuchte, ihre erst dreizehnjährige Tochter vor den Vergewaltigungen zu schützen, wurde ohne Zögern von den Rotarmisten erschossen. Danach töteten die Soldaten auch das Mädchen mit einem Kopfschuss. Als Helga Schneider sich wehrte, wurde sie an den Füßen gepackt und kopfüber eine Treppe hinabgezerrt. Auf jeder Stufe schlug ihr Schädel hart auf – bis sie endlich das Bewusstsein verlor.

Die Angst vor den Russen saß den Menschen auf der Flucht ständig im Nacken. Die Familie von Arno Surminski geriet mitten auf einem Acker plötzlich unter Beschuss. An den Schenkeln der Pferde lief Blut hinab. Die Tiere waren getroffen worden, der Treck musste anhalten. Die Flüchtlinge rechneten mit dem Schlimmsten, als sich ihnen russische Soldaten näherten. Vater Surminski hatte als Bürgermeister noch das Parteiabzeichen am Revers stecken und eine Pistole in der Jackentasche – Grund genug, um auf der Stelle erschossen zu werden. Ein junger Offizier trat an den Wagen heran, Surminskis Mutter beeilte sich, eine halbe Flasche Rum hervorzuholen: Der »Friedensrum für den Endsieg«, den sie fünf Jahre lang gehortet hatte. Wortlos ließ der Offizier die Flasche in seine Tasche gleiten, nahm dem Vater das Abzeichen ab, schaute es sich belustigt an und steckte es schließlich ebenfalls ein. Die Pistole des Mannes warf er in hohem Bogen in den Schnee – die Flüchtlinge atmeten auf. Vorläufig schienen sie gerettet.

Weniger friedlich verlief die erste Begegnung mit Soldaten der Roten Armee für den damals achtjährigen Gerd Scheffler und seinen fünf Jahre älteren Bruder Emil, beide aus Sodargen. Die Jungen hatten sich nur für einen Moment vom Wagen ihrer Eltern entfernt, um auszutreten, als ein russischer Vorstoß begann. Von umherfliegenden Granatsplittern und Kugeln getroffen, stürzten die beiden Kinder zu Boden. Halb bewusstlos spürte Gerd Scheffler, der aus über zwanzig Wunden stark blutete, wie ihm russische Soldaten die Stiefel auszogen und auch nach seinem Mantel griffen. Verzweifelt schrie der Junge auf, bis die Sowjets schließlich von ihm abließen. Stundenlang blieb Gerd Scheffler hilflos in der Kälte liegen – neben ihm der schwer verletzte Bruder, der vor seinen Augen verblutete. »Mir ist so schrecklich kalt«, waren die letzten Worte des dreizehnjährigen Emil, die sein Bruder bis heute nicht vergessen hat. Als deutschen Einheiten Stunden später ein Gegenangriff gelang, fanden sie die beiden Jungen. Für Emil kam jede Hilfe zu spät, Gerd Scheffler aber überlebte.

Man nahm gar nicht mehr die vielen Leichen wahr, weil der eigene Kummer und die eigenen Sorgen blind dafür machten. Stephanie Lingk, flüchtete über das Haff

Näherte sich das rasselnde Geräusch russischer Panzerketten, brach unter den Flüchtlingen im Treck Panik aus. Wem es nicht rechtzeitig gelang, die Straße zu verlassen, in einem Graben Deckung zu suchen, wurde gnadenlos niedergewalzt. Die schweren Fahrzeuge begruben unter sich Karren und Fuhrwerke, zermalmten Menschen und Pferde. Helga Schneider, die mit ihren Eltern im Auto geflohen war, sind die entsetzlichen Bilder bis heute ins Gedächtnis gebrannt. Ihr Vater hatte sich wegen der verstopften Landstraßen dazu entschlossen, die Autobahn zu benutzen. Doch auch hier war kein Fortkommen möglich, stand Fuhrwerk an Fuhrwerk. Als russische Panzer heranrollten, gab es für die Menschen kaum mehr ein Entrinnen. Dem Vater war es im letzten Moment gelungen, das Auto in einen Graben zu lenken, als auch schon die Gewehrsalven über den Köpfen der Familie einschlugen. »Die Soldaten«, so Helga Schneider, »schossen wahllos in die Menschenmasse.« Als der Trupp vorbeigezogen war, trat eine unheimliche Stille ein. Die Familie wagte es schließlich, ihre Deckung zu verlassen und die Böschung hochzuklettern. Der Anblick verschlug ihnen den Atem: Zerquetschte Leiber und Fuhrwerke übersäten die Straße, Blut und Schmutz hatten die weiße Winterlandschaft in einen wahren »Alptraum« des Grauens verwandelt. Aus einem zerschmetterten Wagen drang leises Wimmern: Eine junge Frau hatte die Katastrophe überlebt – ihre vier kleinen Kinder aber, die sich im Inneren des Wagens befunden hatten, waren von den russischen Panzern zermalmt worden.

Nachdem der Fluchtweg über das Land abgeschnitten war, versuchten Hunderttausende über das Eis des Haffs zu fliehen, um auf der Frischen Nehrung zu den Hafenstädten Danzig und Pillau zu gelangen. In den letzten Januarwochen war das Eis noch stark genug, die schwere Last zu tragen. Doch als die Kälte Anfang Februar immer mehr nachließ, erwuchs für die Flüchtlinge eine neue Gefahr: Die Eisdecke schmolz und wurde mit jedem neuen Tag dünner und dünner. Im Rücken der Flüchtlinge kämpfte die 4. Armee verzweifelt, um Zeit und Raum für die Menschen zu gewinnen, die sich in ihren Trecks auf die Küste zubewegten. In Königsberg, der einst so schönen Hauptstadt Ostpreußens, war unterdessen ein unerbittlicher Festungskampf entbrannt. Seit den letzten Januartagen wurde die Stadt von russischen Truppen belagert. Das Leben in der »Festung« verschlechterte sich für die Menschen täglich – verängstigt hockten sie in den Kellern der Häuserruinen, die seit den schweren Luftangriffen im Sommer 1944 wie schwarze Zahnstümpfe bedrohlich in den Himmel ragten.

Alles strömte zurück nach Königsberg: Flüchtlinge überall, Elend überall, Tote, Verwundete zu Tausenden, zu Hunderttausenden. Es herrschte vollkommenes Durcheinander. Siegfried Kabbeck, aus Königsberg, Jahrgang 1928

Ende Januar hatten die letzten Züge Königsberg in Richtung Westen verlassen. Auf den Bahnhöfen hatten sich dramatische Szenen abgespielt. Verzweifelt drängten sich die Menschen auf den Bahnsteigen, um in einen der wenigen Eisenbahnwaggons zu gelangen. Mütter hielten ihre Kinder dicht an sich gepresst, um sie in der wogenden Menge nicht zu verlieren. Auch die achtjährige Betty Götzelmann klammerte sich an die Hand ihrer Mutter, als sie plötzlich losgerissen und in die Höhe gehoben wurde. Wie viele andere Kinder wurde sie hastig durch ein Abteilfenster ins Zuginnere geschoben, denn die Türen waren von der drängenden Menschenmasse vollkommen versperrt. Die verwirrten Kinder brachen im Zug in Tränen aus. Allein, ohne ihre Mütter, lagen sie wie Heringe aneinander gepresst in den engen Fluren und Abteilen. Als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, brach auf den Bahnsteigen Panik aus: Verzweifelt versuchten Mütter, deren Kinder im Zug gelandet waren, noch einen Platz zu ergattern, klammerten sich von außen an die Waggons oder kletterten auf die Dächer des fahrenden Zuges. Viele verließ jedoch auf der Tage dauernden Fahrt durch Eiseskälte und heftige Schneestürme die Kraft – ihre blau gefrorenen Finger rutschten ab, sie verloren den Halt und stürzten die Böschung hinab.

Unterwegs wurden die Züge immer wieder von Jagdbombern beschossen. Dann stoppten die Wagen auf offener Strecke, schreiend stürzten die Menschen aus den Waggons, um sich irgendwo draußen, in der weißen Winterlandschaft eine Deckung zu suchen. Betty Götzelmann erlebte alles wie im Fieberwahn. Nur schemenhaft sind ihr die schrecklichen Erlebnisse in Erinnerung geblieben. Völlig apathisch, voller Angst um ihre Mutter, von der sie nicht einmal wusste, ob sie den Zug in Königsberg bestiegen hatte, verbrachte sie die scheinbar endlose Fahrt. Als der Zug endlich in Berlin stoppte und sie völlig entkräftet auf den Bahnsteig taumelte, erblickte sie in der Menschenmenge ein blasses, aber strahlendes Gesicht: das Gesicht ihrer Mutter.

Ostpreußens Gauleiter Erich Koch, der die Evakuierung der Bevölkerung bis zuletzt verhindert hatte, nahm am Todeskampf Ostpreußens wenig Anteil. Er hatte sich rechtzeitig in seinen Bunker in Neutief auf der Frischen Nehrung verkrochen. Von dort aus bereitete er heimlich seine Flucht vor. Zwei Eisbrecher, die »Pregel« und die »Ostpreußen«, sowie ein »Fieseler Storch« standen stets bereit, um den Gauleiter in Sicherheit zu bringen. Aus seinem Quartier auf der Nehrung schickte er Funksprüche nach Berlin, die den Anschein erweckten, der Gauleiter halte in Königsberg die Stellung. In der Provinzhauptstadt selbst bestimmten Kochs Funktionäre über Leben und Tod. Der »Volkssturm« unterstand noch immer dem Kommando der Parteiführung – und die predigte auch angesichts der russischen Übermacht noch Parolen vom »Endsieg«. »Der bolschewistische Soldat ist viel schlechter als der deutsche. Vor ihm zurückzugehen oder sich zu ergeben ist sinnlos und ein Verbrechen. Gegen Deserteure, Feiglinge und Schädlinge wird schärfstens vorgegangen. Wer sich hinten herumdrückt und nicht kämpfen will, muss sterben.« Keine leere Drohung – entlang den Alleen, über die die Flüchtlingsströme nach Westen zogen, hingen die Leichen von hunderten, ja tausenden von Soldaten, die es gewagt hatten, ihre ohnehin längst verlorenen Stellungen aufzugeben. Die handgeschriebenen Schilder, die man den Toten um den Hals gebunden hatte, prangerten sie als »Deserteure« und »Verräter« an.

Der Bahnhof war überfüllt, die Bahnsteige und Warteräume waren voll mit Frauen und Kindern. Es war im Januar, im strengsten Frost. Sie saßen auf dem Boden und warteten auf einen Zug. Ein Soldat fragte einen Bahnbeamten, wann denn ein Zug kommen würde. Der antwortete: »Es fährt keiner mehr.« Irmela Ziegler, Jahrgang 1926

Überall in der Stadt hingen erschossene Soldaten an den Bäumen, mit einem Schild auf der Brust: »Ich bin zu feige zu kämpfen.« Junge Leute von 17,19 Jahren und auch ältere. Winfried Hinz, Jahrgang 1927, über die Situation in der Festung Königsberg

Der Mann, der Ostpreußen wirklich verraten hatte, saß indes nur wenige Kilometer entfernt in seinem Bunker. Als in der Nacht zum 23. April die Nachricht eintraf, dass auch die Hafenstadt Pillau spätestens in zwei Tagen in russische Hände fallen würde, entschied sich Erich Koch zur Flucht. Die »Ostpreußen«, der größte Eisbrecher der Königsberger Flotte, lag seit Wochen im Pillauer Hafen bereit. Nun gab der Gauleiter Befehl, ihn und seine Männer an Bord zu nehmen. Zuvor hatte er sich davon überzeugt, dass die Funkverbindung nach Berlin vom Schiff aus gehalten werden konnte. Auch jetzt noch wollte er seinem »Führer« die Komödie vom »heroischen Endkampf in Königsberg« vorspielen. Erhard Klement, dessen Vater als Erster Ingenieur an Bord der »Ostpreußen« beschäftigt war, befand sich auf dem Schiff, als der Eisbrecher in Hela anlegte. Koch war mit seinem Stab von Neutief auf die Halbinsel geeilt, um hier unbemerkt an Bord zu gehen. Doch zuvor hatte er den Kapitän der »Ostpreußen« angewiesen, die Zivilisten, die sich noch auf dem Schiff befanden, an Land zurückzulassen. Niemand außer der Schiffsmannschaft sollte Zeuge der heimlichen Flucht des Gauleiters werden. Der Erste Ingenieur und der Kapitän der »Ostpreußen« boten Erich Koch die Stirn:

Koch hat dem »Führer« vorgelogen, er sei weiter bei der kämpfenden Truppe in Königsberg und die Truppe sei feige und wolle nicht mehr kämpfen. Dabei saß er in einem Bunker in Neutief, an der Spitze der Frischen Nehrung gegenüber von Pillau. Frauen, die bei einem Luftangriff im Bunker Zuflucht suchten, ließ er durch die SS vertreiben. Koch war durch und durch ein Verbrecher. Hanns-Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Sollten die Zivilisten das Schiff verlassen müssen, würde der Eisbrecher nicht in See stechen. Koch gab schließlich klein bei. Die Zeit drängte und der Gauleiter wollte jegliches Aufsehen vermeiden. Am 27. April gegen 5.30 Uhr morgens begab er sich endlich mit seinem Stab an Bord. Die Männer verschwanden sofort unter Deck. Erhard Klement und sein älterer Bruder, die im Maschinenraum tief unten im Bauch des Schiffs schliefen, hörten die eiligen Schritte der Männer, die über ihnen nervös hin und her liefen. Nach mehreren Tagen Irrfahrt auf der Ostsee und einem gescheiterten Versuch, an der Küste Dänemarks anzulegen, machte die »Ostpreußen« schließlich am 7. Mai 1945 in Flensburg fest – einen Tag vor der Kapitulation. Erich Koch und sein Gefolge verließen das Schiff, wie sie gekommen waren: klammheimlich und unbemerkt. Zuvor hatten die Männer ihre Uniformen gegen zivile Kleidung getauscht. Mit falschen Papieren tauchte der Gauleiter unter, um sich der Verantwortung für seine Verbrechen zu entziehen. Erst im Mai 1949 wurde Erich Koch von britischen Sicherheitskräften verhaftet. Als »Rolf Berger« war er in Hasenmoor bei Hamburg untergekommen. Die Briten übergaben den ehemaligen Gauleiter Ostpreußens schließlich der polnischen Regierung. Am 9. April 1959 wurde er von einem Gericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt, die Koch bis zu seinem Tod im Jahre 1986 im polnischen Prominentengefängnis Wartenburg absaß. Verschiedene Meldungen, wonach der ehemalige Gauleiter Verwandtenbesuche empfangen, Radio hören, deutsche Zeitungen beziehen und etliche Privilegien genießen durfte, bleiben bis heute unwidersprochen.

Die letzten Tage Ostpreußens waren die traurigsten, die das schöne und stolze Land je gesehen hatte. Zweieinhalb Millionen Menschen auf der Flucht, gefangen im endlosen Strom der Trecks, zusammengepfercht in den Hafenstädten Pillau und Danzig. Wer die Frische Nehrung lebend erreicht und das Glück hatte, auf eines der übervollen Schiffe zu gelangen, die nun täglich in Richtung Westen ablegten, glaubte sich gerettet. »Man holte Luft und dachte: Das Leben geht weiter, es ist doch noch nicht zu Ende«, erinnert sich ein Flüchtling an den Abschied von Ostpreußen. Doch die Menschen irrten. Für Hunderttausende war mit dem Verlassen der Heimat der Leidensweg noch nicht beendet. Auch im »Reich« gerieten sie in die erbarmungslose Mühle des Krieges, wurden von russischen Truppen gefasst oder starben in Lagern an Hunger und Typhus. Davon aber ahnten die Menschen nichts, als sich die Anker der Schiffe lichteten.

Oben auf dem Schiff, auf Deck, standen viele »Goldfasane«. So nannten wir immer die Politleute mit ihren braunen Mützen und den vielen Goldabzeichen. ... Ich weiß nicht, wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Waren sie doch diejenigen gewesen, die zum Ausharren aufgerufen hatten. Walter Bremer, als Soldat 1945 in Ostpreußen verwundet

Wir haben anderen Schreckliches zugefügt im Krieg, aber wir haben auch gebüßt: Meist haben Unschuldige gebüßt für das, was andere anderen zugefügt hatten. Daher lasst uns nicht aufrechnen, lasst uns überwinden. Erich Mende (†), Minister a.D., kämpfte als Offizier in Ostpreußen

Die große Flucht

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