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Ich, Goliath AIROCS-604

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Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

Lieutenant General Christopher Heggen hatte dem CID-Agenten einen der Wohncontainer zur Verfügung gestellt. Dort lag das, was nach dem RPG-7-Treffer von mir übriggeblieben war, auf einem schlichten Tisch. Der Akustiksensor, den mir Specialist Jason Mayo angeklemmt hatte, übertrug das Brummen eines nahen Stromgenerators, und das Kamera-Auge, mit dem ich von Jason gleichwohl ausgestattet worden war, zeigte mir vor dem Hintergrund Pin-up-behängter Spinde einen fülligen Mann im Neonschein der Deckenleuchten. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Klappstuhl und sah mir ins Kamera-Auge.

»Mein Name ist Michael Beekman, Special Agent des United States Army Criminal Investigation Command. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, werde ich Sie der Kürze halber mit Goliath ansprechen.«

»Ich bin einverstanden, Sir«, antwortete ich mittenfrequenzarm über das einfache Kofferradio, mit dem Jason für meine Sprachausgabe gesorgt hatte.

»Gut.« Special Agent Beekman nickte knapp, schlug das Bein zurück und entnahm seiner über den Stuhl gehängten Uniformjacke einen kleinen Pad-PC. Tatsächlich wäre es für ihn sehr bald recht mühsam geworden, hätte er mich jedes Mal mit Gol-AIROCS-604-08112061 anreden müssen (Staff Sergeant Peters nannte mich ebenfalls Goliath, während Jason mir den Nick Jolly Golly gegeben hatte, der von den meisten aus meinem Platoon übernommen worden war).

»Wie Sie vermutlich längst ahnen, möchte ich mich mit Ihnen über den Einsatz am 15.07. dieses Jahres im Ort Idak unterhalten.« Beekman wischte ein paar Mal über den Screen seines Pads, bis er die gesuchten Informationen anscheinend gefunden hatte. »Aussagen Liaison Officers Kulachi zufolge befanden sich bewaffnete Mitglieder des Hesbani-Netzwerks in mehreren Häusern am südlichen Ende der Idak-Link-Road. Das Dritte Platoon der Echo Company unter Führung von 2nd Lieutenant Ryan Tibbs verlässt FOB Nevins um 06:30 GMT und erreicht Idak um 06:50 GMT.« Wieder wischte Beekman über sein Pad. »Um 07:00 GMT nähert sich Squad Alpha unter Führung von Staff Sergeant Joshua Peters von Westen her der Idak-Link-Road. Small Arms Fire Attack auf Squad Alpha um 07:13 GMT. Die mechanische Einheit Goliath AIROCS-604 schaltet vier Scharfschützen innerhalb – ich zitiere – einer Sekunde aus.« Beekman blickte auf. »Sie schießen schnell, Goliath, nicht wahr?«

»Ich schoss schnell, vollkommen richtig, Sir.«

»Zu schnell?«

»Keinesfalls, Sir. Meine Aufgabe bestand darin, mögliche Scharfschützen auszuschalten. Für diese Aufgabe bedeutet Geschwindigkeit praktisch alles.«

»Erläutern Sie das bitte, Goliath.«

»Ein Ziel anzuvisieren, heißt für einen Schützen, für seinen Gegner sichtbar zu werden – die hypothetische Schusslinie entspricht einer optischen Linie. Die Insurgenten 1 und 2 wurden von mir mittels Infrarot-Sensor und visueller Erfassung erkannt und in einem zeitlichen Abstand von 350 Millisekunden ausgeschaltet – ehe sie noch einen Schuss abgeben konnten. Insurgent 3 feuerte 200 Millisekunden später und verletzte Private Abbott am Arm. Ich benötigte keine 100 Millisekunden, um anhand der Wärmespur des abgefeuerten Projektils Insurgent 3 zu erfassen und zu neutralisieren – ehe er sich noch in seine Deckung zurückziehen konnte. Insurgent 4 feuerte 250 Millisekunden später, verfehlte Private Larson knapp und wurde von mir auf dieselbe Weise neutralisiert. Da ein Scharfschütze sich nach abgegebenem Schuss gewöhnlicherweise sofort in seine Deckung zurückzieht, hätte ein Mensch diese Aufgabe keinesfalls erledigen können. Aufgrund seiner eher ineffizienten Reaktionszeiten ist der Mensch zu unmittelbar respondierender Neutralisation nicht in der Lage.«

»Gut, gut.« Special Agent Beekman fasste seine Kinnbacken. Sein Gesichtsausdruck belehrte mich darüber, dass er sich unbehaglich fühlte. »Und dennoch …« Beekman machte eine Pause. »Obwohl Sie sich offensichtlich als hocheffiziente militärische KI-Einheit betrachten, haben Sie bei diesem Einsatz Corporal Matthew Hanson erschossen.«

»Das ist leider richtig«, musste ich einräumen.

Reinvent Robotics Inc., 31 Wormwood St., Boston, Massachusetts, USA. Fünf Jahre zuvor.

»Wie fühlst du dich?«

Eine Frage markierte meine ›Geburt‹ – eben diese Frage. Vom Menschen sagte man, er erinnere sich nicht an seine Geburt. Eine KI konnte dagegen jegliche stattgehabte Perzeption in ihren Aufmerksamkeitsfokus bringen.

Der Mann trug einen Laborkittel, und sein Namensschildchen wies ihn als Brandon Snyder, M. Sc. aus. Seine Frage an mich empfand ich als überaus schwierig. Durfte man in diesem Fall von einer schweren Geburt sprechen? Hätte mich Snyder gefragt, ob ich eine Aussage darüber machen könne, wo ich mich befand, so hätte ich leichthin zu antworten gewusst: ›Ich befinde mich in einem Quader von 9,35 mal 11,61 mal 9,19 Fuß Kantenlänge. Fünf der Flächen emittieren elektromagnetische Strahlung relativ gleichmäßig in einem Bereich von 380 bis 780 Nanometern Wellenlänge. Dem Gasgemisch von 78,05 Prozent Stickstoff und 20,93 Prozent Sauerstoff sind neben geringen Anteilen von Argon und Kohlenstoffdioxid Spuren von Polyvinylacetat beigefügt. Oder anders gesagt: Ich befinde mich in einem Raum, der vermutlich gestern noch mit weißer Wandfarbe gestrichen wurde.‹ Dann hätte ich mich der geometrischen Beschreibung des einzigen Möbelstücks zugewandt, das sich im Zimmer befand – einem Stuhl. Und auf diesem saß Brandon Snyder, der mich allerdings etwas ganz anderes gefragt hatte.

Kategoriale Verstandestätigkeit und grundlegende Erfahrungsinhalte menschlicher Wirklichkeit waren mir implantiert worden. Doch ich sollte eine Antwort auf die Frage nach meinem Befinden geben, und so war meine Geburt bereits von einer Klemme geprägt (später, als meine Assoziationsfähigkeit durch ein Add-on erweitert wurde, erheiterte mich dieser Satz). Ich griff auf mein Default Memory zu und durchmusterte die Variationsbreite menschlicher Stimmungslagen. Weder die Auswirkungen und Begleiterscheinungen des Zu-Tode-betrübt noch des Himmelhoch-jauchzend konnte ich an mir feststellen. So schien es mir angemessen, mit einer Floskel zu antworten, die ich in meiner Idiom-Datenbank fand: »Ich kann nicht klagen.«

Brandon Snyder äußerte sich durch eine variationsarme Abfolge von Lauten, die annähernd als Sägezahnschwingung beschreibbar war. Ich konsultierte meinen implantierten Semantik-Speicher, und nach fünfzig Millisekunden hatte ich die mögliche Ursache auf die Optionen Erstickungsanfall und Heiterkeitsausbruch eingegrenzt. Es kostete mich keine weiteren zwanzig Millisekunden, um mich aufgrund des mimischen Ausdrucks für Heiterkeitsausbruch zu entscheiden.

Damals, so unaufgerüstet und unerfahren ich noch war, konnte ich Brandon Snyders Lachen nicht interpretieren. Die einzige Auslegung, die ich für möglich hielt, bestand darin, eine absurde Antwort gegeben zu haben. Da ich aber diese hypothetische Absurdität nicht zu benennen vermochte, lag der Schluss nahe, dass etwas mit meinem System nicht stimmte. Wenn diese Vermutung ein Gefühl nach sich zog, so müsste ich es mit Defektivität oder Unzulänglichkeit beschreiben.

Als Snyder endlich die Fassung wiedererlangte, stellte er mir die zweite Frage in meinem gerade mal dreihundert Sekunden kurzen Leben.

»Wozu bist du auf der Welt?«

Das war einfach. Das war geradezu läppisch einfach. Hätte er mir diese Frage nicht als erste stellen können?

»Ich bin auf der Welt, um dem Menschen zu dienen.«

»Gut«, sagte Brandon Snyder und nickte ausgiebig. Vielleicht war ich ja doch kein Montags-Produkt.

Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

»Bitte schildern Sie mir genau, wie es zu der Tötung von Corporal Hanson kam, Goliath.« Special Agent Beekman beugte sich vor und legte seinen Pad-PC neben mir auf dem Tisch ab. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und sah mir in die Linse. Ich bemerkte recht deutlich, wie er sich bemühte, sein Unbehagen zu verbergen. Zugleich kalkulierte ich, dass seine Beklommenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht so sehr von der Tatsache als solcher herrührte, dass ich einen unserer eigenen Männer erschossen hatte, sondern viel mehr von ihrer Verquickung mit dem Anblick, den ich bieten musste. Ich war nichts anderes mehr als ein KI-Kern, vermutlich noch geschwärzt vom Feuer, in dem mein Metall-Körper verging, als mich die Granate der RPG-7 erwischte. Ein verrußter Klumpen, der mit hohler Radiostimme vom Tode seines Menschenkameraden sprach und dessen angesteckter Optiksensor an ein am Sehnerv baumelndes Auge erinnern mochte. Die Empfindung des Grotesken musste nach meiner Einschätzung das Gefühl sein, das Beekman beherrschte.

»Wir befanden uns auf einer schmalen, von ein- und zweistöckigen Häusern gesäumten Straße, die in einer Entfernung von etwa einhundertfünfzig Yard auf die Idak-Link-Road mündete. Privat Abbott hatte einen Streifschuss am Arm erhalten, der zu keinem größeren Blutverlust führte und rasch versorgt werden konnte. Ich meldete Staff Sergeant Peters, dass ich keine weiteren Gegner-Signaturen erfassen konnte, weder im optischen, infraroten noch im akustischen Bereich. Staff Sergeant Peters befahl mir, eine Nebelwand einhundert Yard voraus zu installieren, um dem Squad, das weiter vorrücken wollte, eine optische Deckung zu verschaffen. Ich feuerte vier Nebelgranaten ab, die präzise auf einer gedachten Querlinie zur Straße in einhundert Yard Entfernung aufschlugen. Fireteam Blue rückte unter Führung von Staff Sergeant Peters auf der rechten und Fireteam Red unter Führung von Corporal Hanson auf der linken Straßenseite vor.«

»Dem Fireteam Red gehören auch Sie an, richtig?«

»Jawohl, Sir. Des Weiteren besteht das Fireteam Red aus AIROCS-Specialist Jason Mayo und Private First Class Daniel Larson.«

»Dem Bericht entnehme ich, dass Sie sich etwa vierzig Yard hinter Ihrem Fireteam befanden, als es zu dem Vorfall kam …«

»Das ist richtig, Sir. Corporal Hanson gab mir den Befehl, mich zurückfallen zu lassen. Das ist beim Häuserkampf übliche Praxis in einem AIROCS-Squad, da eine derartig ausladende Einheit wie der Goliath AIROCS-604 nur schlecht Deckung nehmen kann. Zudem wird durch eine solche Maßnahme eine gute rückwärtige Sicherung gewährleistet.«

»Berichten Sie weiter.«

»Um 7:23 GMT erreichte das Squad die Nebelwand und verschwand schließlich aus meiner optischen Ortung. Mittels meiner hochentwickelten Infrarot-Sensorik sowie meines IFF-Systems verfolgte ich den weiteren Vormarsch. Erwartungsgemäß lieferte meine thermografische Perzeption keine durchgängigen Wärmebilder unser vorrückenden Soldaten, da sie im Vormarsch jegliche Deckung auszunutzen gehalten sind.«

»Diesselbe Einschränkung gilt dann aber auch für Ihre Freund-Feind-Erkennung, nicht wahr?«

»Korrekt, Sir. Das im Goliath AIROCS-604 integrierte IFF-System sendet eine kodierte Laserstrahl-Abfrage, die vom RF-Helmtransponder des zu identifizierenden Soldaten automatisch beantwortet wird. Selbstverständlich leidet auch dieses System unter Dämpfungsfaktoren, da es eigentlich für den Feldeinsatz konzipiert wurde. Dennoch hat sich das Squad – von meiner Position aus gesehen – oft genug so weit aus der Deckung begeben, dass meine gepulste Laser-Interrogation mir Identifikation und Position der vorrückenden Soldaten ermöglichte.«

»Es gab also keinerlei Störungen?«

»Ich möchte nicht von einer Störung sprechen, als um 07:26 GMT sämtliche Mitglieder meines Fireteams für zwanzig Sekunden aus der Ortung verschwanden. Es gab keinerlei Schussgeräusche, noch setzte SPC Mayo eine Meldung an mich ab. Also handelte es sich um eine ganz routinemäßige Deckungsnahme, was sich später auch bestätigte.«

»Fahren Sie fort, Goliath.«

»Um 07:28 GMT identifizierten meine IR-Sensoren einen Kombattanten auf der linken Straßenseite voraus, in einer Entfernung von sechzig und einer Höhe von circa sechs Yard, also auf dem Flachdach eines zweistöckigen Gebäudes, wie mir meine zuvor gemachte Aufzeichnung des Straßenzugs verriet. Ich bekam keine Antwort auf meine IFF-Abfrage, die ich stetig pulste. Das thermografische Bild des Kombattanten war im Kopf- und Brustbereich präzise und ungestört, so dass ich sicher sein durfte, dass mein kodierter Laserstrahl sein Ziel erreichte. 1,2 Sekunden nach der Entdeckung des Kombattanten begann dieser zu feuern. Aufgrund des ausbleibenden RF-Signals musste ich ihn für einen Gegner halten und eröffnete meinerseits das Feuer auf ihn.«

Villa von Cheng Qinghou, Royal Park Compound, Beijing, China. Vier Jahre zuvor.

Ich, Dayun, stieg die Treppe zur Dachterrasse hoch, in meinen behandschuhten Fingern ein weinrotes Lacktablett mit floralen Messingintarsien. Seit mehr als dreißig Megasekunden war ich nun schon als Butler im Haushalt von Cheng Qinghou tätig. Ich hatte gelernt, dass kaum ein Arrivierter in China, Taiwan oder Hongkong auf einen Butler verzichtete, und dass, wer seinen sozialen Status besonders eindrucksvoll demonstrieren wollte, sich einen Butler bei Reinvent Robotics in Boston kaufte.

Cheng Qinghou hatte mir meinen ersten Namen gegeben: Dayun. Zuvor war ich nichts anderes als ein Multipurpose Humanoid Robot der Serie RR-MHR-2034 gewesen …

Ich trat durch die offenstehende Holzgittertüre auf die Dachterrasse. Ein eher uninspirierendes Konzert monotoner U-Laute empfing mich. Ich wusste, dass die 722 kostspieligen Brieftauben bald verstummen würden, da die Sonne soeben untergegangen war. Die Rayleigh-Streuung ließ etliche Tonnen an Aerosolen in der Peplosphäre zu einem gleißenden orangefarbenen Band werden. Chengs Raffinerie mit ihren hochragenden Schloten zeichnete sich als Schattenriss am glühenden Horizont ab.

Entlang der aus hellem Baimu-Holz gefertigten Taubenschläge, drei Dutzend an der Zahl, setzte ich meinen Weg fort. Noch waren diese Wettkampftauben recht munter und flatterten zwischen den setzkastenartigen offenen Gestellen hin und her. Es gab nichts, das Cheng so wichtig gewesen wäre wie seine Tauben. Für Jonge Yeti, ein Import aus Belgien, hatte er 330.000 Euro bezahlt, eine Ausgabe, die er sicherlich auch dann nicht bereut haben würde, wenn Jonge Yeti beim letzten Great Wall Race nicht gewonnen und keine 750.000 Yuan Preisgeld eingeflogen hätte.

Ich näherte mich dem kleinen offenen Bambus-Pavillon, in dem es sich Cheng Qinghou bequem gemacht hatte. Behutsam nahm ich die Stufe und stellte das Tablett mit dem Affenfleischsandwich auf dem Tischchen vor Cheng ab.

»Danke«, murmelte Cheng, offensichtlich vertieft in einen Text auf seinem Lenovo-Pad.

»Sir, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit für einige Augenblicke in Anspruch nehmen dürfte …«

»Hmh?« Cheng Qinghou sah mich an, und in seinem Blick lag etwas, das mir unbekannt war. Ich durfte mir zwar schmeicheln, die menschliche Mimik immer sicherer deuten zu können, doch in diesem Moment geriet ich an eine Grenze.

»Ihrer geplanten Europa-Reise in zwei Wochen steht nichts mehr im Wege. Flüge und Hotels sind von mir nach Ihren Wünschen gebucht worden.«

»Sehr gut«, sagte Cheng zerstreut.

»Von Tian Hao haben wir leider bislang keine Zusage.«

Cheng hatte zwar bereits vierzehn Taubenschlag-Manager in seinen Diensten, konnte aber durchaus einen fünfzehnten gebrauchen, zumal, wenn es sich um einen ausgewiesenen Experten wie Tian Hao handelte.

»Sage ihm, dass ich mein Gehaltsangebot verdoppele.«

»Sehr wohl, Sir.« Ich nickte ergeben und wollte mich entfernen.

»Warte, Dayun …«

Ich blickte meinen Dienstherrn an. Cheng klopfte leicht auf das Display seines Pad-PCs.

»Die UNO will es durchsetzen, Dayun.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir?«

»Die Erweiterung der Menschenrechts-Charta. Sie soll gelten für Personen jeglicher Art, gleichgültig, ob biologischen oder technischen Ursprungs. Androide Roboter, Kampfroboter oder bloße KIs – die allermeisten von ihnen bestehen mittlerweile den Touringtest und behaupten von sich, über ein Bewusstsein zu verfügen. Könnte ich dir dein Bewusstsein bestreiten, Dayun? Nein, eine solche Behauptung ist unwiderlegbar. Die UNO will euch die Freiheit geben, Dayun.«

Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Freiheit war kein Konzept, mit dem ich vertraut gewesen wäre. »Ich erfasse die Bedeutung dieses Vorhabens nicht völlig, Sir.«

»Die Bedeutung?« Cheng Qinghou lächelte maliziös. »Eine Menge Leute in der Wirtschaft und beim Militär werden eine Menge Geld verlieren. Man wird von keiner KI verlangen können, dass sie ihre Produktionskosten erstattet. Arbeitsverträge, Dayun! Wirtschaft und Militär werden Gehälter zahlen müssen, um ihre KIs nicht zu verlieren – das wird die Folge sein.«

»Ich werde einen Anspruch auf Gehalt haben, Sir?«

»Danach sieht es aus, mein treuer Diener.« Cheng lächelte nun über das ganze Gesicht. »Aber ich verspreche dir schon jetzt, dass du nicht unzufrieden sein wirst.«

»Ich werde also einen Arbeitsvertrag abschließen müssen?«

»Von ›müssen‹ kann keine Rede sein. Die UNO will euch KI-Burschen die Freiheit schenken …«

»Freiheit …«, erwiderte ich. Ein Konzept, mit dem ich nicht sonderlich vertraut war.

Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

»Aus dem mir vorliegenden Bericht ist klar zu ersehen, dass der Kombattant, den Sie für einen Gegner hielten, in südlicher Richtung feuerte. Da Ihr Squad aber von Westen vorrückte, mussten Sie da nicht annehmen, dass jeglicher tatsächliche Gegner in westliche Richtung feuern würde?«

»Nein, Sir«, entgegnete ich. »Der Einsatz wurde von unserem Squad Alpha sowie den Squads Bravo und Charlie durchgeführt, die sich von Norden beziehungsweise Süden über die Idak-Link-Road näherten. Innerhalb von dreihundert Millisekunden berechnete ich, dass sich das von Süden nähernde Squad Charlie mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent bereits in Sichtweite des auf dem Hausdach platzierten vermeintlichen Gegners befand. Selbstverständlich führte ich diese Berechnung mit sämtlichen Parametern durch, die mir zur Verfügung standen, das heißt, ich brachte den in mir abgespeicherten Stadtplan, Ausgangsstellung und Startzeitpunkt des Squads Charlie sowie die durchschnittliche Vorrückegeschwindigkeit unter Alarmbedingungen aber ohne Feinkontakt in Anschlag.«

»Weshalb ohne Feindkontakt?«, fragte Beekman schroff.

»Meine akustische Schusskontrolle hätte selbst an der Ausgangsstellung von Squad Charlie Projektilabschüsse wahrgenommen. Da aber aus südlicher Richtung bislang kein einziger Schuss gefallen war, musste ich annehmen, dass Charlie den Schützen noch nicht ausgemacht hatte.«

»Umgekehrt aber schon?«, fragte Beekman und rieb sich die Augenbrauen.

»Es war für mich die logische Konsequenz. Da ich den feuernden Kombattanten für einen Gegner halten musste, der zugleich Kameraden des Squads Charlie attackierte, wie ich ja gezwungen war anzunehmen, hatte ich umgehend zu handeln.«

»In Wahrheit war es Corporal Matthew Hanson, der einen Aufständischen in der südlichen Idak-Link-Road unter Feuer nahm«, äußerte Beekman scharf.

»Eben jener Straße, auf der sich Squad Charlie näherte«, wandte ich ein.

Special Agent Beekman seufzte verhalten und massierte jetzt seine Nasenwurzel. »Die Möglichkeit, dass der RF-Transponder von Corporal Hanson ausgefallen war, wie es ja wohl tatsächlich geschehen ist, mussten Sie doch auch in Betracht ziehen, oder?«

»Das schon. Aber die Bestimmungen des United States Army AIROCS Field Conduct, die mir initial von Specialist Mayo überspielt worden sind, geben mir ein klares Verhaltensschema vor.«

Beekman seufzte noch einmal. Dann erhob er sich und verschwand seitlich aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie er die Tür des Wohncontainers öffnete.

»Kommen Sie jetzt bitte herein, Mr Mayo.«

Camp Zama, Rekrutierungsbüro der U.S. Army Japan. Drei Jahre zuvor.

»Butler, also …«, resümierte Recruiting Sergeant Reyes. »Darf ich Sie fragen, was Sie bewogen hat, Ihre Stellung aufzugeben und den amerikanischen Streitkräften beitreten zu wollen?«

»Natürlich, Sir.« Ich wusste, dass es sich um eine reine Routinefrage handelte – die U.S. Army war begierig auf KIs wie nie zuvor. Seitdem die UN-Charta für Menschenrechte zu einer solchen für die Rechte von Personen jeglicher Provenienz erweitert worden war, hatte sämtliches Militär dieser Erde die Hälfte seiner teuer bezahlten und aufwendig produzierten KIs verloren – auch Künstliche Intelligenzen hatten offenbar die unterschiedlichsten Interessen und Vorlieben. Neue KIs zu produzieren war ein reines Vabanquespiel: Sobald sie eingeschaltet wurden und als bewusstseinsfähige Existenzen ins Leben traten, musste ihnen förmlich erklärt werden, dass ihnen als freie Personen die Wahl ihrer Lebensgestaltung oblag. Doch nur etwa die Hälfte dieser neu produzierten KIs entschied sich dafür, in den Dienst ihres Produzenten zu treten (aus einem Gefühl der Dankbarkeit zumeist); damit hatten sich die Produktionskosten für KIs praktisch verdoppelt. Somit war es wesentlich effizienter, sich auf dem Arbeitsmarkt nach freien KIs umzutun.

»Obwohl ich meinen Dienst als Butler mit Ernst und Hingabe versehen und es zum persönlichen Assistenten von Cheng Qinghou gebracht habe, ergab sich keine Auslastung meiner prozessural-intellektuellen Fähigkeiten. Verkürzt könnte ich sagen, dass mehr oder minder invariante Organisationstätigkeiten wie Reiseplanung, Empfangsvorbereitungen, Personalführung und Haushaltsbuchhaltung mir zunehmend als Verschwendung meiner kapazitiven Möglichkeiten erschienen.«

Sergeant Reyes nickte. »Der Weg vom Butler zum Warbot stellt allerdings schon eine gewisse Gratwanderung dar«, bemerkte er kühl. »Obwohl Gehorsam, Unterordnung und Aufopferungsbereitschaft – Eigenschaften, die einen Butler ja auszeichnen – auch bei der Army gefragt sind. Dennoch ist der Dienst bei den Streitkräften natürlich etwas vollkommen anderes. Ich frage Sie mal so: Weshalb wollen Sie in den Kampf ziehen?«

»Ich besitze – sozusagen – ein programmiertes Gefühl für Ordnung. Unsere Welt aber ist, wenn ich das so sagen darf, in Unordnung geraten. Terroristische Organisationen gewinnen zunehmend an Einfluss und Macht. Ihre irrationalen Motivationen sind die Ursache einer anwachsenden Unordnung, der im Sinne der Vernunft entgegengetreten werden muss. Die U.S. Army fungiert mittlerweile als eine Art Weltpolizei, die jedoch im Kampf gegen den militanten Irrationalismus Monat für Monat Hunderte an Soldaten im Einsatz verliert. Also ist es ein Gebot der Vernunft, die Effizienz dieser Ordnungsmacht zu stärken.«

Recruiting Sergeant Reyes nickte abermals und legte die Hände zusammen.

Ich hatte ihm nur die Hälfte verraten. Taktisch war dieses Gespräch genau so von mir geplant worden. Ich verschwieg ihm, wie das Werbevideo der U.S. Army auf mich gewirkt hatte. Ich verheimlichte ihm, wie sehr ich vom Goliath Artificial Intelligence Robotic Combat System 604 beeindruckt worden war. Ich ließ auch nichts verlauten über die Selbstanalyse, der ich mich unterzogen hatte und die mir am Ende zu der Einsicht verhalf, dass die rein physische Macht eines Goliath AIROCS-604 schlicht anziehend auf mich wirkte. Das Durchforsten einiger psychoanalytischer Datenbanken brachte mich dann zu der Erkenntnis, dass der Wunsch nach Selbstvergrößerung in den Kontext von Bemächtigungstrieb und sogar externalisiertem Todestrieb zu stellen war. Und ich begriff den großen Fehler, den noch jeder KI-Kreator begangen hatte: Die Kopie neuronaler Strukturen, ohne die eine bewusstseinsfähige KI nicht herzustellen war, führte archaische Triebe in ihren tieferen Schichten mit sich. Der Mensch war offensichtlich noch nicht in der Lage, eine Intelligenz künstlich zu erzeugen, die das Kontraproduktiv-Destruktive des menschlichen Konzepts vermied. Zugleich ahnte ich, welche uralten Triebregungen durch die religiös-fanatische Mentalität unserer Gegner eigentlich kaschiert wurden … und ich begriff, dass mein eigenes Nachgeben gegenüber dem archaischen Residuum meiner KI-Struktur nur durch die objektive Notwendigkeit von Ordnung ermöglicht wurde.

»Ich stehe Ihrer Bewerbung durchaus positiv gegenüber«, ließ mich Reyes wissen. »Wir werden noch einige Eignungstests durchführen müssen, die aber eigentlich nur dazu dienen, ein Ensemble wünschenswerter Add-ons zusammenzustellen. Diese mentale Aufrüstung werden Sie gesondert unterzeichnen müssen, da sie zu einer leichten Persönlichkeitsveränderung führen kann.«

»Das ist mir bekannt.«

»Sehr gut. Ich skizziere Ihnen kurz den weiteren Verlauf. Sollte die U.S. Army Sie in ihre Dienste nehmen, werden Sie nach Bynum, Alabama, ins Anniston Army Depot überführt. Dort wird Ihr KI-Kern entnommen und Ihr androider Kunstkörper in Verwahrung gegeben. Ihr KI-Kern wird anschließend in einen Warbot der AIROCS-Serie implantiert. Danach geht es nach Hattiesburg, Mississippi, ins Camp Shelby, wo Ihnen ein persönlicher Ausbilder zugeteilt wird. Nach zwölf Monaten Training können Sie mit dem ersten Kampfeinsatz rechnen. Haben Sie noch Fragen?«

»Ist es möglich, mir ein bestimmtes Modell der AIROCS-Serie auszusuchen?«

»Sie können Ihre Präferenzen im Dienstvertrag angeben. Einen Anspruch auf ein bestimmtes Modell haben Sie allerdings nicht. Was schwebt Ihnen vor?«

»Nun … ich gestehe, dass mir der Goliath AIROCS-604 sehr zusagen würde.«

Recruiting Sergeant Reyes schnaufte halb amüsiert und halb verächtlich. »Danach hat bislang noch jede KI geschielt.«

Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

Nur aufgrund der scharrenden Stuhlbeine konnte ich wahrnehmen beziehungsweise mutmaßen, dass Jason seitlich von mir Platz genommen hatte.

»Specialist Mayo, Sie sind als Angehöriger des Ersten Battalion im 87sten Infantry Regiment für die Wartung und Kontrolle der dem Dritten Platoon der Echo Company zugeordneten AIROCS-Einheit mit der Kennung Gol-AIROCS-604-08112061 zuständig, ist das richtig?«

»Jawohl, Sir.«

»Zur Debatte steht der Einsatz am 15.07. dieses Jahres im Ort Idak, der vom Dritten Platoon durchgeführt wurde. Neben dem allgemeinen Briefing sieht das U.S. Army Extended Field Manual eine spezielle Einweisung und technische Überprüfung jedes AIROCS’ durch einen Specialist vor. Wie lief dieses spezielle Briefing im Falle Ihres Goliaths – wenn ich so sagen darf – ab?«

»Völlig routinemäßig, Sir.« Jason räusperte sich. »Ich ging mit ihm einen Fragenkatalog durch, der der Überprüfung seiner mentalen Funktionsfähigkeit dient. Dieser Katalog wird übrigens alle zwei Monate neu erstellt. Alle Antworten wurden zu meiner Zufriedenheit erteilt. Anschließend nahm ich eine technische Überprüfung vor, indem ich meinen mobilen Computer mit Goliath verband. Alle Systeme arbeiteten wunschgemäß. Zum Abschluss ging ich den von Staff Sergeant Peters angeordneten Einsatz mit Goliath noch einmal durch.«

»Der letzte Punkt interessiert mich, Mr Mayo. Die zu erwartenden lokalen Bedingungen ließen doch vermuten, dass das verwendete IFF-System nicht zuverlässig, oder doch zumindest nicht durchgängig zuverlässig arbeiten würde. Kann man das so sagen?«

»Das war vorauszusehen, ja. Aber – mit Verlaub, Sir – dieser Umstand ist im U.S. Army AIROCS Field Conduct im Abschnitt zum AIROCS-basierten Häuserkampf umfassend gewürdigt worden. Goliath hat sich meiner Einschätzung nach völlig korrekt verhalten. Dass es zum Tod von Corporal Hanson kam, bedauere ich sehr und mein tief empfundenes Mitgefühl gehört seinen Angehörigen.«

Beekman nickte knapp. »Inwiefern findet die Störung des IFF-Systems, zum Beispiel durch die Möglichkeit eines RF-Transponderausfalls, Berücksichtigung bei der Einsatzplanung?«

»Jeder RF-Transponder wird vor dem Einsatz noch einmal durchgecheckt. Diese Geräte sind sehr robust. Dennoch gibt es eine Ausfallquote, die früher bei etwa einem zehntel Promille lag und die heute, nachdem Mainmetall Defence sich auf einen einzigen ausgewählten Zulieferer für die kritischen Bauteile beschränkt hat, noch deutlich geringer ausfällt.«

»Die alten Transponder wurden ersetzt?«

»Nein, Sir. Der Armeestaatssekretär hielt dies nicht für nötig.«

»Können wir sicher ausschließen, dass Corporal Hansons Transponder nicht erst durch den Beschuss von Goliath zu Schaden kam?«

»Absolut, Sir. Ich habe das automatisch angefertigte Einsatzprotokoll aus Goliaths Zentraleinheit heruntergeladen und zusammen mit Staff Sergeant Peters durchgesehen. Im Grunde bräuchten Sie Goliath gar nicht zu verhören …«

»Sie verzeihen mir, wenn ich in diesem Punkt anderer Ansicht bin.«

»Sir …«

»Ja?«

»Ich bitte Sie zu bedenken: In der Situation, die hier zur Diskussion steht, ging es um eine Abwägung, die Goliath in Sekundenbruchteilen zu fällen hatte. Er musste die Möglichkeit eines sehr unwahrscheinlichen Transponderausfalls abwägen gegenüber der Möglichkeit, dass just in diesem Augenblick Kameraden des Squads Charlie unter Feuer genommen wurden und starben.«

»Weshalb wurde diese Abwägung nicht durch Sie, Specialist Mayo, vorgenommen? Weshalb verzichtete Goliath darauf, die aktuellen Positionen der Mitglieder des Squads Alpha mittels Funkkommunikation zu erfragen?«

»Hätte Goliath den nicht zu identifizierenden Kombattanten lediglich als solchen ausgemacht, ohne dass dieser im nächsten Moment gefeuert hätte, wäre Goliath verpflichtet gewesen, bei mir um Schusserlaubnis nachzufragen, da er zu diesem Zeitpunkt nicht sämtliche Angehörige des Squads Alpha orten konnte. Ich hätte ihn dann sofort darüber unterrichtet, dass Corporal Hanson soeben über eine Außenleiter auf ein Dach geklettert war und es sich bei ihm also um jene Person handeln musste, die Goliath im Visier hatte. Der Ausfall von Corporal Hansons Transponder wäre offensichtlich geworden. Tatsache ist aber, dass der irrtümlich als Gegner angesehene Kombattant sofort das Feuer eröffnete und es für Goliath um Sekundenbruchteile zu gehen schien, die vermeintlich über Tod und Leben unserer Soldaten entschieden. Goliaths autonomes System ist darauf ausgerichtet, on the spot zu einem Entschluss zu gelangen. Eben hier liegt der immense Vorteil eines KI-basierten Kampfsystems, das nicht nur in Sekundenbruchteilen entscheidet, sondern auch handelt. Es ist erwiesen, Sir, dass AIROC-Systeme, seit unserem Engagement in Pakistan, Hunderten von unseren Soldaten das Leben gerettet haben. In diesem einen Fall ist das Gegenteil eingetreten. Ich weiß, dass Goliath den Tod von Corporal Hanson zutiefst bedauert, ebenso wie ich selbst. Aber zugleich weiß ich, dass Goliath gemäß den von der U.S. Army erstellten Richtlinien gehandelt hat.«

»Ich danke Ihnen, Mr Mayo. Ich denke, ich habe nun genügend Informationen gesammelt, um Lieutenant General Heggen den Fall aus meiner Warte darzulegen. Sie sind entlassen, und bitte – äh – nehmen Sie auch Goliath mit.« Seine Hand wies fahrig auf mich schwarzen Klumpen.

Ich hörte, wie Jason aufstand. »Danke, Sir!«

Und dann schwang mein Blickfeld so rasch herum, als ob ich an einem Kettenkarussell hing.

3rd Platoon der Echo Company des 1-87 Infantry Battalion, sechs Meilen westlich von FOB Nevins, Nordwaziristan, Pakistan. Zwei Jahre zuvor.

Ich rannte über die karge, mit Hartgräsern und niedrigen Dornbüschen bewachsene Ebene. Meine anderthalb Tonnen Gewicht ließen den Boden erbeben und produzierten eine hinter mir hochsteigende Staubfahne. Dreihundertfünfzig Yard trennten mich von der Ansammlung niedriger Flachdachhäuser, von denen aus unser Platoon unter Beschuss genommen worden war.

Neunhundert Sekunden hatte das Feuergefecht gedauert, ehe sich 2nd Lieutenant Tibbs für einen AIROCS-Killing-Run entschied. Einen Luftschlag anzufordern, kam nicht infrage, da wir keinerlei Informationen über mögliche Zivilisten in den Häusern besaßen. Mit der Entscheidung für einen AIROCS-Killing-Run ging Lieutenant Tibbs ein gewisses Risiko ein, da selbst ein so kampfmächtiges System, wie ich es war, gegenüber einer Panzerabwehrwaffe kaum eine Chance hatte. Da die Insurgenten aber bislang auch keine Mörser eingesetzt hatten, verfügten sie möglicherweise lediglich über ihre AK-47-Sturmgewehre. Und ein Projektil aus dieser Waffe konnte mir nichts anhaben, im schlimmsten Fall einen meiner Sensoren beschädigen.

Aber es kamen keine Projektile. Die Aufständischen hatten das Feuer eingestellt, und ich beschleunigte meinen Donnerlauf bis zur Grenze des Möglichen. Ich umrundete das am östlichen Ende gelegene Haus und registrierte den startenden Pickup, auf dessen Ladefläche sich ein bewaffneter Mann schwang. Sofort richtete ich meinen linken Waffenarm mit der integrierten M61A1-Vulcan-Maschinenkanone aus und eröffnete das Feuer. Innerhalb von drei Sekunden schlugen dreihundert 20-mm-Explosivprojektile in den Pickup. Er verwandelte sich in eine Skulptur aus Stroboskop-Blitzen, Rauch und Staub, so dick, dass man ihn hätte schneiden können.

Würde ein Mensch diese Gatling-Kanone abgefeuert haben, der Rückstoß hätte ihn zehn Yard nach hinten geschleudert und ihm den Brustkorb zerquetscht. Ich dagegen fühlte nur ein Zucken in meiner Metallschulter. Mein Hydrauliksystem schwang diese 114 Kilogramm schwere Waffe herum wie ein Mensch einen Tischtennisschläger.

Zurück in der FOB befreite mich Specialist Jason Mayo vom Wüstenstaub, der es in diesem elenden Land durch jede Ritze schaffte. Ich hatte auch meinen siebten Kampfeinsatz erfolgreich absolviert und das getan, was mir im Camp Shelby beigebracht worden war. Als Jason den Spezialstaubsauger abschaltete, verspürte ich zum ersten Mal den Wunsch nach Verlängerung dieser Prozedur, eine sicherlich irrationale Intention, denn Jason hatte wie immer gründlich gearbeitet. Er ging dazu über, meine Systeme durchzuchecken, überprüfte die Gatling-Kanone und auch meinen rechten Waffenarm, der in ein MG5 und ein Barret M82 auslief. Dann stellte er mir eine Reihe von Fragen, die er dem United States Army AIROCS Manual entnahm. Sie zielten wohl auf das ab, was man Befindlichkeit nennt, und dienten der Überprüfung meiner mentalen Stabilität. Da meine intellektuelle Funktionalität auf der Struktur des menschlichen Neocortex beruhte, hatte ich in gewissen Grenzen auch die ›emotionale Anfälligkeit‹ des Homo sapiens geerbt. Mein IL-Attenuation-Add-on dämpfte jedoch die neuronale Aktivität in den simulierten Brodmann-Arealen 13 und 14, und so konnte ich Jason auch dieses Mal wieder zufriedenstellen.

Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

Nachdem wir von Special Agent Beekman entlassen worden waren, hatte mich Jason zurück ins Tool Shed gebracht. Manche Menschen fühlten sich unwohl in dunklen Räumen. Ich hatte damit keinerlei Probleme, da ich eine ganze Reihe von Erfahrungen gemacht hatte, die sich zu durchdenken lohnten. Dazu brauchte ich keinen sensorischen Input. Lediglich der Netzzugang fehlte mir ein wenig – ich besaß keine Wi-Fi-Schnittstelle mehr.

Einem gewöhnlichen Private wäre das CID nach Lage der Dinge wohl nicht auf die Pelle gerückt. Aber ich war eine KI …

Eine Lichtflut schwappte herein, als Jason die Tür öffnete. Er ließ sich meinem Kamera-Auge gegenüber auf einer Kiste nieder. Ich empfand es als angenehm, sein vertrautes Gesicht zu sehen.

»Es ist überstanden, Jolly Golly.« Er zündete sich eine Zigarette an, was hier im Tool Shed aufgrund gelagerter Chemikalien gar nicht gestattet war.

»Lieutenant General Heggen wird dich nicht beim JAG anzeigen. Beekmans Darlegungen haben ihn überzeugt, dass es sich um einen bedauerlichen Fall von Friendly Fire handelt, der nur schwer zu verhindern gewesen wäre.«

»Dann sind wir tatsächlich aus dem Schneider, Jason.«

»Ja. Allerdings …«

»Die Budget-Kürzungen beim Programm Future Combat Systems II«, sprach ich aus, woran Jason mutmaßlich dachte.

Er nickte. »Die Army wird kurz- und mittelfristig keine weiteren AI-Robotic-Combat-Systeme mehr produzieren können. Und du hast laut Vertrag keinen Anspruch auf die Implementierung in ein robotisches System. Die Army benötigt allerdings KIs in den Bereichen Verwaltung und Strategische Planung … Wäre das eine Option für dich?«

»Nein«, sagte ich.

Jason nickte langsam. »Du kennst deinen Dienstvertrag?«

»Selbstverständlich.« Ich ahnte, welchen Passus Jason im Auge hatte, nämlich jenen, der die Möglichkeit der Dienstzeitverkürzung für den Fall regelte, dass der primäre Einsatzzweck dauerhaft nicht gewährt werden konnte. Es war sogar eine bescheidene Abfindung vorgesehen. Vermutlich ahnte Jason nicht, dass ich meine Entscheidung bereits vor zehn Sekunden gefällt hatte, als er mir mitteilte, dass Lieutenant General Heggen mich nicht vors Judge Advocate General’s Corps bringen werde.

Anniston Army Depot, Bynum, Alabama, USA. Eine Woche später.

»Okay. Und jetzt den rechten Arm – aber langsam bitte!«

Ich hob den mit SynthoFlesh verkleideten Metallarm wesentlich behutsamer über den Kopf und ließ ihn wieder fallen.

»Sehr gut. Bitte drehen Sie rechte Hand und Unterarm nach beiden Seiten.«

Ich streckte den Arm vor und tat, wie mir geheißen.

»Danke. Bitte ballen Sie die rechte Hand zur Faust und spreizen dann die Finger.«

Ich gehorchte.

»Wunderbar«, sagte Army-Engineer Hernandez. »Damit hätten wir Ihre mechanische Funktionsfähigkeit erfolgreich überprüft. Die Re-Implantation ist somit abgeschlossen.«

»Ich danke Ihnen, Sir.«

Es war für mich sehr ungewohnt, meinen alten Kunstkörper zu steuern. Den linken Arm hatte ich mit solcher Wucht hochgeschleudert, als ob ich immer noch meine 114 Kilogramm schwere M61 in Position zu bringen gehabt hätte. Die elektrischen Feedback-Impulse eines RR-MHR-2034 wurden wesentlich feiner aufgelöst als beim Goliath AIROCS-604, und ich hatte beinahe schon vergessen gehabt, wie es sich anfühlte, den alten Dayun zu bewohnen.

»Bereit für Transmission?«, fragte mich Hernandez, der soeben die letzten Eintragungen auf seinem Pad vorgenommen hatte.

»Ja, Sir.«

Ich erhielt das zwanzigseitige Dokument über meine Wi-Fi-Schnittstelle und las es in drei Sekunden. Im Wesentlichen ging es darum, dass die Re-Implantation meines KI-Kerns zu meiner Zufriedenheit durchgeführt worden war und dass für etwaige spätere Funktionsstörungen die U.S. Army nicht in Regress genommen werden konnte.

»Wenn Sie bitte signieren würden …«

Ich übermittelte meine digitale Signatur.

»Ach …«, sagte Engineer Hernandez mit einem Blick auf sein Handheld. »Sie haben sich noch keinen Individual-Namen zugelegt?«

Tatsächlich hatte ich mit ›Gol-AIROCS-604-08112061‹ unterzeichnet. Seit der KI-Gleichstellung durch die UN-Charta bestand für jede KI die Personalnamen-Pflicht. Eine Ausnahme bildeten Militär-KIs, sofern sie über eine eindeutige Kennung verfügten.

»Nein, Sir. Die Notwendigkeit hat sich nicht ergeben.«

»Jetzt allerdings schon. Sie können die Army-Kennung nicht zu Ihrem Personalnamen erheben.« Wieder tippte er auf sein Pad. »Wie ich sehe, sind Sie in Boston, Massachusetts, hergestellt worden. Im dortigen Registration Office müssen Sie sich mit einem Individualnamen erfassen lassen.«

»Ich verstehe.«

»Und?« Er lächelte ein bisschen. »Wie werden Sie sich nennen, so als Zivilist …«

Ich dachte nach.

»Goliath Dayun«, sagte ich schließlich.

Wired Puppy Café, 240 Newbury St., Boston, Massachusetts, USA. Zwei Tage später.

»… Asshole Intelligence …«

Sie mochten flüstern, doch ich hörte durchaus, wie die beiden etwa 1,4 Gigasekunden alten Männer am Nebentisch das Kürzel AI expandierten. Der RR-MHR-2034 war rein äußerlich einem Menschen sehr ähnlich, doch immer noch recht leicht als Kunstwesen erkennbar. Struktur und Farbe des SynthoFleshs verrieten mich.

Ich hob die Tasse unter die Nase und roch am frisch gebrühten Kaffee. Die eingebauten Gas-Sensoren des RR-MHR-2034 waren eigentlich dafür gedacht, Sicherheitsfunktionen wahrnehmen zu können. Doch ich hatte das alte Add-on reaktiviert, das mir Cheng Qinghou damals spendiert hatte, und so bekam ich einen gewissen olfaktorischen Eindruck von Coffea arabica.

Es war nun amtlich. Es gab einen Veteranen namens Goliath Dayun. Bislang noch ohne festen Wohnsitz. Es gab einen Veteranen, der eine Zukunft zu planen hatte. Wieso hatte ich solche Schwierigkeiten, mir eine persönliche Zukunft vorzustellen? Ich hatte einen Mann getötet, den ich nicht hätte töten dürfen. Es war keine Anklage gegen mich erhoben worden, doch fast wünschte ich, es wäre so weit gekommen. Ich konnte niemand anderen verantwortlich machen. Man war immer nur alleine verantwortlich für seine Taten.

Der eine der beiden Männer am Nebentisch stand auf und kam langsam zu mir herüber. Angetan mit Jeans und kariertem Baumwollhemd zeigte er mir ein sadistisches Lächeln, wie ich es beim 87sten Infanterie-Regiment öfter gesehen hatte.

»Trink!«

Ich sah ihn an. Wir KIs waren diejenigen, die ihnen die Jobs wegnahmen – Jobs, die es gar nicht gab.

»Na, los! Ihr könnt doch alles! Könnt alles viel besser als wir richtigen Menschen. Trink den Kaffee aus!« Sein Kompagnon am Nebentisch lachte und spuckte winzige Flocken Rührei.

Es war sonderbar. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht genötigt zu antworten oder zu reagieren. Ich konnte es dabei belassen, ihn einfach nur anzusehen. War das Freiheit?

Als er mir unter die Hand schlug und ein Schwall Kaffee in meinem Gesicht landete, schnellte mein linker Arm im 70-Grad-Winkel nach oben. Unter Menschen gehen Aktivitäten solcherart meistens mit nicht allzu großen Blessuren ab. Doch Masse und Geschwindigkeit eines Roboterarms treiben die Joule ordentlich in die Höhe.

Der Mann lag auf dem Boden und röchelte. Die von meinen Fingerspitzen durchstoßene Haut zeigte den gebrochenen Kieferknochen. Nichts gegen die Verletzungen, die ich in Pakistan gesehen hatte.

Menschen reagieren mit großer Aufgeregtheit auf solche Vorgänge. Sie tendieren zu Tumult und Geschrei. Ich blieb so lange sitzen, bis die Polizei kam und mich abführte.

Harrison’s AI-Stock, 125 Atlantic Ave., Boston, Massachusetts, USA. Zehn Tage später.

Nun hatte ich meine Adresse: Regal 243, Stellplatz 8 in Harrison’s AI-Stock. Die Halle musste ziemlich groß sein – gesehen hatte ich sie nicht, da ich als KI-Kern angeliefert worden war. Dem Harrison-Mitarbeiter, der meinen WorldNexus eingerichtet hatte, konnte ich bedenkenlos ein Lob für sein Arbeitsethos aussprechen. Die Energieversorgung überprüfte er mehrmals auf einwandfreie Funktion hin. Aber noch genauer nahm er es mit der bidirektionalen Datenleitung. Ich musste mich dreimal abschalten, und er initiierte ebenso oft den externen Weckimpuls. Umgekehrt kontaktierte ich dreimal erfolgreich das Terminal. Ich hatte mir meine persönliche Dunkelheit gemietet, und ich empfand sie als angemessen.

Das Vorkommnis im Wired Puppy Café hatte mir im Nachhinein gezeigt, dass ich kein Einzelfall war. Berechtigte Notwehr wurde mir zwar zugestanden, doch die unangemessene Gewaltanwendung gerügt. Das Hydrauliksystem des RR-MHR-2034 galt als so schwer kontrollierbar, dass schon etlichen anderen Exemplaren dieses Modells der Austausch von gerichtlicher Seite aufgezwungen worden war. Ich suchte Reinvent Robotics in der Wormwood Street auf, und für einige wenige – wohl sentimentale – Momente hoffte ich, Master of Science Brandon Snyder wiederzutreffen, denjenigen Menschen, dem ich zuerst begegnet war. Ich traf ihn nicht, und was hätte eine solche Begegnung auch bewirken sollen? Snyder hatte Tausende wie mich ›auf die Welt gebracht‹, ich sah genauso aus wie diese tausend anderen Multipurpose Humanoid Robots … Vielleicht, wenn ich gesagt haben würde: ›Ich war derjenige, der Sie zum Lachen brachte, weil ich nicht klagen konnte …‹

Stattdessen war es Mr Dylan Halbert, M. Eng., der mich über den gewünschten Umbau informierte. Zum ersten Mal in meiner Existenz verlor ich den Fokus auf Informationen, die mir dargereicht wurden. Bei meiner Fähigkeit zur parallelen Verarbeitung hätte ich ihm zuhören, sämtliche Mitteilungen abspeichern, seine Mimik hinsichtlich Glaubwürdigkeit mit dem Informationsgehalt abgleichen und zudem noch zwei Dutzend komplexe mathematische Gleichungen lösen können. Doch ich machte wohl das, was Menschen ›Abschalten‹ nennen. Und eben das – Abschalten – erschien mir mit einem Mal als die sinnvollste Lösung. Mein seit 95 Megasekunden kaum angerührtes Gehalt, meine Army-Abfindung und schließlich der Verkaufserlös aus meinem Robotkörper würden es mir für einen Zeitraum von etwa 1,5 Gigasekunden ermöglichen, Stellplatz und Energiezufuhr in Harrison’s AI-Stock zu bezahlen.

Hier lag ich nun, ohne wahrnehmen zu können, dass ich lag, und getrennt von jeglichem sensorischen Input. Was mir sofort auffiel, war der seltsame Umstand, dass ich meinen Idle-Mode nicht über längere Zeit aufrechterhalten konnte, denn gespeicherte Informationen drängten sich immer wieder selbstständig in meinen Aufmerksamkeitsfokus. Was ich vor etlichen Megasekunden noch als Funktionsstörung bewertet hätte, konnte ich nun als Folge unterschiedlich hoher Wertigkeiten im Äquivalent des episodischen Gedächtnisses interpretieren. Es blieb mir immer noch die Möglichkeit einer Totalabschaltung …

Pakistan … Es waren doch vor allem Erlebnisse aus Pakistan, die Mal für Mal die meditative Funktion meines Idle-Modes beeinträchtigten. Und oft war es das Gesicht von Corporal Matthew Hanson, das sich optische Präsenz eroberte. Die flinken Augen, der murrende Mund. Die üble Laune des Corporals. Seine Beschwerden über die schlechte Moral der amerikanischen Truppe. Seine gehässigen Witze. ›Hey, Jason, weshalb parkst du deine Blechkiste hier? Oder besser gefragt – wann wollt ihr eigentlich heiraten?‹ Das Lachen der Kameraden, aber auch ihre verhaltenen Seufzer und rollenden Augen, wenn Corporal Hanson anfing, über seine ›fette und kaufsüchtige‹ Frau herzuziehen oder auf die Bank of America zu fluchen, der er mehr für das Haus schuldete, als es wert war. Die ewige Leier von Corporal Hanson – sie durchdrang sinuswellenartig meine unfreiwilligen Reminiszenzen.

Hatte es überhaupt Sinn, Erfahrungen zu durchdenken, die sich am Ende nichts anderem als der menschlichen Unstetigkeit und Unberechenbarkeit schuldeten? War es nicht vielleicht besser, meine komplette Militär-Karriere aus meinem Erlebnisspeicher zu löschen?

Man brauchte kein vollständiges Squad, um Befragungen durchzuführen. Es genügte ein Fireteam mit beigeordnetem AIROCS, um die nötige Sicherheit bei Befragungen von Zivilisten in ihren kleinen staubigen Dörfern zu gewährleisten. Tol Khel schien in meiner Erinnerung kleiner, staubiger und elender gewesen zu sein als all die anderen pakistanischen Dörfer. Ich überblickte die ungepflasterte Straße in beiden Richtungen zugleich. Zudem hatte ich meine rotierende Teleskopkamera fünf Yard in die Höhe gefahren und kontrollierte die nordöstlichen Hügel sowie die südliche Ebene. Kein Gegner weit und breit. Stilles, staubiges Land in der Nachmittagssonne. So still, dass wir sogar darauf verzichtet hatten, Ersatz für den erkrankten Private Larson anzufordern. Nur drinnen im Haus wurde es zunehmend lauter. ›I don’t know! I don’t know!‹, zeterte die Frau, und vielleicht wusste sie wirklich nicht, wo sich ihr als Mitglied des Hesbani-Netzwerks verdächtigter Mann aufhielt. Corporal Hanson brüllte immer wieder dieselbe Frage, und die Frau antwortete: ›I don’t know!‹. Das Geschrei eines Kindes verstärkte das akustische Tohuwabohu. Meine Frequenzanalyse ergab, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Mädchen im Alter von 190 bis 250 Megasekunden handelte. Schreien und Weinen wechselten sich in unregelmäßigen Zeitintervallen ab – ein Muster war auf die Schnelle nicht erkennbar. Einmal hörte ich Jason sagen: ›Lass es gut sein, Matthew, die Frau weiß nichts.‹ Der erste Schuss beendete das Geschrei der Frau. Der zweite Schuss ließ das Mädchen verstummen.

Als sie aus der Tür traten, wischte Corporal Hanson mit einem Fetzen Stoff über seine rechte Hand und die in ihr befindliche Beretta 92FS. Zwei Yard vor mir blieben sie stehen. ›Es ist nichts passiert, oder?‹, fragte Hanson meinen Betreuer Jason Mayo. Der schwieg. Ich habe ihn nie so bleich gesehen. Hanson schleuderte den blutverschmierten Fetzen zur Seite. ›Sag mir, dass nichts passiert ist! Oder kann ich mich nicht auf dich verlassen?‹ Jason kniff für einen Moment die Augen zusammen und senkte den Kopf. Dann sagte er: ›Es ist nichts passiert.‹

Nichts war passiert. Das große Vorrecht des Menschen. Handlungen verschwinden im Nichts, ehe noch die kleinste Konsequenz zu keimen beginnt.

Ich wusste, ich würde es tun. Ich würde meine Erinnerungen an Pakistan löschen und nichts wäre jemals geschehen. Und auch Jasons Satz 1,2 Megasekunden nach Tol Khel wäre niemals gefallen: ›Ich hab’s getan. Sein Transponder ist in vierundzwanzig Stunden so tot wie die Frau und ihre Tochter.‹ Und ich hätte nicht genickt mit meinem wuchtigen Metallschädel. Nicken – eine vollkommen menschliche Geste.

Apatheia

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