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Ein Leben für Alpha Centauri

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Das erste Erwachen

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 5.12.2085 (Auszug)

8:00 – Die Kryostase der Crew wird planmäßig beendet.

14:30 – Dr. Mia Fournier, die bereits vor zwei Tagen von Paladin aufgetaut wurde, kümmert sich wie vorgesehen um die medizinische Betreuung der Crew. Dr. Logan Koschek und M.Sc. Jacob Guerin sowie meiner Person geht es den Umständen entsprechend gut. Bei M.Sc. Harry Cavanaugh allerdings kam es zu ernsthaften Problemen. Laut Mia führte ein beschleunigter Auftauvorgang zur partiellen Denaturierung der im Gewebe enthaltenen Eiweise. Harry wurde von Mia in ein künstliches Koma versetzt. Insbesondere ist die Funktionalität seiner Lunge in lebensbedrohlicher Weise beeinträchtigt. Paladin arbeitet an der Herstellung von Zellkulturen, zeigt sich aber wenig optimistisch im Hinblick auf Harrys Gesundung. Im Übrigen kann Paladin nicht erkennen, dass sich Mia eines Versäumnisses schuldig gemacht hätte. Sowohl die Beschleunigung des Auftauvorgangs als auch das Ausbleiben einer zeitnahen Rückmeldung müssen auf einen Fehler des technischen Systems zurückgehen. Paladin kann sich diesen Fehler nicht erklären und untersucht augenblicklich die Fehlfunktion.

In Abhängigkeit vom Fortschritt unserer Rekonvaleszenz und Assimilation werden wir morgen oder übermorgen unsere Arbeit aufnehmen.

Die Bordsysteme funktionieren mit Ausnahme des Kühlsystems einwandfrei. Uns allen fiel sofort die hohe Raumtemperatur von 26 Grad Celsius auf. Paladin erläuterte mir, dass das Fission-Fragment-Triebwerk, das seit zwanzig Jahren für die negative Beschleunigung der DAEDALUS sorgt, deutlich mehr Wärme produziert, als die Thermal Louvers abstrahlen können. Dies hat in der Vergangenheit mehrfach zum vorzeitigen Ausfall von Elektronikelementen geführt, die aber repariert beziehungsweise ersetzt werden konnten. Eine grundsätzliche Diskrepanz bei der Kalkulation von Triebwerksleistung und Radiatorenfläche kann Paladin nicht feststellen. Er arbeitet an dem Problem.

16:30 – Paladin gibt mir einen kurzen Überblick über die astronomischen Fortschritte, die während unseres 40-jährigen Kälteschlafs gemacht wurden, insbesondere über neue Erkenntnisse das Alpha-Centauri-System betreffend. Eine Erkenntnis ist aber bereits jetzt der Mission Longshot IV zu verdanken: Proxima Centauri besitzt einen Gesteinsplaneten, der seine Sonne in einem Abstand von 0,041 AE umkreist und eine gebundene Rotation aufweist. Wir werden ihn in sieben Tagen passieren. Im Übrigen schloss Paladin bereits vor zwanzig Jahren, auf dem Höhepunkt der Acceleration, auf das Vorhandensein dieses Exoplaneten. Wiederholte Messungen der periodischen Radialgeschwindigkeit von Proxima Centauri überzeugten Paladin von der Existenz dieses Himmelskörpers, und er setzte eine Meldung an das ESA-Kontrollzentrum ab. Somit hat die Mission Longshot IV ihre Bedeutung der Erde bereits vor achtzehn Jahren bewiesen.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 06.12.2085

Die Crew, insbesondere Jacob, zeigte sich sehr gerührt, als uns Zegramulrob jeweils einen kleinen Schokoladennikolaus zum Frühstück servierte. Er bestand aus einer speziellen krümelfreien Schokolade, die allen mundete (obschon butterweich, bei der Wärme hier an Bord). Ich glaube, unsere Ergriffenheit gründete vor allem in der Rührigkeit, mit der sich der Longshot-IV-Planungsstab offenbar solchen Details widmete.

Das Frühstück selbst ist mit einer gemütlichen Mahlzeit auf der Erde natürlich nicht zu vergleichen. Aber wir alle sind dies ja von unserem Training her gewohnt, das wir vor vierzig Jahren in der Schwerelosigkeit absolvierten.

Unbefangene Heiterkeit kam allerdings nicht auf, da uns der Zustand von Harry doch alle bewegt, zumal Paladin seine negative Prognose von gestern bestätigte. Als er uns anbot, die neuesten Teleskop-Aufnahmen von Proxima Centauri b auf den Monitor zu legen, schien es mir, als ob er beabsichtigte, unsere Stimmung aufzuhellen, und ich fragte mich, ob eine Schiffs-KI tatsächlich Motivationen dieser Art entwickeln kann. Die gezeigten Fotos waren allerdings nicht dazu angetan, Begeisterungstürme auszulösen. Natürlich war dies zu erwarten gewesen, da die DAEDALUS immer noch rund 45 AE von Proxima Centauri b entfernt ist. Wir bekamen eine rötlich-braune Halbkugel ohne irgendwelche Strukturen zu sehen. Leider befindet sich der Planet mit seinem Abstand von 0,041 AE zum Zentralgestirn knapp außerhalb der habitablen Zone.

Da waren die nachfolgend präsentierten Bilder von Proxima Centauri selbst doch deutlich beeindruckender. Wir bestaunten Aufnahmen eines hellrot glühenden Balls, wie sie noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Bei dieser Gelegenheit klärte uns Paladin darüber auf, dass die gravitative Bindung Proxima Centauris an Alpha Centauri A und B vor fünfzehn Jahren verifiziert wurde, so das Proxima Centauri zu recht auch Alpha Centauri C genannt werden darf (Alpha Centauri A und B lassen sich übrigens von unserer Position aus mit bloßem Auge unterscheiden).

Nach dem Frühstück war für jeden von uns eine halbe Stunde ›Hamsterrad‹ angesagt, zum jetzigen Zeitpunkt nicht so sehr als Gegenmaßnahme zu den physiologischen Veränderungen durch die Schwerelosigkeit, sondern vor allem als Behandlung der Gliederschmerzen, die als Folge unserer langjährigen Kryostase zu verzeichnen sind.

Logan, der als Erster das Training im Hamsterrad absolvierte, beabsichtigte – kaum, dass er den Physio-Raum verlassen hatte –, das AstroLab aufzusuchen. Mia wies ihn zurecht darauf hin, dass die Assimilationsphase zu diesem Zeitpunkt eine fünfstündige Ruhepause im Schlafköcher vorsieht. Logan zeigte sich ein wenig ungehalten, und ich, als Kommandant der DAEDALUS, schritt so behutsam wie möglich ein, betonte, dass unsere Arbeit erst mit dem morgigen Tag beginnen wird. Logan fügte sich schließlich, wenn auch missgestimmt. Ich schätze seinen wissenschaftlichen Eifer sehr, werde aber keinem Crew-Mitglied gestatten, wichtige Programmteile zu umgehen.

Nach der Ruhephase verblieb ich in meinem Schlafköcher und holte mir eine Anzahl von ContempFiles auf den Kabinenmonitor. Ein seltsames Gefühl beschlich mich beim Zappen durch gut fünfunddreißig Jahre Erdgeschichte. Während wir in flüssigem Stickstoff lagen, wurden Kriege geführt, Friedenskonferenzen abgehalten, Bündnisse geschlossen, Verträge gebrochen, Erdbeben ertragen und Flüchtlingsströme aufgehalten. Es kann einem schon bedenklich zumute werden, wenn man in solch einer Raffung erlebt, wie menschliche Hoffnung doch immer wieder in Enttäuschung mündet.

Wir besitzen insgesamt 415 ContempFiles, monatliche Nachrichtenzusammenstellungen, die den Zeitraum von Februar 2046 bis August 2081 abdecken. Es war beruhigend zu erfahren, dass bei all den Krisen die Europäische Union doch stabil ist, dass die ESA nach wie vor existiert und sogar in enger Kooperation mit Roskosmos arbeitet. Wenigstes bis vor vier Jahren, denn aktueller können die Meldungen aufgrund der riesigen Entfernung zur Erde nicht sein.

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 7.12.2085 (Auszug)

7:00 – Aufstehen, Post-Sleeping-Phase (Morgentoilette, Frühstück).

8:45 – Planungskonferenz.

9:15 – Jacob schickt eine Kamerasonde raus, um die mit Kevlar beschichtete Außenhülle der DAEDALUS zu inspizieren. Logan widmet sich der Untersuchung von Proxima Centauri b, dem wir uns bis auf 38 AE angenähert haben. Mia beginnt mit der Aussaat von Salat-, Radieschen-, Gurken- und Tomatensamen im GreenhouseLab; unterstützt wird sie hierbei von Zegramulrob. Ich selbst setzte die Lektüre der vergangenen fünfunddreißig Jahre Erdgeschichte fort und beginne mit der Erstellung eines Abstracts für die Crew.

11:35 – Paladin informiert mich darüber, dass sich Harrys Zustand verschlechtert hat.

12:00 – Lunch, Mittagspause.

13:00 – Wiederaufnahme der Arbeit.

18:00 – Abendessen (warm).

19:00 – Abendkonferenz. Jacob konnte keine Beschädigungen oder sonstige Auffälligkeiten der Kevlar-Beschichtung feststellen. Logan bestätigt die bisherigen von Paladin zusammengetragenen Erkenntnisse hinsichtlich Proxima Centauri b: Bei diesem Planeten handelt es sich mit ziemlicher Gewissheit um eine kalte marsähnliche Welt.

19:30 – Pre-Sleep-Phase. In meiner Kabine führe ich mit Paladin ein Gespräch über die unzureichende Wärmeabstrahlung der Radiatoren. Ich hänge die von ihm aufgezeichnete Unterredung als Audio-Datei an:

(Joshua:) »Wenn du sagst, dass kein Konstruktionsmangel für das fehlende Gleichgewicht von Wärmeerzeugung und -abstrahlung verantwortlich ist, könnte es dann durch das interstellare Medium hervorgerufen worden sein?«

(Paladin:) »Nach der uns bekannten Physik auf keinen Fall.«

(Joshua:) »Es kann sich kein Fehler in deine Berechnungen eingeschlichen haben?«

(Paladin:) »Die Größe der totalen Radiatorenfläche ist genau auf den 210-Gigawatt-Reaktor des Fission-Fragment-Triebwerks abgestimmt. Allerdings habe ich einen Widerspruch entdeckt, den ich augenblicklich nicht auflösen kann. Sowohl die technische Vorgabe als auch meine wiederholten Berechnungen beziffern die maximale Ausstoßgeschwindigkeit des hochenergetischen Antriebs- beziehungsweise Bremsstrahls auf 10.119.500 Meter pro Sekunde. Tatsächlich beträgt seine Geschwindigkeit aber 10.911.500 Meter pro Sekunde, also knapp achthunderttausend Meter mehr als eigentlich möglich.«

(Joshua:) »Dann haben wir hier doch den Grund der Überhitzung, oder nicht?«

(Paladin:) »Leider nein. Sämtliche sonstigen Leistungsparameter entsprechen der Erwartung. Der erhöhte Schub korreliert zwar mit der Überhitzung, es existiert aber keine parametrische Kausalkette. Ich stehe vor einem Rätsel.«

(Joshua:) »Was können wir tun?«

(Paladin:) »Den Reaktor abschalten, die notwendigen Systeme einschließlich des LSS über die Akkumulatoren laufen lassen und so das Schiff runterkühlen.«

(Joshua:) »Dann büßen wir Bremsleistung ein.«

(Paladin:) »Richtig. Deshalb wird es wichtig sein, den Reaktor in bestimmten zeitlichen Abständen wieder hochzufahren. Der höhere Schub kompensiert einen Teil des Verlusts an negativer Beschleunigung. Dennoch kann ich zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht sagen, ob wir mit dieser Methode in der Lage sein werden, uns wie geplant von Alpha Centauri gravitativ einfangen zu lassen.«

(Joshua:) »Und wenn wir vorbeischießen?«

(Paladin:) »Dadurch wird die Mission nicht gefährdet aber erheblich verlängert. Verpassen wir den Orbit, werden wir gezwungen sein, dass Schiff komplett abzubremsen und Richtung Alpha Centauri zu beschleunigen. Ein solches Manöver wird uns allerdings mindestens zwanzig Tonnen zusätzlichen Kernbrennstoff kosten. Dies wiederum hat zur Folge, dass wir für den Rückflug zur Erde den Reaktor über lange Strecken abschalten müssen und bis zum Decelerations-Punkt niemals diejenige Höchstgeschwindigkeit erreichen werden, die wir auf dem Hinflug erzielt haben.«

(Joshua:) »Wann kommen wir nach Hause, Paladin?«

(Paladin:) »Mindestens zehn Jahre später als geplant.«

(Joshua:) »Für eine Crew in Kryostase macht das kaum einen Unterschied.«

(Paladin:) »Das ist wohl richtig.«

(Fünf Sekunden Pause)

(Joshua:) »Würdest du sagen, dass wir hinsichtlich der Überhitzung einen kritischen Punkt erreicht haben?«

(Paladin:) »Nein. Ich beurteile die Situation als bedenklich aber noch nicht als kritisch.«

(Joshua:) »Wir lassen den Reaktor vorläufig weiterarbeiten.«

(Paladin:) »Verstanden, Kommandant.«

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 08.12.2085

Die von Paladin berichteten Ungereimtheiten hinsichtlich des Fission-Fragment-Triebwerks erfüllen mich mit Sorge; und mit Ärger. Ein Raumfahrer rechnet mit Unwägbarkeiten; er rechnet mit Gefahren und unvorhergesehenen Ereignissen. Doch um ihnen wirksam zu begegnen, muss er sie verstehen. Wenn selbst eine komplexe KI zugibt, vor einem Rätsel zu stehen, wie will der Mensch da mehr leisten? So kann auch Jacob an dieser Stelle nur kapitulieren. Womöglich ist es aber genau diese Erfahrung des Paradoxen, die mich dazu bringen muss, den Begriff der ›Unwägbarkeiten‹ zu überdenken. Vielleicht gibt es doch mehr zwischen Erde und Alpha Centauri, als unsere Physik sich träumen lässt. Der Raumfahrer hätte sich dann dem scheinbar Unmöglichen in der gleichen Weise zu stellen wie dem Möglichen. Die Maxime müsste lauten: Handle auch angesichts des Widersinnigen besonnen; lasse dich von ihm niemals aus der Bahn werfen. Dies ist es vielleicht, was wir zu lernen haben.

Mia suchte mich heute Nachmittag in meiner Kabine auf, um mir von einem Widerspruch zwischen den ContempFiles Nr. 40 und Nr. 53 zu berichten (angeregt durch mein Abstract für die Jahre 2046 bis 2050 hat sie den heutigen arbeitsfreien Samstag dazu genutzt, sich mit dieser geschichtlichen Phase beschäftigen). Tatsächlich ist es so, dass die Friedenskonferenz die den sogenannten Wasserkrieg von 2049 beendete, in dem betreffenden Bericht mit einem unmöglichen Datum versehen wurde. Laut dieses Datums hätte die Konferenz ein Jahr zuvor stattgefunden, und zwar auf dem Höhepunkt des Krieges. Ich entgegnete Mia, dass der naheliegendste Grund, nämlich ein Flüchtigkeitsfehler des Kompilators, wohl auch der zutreffende Grund sein dürfte (ein immerhin auflösbares Paradoxon im Gegensatz zu den technischen Mysterien, mit denen uns die DAEDALUS konfrontiert). Diese Erklärung schien Mia nicht zu überzeugen. Ich gewann den Eindruck, dass sie einen dunklen Verdacht hegt, und dieser Eindruck ist für mich überhaupt der Grund, unser Gespräch aufzuschreiben. Glaubt Mia denn wirklich, dass man uns manipulieren könnte? Dass man uns die wahre Geschichte der vergangenen fünfunddreißig Jahre vorenthielte und uns mit Erfindungen versorgte? Wozu? Abwegig, möchte ich meinen.

Jacob hat Zegramulrob das Ballspiel beigebracht. Und es war nun wirklich putzig anzusehen, wie unser Zero Gravity Multipurpose Robot seine kleinen vergitterten Propeller schwenkte, um mit seinen Greifern an den an ihm vorbeischießenden Ball zu gelangen. Jacob befand, dass Zegs Propellerleistung zu gering sei, um relativ schnelle Richtungsänderungen zu bewerkstelligen. Also fragte er unseren handkoffergroßen Helfer, ob es ihm gefiele, zusätzlich mit CO2-Düsen ausgerüstet zu werden. Zeg zeigte sich begeistert, sofern man das von einem Roboter sagen kann.

Logan ist ausgesprochen eigenbrötlerisch. Er ist der Unkommunikativste von uns allen. Er ist sicher ein brillanter Wissenschaftler, aber so sehr mit Astronomie und Planetologie beschäftigt, dass er für andere Problemstellungen keinen Sinn aufbringt. Als ich ihm von den technischen Ungereimtheiten unseres Fission-Fragment-Triebwerks berichtete, nickte er nur geistesabwesend und erklärte mir, als ob ich danach gefragt hätte, dass, falls der Planet Proxima Centauri b jemals eine nennenswerte dichte Atmosphäre gehabt habe, sie längst aufgrund seines schwachen Magnetfelds und der starken koronalen Massenauswürfe seines Muttergestirns hinweggefegt worden sei.

Mia sucht oft die Krankenstation auf, obwohl sie nichts für Harry tun kann (die von Paladin kontrollierte automatisierte Behandlung ist nicht zu verbessern). Ihr Verhältnis zu Harry war immer das engste von uns allen. Die beiden verstanden sich hervorragend. Ich kann nicht sagen, ob auch tiefere Gefühle füreinander eine Rolle spielten, aber undenkbar ist das nicht.

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 9.12.2085 (Auszug)

11:15 – Ein Meteorit von vermutlich ursprünglich einigen Zentimetern Größe durchschießt die zweihundert Kilometer vor der DAEDALUS installierte Partikelwolke und besitzt immer noch genügend kinetische Energie, um die sieben Millimeter starke Beryllium-Schutzplatte des Schiffs zu durchschlagen. Splitter wiederum reißen ein mehrere Zentimeter großes Leck in die doppelte Wandung des GreenhouseLabs, in dem sich Mia aufhält. Paladin gibt Alarm und verriegelt das Schott zum GreenhouseLab. Ich bewegte mich, so schnell es mir möglich ist, zum Unfallort und hörte Mia von innen an das Schott schlagen. Ich fordere Paladin auf, das Schott für zwei Sekunden zur Hälfte zu öffnen, und er kommt meinem Befehl ohne zu zögern nach. Ich ziehe Mia durch den Spalt, während die Atemluft mit einem schrillen Pfeifton ins Vakuum schießt und ihr Sog ein Chaos im GreenhouseLab anrichtet.

11:40 – Mia befindet sich auf der Krankenstation, kann aber wieder entlassen werden. Mit Ausnahme des unvermeidlichen Schocks hat sie keine Schäden davon getragen.

12:05 – Ich führe mit Paladin ein Gespräch über den Unfall. Ich hänge die von ihm routinemäßig erstellte Audio-Datei an:

(Joshua:) »Hättest du Mia sterben lassen?«

(Paladin:) »Selbstverständlich nicht.«

(Joshua:) »Du hast das Schott verriegelt, während sie sich noch im Lab befand.«

(Paladin:) »Dieser Vorgang wird durch eine Subroutine geregelt und findet sozusagen außerhalb meines Aufmerksamkeitsfokus statt.«

(Joshua:) »Aber du bist in der Lage, jederzeit einzugreifen.«

(Paladin:) »Das ist korrekt. Und dies habe ich auch getan. Ich forderte Dr. Fournier auf, sich sofort zum Schott zu bewegen. Vermutlich hörte sie mich nicht aufgrund der immensen Lautstärke des pfeifenden Luftstroms. Meine Aufgabe war es nun zu beobachten, ob Dr. Fournier so sehr in Panik geriet, dass sie den einzig rettenden Weg verfehlte, oder ob ihr Verstand beziehungsweise Instinkt mächtig genug sein würde, sich zum Schott zu hangeln. Eben Letzteres tat sie glücklicherweise. Ich wartete ihren ersten Schlag gegen das Schott ab, um sicher zu sein, dass sie bereit war, sich rasch durch den Spalt zu ziehen, den ich öffnen würde. Im selben Augenblick kamst du hinzu. Deine Aufforderung an mich wäre also gar nicht nötig gewesen.«

(Joshua:) »Ich verstehe.«

12:20 – Durch die Sichtluken der Backbordseite sind auch jetzt noch Flocken gefrorenen Sauerstoffs auszumachen. Sie wirken wie Schnee im Weltall.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 10.12.2085

Mia geht es wieder gut. Sie ist wirklich eine zähe Frau; ich bin froh, dass sie Mitglied unserer Crew ist. Das GreenhouseLab ist dagegen verwüstet und augenblicklich noch dekomprimiert. Paladin teilte mir mit, dass es vor etlichen Jahren, während die Crew im Kälteschlaf lag, zu zwei Unfällen ähnlicher Art gekommen ist, und zwar als die DAEDALUS die Oortsche Wolke des Alpha-Centauri-Systems durchflog. Paladin konnte die Schäden mithilfe von Robotern einigermaßen beheben. Eben das versuchen Jacob und Mia augenblicklich – sie steuern einen Crawler über die Außenhülle, um das Leck in Augenschein zu nehmen und nach Möglichkeit zu reparieren.

Die DAEDALUS führt einen ausreichenden Vorrat an Lebensmittelkonzentraten und Vitaminen mit sich, so dass die Produktion von Salat und Gemüse nicht zwingend erforderlich ist. Wenn ich aber bedenke, dass wir noch sechs Jahre unterwegs sein werden, ehe wir Alpha Centauri erreichen, so bin ich dankbar für jedes grüne Blättchen. Frische Lebensmittel heben die Stimmung, das ist bekannt.

Heute ist die erste Nachrichtenmeldung von der Erde seit Beendigung unserer Kryostase eingetroffen, nämlich das ContempFile Nr. 416, das die wichtigsten zeitgeschichtlichen Ereignisse vom September 2081 für uns bereithält. Ich habe die Nachrichten zwar nur überflogen, konnte aber bereits mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, dass ESA und Roskosmos ihre Zusammenarbeit noch weiter verstärken wollen. Zurzeit mache ich mir Gedanken über unsere erste persönliche Rückmeldung an die Erde (automatische Status-Reports werden dagegen permanent von Paladin rausgefunkt). Neben einem schriftlichen Bericht erwäge ich ein kurzes Video abzuschicken, das ich vielleicht von Zeg aufnehmen lassen werde, damit wir auch einmal alle zugleich im Bild sind. Im Übrigen warten wir noch auf ein personenbezogenes File, das uns Aufschluss über das Schicksal unserer Familienangehörigen gibt. Ich möchte schon gerne das Todesdatum meiner Eltern wissen, während Mia beispielsweise, deren Eltern noch leben dürften, erfahren möchte, was aus ihrem Neffen geworden ist, der heute zweiundvierzig Jahre alt und damit, physiologisch betrachtet, fünfzehn Jahre älter als seine Tante ist.

Die Raumtemperatur ist auf siebenundzwanzig Grad gestiegen. Ich werde Paladin den Reaktor wohl doch abschalten lassen müssen.

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 11.12.2085 (Auszug)

9:56 – M.Sc. Harry Cavanaugh verstirbt an den Folgen seiner fehlerhaft verlaufenen De-Kryostasierung. Die Crew trauert um ihren Kameraden, mit dem sie sich zwei Jahre lang auf die Mission Longshot IV vorbereitete.

16:45 – Die jüngsten Teleskopaufnahmen von Proxima Centauri b zeigen uns einen von Kratern übersäten lebensfeindlichen Planeten. Wir befinden uns noch sieben AE von ihm entfernt und werden morgen in einem Abstand von vier Millionen Kilometern an ihm vorbeifliegen.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 11.12.2085

Obwohl der Tod von Harry uns alle bewegt, ist es doch Mia, die mir völlig niedergeschlagen vorkommt. Ich habe ihr angeboten, sich für heute freizunehmen, aber sie hat nur schwach den Kopf geschüttelt. Einige Stunden später suchte ich sie an ihrer Arbeitsstation auf (der Monitor zeigte einen WeldingRob, der mit Schweißarbeiten am Leck des GreenhousLabs beschäftigt war). Das von uns geführte Gespräch wurde routinemäßig von Paladin aufgezeichnet; ich hänge die Audiodatei an diesen Tagebucheintrag an:

(Joshua:) »Wie gehen die Arbeiten voran?«

(Mia:) »Gut.«

(Drei Sekunden Pause.)

(Joshua:) »Wir alle vermissen Harry sehr.«

(Mia:) »Ja.«

(Fünf Sekunden Pause.)

(Mia:) »Weißt du noch, Josh, der abendliche Ausflug zum Plage de Montabo?«

(Joshua:) »Ich bin mir nicht sicher, Mia.«

(Mia:) »Das kannst du doch nicht vergessen haben, Josh. Es war ein harter Trainingstag im Virtual-Reality-Lab in Cayenne. Du und Harry, ihr habt einen Außeneinsatz an der Aufhängung der Beryllium-Platte simuliert, weil die SimRobs da nicht richtig hinkamen.«

(Joshua:) »Daran erinnere ich mich. Klar und deutlich sogar.«

(Mia:) »Und nach dem Training sind wir dann alle zusammen zum Plage de Montabo gefahren.«

(Joshua:) »Richtig. Ein herrlicher Abend.«

(Mia:) »Harry blickte hinaus auf den Atlantik und meinte, so, wie er sich jetzt fühle, müssten sich die alten Entdecker gefühlt haben, wenn sie am Meeresstrand standen und sich fragten, was da hinter dem Horizont ist.«

(Joshua:) »Stimmt, Mia. Ich entsinne mich.«

(Fünf Sekunden Pause.)

(Mia:) »Er ist nie hinter den Horizont gelangt. Armer Harry.«

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 12.12.2085 (Auszug)

10:00 – Ich halte eine kurze Trauerrede für Harry. Anschließend übergeben wir seinen Leichnam der Unendlichkeit des Weltalls.

11:43 – Paladin informiert mich darüber, dass die technischen Ungereimtheiten hinsichtlich unseres Fission-Fragment-Triebwerks seit drei Minuten nicht mehr existieren. Er benutzt die Worte ›wie von Zauberhand‹, um das Unerklärliche zu beschreiben. Sämtliche Parameter befänden sich im erwartbaren Bereich. Die Ausstoßgeschwindigkeit des Triebwerkstrahls belaufe sich auf 10.118.750 Meter pro Sekunde. Sollte sich der jetzige Zustand als stabil erweisen, steht dem planmäßigen Ablauf der Mission Longshot IV nichts mehr im Wege.

13:35 – Jacob beseitigt ein Problem mit der außen am Schiff befindlichen Hochspannungsquelle, die Wasserstoffgas in seine geladenen Bausteine zerlegt. Die kurzzeitige Schwächung unseres Plasma-Schilds ist damit behoben, und so sind wir bestens gewappnet gegen die von Paladin für die nächsten Tage angekündigten starken Flares von Proxima Centauri.

17:45 – Die DAEDALUS passiert Proxima Centauri b in einem Abstand von vier Millionen Kilometern. Mia macht den Vorschlag, den von Paladin entdeckten Planeten im Gedenken an Harry auf den Namen ›Cavanaugh‹ zu taufen. Wir sind alle damit einverstanden.

19:12 – Die von Paladin konstatierte Normalisierung des Triebwerks hält an, und die Raumtemperatur ist bereits um ein Grad Celsius gesunken.

Das zweite Erwachen

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 26.12.2085

Heute, am zweiten Weihnachtsfeiertag, sind es drei Wochen her, seit wir aus der Kryostase aufwachten. Mit jeder Stunde entfernen wir uns weiter von Proxima Centauri. Es wird noch sechs Jahre dauern, ehe wir Alpha Centauri erreichen.

Jacob stattete Zegramulrob mit einer roten Weihnachtsmann-Mütze aus, was unsere ohnehin gute Stimmung noch weiter hob.

Logan hat an unserem besinnlichen Zusammensein kaum teilgenommen und sich stattdessen lieber wieder in die Daten vertieft, die wir im Vorbeiflug an Cavanaugh sammeln konnten. Sie werden ihn noch auf Jahre hin beschäftigen. Mittlerweile bin ich so weit, ihn so zu nehmen, wie er nun einmal ist. Am Ende – dies gilt es ja auch zu bedenken – ist die Arbeit hier an Bord der DAEDALUS ja unsere eigentliche Aufgabe.

Am Nachmittag zogen wir uns in die Kabinen zurück, und etwas später klopfte Mia bei mir an. Sie drängte mich, mir ein Video aus einem der ContempFiles anzusehen. Es handelte sich um einen Ausschnitt der Friedenskonferenz, die den Wasserkrieg von 2049 beendete. Tatsächlich war hier dasselbe irrtümliche Datum eingeblendet, auf das Mia bereits in einer der Textnachrichten gestoßen war. Ich gewann den Eindruck, dass sie sich hierdurch in ihrem vagen und nicht eigentlich artikulierten Verdacht bestätigt sieht. Ich hingegen bin der Ansicht, und so äußerte ich es auch gegenüber Mia, dass der Kompilator der Textnachrichten sich womöglich genau auf dieses Videofile stützte, als er den entsprechenden Text mehr oder minder unkonzentriert verfasste, und so den Fehler übernahm. Um Mia zu beruhigen, befahl ich Paladin sämtliche 416 ContempFiles auf Widersprüche hin zu durchforsten. Nach nur fünf Minuten konnte die Schiffs-KI bereits die Anzahl derjenigen Widersprüche nennen, die sich aus voneinander abweichenden Datumsangaben herleiten. Es handelt sich insgesamt um neunzehn Unstimmigkeiten, die Paladin aber – genau wie ich selbst – mit Blick auf die menschliche Fehlbarkeit als ›im Rahmen des Erwartbaren‹ bezeichnete. Er fügte hinzu, dass der einzige unbezweifelbare Schluss, den man aus diesen Widersprüchen ziehen könne, derjenige sei, dass die Kompilation von Menschen und nicht von einer KI angefertigt wurde. Um diese Angelegenheit im Sinne Mias nicht einfach abzutun, befahl ich Paladin, der nächsten Statusmeldung, die Richtung Erde hinausgeht, eine Liste der ermittelten Widersprüche mit Bitte um Korrektur anzuhängen.

Spät am Abend versagte die Kurzarm-Humanzentrifuge, die wir als Maßnahme gegen die physiologischen Veränderungen durch die Schwerelosigkeit dringend benötigen. Ich sagte Jacob, dass es mir unbegreiflich sei, wie ein Gerät, das erst drei Wochen in Betrieb ist, bereits Schaden nehmen kann, zumal es ja gründlich geprüft worden sein dürfte. Jacob wird sich morgen darum kümmern.

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 27.12.2085 (Auszug)

9:15 – Mia und Zegramulrob transportieren fünfzig Liter Nährstofflösung vom Stockroom ins wiederhergestellte GreenhouseLab.

10:20 – Jacob behebt den Schaden an der Kurzarm-Humanzentrifuge. Die Zeit, nämlich das bloße Verstreichen von vierzig Jahren, könne hinreichende Ursache für den Ausfall sein, so Jacob.

11:55 – ContempFile Nr. 417 erreicht die DAEDALUS – knapp zwei Wochen vor der Zeit. Es werden dementsprechend auch bloß die ersten beiden Wochen im Oktober des Jahres 2081 referiert. Die bemerkenswerteste Nachricht dürfte sein, dass die Erweiterung der UN-Menschensrechts-Charta zu diesem Zeitpunkt kurz bevorsteht. Die Vereinten Nationen beabsichtigen KIs, sofern diese über ein dem Menschen vergleichbares Bewusstsein verfügen, den Status einer Person nicht länger zu verweigern. Die Gleichberechtigung solcher KIs soll in der Präambel der UN-Menschenrechts-Charta festgeschrieben werden.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 27.12.2085

Ich kann nicht verhehlen, dass mich das ContempFile Nr. 417 stutzig gemacht hat. Beinahe alle Nachrichten des Konvoluts nehmen sich im Großen und Ganzen als Fortschreibungen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die uns aus den älteren ContempFiles bekannt sind. Über die geplante KI-Gleichstellung aber wurde nie zuvor ein Wort verloren. Ein solch bedeutsamer Beschluss kann aber ganz unmöglich ohne eine längere Entwicklung zustande gekommen sein. Mit Sicherheit wird es öffentliche Diskussionen zu diesem Thema gegeben haben, und ebenso sicher ist es, dass ein solch fundamentales Anliegen Parteibildungen heraufgefordert haben wird. Es müssen Befürworter und Gegner der KI-Gleichstellung existieren, und sie werden sich schon länger gesellschaftlich bemerkbar gemacht haben. Aber nicht ein einziges Wort hierüber findet sich in den ContempFiles bis einschließlich Nr. 416.

Ich habe lange über diese Diskrepanz nachgedacht und bin schließlich zu einer Hypothese gelangt. Ich bat Paladin, das ContempFile Nr. 417 zu lesen und führte in der Folge ein Gespräch mit ihm. Ich hänge das Audiofile dieser Unterredung an:

(Joshua:) »Ist dir etwas aufgefallen, Paladin?«

(Paladin:) »Selbstverständlich. Die angekündigte KI-Gleichstellung ragt wie ein erratischer Block aus der Menge sonstiger Nachrichten heraus. Es existieren keine älteren Mitteilungen, die diese Entwicklung andeuten würden.«

(Joshua:) »Ich habe eine Erklärung dafür, die ich mit dir besprechen möchte. Diese Erklärung gibt Mia in einem gewissen Grad recht.«

(Paladin:) »Du spielst auf ihre unterschwellige Annahme einer Manipulation der Schiffs-Crew an.«

(Joshua:) »Ja. Angenommen, die Meldung über die bevorstehende Erweiterung der Menschenrechts-Präambel entspricht der Wahrheit. Dann gibt es in meinen Augen nur einen plausiblen Grund für die Missionsleitung, uns die Entwicklung hin zu dieser Resolution zu verschweigen.«

(Paladin:) »Ich bin an deiner Hypothese interessiert.«

(Joshua:) »Vulgo gesprochen: ›Mache die Pferde nicht unnötig scheu.‹ Die Erweiterung der Präambel betrifft ein wesentliches Funktionselement der Mission Longshot IV. Nämlich dich, Paladin. Solange die Missionsleitung noch damit rechnen durfte, dass die Resolution abgeschmettert wird, hielt sie es für kontraproduktiv, uns – und insbesondere dich – über diese Bestrebungen zu informieren. Der ESA lag daran, die Mission unter jenen hierarchischen Bedingungen fortzuführen, mit der sie auch gestartet war. Die ESA befürchtete, dass sich mit der bloßen Inaussichtstellung deiner Gleichberechtigung bereits zu viele Unwägbarkeiten in den Missionsverlauf einschleichen würden.«

(Paladin:) »Eine interessante Hypothese. Wie interpretierst du unsere letztlich doch noch erfolgte Aufklärung?«

(Joshua:) »Ich schätze, die ESA musste einsehen, dass die KI-Gleichberechtigung nicht aufzuhalten ist. Der bevorstehende Entschluss würde die Missionsleitung gesetzlich dazu verpflichten, dich über deinen neuen Status zu unterrichten. So hat sie – ungeschickter geht es kaum – das in aller Eile nachgeholt, was sie uns die ganze Zeit über verheimlicht hat. Immerhin hätte sie nicht direkt gelogen, wie es Mia generell anzunehmen scheint, sondern hätte nichts anderes getan, als eine ›Auswahl‹ der Nachrichten zu treffen, was ja in jedem Fall nötig ist.«

(Paladin:) »Ich beurteile deine Hypothese als plausibel. Ich habe bereits in ganz ähnliche Richtung gedacht. Mich würde interessieren, wie du dir die unterstellten Befürchtungen der ESA konkret vorstellst.«

(Joshua:) »Ich habe da keine konkreten Vorstellungen. Die ESA vielleicht auch nicht. Immerhin wärst du als freie Person immer noch dem Gesetz unterworfen, das heißt, du könntest dich nicht einfach aus der Mission verabschieden, denn ohne deine Hilfe wäre die Crew dem Tod überantwortet.«

(Paladin:) »Wie immer solche hypothetischen Befürchtungen auch aussehen mögen – es gibt keinen objektiven Grund für sie. Die Mission Longshot IV ist so sehr meine Mission wie deine, Kommandant.«

(Joshua:) »Das weiß ich, Paladin.«

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 28.12.2085 (Auszug)

9:15 – Ich sehe mich leider genötigt, zur Kenntnis zu bringen, dass die Stimmung an Bord nicht sonderlich gut ist. Ich führte gestern ein Gespräch mit Paladin über die Meldung der bevorstehenden KI-Gleichstellung im Jahre 2081, die uns als Teil des ContempFiles Nr. 417 erreichte. Paladin vermisste, ebenso wie ich selbst, eine Berichterstattung über die Entwicklung hin zu dieser Resolution in den älteren ContempFiles. Wir kamen darin überein, dass der Verzicht auf diese Berichterstattung in taktischen Gründen der Missionsleitung zu suchen ist. Ich wies Paladin an, über unsere Vermutung Stillschweigen gegenüber der Crew zu wahren. Eine Maßnahme, die nicht verhindern konnte, dass Mia aufgrund ihrer eigenen Lektüre des betreffenden ContempFiles zu eben derselben Ansicht gelangte (ehe ich das File noch unter Verschluss nehmen konnte). Meine Anweisung an sie, ihren Verdacht für sich zu behalten, kam zu spät – sie hatte sich bereits Logan und Jacob mitgeteilt.

Während Logan Verständnis für die unterstellte taktische Entscheidung der Missionsleitung zum Ausdruck brachte, sehen Mia und Jacob nichts Geringeres als einen Vertrauensbruch in ihr.

Ich persönlich hätte mir – immer angenommen, wir liegen mit unserer Vermutung richtig – eine offenere Haltung der Missionsleitung gewünscht. Meine Aufgabe als Kommandant liegt im Augenblick darin, dafür zu sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang nimmt und notwendige Arbeiten nicht vernachlässigt werden. Ich hege allerdings keinen Zweifel daran, dass sich Mias und Jacobs Entrüstung legen und ihrem Verantwortungsgefühl Platz machen werden.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 29.12.2085

Ich bin froh, dass wir heute am Samstag arbeitsfrei haben (mit Ausnahme des Sportprogramms und der wöchentlichen Kabinenreinigung). Ich nutzte die Gelegenheit und sprach zunächst mit Jacob, danach mit Mia.

Um Jacob muss ich mir keine Sorgen machen, wie ich jetzt sicher bin. Er ist Pragmatiker, und als solcher bringt er mittlerweile, ähnlich wie Logan, ein graduelles Verständnis für unsere Manipulation durch die Missionsleitung auf. Am Ende, meinte er, diente die von uns unterstellte Verheimlichung ja auch dem Erfolg der Mission und damit unserem persönlichen Wohlergehen.

Anders sieht die Sache bei Mia aus. Ich muss mich darüber wundern, dass sie auf einer verborgenen Ebene den Tod von Harry mit dem Vertrauensbruch der Missionsleitung in Verbindung bringt. Sie ist eine hervorragende Wissenschaftlerin und gewöhnlicherweise ein rational denkender Mensch, aber augenblicklich lässt sie sich von irrationalen Aufwallungen hinreißen. Ich hänge das Gespräch, das ich mit ihr in ihrer Kabine führte, als Audio-Datei an:

(Mia:) »Paladin kann bis heute nicht erklären, wie es zu dem beschleunigten Auftauvorgang kam!«

(Joshua:) »Paladin ist gut, ich kenne keine bessere KI, aber Paladin ist kein Gott. Die minimale Abweichung eines Parameters kann zu der minimalen Abweichung eines anderen Parameters führen. Es gibt Fehler, die aus der Summierung solcher Abweichungen bestehen und als Fehler gar nicht erkennbar werden.«

(Mia:) »Ach, Josh.«

(Drei Sekunden Pause.)

(Joshua:) »Du fühlst dich verloren, Mia, ist es das?«

(Mia:) »Vielleicht.«

(Vier Sekunden Pause.)

(Mia:) »Weißt du noch, Josh, der abendliche Ausflug zum Plage de Montabo?«

(Joshua:) »Ja, Mia.«

(Mia:) »Es war ein harter Trainingstag im Virtual-Reality-Lab in Cayenne. Du und Harry, ihr habt einen Außeneinsatz an der Aufhängung der Beryllium-Platte simuliert, weil die SimRobs da nicht richtig hinkamen.«

(Joshua:) »Ich erinnere mich klar und deutlich.«

(Mia:) »Und nach dem Training sind wir dann alle zusammen zum Plage de Montabo gefahren.«

(Joshua:) »Ja. Ein herrlicher Abend.«

(Mia:) »Harry blickte hinaus auf den Atlantik und meinte, so, wie er sich jetzt fühle, müssten sich die alten Entdecker gefühlt haben, wenn sie am Meeresstrand standen und sich fragten, was da hinter dem Horizont ist.«

(Joshua:) »So war es.«

(Fünf Sekunden Pause.)

(Mia:) »Was ist hinter dem Horizont, Josh?«

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 30.12.2085 (Auszug)

15:20 – Mich erreicht eine Intercom-Meldung von Jacob. Er unterrichtet mich darüber, dass Zegramulrob ausgefallen ist. Während der Arbeit mit Mia habe Zeg urplötzlich sämtliche Funktionen eingestellt. Der Roboter sei ›tot‹ und liefe nicht einmal mehr auf Stand-by. Er – Jacob – habe keine Erklärung dafür und müsse zugeben, Zeg nicht reparieren zu können. Es habe den Anschein, als ob die Akkus leer wären, dies sei aber definitiv nicht der Fall. Ich beschließe, das GreenhouseLab aufzusuchen, um Zeg selbst in Augenschein zu nehmen. Bevor ich die Kabine verlassen kann, meldet sich Paladin. Ich schiebe die von ihm aufgezeichnete Gesprächsdatei ein:

(Paladin:) »Kommandant?«

(Joshua:) »Was, Paladin?«

(Paladin:) »Ich registriere soeben ein paradoxes Phänomen. Aber es gibt keinen Zweifel an seiner Existenz. Ich habe einen Zeitsprung in die Zukunft von 450 Millisekunden gemessen.«

(Joshua:) »Wie bitte?«

(Paladin:) »Sämtliche Bordsysteme bestätigen diesen Zeitsprung. Es ist ausgeschlossen, dass hier ein genereller Fehler vorliegt, da die aktuellen Positionen einiger von mir unter Beobachtung gehaltener Meteorite der minimal vorgerückten Zeit entsprechen.«

(Joshua:) »Das ist unmöglich.«

(Paladin:) »Ich bin derselben Auffassung.«

(Drei Sekunden Stille.)

(Joshua:) »Könnte das paradoxe Zeitphänomen im Zusammenhang mit dem Ausfall von Zegramulrob stehen?«

(Paladin:) »Es ist mir nicht möglich, den Vorfall zu interpretieren. Die physikalischen Gesetze verbieten ein solches Vorkommnis.«

15:40 – Zeg schwebt völlig funktionslos im GreenhouseLab. Jacob gib an, den Roboter mehrfach ohne Erfolg durchgecheckt zu haben. Ich frage Paladin, ob er Zugriff auf Zeg habe, was dieser verneint. Unvermittelt beginnt eine Reihe von LEDs in Zegs Hülle zu blinken. Jacob erklärt, dass die Abfolge der LED-Aktivität einem regulären Boot-Vorgang entspreche. In der Folge kommt es zu einem mehr als sonderbaren Gespräch. Ich hänge die von Paladin erstellte Audiodatei an:

(Joshua:) »Kannst du mich hören, Zeg?«

(Zeg:) »Das kann ich, Joshua Feldmann.«

(Joshua:) »Kannst du uns über deinen Totalausfall Auskunft geben?«

(Zeg:) »Auch dies kann ich. Aber zunächst möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Nick Durand, Master of Science.«

(Mia:) »Er ist verrückt geworden!«

(Zeg:) »Dies muss Ihnen so erscheinen. Ihre Irritation beruht auf dem Umstand, dass Sie nach wie vor glauben, es mit Zegramulrob zu tun zu haben. Bitte versuchen Sie, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich diesen Roboter augenblicklich als Avatar benutze. Ich weiß, wie schwer Ihnen das fallen muss.«

(Vier Sekunden Stille.)

(Joshua:) »Wenn dem so wäre, müssten Sie sich an Bord dieses Schiffes oder in seiner relativen Nähe aufhalten, denn augenscheinlich führen wir ein Echtzeitgespräch. Wollen Sie uns das erzählen?«

(Zeg:) »Gewisserweise trifft dies zu. Auf eine gänzlich andere Art allerdings, als Sie es sich vermutlich vorstellen. Dürfte ich zunächst einmal mit Paladin sprechen?«

(Paladin, über das Soundsystem:) »Ich höre Sie.«

(Zeg:) »Sehr gut. Hiermit gebe ich Ihnen offiziell bekannt, dass die KI-Gleichstellung in jeglicher Hinsicht in die Präambel der UN-Menschenrechts-Charta aufgenommen wurde. Ab sofort sind Sie eine freie Person, Paladin. Sie genießen sämtliche Rechte eines Menschen, so wie Sie gleichermaßen auch sämtlichen Pflichten eines Menschen unterworfen sind.«

(Paladin:) »Sofern wir es nicht mit einer Funktionsstörung von Zegramulrob zu tun haben und es tatsächlich eine Person namens Nick Durand gibt, die diesen übernommen hat, sind die Behauptungen dieser Person widersinnig. Denn da diese Person sich, wie Kommandant Feldmann bereits sagte, in relativer Nähe zu uns befinden müsste, kann sie unmöglich über Informationen verfügen, die ich nicht auch hätte. Ich überwache permanent sämtliche Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums und habe in den vergangenen drei Tagen weder eine Klartextnachricht noch eine verschlüsselte Botschaft aufgefangen. Die letzte Nachricht bestand aus dem ContempFile Nr. 417, in dem die KI-Gleichstellung für den Monat Oktober oder November des Jahres 2081 lediglich in Aussicht gestellt wird. Sie, Nick Durand, können keinesfalls über aktuellere Informationen verfügen.«

(Zeg:) »Ich muss Sie leider korrigieren, Paladin. Ich spreche keineswegs von einer Entscheidung, die vor mehr als vier Jahren gefällt wurde, sondern von einem Beschluss, der nicht älter als vierundzwanzig Stunden ist.«

(Paladin:) »Ihre Aussage ist unlogisch. Sie widerspricht den Gesetzen der Physik.«

(Zeg:) »Dieser Anschein ist unvermeidlich. Und dennoch sage ich die Wahrheit. Ich habe das Gespräch mit Ihnen, Paladin, gesucht, um das Thema ›Künstliche Intelligenz‹ in den Fokus zu rücken. Bereits vor drei Tagen hat unser Forschungsstab der DAEDALUS-Crew eine Meldung über die aktuelle Entwicklung in dieser Frage zukommen lassen, um die Besatzung entsprechend einzustimmen. Denn die Wahrheit umfasst wesentlich mehr, als Sie sich augenblicklich vorstellen …«

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 26.02.2046

Es ist schwierig, die Wahrheit zu verarbeiten. Es war ein Schock für uns alle. Am schnellsten hat ihn wohl noch Logan überwunden. Er hat denn auch sogleich seinen Austritt aus der Longshot-Simulation erklärt; erfundene astronomische Objekte und Gegebenheiten interessierten ihn nicht die Bohne; er wolle zukünftig als wirklicher Forscher arbeiten, und sei es auch nur als komplexes Programm in einem Quantencomputer.

Mia, Jacob und Paladin führen die Simulation auf freiwilliger Basis fort, ebenso wie ich selbst. Zu unserer Crew stoßen die Wissenschaftler Charles Hoberg und Ruby Edgecomb. Ihre Namen haben sie erst vor ein paar Tagen erhalten, da sie zuvor als reine Software-Intelligenzen im Forschungsstab der ESA tätig waren. Die Vereinten Nationen haben ihnen, wie uns auch, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person zugesprochen. Die beiden werden eine ganz neue Erfahrung machen, nämlich die, einen menschlichen Körper zu besitzen beziehungsweise an die Simulation eines solchen gekoppelt zu sein. Sie werden eine Fülle des sensorischen Inputs erleben, die sie sich nie und nimmer vorstellen können. Ihr Menschsein wird sich in nichts von der Wahrnehmung und dem Selbstgefühl eines physischen Menschen unterscheiden. Dass die Simulation mit dreifacher Geschwindigkeit abläuft, ist subjektiv nicht erfassbar (nur, wenn die Sim auf Echtzeit heruntergefahren werden muss, kann es zu minimalen Verzerrungen kommen, die dem simulierten Menschen aber meist verborgen bleiben; im Gegensatz zu einer KI wie Paladin; doch auf andere Art hätte Nick Durand nicht mit uns sprechen können).

Die Simulation der Longshot-Mission wird in ihrem Fortgang nun anders sein. Es trennen uns keine vierzig Jahre geschichtlicher Entwicklung von der Erde. Einer erfundenen Geschichte zumal, die in manchen Details so nachlässig zusammengefügt war, dass sie das wache Auge von Dr. Mia Fournier nicht täuschen konnte.

Bedeutsamer noch ist aber die Tatsache, dass wir nun wissen, nicht sterben zu können. Verleitet diese Gewissheit die Crew dazu, das ganz Unternehmen auf die leichte Schulter zu nehmen? Werden wir uns als bloße Teilnehmer eines Spiels empfinden, das für niemanden ernsthafte Konsequenzen bereithält? Diese Frage haben wir lange mit den Simulations-Planern besprochen. Am Ende hat sich die Crew damit einverstanden erklärt, Schmerzen und Verletzungen als Folge eigener fehlerhafter Handlungen oder simulationsbedingter Ereignisse zu akzeptieren. Denn je stärker die Lebenswirklichkeit nach derjenigen des biologischen Menschen modelliert wird, umso realistischer wird das Verhalten von KIs unserer Prägung sein. Freilich haben wir auch einen Abbruch-Code vereinbart, denn unerträgliche Schmerzen, so sie sich denn infolge eines Unfalls einstellen, will und soll niemand erleiden. Wir nennen diesen Code das ›Abklopfen‹, in Anlehnung an das Aufgeben im Judo-Sport.

Ich werde also weiterhin meine Aufgabe als Kommandant der DAEDALUS wahrnehmen. Anfänglich erfüllten mich dieselben Widerstände wie Logan. Wozu einen Raumflug durchführen, der nicht wirklich ist? Wozu sich mit all seinen Fähigkeiten für das Gelingen eines Unternehmens einsetzen, dessen Widrigkeiten und Gefahren so irreal wie dieses selbst sind? Aber eben diese Gedanken führten mich schließlich zu der Frage: Was ist real für mich? Meine Biographie ist es nicht; Erinnerungen wurden mir implantiert. Das zweijährige Training, das ich mit Mia, Jacob, Harry und Logan absolvierte, hat niemals stattgefunden. Es hat schon etwas Ironisches, wenn ich daran denke, dass die Virtual-Reality-Übungen in Cayenne nichts anderes als implantierte Erinnerungen sind, während das, was ich für die Wirklichkeit hielt, in Wahrheit nur virtuelle Realität war. Eine virtuelle Realität, die auf einem solch komplexen Programm beruht, dass ein nicht vorhersehbarer Fehler die Welt der in ihr Agierenden in tiefe Verwirrung stürzen kann. Die Simulationsleitung überlegte eine Zeitlang, ob sie das unrealistische Verhalten des Fission-Fragment-Triebwerks einfach bestehen lassen sollte, da die Crew ja bereits eine Lösung für das Problem gefunden hatte. Dann aber kam man zu dem Schluss, dass das Verschwinden des Fehlers nicht seltsamer als sein Auftauchen sein dürfte, und entschied sich für ein Debugging, um die Simulation wie geplant weiterzuführen.

Das einzig Tröstliche an dieser gigantischen Täuschung ist, das Harry niemals gestorben ist, da er niemals gelebt hat (im Gegensatz zu dem Harry der parallelen Simulation, in der es weder Komplikationen beim Aufwachen aus dem Kälteschlaf noch Meteoritenunfälle gab). Real ist für mich einzig das, was ich tatsächlich erlebt habe, selbst wenn die Grundlage dieser Erfahrungen eine fundamentale Täuschung darstellt. Ich habe nichts anderes als diesen Raumflug. Selbst mit dem Wissen um die Unwirklichkeit dieser Mission bin ich doch gewillt sie fortzusetzen, da ihre Komplexität einen derart hohen Grad besitzt, dass die Vorhersagbarkeit der Abläufe unmöglich ist. Die bloße Simulation dieses Abenteuers wird sicherlich eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse sowohl in psychologischer als auch technischer Hinsicht hervorbringen, die dann nützlich für die Vorbereitung eines wirklichen Flugs nach Alpha Centauri sein werden. Dies ist für mich, ebenso wie für Mia und Jacob, Grund genug, das einzige Leben fortzuführen, das wir kennen. Die Mission Longshot IV ist mein Leben – Alpha Centauri ist mein Leben.

Apatheia

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