Читать книгу Cyberland - Gundolf S. Freyermuth - Страница 6
Оглавление»Ich bin ein Zukunfts-Hacker.
Ich habe Heimweh nach der Zukunft.«
St. Jude
Vom Versuch,
die Gegenwart zu überwinden
Der Mann, einer der führenden Journalisten Ägyptens, gestikulierte mit der einen Hand hinauf zu dem gegenüberliegenden Dach, wo komplizierte elektronische Gerätschaft installiert war, und mit der anderen wies er hinunter in Richtung der Kairoer Slums, wo die islamischen Fundamentalisten den Ton angeben.
»Hier stehen wir!« rief er aus: »Ein Bein auf dem Mond! Das andere klemmt in der Gosse!«
Längst jedoch ist die Zerrissenheit zwischen den Epochen, dieses Dilemma der Ungleichzeitigkeit, kein isoliertes Leiden der dritten oder vierten Welt mehr. Auch in den industrialisierten Ländern, in Paris und New York, Berlin und Los Angeles, verbreitert sich die Kluft zwischen den digitalen Avantgardisten und dem analogen Rest der Menschheit. Während Millionen überfordert und hilflos dem technischen Fortschritt hinterher stolpern oder gar widerstrebend zurückbleiben, experimentieren Subkulturen mit atemberaubendem Elan an der neuen Hightech-frontier und stürmen unbesorgt voraus in die Zukunft.
Meine eigenen Erfahrungen mit dem heraufziehenden digitalen Zeitalter begannen 1984 damit, dass ich mir inmitten des medialen Trommelfeuers um das sogenannte Orwell-Jahr meinen ersten Computer kaufte. Er war kaum größer als der aufziehbare, Mozart-bimmelnde Spielzeugfernseher, den ich als Kind besessen hatte. Die totalitäre Bedrohung, vor der allenthalben gewarnt wurde, schien mir das neue elektronische Gerät daher nicht gerade, vielmehr wirkte der Computer angesichts seiner beschränkten Möglichkeiten eher rührend. Schon nach ein paar Stunden begann er, gehorsamer als der Durchschnittshund, das zu tun, was ich von ihm wollte.
Konnte es sein, fragte ich mich damals, dass die technischen Schrecken, die in unzähligen zukunftsängstlichen Leitartikeln und Jeremiaden so farbenprächtig ausgemalt wurden, von Männern und Frauen erzittert wurden, die wie Orwell selbst nie mit einem Computer umgegangen waren?
Ein bescheidenes Heimgerät verschaffte mir freilich kein tieferes Verständnis der sich rasant entwickelnden digitalen Techniken. Wie einst Don Quijote sah ich mich mit den Folgen eines Fortschritts konfrontiert, dessen Funktionieren mir ein Rätsel war. Von Informatik, dem Internet oder Nanotechnologie verstand ich soviel wie – oder noch weniger als – der Ritter aus der rückständigen Mancha seinerzeit von der revolutionären Windmühlentechnik. Anders als er zog ich es indes vor, das unverständlich Neue nicht zu bekämpfen, sondern zu erkunden, und zwar in seinen radikalsten Erscheinungen.
»Cyberland« berichtet von meinem langen, seltsamen Trip durch den Hightech-Underground. Das Buch erzählt von den Protagonisten der interessantesten Cyber-Bewegungen, denen ich teils in der Realität, teils im Cyberspace begegnete, es schildert die Abenteuer und befremdlichen Träume dieses zukunftshungrigen und zukunftsträchtigen Menschenschlags, der sich unablässig an den Grenzen unserer gegenwärtigen Existenz stößt – nicht nur an der relativen Primitivität von Maschinen und Computern, sondern auch an der Rückständigkeit der Gehirne und Körper, die der Menschheit bislang zur Verfügung stehen.
Mit den herkömmlichen Beschränkungen individueller Fähigkeiten und kollektiver Entwicklungsmöglichkeiten dürfte es jedoch bald vorbei sein, meinen die Männer und (wenigen) Frauen der diversen Cyber-Stämme. Der sich unablässig beschleunigende technische Fortschritt, der den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmte, nähere sich einem epochalen Umschlagspunkt, an dem die Leistungsfähigkeit von elektronischen und biologischen Computern die menschlichen Möglichkeiten erreichen und überschreiten werde. Die logische Konsequenz daraus sei die gezielt betriebene Selbstverbesserung des Homo sapiens, aus der schon sehr bald eine symbiotische Lebensform von höherer Intelligenz und längerer Lebensdauer hervorgehen werde.
Was sich anbahnt, vergleichen einige – etwa John Perry Barlow von der Electronic Frontier Foundation (EFF) – mit der Entdeckung des Feuers, die am Anfang der Zivilisation stand. Andere gehen einen Schritt weiter und sprechen von der Möglichkeit eines Evolutionssprungs: gen- und nanotechnisch von Menschenhand gesteuert und vergleichbar mit jenem, der einst auf diesem Planeten intelligentes Leben entstehen ließ.
Zu dem Cybervolk, das eine solche Evolution im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit propagiert, zählen Dutzende von »Maverick«-Wissenschaftlern – Nonkonformisten und erfolgreiche Außenseiter wie der Begründer der Nanotechnologie Eric Drexler (Stanford), der Mathematiker und preisgekrönte Science-Fiction-Autor Vernor Vinge (San Diego State University), der Informatiker Marvin Minsky (Massachusetts Institute of Technology) oder der Robotiker Hans Moravec (Carnegie-Mellon University) –, aber auch hemmungslose Heimwerker, phantasierende Künstler und gläubige Science-Fiction-Fans.
In ihrer Mehrheit allerdings rekrutieren die utopischen Gruppen und Grüppchen ihre Anhänger aus der breiten Schicht der »knowledge worker« (Peter F. Drucker) und »symbolic analysts« (Robert Reich), aus der Schar hochqualifizierter Wissens-Techniker und Symbol-Verarbeiter also, die sich um die boomenden Hightech-Industrien und Spitzenforschungseinrichtungen herum versammelt hat. Dieser intellektuelle Mittelstand stellt das Fußvolk der Cyber-Bewegung, er bildet das faszinierte Publikum, das einer Vielzahl komplizierter Bücher und anspruchsvollen Cyberkultur-Zeitschriften wie »Mondo 2000« und »Wired« hohe Auflagen beschert und das für den immer dichter werdenden Verkehr im Internet und in kommerziellen Netzen wie CompuServe oder America Online sorgt.
Die unbändige Energie des Hightech-Undergrounds wie die glühende Bewunderung, die er bei seinen konventionelleren Mitläufern weckt, speisen sich aus dem professionellen Erfahrungswissen, dass Technik mehr als ein Mittel zu mundanen Zwecken ist. Wissenschaftlicher Fortschritt und technologische Erkenntnisse gehen nicht im Zuwachs an Rationalität und schieren Produktivitätsgewinnen auf, in ihnen wirkt vielmehr eine utopische Sehnsucht: der Wunsch, die planetarische Not und die Gewalt, die unsere Zivilisation allen Lebewesen antut, in Richtung zukünftiger Paradiese zu überwinden.
Sie sollen weder Armut und Unterdrückung noch Tod kennen, postulieren die Cyberutopisten, und Freiheit soll dann auch »morphologische Freiheit« meinen, das neue Menschenrecht, selbstbestimmt die eigene Existenz durch medizinische und genetische Interventionen verbessern zu können und dürfen.
Von dem Teil der Zukunft, der schon begonnen hat, von den gegenwärtig gewagtesten Versuchen, die Grenzen der Gegenwart zu überschreiten und mit dem Cyberzauber heute schon ernst zu machen, handeln die folgenden Kapitel.
Cyberdenken: Alles ist Computer. »Mondo 2000«-Begründer und Cyberpropagandist R. U. Sirius spielt in San Francisco den Fremdenführer und versorgt Neulinge in Cyberland mit dem notwendigen Basiswissen. Er erklärt die wichtigsten Begriffe und einflussreichsten Praktiken, er verrät, wer und was wichtig ist, und er fordert en passant die Erneuerung unseres Denkens und den Umbau unserer Körper (Kapitel II);
Cyberwirtschaft: Geld und Sex. Avantgardisten der Cybernautik führen vor, wie sich die Restriktionen der rückständigen, weil analogen Mono-Realität aufheben lassen. Die radikalsten unter ihnen, von erfolgreichen Cyberarbeitern in den abgelegensten Gebieten des amerikanischen Westens bis zu sich weltweit vollbefriedigenden Cybersexlern, leben und lieben bereits heute so weit als möglich in multiplen virtuellen Welten (Kapitel III);
Cyberzeitreisen: Winterschlafend in die Zukunft. Alcors Kryoniker öffnen in der Wüstenmetropole Phoenix ihr Lager der lebenden Leichen. Mit tiefgekühlten Kraftakten wollen diese Zukunftsbastler dem »größten Feind der Menschheit« ein provisorisches Schnippchen schlagen – erster Schritt zu einer Überwindung der Endlichkeit unserer Existenz zugunsten eines zukünftigen »Lebens ohne Verfallsdatum« (Kapitel IV);
Cybertopia: Was nach dem Menschen kommt. Extropianer-Häuptling Doktor Max More, ein Fourier-Marx-Nietzsche-Zwitter des digitalen Zeitalters, zieht im südkalifornischen Extropy-Institute die geschichtsphilosophischen Konsequenzen aus der heraufziehenden technischen Machbarkeit einer selbstgesteuerten physiologischen und morphologischen Umprogrammierung des Homo sapiens. Er konzipiert Trans- und Posthumanität als die nächsten Evolutionsstufen intelligenten Lebens auf diesem Planeten. Extropianismus, diese Mischung aus utopischer Bewegung und philosophischer Schule, erscheint so als ideologisches Komplement einer globalen Wissenschafts-Praxis, die längst mit dem Frankenstein-Projekt ernst macht: Cybertechniker aller Arten und Sparten, Mediziner, Biologen und Genetiker, Informatiker und Nanologen, betreiben die Katalogisierung und Modifikation unseres Genmaterials sowie die Cyborgisierung des Körpers, das heißt die Integration von menschlicher Wetware mit maschineller Soft- und Hardware, und damit den Umbau unserer biologischen Existenz zugunsten einer leistungs- und widerstandsfähigeren, tendenziell unsterblichen, eben post-biologischen Lebensform.»Die Humanität, das Menschsein, ist nur eine Durchgangsphase auf dem Pfad der Evolution. Wir sind nicht der endgültige Höhepunkt in der Entwicklung der Natur«, sagt Max More: »Es wird Zeit, dass wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und unser Fortschreiten in die Transhumanität beschleunigen.« (Kapitel V)
Begonnen hat diese Zukunft, deren Prophezeiung vor anderthalb Jahrzehnten noch jeden in die Klapsmühle gebracht hätte, im amerikanischen Westen, an jener utopischen Ecke in der nordkalifornischen Bay Area, wo Haight-Ashbury und Silicon Valley sich kreuzen.
Wollte die Revolte der Hippies und Yippies, die sich in den sechziger Jahren von hier aus über die Welt ausbreitete, das Bewusstsein der Menschheit befreien – politisches Handeln, sexuelles Verhalten, psychisches und psychedelisches Erleben –, so betrieb die elektronische Revolution, mit der die jugendlichen Garagenbastler von Silicon Valley in den siebziger Jahren das digitale Zeitalter eröffneten, eine demokratische Hightech-Befreiung: Sie verlangten erschwinglichen und unkontrollierten Zugang zu jenen Apparaturen, über die bis dahin nur wenige Privilegierte in Konzernen, Universitäten und in den Regierungen verfügten, und sie konstruierten folgerichtig die ersten Personal Computer.
Die geographische Nähe beider Zukunfts-Szenen in der Bay Area brachte sie in den frühen achtziger Jahren zusammen. Und dort, wo sich Hippies und Hacker, Freaks und Nerds, Punks und Programmierer mischten und aus dieser Mischung die ersten Cybersubkulturen entstanden, soll auch diese skeptisch-staunende Erkundung von Cyberland beginnen.