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Оглавление»Wir streben nicht nach Glaubwürdigkeit,
wir streben nach Unglaublichkeit.«
Timothy Leary
Neue Territorien der Freiheit.
Große Versprechen
Kalt, grell und schwarz, so gut wie lebensleer. Am Straßenrand sammelt sich der Dreck, ausgedeuteten Tagesresten gleich: zerrissene Kartons, gebrochene Spritzen, alpträumende Maskengesichter, deren stiere Blicke einen Punkt jenseits jedes Bewusstseins fixieren. Zurück und willkommen in der Realität.
Aktuelle Position nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen in der Bay Area. Zeit: 26:30 h nach dem ersten Kontakt.
»Wer über den Rand der Welt hinaussegelt«, sagt R. U. Sirius, »stürzt in einen Abgrund. Dachten die Leute zu Columbus’ Zeiten jedenfalls, und in gewisser Hinsicht haben sie Recht behalten. Er fiel aus der Alten Welt raus und in die Neue rein.«
Wir stolpern stocknüchtern. Nach Stunden in vollklimatisierten Innenräumen beißt die Wintersamstagnacht. Gegrilltes, Gebratenes, Frittiertes - eine Suada verbrauchter Genüsse, im San-Francisco-Sauerstoff gespeichert wie auf dem ROM-Chip eines Riechzellen-Implantats.
»Ich kann die Bahn nehmen.«
R. U. Sirius lächelt. Der Cyber-Experte ist zu Fuß unterwegs. Im automobilen Kalifornien des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts erscheint das exzentrischer als per Anhalter durch die Galaxis zu reisen. Sirius bleibt stehen und sieht mir in die Augen.
»Wie kommst du nach Hause?«
Ich ziehe die Schultern hoch und schaue gleichgültig in die westliche Richtung, in der ich Downtown vermute.
»Laufen wir noch ein bisschen«, meint mein Fremdenführer und saugt die Luft so tief wie den Rauch eines Joints ein.
Allmählich gewöhnen sich unsere Rezeptoren an die irritierende Datensuppe aus Brems- und Abblendlichtern, gegarten Organen und Abgasen, und die Gedanken kehren zurück zur Matrix, dem dichten elektronischen Netz, das den verpuzzelten Planeten umspannt und um das unser Gespräch seit Stunden kreist.
»Das Konzept einer monolithischen Wirklichkeit, auf die sich verschiedene Leute einigen können, hält nicht mehr«, sagt R. U. Sirius. »Alle Erfahrungen werden digitalisiert. Das erlaubt uns, die Wirklichkeit nach unseren eigenen Bedürfnissen zu verstärken, zu ändern oder umzumodeln. Wir nehmen Abschied von der Vergangenheit mit ihrer Mono-Realität.«
Der utopische Welten-Raum, in dem das geschieht, liegt in der Matrix und heißt Cyberspace.
»Er ist die neue frontier, die Grenze, an die das Bewusstsein heute stößt«, sagt R. U. Sirius. Er trägt eine Wildlederjacke. Über den hochgestellten Fellkragen hängen einen halben Meter tief die dunkelblonden Haare wie Rapunzels Rettungsstrick. »Was auf uns wartet, wissen wir nicht genau. Aber wir wissen, dass wir von nun an nicht mehr nur in unseren Körpern und unter unseren Mitmenschen leben werden.«
Die Matrix ist allgegenwärtig und Cyberspace überall. Das Alltagsleben wird längst vom kristallinen Datendickicht auf Billiarden von Kabelkilometern und unzähligen Frequenzen umfangen, vom digitalen 0-1-Dauergetrommel, von tuckernden Analogimpulsen und fiebernden Lichtlinien, kybernetisch gesteuert von intelligenten Routern, Modulatoren und Servern.
Natur- und Geisteswissenschaftler präsentieren ihre neuesten Erkenntnisse online, die Geheimnisse der Militärs kursieren im Cyberspace, ebenso die Memoranden und Bilanzen der mächtigsten Konzerne und vor allem das Geld, die Börsenkurse von New York und Tokio und Frankfurt, Milliarden-Transaktionen zwischen Hongkong und Helsinki, Daueraufträge von Berlin nach Pinneberg.
Rund um die Uhr wird in den globalen Salons jede Sorte von technischem Fortschritt und philosophischer Spekulation diskutiert. Politische Gruppen, von Anarchisten diverser Spielarten bis zu den Rechtsradikalen aller Nationen, bearbeiten ihre Anhänger, Kirchen und Sekten senden ihre Heilsbotschaften, ein paar hunderttausend Studenten vergnügen sich elektronisch bei naiven, phantastischen und perversen Rollenspielen, und eine erkleckliche Zahl von Cybernauten besorgt sich in den Netzen regelmäßig ihre Orgasmen.
Nur fern unserer Computer, als entstöpselte Köpfe, Interface-loses Fleisch und Blut, leben wir noch im elektronischen Exil - taub und blind für das berauschende globale Chaos aus Bits und Bytes, das allzeit schwirrend um uns ist, vergraben im Boden unter unseren Füßen, weit über unseren Köpfen, wo die Satelliten stehen, und, ein Stück tiefer, in den schwarzweißen Waben der vollverkabelten Wolkenkratzer von Downtown San Francisco.
Hinter ihnen versteckt sich der Stille Ozean. Seine Wellen markieren die vorletzte Grenze. Fünf Jahrhunderte wanderte die europäische Freiheits-Sehnsucht westwärts. An den pazifischen Klippen kam der Halt. Ozean der Tränen, der verlorenen Hoffnungen haben ihn deshalb verzweifelte Kalifornier wie Raymond Chandler getauft. Überwunden war die gute alte frontier, der Wilde Westen, ein transatlantischer Freiraum aus unendlich weiten Prärien, den die Flüchtlinge vor Armut und Enge per Planwagen eroberten. Das Ziel dieser Wanderung, die eine ganze Kultur bewegt hatte, war am Pazifik erreicht. An seiner Küste wartete die fürchterliche Erkenntnis, dass die Erde zu Ende war. Vermessen, eingezäunt, dicht.
»Wir erobern uns jetzt neue Territorien der Freiheit«, sagt R. U. Sirius. »Wir dringen in Bilder- und Datenwelten vor, die quer über den Planeten und im Orbit über uns rasen. Wie Prometheus erfahren wir Geheimnisse, die nicht für Menschen geschaffen wurden. Wie Faust schließen wir Pakte, die unseren Horizont überschreiten. Wie Frankenstein spielen wir mit der Biologie, mit unseren Körpern, mit dem Leben selbst.«
Gefangen am Pazifik, in der Wendeschleife der Westwanderung, blieb der undomestizierten Sehnsucht, die sich der Gewalt des Realen nicht beugen wollte, nur die Suche nach anderen Auswegen: die psychedelische Flucht in verborgene Partien unseres Gehirns; die Science-/Science-Fiction-Suche nach einem Weg ins All. Ernstzunehmende Expeditionen in beiderlei Richtungen begannen hier denn auch bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Sie eskalierten in den sechziger und siebziger Jahren, und dabei eröffnete sich - vorerst und solange der Weg zu den Sternen zu steinig ist - eine neue frontier: die grenzenlose Weite und unkontrollierte Freiheit des Cyberspace.
»Anfang der achtziger Jahre saß ich an der Ostküste, studierte Literatur und schrieb an einem Roman mit dem Titel ‘Dr. Fick oder Die humorvollen Permutationen menschlichen Fleisches im DNA-Zeitalter’«, sagt R. U. Sirius. »Aber ich spürte, dass der wahre Wettlauf hier in Kalifornien startete. In Berkeley und Silicon Valley. Timothy Leary hat damals gesagt, wer östlich der Rocky Mountains wohnt, lebt in der Vergangenheit. Denn wo die technische Führung liegt, entwickeln sich auch die fortgeschrittensten menschlichen Verhältnisse. Das war in der Renaissance so, das ist jetzt wieder so. Cyberspace entsteht, wo das Geld und wo die Macht sind. Also packte ich meine Siebensachen und zog ins Zentrum aller Bewegung.«
R. U. Sirius tritt mit schnellen tänzelnden Schritten durch die dünne Kette von Abblend- und Schlusslichtern hindurch. Seine farblosen Cordjeans hängen tief, so tief, wie die Helden der alten frontier ihren Revolvergurt trugen. 1992 hat er - zusammen mit »Mondo 2000«-Mitbegründerin Queen Mu und Hegels Ur-ur-ur-Enkel, dem Mathematiker und SF-Autor Rudy Rucker - den hochglänzenden »User’s Guide to the New Edge« publiziert, ein Verbraucherhandbuch, das im Untertitel eine Gebrauchsanweisung für »Cyberpunk, virtuelle Realität, Wetware, Designer-Aphrodisiaka, künstliches Leben, techno-erotischen Paganismus und anderes mehr« verspricht. Seitdem ist er der prominenteste aller Cyberpropagandisten, einer der wenigen »authentisch-gefälschten Medien-Cyberpunks unserer Zeit«, wie »Wired« schrieb. Oder in den Worten, die Bruce Sterling im Vorwort zum »Cyberpunk Handbook« wählte: »R.U. Sirius ähnelt Gomez Adams mit einer purpurnen Fedora, an die er ein Andy-Warhol-Abzeichen gesteckt hat.«
Das künstliche Lichtgewitter der Stadt verbirgt das Universum über uns, doch Sirius steht dort als der hellste Fixstern am Abendfirmament. Sein heliakischer Aufgang bestimmte die Zeitrechnung im Reich der Pharaonen. R. U. spricht sich im Englischen »Are you« aus: »Are you serious?« Meinst Du das ernst?
Das habe ich meinen Fremdenführer in den vergangenen Stunden oft gefragt. Und R. U. Sirius, der den Großteil seines erwachsenen Lebens Ken Goffman hieß, hat stets genickt und sanft und leicht zahnlückig zurückgelächelt.
»Ich nehme nie etwas zu ernst«, sagt er jetzt, auf der weißen Mittellinie wandernd, als gäbe es keinen Verkehr, und die Wagen heulen hupend vorbei: »Ich neige zu einer kritischen Verteidigung der Cyberkultur. Aber sie ist im Augenblick so in, dass Spott nicht schadet. Eins meiner neuen Bücher endet damit, dass die Helden die Welt zerstören. Sehr komisch.«
»Machst du nicht den zweiten Schritt vor dem ersten«, frage ich zweifelnd: »Du ironisierst etwas, von dem Milliarden Menschen noch nie gehört haben. Geschweige denn, dass sie den Cyberspace erforscht und erfahren hätten?«
»Sie werden in ihm leben. Früher oder später«, sagt R. U. »Die Masse ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass man selbst ganz vorne läuft und die anderen hinter sich lässt.«
R. U. reißt unvermittelt beide Arme hoch, als wolle er sich einem Gott ergeben. Und der scheint ihn zu erhören. Bremsen quietschen. In dem steten Fluss der roten und weißen Datenteilchen blenden zwei Lichter kurz auf, ziehen mit einer programmwidrigen Schleife über alle vier Spuren zu uns herüber, stoppen vor unseren großen Zehen.
»Die Masse muss ratlos im Staub stehen, den der Sturmlauf der Avantgarde erzeugt, und sagen: ‘Was zum Teufel treiben die Verrückten?’« R. U. streckt die rechte Hand zum Abschied aus und greift mit seiner Linken nach der Klinke, die an der Hintertür des Taxis mehr hängt als klebt: »Und wir, die Verrückten, haben dann wieder eine Weile Ruhe vor der Masse ...«
»Warte!« sage ich. »Eine letzte Frage noch ...«
Wo die Zukunft wächst.
Rückblicke, aus wildwestlicher Sicht
Wer die Zukunft schon in der Gegenwart aufstöbern will, wird den archimedischen Punkt auf der Landkarte entdecken müssen, an dem sich die meisten Menschen mit Talent versammeln, wo ungewöhnliche Gedanken gedacht, nie Gesehenes gemalt, Unerhörtes erzählt und bizarre Verhaltensweisen ausprobiert werden - wo nichts gesichert scheint und das ganze Leben ein Experiment.
Zu Zeiten fällt diese Suche nicht schwer. Ludwig B. etwa hegte keinen Zweifel, wo der utopische Ort seiner Epoche zu finden war. »Ich fange an, den guten Reisegeist zu spüren, und einige von der Legion Teufel, die ich im Leibe habe, sind schon ausgezogen«, notierte er in Karlsruhe. Man schrieb den 5. September 1830, und der vierundvierzigjährige Journalist und Schriftsteller war im Begriff, die Grenze nach Frankreich zu überschreiten. Was Ludwig B. nach Paris zog, war nichts weniger als die Sehnsucht nach Freiheit, nach radikalem Denken und Handeln, nach einer vollständigen Veränderung des Lebens, die in den deutschen Kleinstaaten, der schlafmützigen Heimat nachtrottelnder Mittelwegler, mehr Menschen schreckte als lockte.
In Paris hingegen schickte man sich an, die Anfänge jener zeitbeschleunigten urbanen Melange aus Technik und Kultur zu entwickeln, die spätere Generationen Moderne nannten. Die französische Hauptstadt, meinte Ludwig B., sei »der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft« - das bedeutendste zeitgenössische Laboratorium also, in dem die Menschheit, von der Geschichte gewarnt und durch genaue Beobachtung der Gegenwart angeleitet, mit Visionen vom zukünftigen Leben experimentierte.
Diese Rolle als »Register der Weltgeschichte« sollte Paris für anderthalb Jahrhunderte spielen, von der 1789er Revolution bis zum Überfall durch die großdeutsche Wehrmacht. Wenige Quadratkilometer entlang der Seine bildeten das wildeste Pioniergebiet der Moderne, die äußerste Grenze der Gegenwart. An ihr erprobte sich eine kosmopolitische Versammlung von Talenten und rang, vom Rest der Welt ebenso misstrauisch wie neugierig und neidisch beobachtet, den vielfältigen Traditionen Coup für Coup eine neue großstädtische Lebensform ab.
Die unablässigen Experimente am eigenen Leib und Leben kreisten um Konsum und Kultur, um die neuartige Erfahrung eines warenzentrierten Alltags und um die Erfindung der städtischen Nacht, um utopische Politik und gewagte Kunstproduktion. Die Branche, von der das Leben der Boheme und die Kunstveranstaltungen der Avantgarde sich finanzierten, war jedoch ein die Sinne verwirrendes Unterhaltungsgewerbe.
Um Vergnügungssüchtige aus der ganzen Welt nach Paris zu locken, bot man neben dem bewährten alten Bio-Sex das komplette multimediale Arsenal der Epoche auf: Oper, Operette, Theater, Ballett und Varieté, Literatur, Malerei, Fotografie und am Ende auch den Film. In immer neuen revolutionären Wellen, von Murgers Boheme bis zu den Avantgarden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wurde die Wahrnehmung des Wirklichen attackiert und moduliert, bis sich im darwinistischen Kampf der zahllosen Neuigkeiten das jeweils Neue durchgesetzt hatte. Heftig wogte dabei der Streit um die modischen und sexuellen Sitten, die Kunst des Anziehens und des Ausziehens, diese vorgeschobensten Positionen im Kampf konkurrierender Weltbilder.
Paris war die »Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts«. Im zwanzigsten konnte sie nicht lange bestehen. »Die Dinge fallen auseinander, das Zentrum kann nicht standhalten«, dichtete W. B. Yeats zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der der Lebensform des alten Jahrhunderts endgültig den Garaus machte. Jener Verfall, den Yeats auf dem Höhepunkt der Moderne prophezeite, war der der modernen Lebensform selbst. Zusammen mit dem Zentrum, den politischen, moralischen und intellektuellen Gewissheiten moderner bürgerlich-urbaner Existenz, ging Europas jahrhundertealter Anspruch verloren, den Weg der Menschheit zu bestimmen.
Bräche Ludwig B. heute auf, jenen Ort zu suchen, an dem die Talentiertesten und Mutigsten mit der Zukunft ernst machen, er fände ihn in keiner der klassischen Hauptstädte mehr, wo von Paris über Berlin bis London die Bürokratisierung des Alltags jeden kühnen Versuch vereitelt, vom Pfad des gegenwärtigen Trotts allzu weit abzuweichen, wo man, wie Hans Magnus Enzensberger schreibt, »die Blockade seiner eigenen Möglichkeiten als Lebensversicherung betrachtet«, und wo emsiger Stillstand, lautstarke Lähmung und lukrative Selbstbescheidung vorherrschen. Die utopische Energie, der Wille, sich selbst und das eigene Leben neu zu erfinden, hat sich dort erschöpft. Das zwanzigste Jahrhundert mag daher 1989 in den Metropolen Zentraleuropas geendet haben, das einundzwanzigste hat ganz woanders begonnen.
Ein Stück der Freiheit, der Befreiung von den Zwängen der Gegenwart, fände Ludwig B. allenfalls an den Rändern der Zivilisation und an den Rändern der Gesellschaft, die der dröhnenden Propaganda des Durchschnittlichen widerstehen. Der tiefste Einblick in die Zukunft gelänge ihm jedoch im amerikanischen Westen.
Über Jahrhunderte zog die Neue Welt die Menschen an, weil sie dem Einzelnen die Chance für einen klaren Neuanfang offerierte, weil sie unterdrückten Minderheiten, politischen Utopisten und religiösen Sekten, den Freiraum bot, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Mehr als anderswo hat sich in der zerstreuten Siedlungslandschaft zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifik etwas von diesem Pioniergeist erhalten. Hier ist die Sehnsucht nach Veränderung und Abenteuer noch stärker als der ängstliche Wunsch nach Erhalt des Erreichten, und hier bereiten in unzähligen Nischen und Subkulturen avantgardistische Hightech-Pioniere die Eroberung des letzten Freiraums vor, der auf diesem Planeten verblieben ist: des Cyberspace.
Wie alle Lifestyle-Umwälzungen in den vergangenen zweihundert Jahren wurde auch diese durch eine technische Neuerung ausgelöst, nur dass es diesmal nicht der Telegraph, das Gaslicht, die Elektrizität, das Automobil, das Radio oder der Film war, sondern der Computer.
Während die Mehrheit der Menschen das elektronische Gerät als eine banale Mischung aus klobiger Rechenmaschine und besserem Tippgerät mit Löschvorrichtung missverstand, ging es Computer-Pionieren wie Douglas Engelbart von Anfang an darum, eine »augmentation machine« (»Verbesserungs-Maschine«) zu schaffen, die den Menschen neue Wissens- und Existenzformen eröffnen sollte. Hacker und Technik-Nerds folgten dieser Grundidee. Sie erprobten das Potential des Computers als universelles Ermächtigungsmittel, das Realität kontrollierbar macht und zugleich erlaubt, neue Realitäten zu erzeugen, und so den einzelnen in den nie gekannten Stand versetzt, seine eigenen Erfahrungen sowie Teile der Wirklichkeit, die einst materiell fixiert waren – Datensammlungen, Texte, Zeichnungen, Fotos, Tonaufzeichnungen, Filmsequenzen, komplette Erlebniswelten –, nunmehr in Nullen und Einsen zu repräsentieren, sie sodann nach seinem Willen und zu seinen Gunsten zu modifizieren und das Ergebnis schließlich vom Heimcomputer via Cyberspace Gott und der Welt zuzuspielen.
Zwangsläufig avancierte ein solches Gerät binnen kurzem zur Traummaschine, die das beste und rücksichtsloseste Talent einer Generation anzog, wie es einst die Künste oder die Politik und zuletzt die Popkultur getan hatten.
Der archimedische Punkt auf der Landkarte, an den die zukünftigen Helden und Herren der Hightech-Industrien strömten - jedenfalls bevor der Cyberspace eröffnet wurde und die Notwendigkeit zu geographischer Nähe weitgehend entfiel –, lag im amerikanischen Westen, mit den wuchernden Vorstadtlandschaften der Bay Area und rund um Los Angeles als mittelpunktslosen Zentren und mit Seattle, Salt Lake City, Las Vegas, Phoenix, Santa Fe und Los Alamos als vornehmsten Satelliten.
Schon seit den zwanziger Jahren, als das gute Wetter die Film- wie die Flugzeugindustrie anzog, birgt dieser Teil der Welt eine ungewöhnliche Dichte von innovativen Technik- und Unterhaltungsproduzenten. In den vierziger Jahren führte die Atomforschung, in den Fünfzigern die Weltraumfahrt zu einer weiteren Zuwanderung von Spitzenforschungseinrichtungen und Hochtechnologie-Firmen. Im Gefolge der Microprozessor-Revolution wandelte sich der Westen dann vollends zum imaginären Zentrum der Gegenwartskultur, dessen Basiserfindungen und Produkte global dominieren.
Aus diesem immer noch recht dünnbesiedelten Stückchen Erde, kommt die Mehrheit dessen, was um die Erde und in den Weltraum fliegt. Hier nahmen die beiden mythischen Urbilder des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Ausgang, der in den Himmel steigende Atompilz und die Außenansicht vom blauen Planeten, wie er im Weltall treibt. Hier wurden im legendären Xerox Parc die graphische Benutzeroberfläche, die Computermaus, der Laserwriter und das Netzwerk herbeigebastelt. Hier entsteht die weltweit erfolgreichste Unterhaltungssoftware - Kinofilme, TV-Serien, Popmusik, Videospiele. Hier werden die Chips entworfen, ohne die nirgendwo etwas mehr liefe, und hier werden die erfolgreichsten Betriebssysteme und Programme geschrieben. US-Firmen zeichnen für siebzig Prozent aller existierenden Computersoftware verantwortlich, Microsoft allein produziert pro Jahr mehr Code als jede andere Nation der Welt.
»Auf dem Gebiet von Hardware und Software für Computer reicht niemand an Amerika heran«, räumt Hiroshi Tanaka, Senior Managing Director der japanischen Hightech-Firma Canon, klagend ein. Weshalb seine Firma auch nicht mit japanischen Partnern zusammenarbeiten könne: »Das [Silicon] Valley ist dem Rest der Welt zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre voraus.«
Es war also nur logisch, dass der Cyberspace als vorderste frontier der Gegenwart ebenfalls von hier aus erschlossen wurde - als ein Stück Amerika und als ein Stück amerikanischer Vorherrschaft. Die Sprache und Kultur der Nation, die diesen utopischen Raum jenseits der Geographie entdeckt hat, formen ihn. Längst verdienen in den USA mehr Menschen ihr Geld mit Herstellung, Handel und Service von elektronischer Hard- und Software als mit irgendeinem anderen Wirtschaftsprodukt, Schwer- und Autoindustrie eingeschlossen. Von einer militärisch-industriellen Supermacht ist Amerika zu einer Supermacht in den Bereichen von Massenunterhaltung und Informationsverarbeitung geworden. Bis heute befindet sich ein Großteil der Hardware und Infrastruktur der Netze auf US-Boden, und selbst innereuropäische Verbindungen verlaufen oft schneller und billiger über den Umweg des nordamerikanischen Kontinents.
»Dieses Land ist dazu auserwählt«, sagt der Ex-Medienagent und Disney-Präsident Michael Ovitz, »weltweit die Standards für Informations- und Unterhaltungsdienste zu setzen.«
Die US-Dominanz zeigt sich besonders deutlich im Internet. Siebenunddreißig Millionen Nordamerikaner hatten Ende 1995 Zugang zu ihm, vierundzwanzig Millionen benutzten es regelmäßig, im Schnitt um die fünf Stunden pro Woche. Im Weltvergleich sind rund dreiundsechzig Prozent aller Internauten Amerikaner und lediglich einundzwanzig Prozent Europäer - obwohl die Alte Welt über erheblich mehr Einwohner verfügt. Besonders kümmerlich vertreten ist Deutschland mit höchstens zweihunderttausend regelmäßigen Internet-Nutzern. Nicht anders sieht die Situation in den kommerziellen Netzen aus. CompuServe etwa, das seine Mitgliederzahl binnen zweier Jahre vervierfachte - von einer Million im September 1993 auf rund vier Millionen im Dezember 1995 - zählt nur einhunderttausend deutsche Kunden. Noch weniger sind Mitglied bei dem derzeit mit 4,5 Millionen Mitgliedern weltweit größten kommerziellen Anbieter America Online.
Doch der Cyberspace gehört so wenig den Amerikanern allein wie einst die Pariser Nacht den Franzosen. Seine Grenzen sind offen, sein Terrain ist unerschlossen. Der multinationale Freiraum stellt das aktuelle »Register der Weltgeschichte« dar, das derzeit beste »Fernrohr der Zukunft«. In diesem globalen Laboratorium experimentiert die heutige Menschheit mit neuen Wirklichkeiten und Bewusstseinsformen.
Was dabei unzensiert zu Tage tritt, erschüttert den rückständigen Alltag als kulturelles Erdbeben und lässt langgehegte Gewissheiten und Gewohnheiten zu Bruch gehen. Wie Paris im neunzehnten Jahrhundert ist der Cyberspace heute Schauplatz der brennendsten Kontroversen und zugleich der gegenwärtig kontroverseste Ort. In den Netzen kulmiminieren die intellektuellen Strömungen, künstlerischen Tendenzen und avanciertesten Techniken der Epoche zu einer bunten multimedialen Mischung aus Chaos-Theorie und Videokunst, Genetik und Kryonik, postmoderner Theorie und Popmusik, Gruppenspielen und Science Fiction, Mythologie und Nanotechnologie, Computergraphik und Online-Sex, wobei der Unterhaltungsbranche und insbesondere den Künsten des An- und Ausziehens, Cybermoden, Cyberspielen und Cyberporn, unverändert eine Schlüsselstellung zukommt.
Ein phantastischer Umstand trennt jedoch die Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sich an diesem explosionsartig expandierenden utopos ausformt, von allen historischen Vorgängern: Ihre neuen Kulturräume erschafft sie sich jenseits der widerständigen Wirklichkeiten der zahllosen ungleichzeitigen Zivilisationen, die gegenwärtig auf der Erde unfriedlich koexistieren, dabei die jeweilige Stufe ihrer Unterentwicklung hartnäckig verteidigend.
Als Ludwig B. damals unterwegs in seine Zukunft war, die Pariser Frühmoderne, traf er bei einem Zwischenaufenthalt in Karlsruhe eine Freundin und deren Sohn.
»Ich sah eine schönere Zeit in rosenroter Knospe. Wenn die einmal aufbricht!« schwärmte er und war zugleich voller Traurigkeit darüber, dass der Junge vorerst in der deutschen Enge aufwachsen sollte, deren Alltag keine Zukunft hatte: »Wie gerne hätte ich ihn der Mutter gestohlen und ihn mit mir über den Rhein geführt, ihn dort zu erziehen mit Schlägen und Küssen, mit Hunger und Rosinen, dass er lernte frei zu sein und dann zurückkehre, frei zu machen.«
Für eine solche Entführung des Jungen aus seinem kulturellen Gefängnis, für die Erweiterung seines Horizonts, stünden die Chancen heute besser. Anders als frühere Entdeckungs- und Bildungsreisen erfordern Exkursionen an die vorderste Front unserer Gegenwart, dorthin, wo die Freiheit am größten, der politische Diskurs am radikalsten und die Kunst verzaubert wie nie ist, keinerlei strapaziöse Ortsveränderung. Der Cyberspace umspannt den Planeten. In ihn könnten Ludwig B. und sein Schützling ganz einfach via Modem und Computer reisen, was allemal für den Preis zu haben ist, den der Freiheitshungrige damals für die mehrtägige Tortur auf dem Eilpostwagen entrichtete.
Cyberklopädie I:
Hacker, Cyberpunk, Cyberspace
Blöcke, Ecken, Kanten aus Licht und stählern schimmernden Strukturen. Dazwischen fallen tiefe Schattenschächte. Der Hubschrauber-Blick rast im Tiefflug durch die flickernde Skyline der Mutterplatine und der umliegenden Silicon-Türme.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Suite des Mandarin Hotel in der Bay Area. Zeit: 00:45 h vor dem ersten Kontakt.
Zum xten Mal läuft im Fernseher die Reklame für einen neuen Intel-Chip. Das TV-Bild spiegelt sich in der gläsernen Front des 45. Stockwerks. Hinter den Fenstern, draußen in der abendlichen Realität, drohen dieselben Blöcke, Ecken und Kanten aus Licht und stählern schimmernden Strukturen. Dazwischen, in den Schattenschächten, gleiten Glühwürmchen-Trecks, Leuchtreklamen blinken rhythmisch, und aus dem Datendunst am Horizont gleißt wie ein gewaltiger Halbleiter die Golden-Gate-Brücke heraus.
»Das Universum besteht aus einem Haufen digitaler Programme, die laufen, laufen, laufen«, hat Timothy Leary sein digitales Credo formuliert. Und Rudy Rucker meint im Rückblick auf seine Vercyberung: »Die mentale Transformation, der ich mich unterziehen musste, bestand darin, alles als einen Computer anzusehen« - was keinem schwerfallen kann, der auf diese Stadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts hinunterblickt.
Den Kontakt zu R. U. Sirius wollen die Scouts in einer halben Stunde herstellen. Mein Körper wartet zusammen mit dem laufenden Fernseher in der Hotelzelle, meine Hände bearbeiten die Tastatur des Powerbook, der neben mir auf dem Bett liegt, doch mein Kopf irrt derweil durch Datenlandschaften, die Tausende von Meilen entfernt sind. Ich stöbere in amerikanischen, britischen und australischen Zeitungen, in Bibliotheken in Bern und Berkeley, in einem Dutzend Newsgroups, deren Zulieferer in zwölf verschiedenen Zeitzonen leben, ich suche im Massachusetts Institute of Technology (MIT) nach Informationen, auf einem Server in Oxford und gleich danach im kalifornischen Xerox Parc. Ich lasse das Modem neu anwählen und wechsle in CompuServe und danach in America Online. Ich könnte mich dabei mit Kochrezepten und Börsentipps versehen oder eine Einführung in die Astrologie der Mayas erhalten, ich könnte mich mit jeder Sorte von Konspirationstheorie und mit UFO-Sichtungen, mit Bodyart oder alternativen Energieformen beschäftigen. Doch ich bin diesmal lediglich an Informationen zu drei Stichworten interessiert, die mich auf die Begegnung mit R. U. Sirius vorbereiten sollen.
Die Ausbeute der Recherche, die schließlich über den Schirm des Powerbook läuft, ist mehr als ergiebig. Hacker, Cyberpunk und Cyberspace - das sind Zauberlehrlingsstichworte, die eine gewaltige Bit-Tsunami auslösen.
Hacker. »Hack« hieß einst - abgeleitet vom wilden Herumhacken auf der Tastatur - ein Lohnschreiberling, der auf seiner Schreibmaschine Textzeile auf Textzeile herunterhämmerte. Der Begriff Hacker wurde dann in den sechziger Jahren im Umkreis der Spitzenforschungseinrichtungen MIT und Stanford geprägt und bezeichnete besonders genial programmierende Elektronikbastler. Ihr »Hack« war dementsprechend die möglichst elegante Lösung eines schwierigen Problems. Diese frühen Hacker der Hippiegeneration waren berühmt für ihre bedingungslose Liebe zur Technik und berüchtigt für ihre verkehrte Lebensweise, deren hervorstechendste Merkmale der Mangel an Hygiene und Schlaf waren. Letzteres rührte vor allem daher, dass Rechenzeit an den wenigen Mainframe-Computern äußerst limitiert und meist nur nachts zu haben war - jedenfalls für avantgardistische Experimente ohne unmittelbare Nutzanwendung.
Die Erfahrung vom Computer als einer teuren Mangelware, gepaart mit dem Leiden an den vielfältigen Einschränkungen und bürokratischen Restriktionen, die sich daraus ergaben, dass ein einzelner Hacker, so er nicht Millionär war, keinen eigenen (Mainframe-)Computer besitzen konnte, veranlasste die bastelnde Suche nach billigeren Alternativen.
Hacker bauten in den siebziger Jahren folglich die ersten erschwinglichen Personal Computer. Die wiederum ließen eine neue Sorte von Teenage-Hackern aufkommen, nach dem gleichnamigen Film von 1983 allgemein die »Wargames«-Generation genannt.
Diesem Nachwuchs im Computer-Underground ging es weniger um technisches Wissen und innovative Problemlösungen als um eine radikale Appropriation von Hard- und Software. Ihnen hieß ein Hack alles, was ein Stück Technik dazu bewegte, anderes zu machen, als wofür es entworfen wurde. Gleichgültig gegenüber technischer Kunstfertigkeit und statt dessen auf tollkühne Kunststücke versessen, bedienten diese jüngeren Hacker sich der nunmehr vorhandenen Billig-Gerätschaften, um sich trickreich illegalen Zugang zu geschützten Mainframe-Systemen zu verschaffen.
Insofern sie dabei Daten änderten oder zerstörten, wurden sie von den Hippie-Hackern, gegen deren subkulturellen Ehrenkodex sie verstießen, als Cracker beschimpft. Solcher Datenvandalismus blieb allerdings eine Seltenheit. Die Mehrzahl der Computerkids betrieb das Hacken des schieren Kitzels wegen, als l’art pour l’art, und legte gesteigerten Wert darauf, die Systeme so elegant zu knacken, dass keinerlei Spur zurückblieb.
Dies änderte sich mit der dritten Generation von Hackern, die seit den späten achtziger Jahren wie andere Halbwüchsige an der Straßenecke in den Bulletinboards (BBS) und MUDs herumlungern (von Multi-User Dungeons, elektronischen Spiel-Kerkern für mehrere Personen), dabei Informationen austauschend und Pläne schmiedend, die Welt aufzuwirbeln. Wie ihre Vorgänger stammen auch diese Hacker überwiegend aus dem weißen Mittelstand. Anders als ihre Vorgänger treibt sie jedoch der Drang, die Informationsgesellschaft von innen auseinanderzunehmen, eine anarchisch-aggressive Datenbankplünderungslust. Sie verstehen sich als »Informationsbefreier«. Ihr Schlachtruf »Alle Information will frei sein« lässt sie gegen Zensur oder Geheimhaltung anhacken. Alles und jedes wollen sie jedermann zugänglich machen - die private Kreditwürdigkeit ebenso wie die Umsatzzahlen der Konzerne oder Regierungsgeheimnisse und vor allem all die vielen illegalen Tricks und Rezepte, vom kostenlosen Zugang zum Telefonnetz über den Gratis-Kabelanschluss bis zur Drogenanrühranleitung.
»In ihren Träumen (obwohl höchst selten im wirklichen Leben) hören sie Madonnas Telefongespräche ab und sogar die des Secret Service«, schreibt Gary Cartwright. »Doch eigentlich sind die meisten Hacker so harmlos wie Entlein ... Zum größten Teil handelt es sich bei ihnen um junge Männer mit ernstzunehmenden anti-sozialen Tendenzen (wenige Frauen hacken), um junge Kerle, die wie wild den Wettstreit suchen und klüger sind, als es ihnen gut tut.«
Sich selbst nennen diese Hacker der dritten Generation Cyberpunks.
Cyberpunk. Der Begriff verschmilzt Hightech-Kybernetik (engl. »cybernetics«) mit Low-life-Punk, also modernste Technik mit revoltierender Gegenkultur. Die Vorsilbe Kyber leitet sich dabei von dem griechischen Wort »kubernao« ab (ein Schiff steuern) und findet sich außer in Kybernetik - ursprünglich die Wissenschaft von Steuerungsprozessen, heute eher synonym mit Informatik verwendet - auch in modernen Worten wie Gouverneur oder dem englischen »government« (Regierung). Cyber konnotiert insofern im engeren Sinne souveräne Steuerung bei der schlingernden Fahrt über die elektronischen Wellen. Im erweiterten populären Gebrauch bezeichnet es dann schlicht alles, was mit diesem neuen elektronischen Reich in Verbindung steht.
Geprägt hat die Wortverbindung Cyberpunk Hans Bethke in der 1983 veröffentlichten Science-Fiction-Erzählung gleichen Titels. Ein Jahr später kreierte William Gibson mit seinem Roman »Neuromancer« das neue Genre der Cyberpunk-Science-Fiction. Ein zweiter Autor, der erfolgreich am Mythos des Cyberpunk mitschrieb und wie Gibson heute als literarischer Prophet des digitalen Zeitalters gilt, ist Bruce Sterling (»Schismatrix«, »Islands in the Net«). Beide fanden zahlreiche Weggefährten und Nachahmer.
Die Cyberpunk-Fiction, die sich so in den achtziger Jahren herausbildete, beschwört in einem rasant-ironischen Stil, der an die klassischen Pulp-Detektivromane der dreißiger und vierziger Jahre erinnert und mit existentialistischen Motiven und Elementen der Punk-Ästhetik gespickt ist, eine nicht sehr ferne dystopische Zukunft. In ihr prallen grelles Licht und finsterste Dunkelheit, Hightech und Aberglauben aufeinander, in ihr bewegt, schreibt »Wired«-Chefredakteur Kevin Kelly, »Voodoo genauso viel wie Supraleiter«.
Bruce Sterling nennt zwei zentrale Motivkomplexe, zum einen »das Thema der Körperinvasion: künstliche Gliedmaßen, implantierte Elektronik, plastische Chirurgie, genetische Eingriffe«; zum zweiten »das noch stärkere Thema der Verstandesinvasion: Gehirn-Computer-Interfaces, künstliche Intelligenz, neurochemische Techniken, die die menschliche Natur, die Natur des Selbst radikal redefinieren.«
Das Standard-Szenario der Cyberpunk-Erzählungen spielt irgendwann im einundzwanzigsten Jahrhundert. Gewaltige Konzerne haben die Welt in Geschäftszonen aufgeteilt. Die gleichzeitig wuchernden und zerfallenden Stadtlandschaften bevölkern Massen kleinbürgerlicher Datensklaven und eine gewalttätige Unterschicht drogenabhängiger Zombies. Ihre Slums aus Beton und nackten Stahlträgern kontrastieren mit den Palästen aus Marmor und Messing, in denen die Konzerne residieren. Das Individuum – heute schon in den Worten Jean Baudrillards »ein Terminal multipler Netzwerke« – ist in der Cyberpunk-Zukunft vollends zur Datendurchgangsstation geworden, zum Anhängsel der Maschinen. Wobei letzteres recht wörtlich zu verstehen ist: Die Helden dieser Romane, Datenguerilleros und Konsolen-Cowboys, gewiefte Einzelgänger und Einzelkämpfer, können sich dank Gehirnimplantat und Schädelstöpsel direkt in die Matrix einklinken.
»Wie viele andere prophetische Avantgarden in der Vergangenheit«, schreibt Wark McKenzie über die Cyberpunk-Autoren der achtziger Jahre, »sahen sie die Zukunft zugleich klarer und verrückter als ihre Zeitgenossen. Wie die romantischen Dichter und die dekadenten Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, wie die Surrealisten und Futuristen und Konstruktivisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wollten sie das Leben verändern. Deshalb stellten sie sich vor, wie es anders sein könnte, anders nicht nur als die Gegenwart, sondern auch anders, als die Zukunft offiziell werden sollte.«
Die Cyberpunk-Vision fand schnell eine breite Anhängerschaft, und das literarische Genre mauserte sich zu einem kunterbunten massenkulturellen Modekomplex, zu dem ältere Filme wie »Bladerunner« und neuere wie »Brazil« oder »Lawnmower Man« rechnen, TV-Shows wie »Max Headroom« oder Oliver Stones »Wild Palmes«, Musikstile wie Industrial, Rave, Acid House, Musiker und Künstler wie Brian Eno, Stelarc oder Mark Pauline und seine Survival Research Labs.
Die Vielfältigkeit der Cyberszene macht eine klare Definition schwer. R. U. Sirius bezeichnet Cyberpunk als »eine Weltsicht, eine fundamentale Beschreibung der Richtung, in die die westliche Zivilisation marschiert, wild und außer Kontrolle«. Hacker-Königin und »Mondo 2000«-Redakteurin St. Jude, laut R. U. eine »polymathematisch-perverse« Ex-Maoistin und »Hebephrenekerin im Endstadium«, beschreibt Cyberpunk als die Szene, in der die Welten von Wissenschaft und Kunst sich mischen, als Treffpunkt von Zukunft und Gegenwart. Stewart Brand, emeritierter Chefredakteur des hippiesken »Whole Earth Catalog«, meint, die Cyberpunk-Bewegung verbinde »Technologie mit Haltung« - vor allem Technologie, die es noch nicht gibt, mit einer Haltung, die dem Massenbewusstsein und seiner Konsens-Politik entgegensteht. Und das Magazin »Time« klagte, als es 1993 stellvertretend für die Bevölkerungsmehrheit die neue Gegenkultur entdeckte, die bedauerliche Vorliebe für virtuellen Sex, Smart Drugs und synthetischen Rock’n’Roll lasse die Cyberpunks die dunklen Wellenkämme des Computer-Zeitalters surfen. Keiner aber hat cyberpunkiger formuliert, worum es geht, als Rudy Rucker:
»Das Beste am Cyberpunk ist, dass er mich gelehrt hat, Einkaufszentren, die ich immer gehasst habe, entspannt zu ertragen. Jetzt bilde ich mir einfach ein, das ganze Ding läge zwei Meilen unter der Mondoberfläche und jedem zweiten Passanten sei die rechte Gehirnhälfte von stählernen Robotratten weggefressen worden.«
Literatur, die Wirklichkeit werden wollte - in dem kuriosen Umstand, dass das Leben die Kunst nachahmte, gleichen die Cyberpunks den Beatniks. Beide Jugend-Bohemes wurden von literarischen Texten ein- und angeleitet, die auf technische Innovationen der Epoche reagierten. Wie Jack Kerouac das existentielle Unterwegssein propagiert, ein rastloses Verfahren auf dem Autobahnnetz, das damals in den vierziger und fünfziger Jahren den nordamerikanischen Kontinent erschloss, so schildert Gibsons »Neuromancer« den Eintritt der Informationsgesellschaft in ihr postsymbolisches Zeitalter, den direkten Daten-Kontakt auf der gerade entstehenden Infobahn und die dabei drohende existentielle Verflüchtigung.
»Die Autobahn-Metapher passt«, hat R. U. Sirius einmal über die Reise der binären Beatniks in den Cyberspace erklärt. »Wie bei Jack Kerouacs ‘On the Road’: aus einer engen kleinen Gemeinschaft hinaus auf die weite offene Straße.«
Der Computer-Underground folgte nicht nur dieser breiten, von der amerikanischen Regierung durchaus empfohlenen Infobahn-Route, sondern auch den von der Science-Fiction-Literatur vorgezeichneten Abwegen. Bald war Cyberpunk keine reine Zukunftsmusik mehr. Angezogen vom Zentralthema, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, entdeckten die Hacker das Genre und verwandelten die Literatur ein Stück weit in soziale Realität.
Cyberpunk »gab uns eine Vision der Möglichkeiten, die der Technik innewohnten«, beschreibt der legendäre Hacker Synergy, natürlich ebenfalls ein »Mondo 2000«-Autor, diese Mimesis des Lebens an die Kunst: »Plötzlich setzte sich das Konzept des Cyberspace durch und inspirierte die Hacker.«
Cyberspace. Das Wort meint den Raum (engl. »space«), in dem die vernetzten elektronischen Informationen miteinander und dem Bewusstsein der Benutzer in Wechselwirkung treten. Im Umgang mit Mitmenschen - per Einweg-Email oder in interaktiven Kontexten, Chatrooms, MUDs usw. - bietet der Cyberspace absolute Gleichheit in der Kommunikation: Unabhängigkeit vom Ort des physischen Aufenthalts und Freiheit von sozialen Einschränkungen wie Status und Klassenzugehörigkeit oder biologischen Begrenzungen wie Geschlecht, Alter und Rasse. Ein berühmter Cyber-Cartoon zeigt einen Vierbeiner, der einen Artgenossen tröstet: »Im Cyberspace weiß niemand, dass du ein Hund bist.«
Als nicht-physischer, sondern metaphorischer Raum ist der Cyberspace eine von Maschinen erzeugte Welt aus abstrakten Zeichen und fernen Stimmen, die uns nur nahe scheinen. Utopische Konzepte beschwören folgerichtig die graphische Repräsentation des unablässigen Datenflusses zwischen den Millionen Computern, die weltweit miteinander vernetzt sind. Dieses künstliche Software-Reich visualisierter Energiebündel und Signalkonstellationen soll das menschliche Gehirn dann der taktilen Realität gleich als mentale Landschaft durchstreifen können - als eine »allgemeinverbindliche Halluzination«, wie sie William Gibson in »Neuromancer« beschreibt: »Linien aus Licht, aufgereiht im Nichtraum des Verstandes, Ballungen und Anordnungen von Daten. Wie die Lichter einer Stadt, die sich langsam entfernen ...«
Den gegenwärtig bereits erfahrbaren virtuellen Alltag in den digitalen Parallel-Realitäten all denen zu schildern, die noch im analogen Exil leben, fällt ebenso schwer, wie Erlebnisse am Meeresboden oder in der Schwerelosigkeit des Alls nachvollziehbar zu machen. Bruce Sterling hat es versucht, indem er den Cyberspace als das Nirgendwo beschrieben hat, auf dessen Terrain auch jedes Telefongespräch stattfindet - also den ortlosen, allein in Photonen und Elektronen existierenden Zwischenraum zwischen den Telefonen der Gesprächspartner.
Doch natürlich macht das normale Telefonnetz nur den kleineren und vertrauteren Teil der Datenverbindungen aus, die die materielle Grundlage dieses neuen immateriellen Kommunikationsraumes bilden. Zum Cyberspace tragen wesentlicher Millionen von Hochgeschwindigkeitsverbindungen innerhalb von LANs (local area networks) und zwischen den Internet-Knotenpunkten bei, ebenso die unzähligen erdgebundenen Dauerfunkstrecken und die Verbindungen zwischen den Bodenstationen und den Hunderten von Nachrichtensatelliten, die von ihren geostationären Positionen aus den großräumigen Datentransfer bewerkstelligen.
Grateful-Dead-Songtexter und Cyber-Aktivist John Perry Barlow meint daher, wer wissen wolle, wo der Cyberspace zu finden sei, solle sich am besten die Frage stellen, wo sich sein erspartes Geld gerade herumtreibt: Im Zweifelsfall liegt es in keinem Banksafe - schon allein deshalb nicht, weil nur der geringste Teil der zirkulierenden Geldmengen durch ein Äquivalent in Münzen oder Scheinen abgedeckt ist -, sondern es jagt, den diversen Investitionsentscheidungen der Banken folgend, als digital kodierte Kolonne durch jenen Teil des Cyberspace, der die internationalen Finanzmärkte beherbergt.
Wie alle Pioniergebiete hat auch der virtuelle Cyberspace eine Besiedlungsgeschichte. Erschlossen wurde er zuerst vor einem Vierteljahrhundert, als das amerikanische Verteidigungsministerium die Nachrichtenverbindungen für den Fall eines Atomkriegs sichern wollte. Die Generäle befürchteten zurecht, die zentralistisch organisierten nationalen Kommunikationsstränge - die telefonischen Schaltstationen, die Sendezentralen der Radio- und Fernsehsender - könnten im Kriegsfall durch gezielte Bomben- oder Raketenangriffe lahmgelegt werden.
Paul Baran, ein Forscher der Rand Corporation, fand 1964 eine ungewöhnliche Lösung für dieses Problem: ein Netz von Computerverbindungen, dem im Gegensatz zu allen bekannten Kommunikationswegen die zentrale Schaltstelle fehlte. Strukturelle Redundanz und hierarchische Gleichberechtigung aller beteiligten Computer sollten stetes Umgehen von Blockierungen oder Beschädigungen in den Nachrichtenverbindungen ermöglichen. Egal, welcher Computer im Netz ausfiel oder vom Gegner ausgeschaltet wurde, alle anderen sollten weiterhin untereinander kommunizieren können.
Es war eine verrückte Idee. Die innovative nicht-hierarchische Netzstruktur widersprach dem Ordnungsdenken und den Kontrollwünschen der Militärs diametral. Doch innerhalb der atomaren Strategie des Kalten Krieges fand sich keine andere Lösung. Die Advanced Research Projects Agency (ARPA) des Pentagon baute das experimentelle Computernetz.
Seine »nomadische Architektur«, die sich von Anfang an so schnell wandelte, wie sich elektronische Zelte aufschlagen und wieder abbauen lassen, schuf in ihrer Freiheit von Kontrollinstanzen die Voraussetzungen für das zukünftige wilde Wuchern des Cyberspace. Und sie ist es auch, die bis heute der Einführung einer Zensur, wie sie viele konservative Gruppen und autoritäre Staaten befürworten, größte Hindernisse entgegenstellt.
»Das Netz«, sagt Internet-Pionier John Gilmore, »interpretiert jeden Zensurversuch als technischen Schaden und lenkt die Daten auf Umwegen zum Ziel.«
In seinen Anfängen war das Leben in ARPAnet so antiseptisch wie die Büros und Labors der Militärs und Wissenschaftler, die das Netz erschlossen hatten und sich mit seiner Hilfe nun gegenseitig Zugang zu den auf ihren Computern gespeicherten Daten einräumten. Sehr bald allerdings entdeckten einige Benutzer, dass sich die elektronischen Kommunikationswege für weniger professionelle Zwecke umfunktionieren ließen - Klatsch und Tratsch via E-Mail, Diskussionsgruppen und Newsgroups zu allen erdenklichen Themen von Science-Fiction-Literatur bis zu sadomasochistischen Praktiken, elektronische Magazine und Tauschbörsen, interaktive Gruppenspiele ...
Da ARPAnet einzig Regierungs- und Forschungsinstitutionen Zugang gewährte, entstanden parallel Hunderte von BBS sowie lokale und nationale Netze für andere Bevölkerungsgruppen. Das bedeutendste hieß NSFnet nach der National Science Foundation (NSF). Für die Erschließung des Cyberspace zeitigte NSFnet tiefgreifende Folgen, da es in den achtziger Jahren den Anschluss der amerikanischen Schulen und Colleges forcierte und so Millionen von Schülern und Studenten elektronische Kommunikation offerierte. Zwischen 1981 und 1992 explodierte die Zahl der ständig im Internet vernetzten Computer von 281 Stück auf 1,1 Millionen. Auch die nationale Beschränkung der US-Netze, die lange Auslandsverbindungen nur zu Militärbasen und Botschaften erlaubte, brach damals auf.
Das Internet, zu dem ARPAnet, NSFnet und bis heute rund achtundvierzigtausend andere Subnetze verschmolzen und von dem aus sich ebenfalls zahlreiche kommerzielle BBS erreichen lassen, ist eine internationale, demokratisch und dezentral verfasste Gemeinschaft. Keine einzelne Institution kontrolliert diesen größten zusammenhängenden Landstrich des Cyberspace. Das Internet samt seiner modernsten Region, dem graphischen World Wide Web (WWW), gehört niemandem und allen. Der Zugang ist unbeschränkt und wird lediglich in einigen Gebieten Osteuropas und der dritten Welt vom technischen Zustand des jeweiligen nationalen Telefonnetzes limitiert.
Jeder, der über einen Computer und ein Modem verfügt, kann Bürger dieser virtuellen Ansiedlungen werden und selbst zu der ungeheuren Anhäufung von professionellem Fachwissen und kommerziellen Angeboten, bizarren Meinungsäußerungen und künstlerischer Kreativität beitragen - zur, in John Barlows Worten, »größten funktionierenden Anarchie, die je auf dem Planeten Erde erfunden wurde«.
Die gegenwärtige Situation im Cyberspace vergleicht der Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation denn auch »mit dem Wilden Westen des 19. Jahrhunderts. Er ist weit, unerschlossen, kulturell wie legal offen ... ein perfekter Nährboden sowohl für Outlaws wie für neue Vorstellungen von dem, was Freiheit ist.« Und Donald Gooding von Accel Partners, einer Risikokapital-Investmentfirma, die sich an einem halben Dutzend Cyber-Unternehmen beteiligt hat, sagt: »Das Internet ist der Wilde Westen der Technologie. Bislang hat noch niemand gültige Regeln aufstellen können.«
Alles, was sich menschliche Gehirne zwischen hedonistischer Lifestyle-Erweiterung und utopischer Zukunftsbastelei, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Traum und Alptraum auszudenken vermögen, lässt sich so im Cyberspace erfahren. Wie keine andere Gegend am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zieht er Spinner und Träumer, Abenteurer und Visionäre an. Und in manch ordentlichen Menschen, Militärs und Wissenschaftlern, Studenten und Bankern, weckt er gleichfalls eine wilde Ader.
»Der Cyberspace ist genauso eine frontier, wie die Neue Welt es für das Europa des siebzehnten Jahrhunderts war«, schreibt James Gleick im »New Yorker«: »Es gibt keinen Grund, das zu romantisieren. Die Welt der frontiers ist unangenehm, hässlich und gesetzlos. Zu oft herrscht dort eine entartete Stimmung wie im ‘Herr der Fliegen’. Die Leute lügen schamlos, und andere Leute glauben ihnen. Versteckt hinter den Masken ihrer Pseudonyme, kreischen sich zornige Teenager gegenseitig an. Ich hatte einige schockierend unangenehme Begegnungen der elektronischen Art ... Erst vor ein paar Tagen hat ein erboster junger Mann, den ich nie zuvor getroffen hatte, eine öffentliche Nachricht hinterlassen, in der er dem Wunsch Ausdruck verlieh, dass mir meine Hände mal in einer Explosion abgerissen würden.«
An der frontier.
Ein Pionier erzählt
»Wir haben ein Dutzend Laserkanonen mit Bewegungsmeldern aufgestellt, und die haben in der Nacht die Waschbären einfach weggebraten.«
Während wir auf R. U. Sirius warten, gibt Richard Bandler eine klassische Pioniergeschichte aus der Zeit zum Besten, als die pazifische Techno-Boheme an den Grundlagen der Gegenwart bastelte.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Lobby des Mandarin Hotel in der Bay Area. Zeit: ca. 00:11 h vor dem ersten Kontakt.
Bandler ist um die fünfzig. Er hat mehr Bücher geschrieben als normale Menschen Finger und Zehen ausbilden. Er war des Mordes an seiner Freundin Corine Christensen angeklagt, die wie er selbst kokainabhängig war und durch einen Kopfschuss aus Bandlers Waffe starb, nachdem er gedroht hatte, sie zu töten, und er ist 1988 freigesprochen worden. Er hat zusammen mit Linda Hughes Allen das »Neurolinguistische Programmieren« (NLP) begründet, eine äußerst erfolgreiche »Dein-Körper-verrät-dich-und-dein-Gehirn-weiß-mehr-als-du-denkst«-Selbstverbesserungstechnik, die der »Spiegel« zur »Modetherapie der neunziger Jahre« erklärte. Zudem hält er einen Haufen Patente für Erfindungen, die er vor zwanzig Jahren in der Wildwest-Ära der Hightech-Revolution gemacht hat - in einem einsamen Haus in den Bergen, wo eine vielköpfige Waschbären-Plage allnächtlich die Labors heimsuchte.
»Die Farmer dachten natürlich, wir wären verrückt. Drogen-Irre.« Richard Bandler lacht: »Was wir wohl waren.«
Eines Tages, Bandler und seine Truppe arbeiteten an einer Weiterentwicklung des Hologramms als Datenspeicher, kam jedoch Besuch, der sich ein wenig besser auskannte.
»Die Jungs vom FBI wollten, dass ich für sie arbeite.«
Bandler lacht lauter. Er hat ihnen das ganze Zeug hingeschmissen, andere Forschungen begonnen und ist eben damit reich geworden. Das rüstungsrelevante Hologramm-Projekt gedieh in den Händen der Sicherheitskräfte kaum.
»Es reicht nicht, alles einzusacken«, sagt Richard Bandler. »Man muss es auch kapieren.«
Der Mann ist ein Musterbeispiel für die Silicon-Psychedelic-Szene, die R. U. Sirius anvisierte, als er Mitte der achtziger Jahre das Cyberpunk-Magazin »High Frontiers« gründete, den Vorvorgänger von »Mondo 2000«. Das »High« im Titel spielte aufs Drogen-Hoch an wie auf die Hohe Technik - Cyberpunk als Gegenkultur aus High Tech und Haight-Ashbury, aus Drogen und Silicon.
»Wir leben hier an der Grenze«, sagt Richard Bandler ruhig und hält mir das ziemlich wilde Kinderbuch hin, das er gerade veröffentlicht hat: »An der äußersten frontier.«
Jeder halbwegs neutrale Beobachter wird es ihm glauben. In »New Brainia«, wie die smartesten San Franziskaner die Bay Area nennen, wo die Zukunft angeblich immer zuerst geschieht, drängen sich die innovativen Außenposten des Cyber-Zeitalters, von Apple und zahllosen anderen Computerfirmen im Silicon Valley über das NASA Ames Research Center an der Südspitze der Bucht und die Virtual-Reality-Pioniere in Redwood City und Sausalito bis hin zu George Lukas’ Industrial Light & Magic in Marin County. Im Zentrum dieser Hightech-Kultur liegt der Multimedia Gulch, ein alter Warenhaus-Bezirk in der Nähe von Downtown, dessen billige Loftmieten Hunderte von Multimedia-Firmen mit insgesamt über sechstausend Angestellten angezogen haben - junge Leute, die meisten zwischen zwanzig und vierzig, deren Hightech-Lifestyle auf eine Zeit voraus weist, in der biologisches und elektronisches Leben eine vollständige Symbiose eingegangen sind.
»Ich bin der Ansicht, San Francisco sollte ein eigener unabhängiger Staat sein«, hat R. U. Sirius einmal gesagt: »Wir haben die kreativsten Leute in der Computerindustrie, eine blühende Kultur, was Künstler und Schriftsteller angeht, und die stärkste Ökonomie in den USA. Von Marihuana bis Microchips - wir haben den kraftvollsten multikulturellen transsexuellen Polizeistaat in der Welt.«
Richard Bandler ist ganz seiner Ansicht. Gerade erzählt er, begleitet von wilden Handbewegungen und lautem Lachen, eine weitere frontier-Geschichte, die davon handelt, wie er einst die Xerox-Entwicklungscrew in die gewaltigen Rechner-Gewölbe der »Los Angeles Times« lockte, um ihnen vor Augen zu führen, was er mit dem papierlosen Büro als Vorform zukünftiger Entmaterialisierungen meinte, da schwebt plötzlich ein cherubinisches Lächeln über unseren Köpfen.
»Papierlos? Huuuh?« sagt R. U. Sirius und streicht sich die langen Strähnen aus dem Gesicht: »Ich schreibe aber wieder ein Buch. Zusammen mit St. Jude, meiner Partnerin im Provozieren. Darüber, wie wir mutieren und die Welt übernehmen.«
Der Diderot des Cyber.
Ein Lebenslauf
»Eine utopische Persönlichkeit war ich immer. Ich habe mich nie mit dem abfinden können, was da ist«, sagt R. U. Sirius.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, chinesisches Restaurant Silk in der Bay Area. Zeit: 02:45 h nach dem ersten Kontakt.
Die Luft, die sich wie eisiger Atemhauch aus der leise rauschenden Aircondition auf uns herab senkt, riecht klarer und reiner, als es die Natur erlaubt. Die Flottille chinesischer Kellner bedient sprachlos und geschmeidig wie von seidener Hand programmiert. Sollte das Hochhaus, in dem wir speisen, Fenster haben, so hat der Innenarchitekt sie unsichtbar werden lassen. Wir könnten nirgendwo sein oder in einem tiefgekühlten Traum.
»Ich bin alt«, sagt R. U. Sirius und sieht durch mich hindurch, als läge hinter mir eine andere Galaxis. »Ich bin Jahrgang 1952.«
Der bisherige Lebensweg meines Cyber-Zerberus folgte strikt den Windungen des Zeitgeistes, und so begehrte er, ein Hippie zu werden, kaum dass er in seiner damaligen Inkarnation als Ken Goffman pubertierte:
»Das Angenehme daran war, dass diese Veränderung meines Lebens keiner besonderen Anstrengung bedurfte.«
R. U. Sirius lächelt das leicht buddhistische und enervierende Lächeln, das sein Markenzeichen ist, und erzählt weiter, wie er im Sommer 1968, bereits vom Hippie zum Marxisten bekehrt, in einem Buchladen jobbte und eine Kopie von Abbi Hoffmanns »Revolution for the Hell of It« stahl.
»Das wurde der größte Einfluss meines Lebens. Da fand ich die psychedelische Dada-Energie, das Potential für Aggression und Spannung, das Verlangen, alles auf den Kopf zu stellen. Die Cyberkultur ist nur mein jüngster Schritt in diese Richtung.«
Der Marxist wandelte sich damals zum anarchistischen Yippie und, im Gegensatz zur Mehrheit seiner alternativen Wegbegleiter, zum radikalen Anhänger des technischen Fortschritts.
»Technophil wurde ich aus der Überlegung heraus, dass in der befreiten Gesellschaft den Menschen alle Arbeit von Maschinen abgenommen würde. Im Grunde ist das ein Gedanke von Herbert Marcuse, der hier in der Bay Area sehr populär war.« R. U. Sirius holt Luft: »Trotzdem hat mir meine Technikliebe lange Zeit viel Ärger eingetragen. Die Alternativ-Szene verkannte ja die ungeheuren Möglichkeiten. Die Leute des ‘New Age’ zum Beispiel wollen alles verlangsamen, während wir an der ‘New Edge’ alles beschleunigen wollen. Aber ich wusste, die Gegenkultur würde irgendwann aus der pessimistischen Ablehnung des technischen Fortschritts herausfinden müssen. Die Revolution wird aus Optimismus gemacht. Aus Begehren und nicht aus Versagung, aus Verschwendung und nicht aus Askese; nicht aus Verboten, sondern aus Wünschen.«
Anfang der achtziger Jahre, kurz nach seiner Ankunft an der Westküste, beschloss R. U. Sirius, zum Verkünder der technischen Heilslehre zu werden.
»Ich fühlte, dass ich etwas mitzuteilen hatte. Erst wollte ich eine Band gründen. Aber wir konnten keinen Schlagzeuger finden. Und dann versuchte ich es eben mit einer Zeitschrift.«
1984 traf er auf der Äquinoktium-Party eines lokalen Magiers die Anthropologin Queen Mu alias Alison Kennedy. Die Ex-Freundin von Aldous Huxley ist Expertin für Kröten, Spinnen und Stachelrochen, über deren halluzigene Körpersäfte sie wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht hat. Mit ihrem bescheidenen Erbe gründeten Queen Mu und R. U. Sirius das Billig-Zine »High Frontiers«.
»Ich fühlte, dass digitale Technologie und auch abstrakte Erkenntnisse und Entdeckungen wie die Chaostheorie und die Quantenphysik ein neues Totem für das psychedelische Bewusstsein werden würden. Wir wollten diese Technik und das neue Wissen propagieren. Wir wollten Leute sein, die herausragen und sich nicht fürchten.« R. U. Sirius grinst stolz: »Als erstes haben wir damals die Hacker-Gemeinschaft an den Ohren aus ihren abgedunkelten Zimmern ans Tageslicht gezerrt. Sie haben geschrien und gezetert. Aber es hat ihnen nichts geholfen. Die gesamte Computerindustrie im Silicon Valley war ja durchsetzt von Leuten, die eine Hippie-Ästhetik hatten, linke oder libertäre Politik, all diese wirren Zauberer, und das wusste keiner.«
Ende der achtziger Jahre und getragen von der Cyberpunk-Welle mutierte das bescheidene »High Frontiers« (Auflage fünfzehnhundert Stück) erst zu »Reality Hackers« (Start 1987, Auflage zwanzigtausend Exemplare) und schließlich zum hochglänzenden »Mondo 2000«.
»Diese Namensänderung und das äußere upgrading waren nötig, um wenigstens ein Stück weit ins Massenbewusstsein vorzustoßen«, sagt R. U. Sirius über sein »Mutazin«: »Ich betrachte es nicht wirklich als Journalismus, mehr als Performance Art. Wobei ich den Gedanken liebte, ein Magazin zu veröffentlichen, das in seinem Titel ein Verfallsdatum trägt: das Millennium. Mit jeder Nummer von ‘Mondo 2000’ betreiben wir den Countdown zur Apokalypse.«
Das kunst- und technikverliebte Kult-Blatt, zwischen 1989 und Ende 1995 mit nur vierzehn Ausgaben zu je rund siebzigtausend Exemplaren erschienen, wirkte auf dem amerikanischen Zeitschriftenmarkt äußerst stilbildend. Der Gesamtkunstwerk-Ansatz schert sich selbst um ökonomische Nachteile nicht: Werbekunden müssen ihre Seiten zur Genehmigung vorlegen, als handele es sich um redaktionelle Illustrationen. Entsprechen die Anzeigen - für Hightech-Konsumgüter und Wilhelm Reichsche Orgondecken, für Ufo-Detektoren und Computermessen - nicht den ästhetischen Standards, werden sie abgelehnt.
Die Ansprüche ans Lesepublikum sind ebenfalls hoch. »Mondo 2000« adressiert die Verrücktesten und Neugierigsten unter den Klugen und präsentiert technologische Innovationen, arkanes Wissen und die neuen Computer-Wirklichkeiten nicht nur erotischer als der »Playboy« seine nicht minder künstliche Wetware, sondern auch komplizierter als manch wissenschaftliches Fachbuch.
»Wir verlangen von unseren Lesern, dass sie sich anstrengen«, sagt R. U. Sirius.
Er firmiert im Impressum als »Icon-at-Large«, was in Anspielung auf den »Reporter-at-Large«, der gründliche Artikel schreiben darf, wie auf den Kriminellen, der »at large«, also auf der Flucht ist, soviel bedeutet wie »flüchtige Ikone mit sehr viel Freiheiten«. Weggefährtin Queen Mu übt die Funktion einer »dominineditrix« aus. Zusammen sorgen sie für intelligente hedonistische Artikel, die vom Einfluss ihrer Idole William S. Burroughs und Timothy Leary, Abbi Hoffmann und Robert Anton Wilson zeugen, aber ebenso für seltsame Berichte über seltsame Dinge.
»Mondo 2000«-Leser erfahren zum Beispiel einiges über »Die Musik der Doppelhelix«, »Kybernetische Juwelen - tragbare Microcomputer« oder Extrem-BBS, die schwer zu beschaffende Infos enthalten, etwa wie man eine eigene Atombombe baut oder einen Mörderwal masturbiert. Ein Leichenteil-Memorabilien-Händler verteidigt sein Gewerbe - »Einzig der Tod ist noch demokratischer als der freie Markt, richtig? Also, hier haben wir einen Geschäftszweig, in dem beides zusammengeht« - und schwärmt dabei von dem idealen Package-Deal: »Das Tagebuch von Che Guevara zusammen mit der Hand, die es schrieb!« Blixa Bargeld von »Einstürzende Neubauten« offenbart: »Die RAF-Leute waren meine Helden.« Jeff Koons wird als »Liberace der Endzeit« porträtiert. Ein Essay des führenden L.A.-Historikers Mike Davis über die kalifornische »Ökologie der Angst« beschreibt die Planung virtueller Gefängnisse. Und in einem Interview spricht der »Ausserirdische-Elfen-brachten-uns-die-Drogen«-Pabst Terence McKenna von der Möglichkeit, das gesamte Wissen der Menschheit auf ein paar dunkle Kontaktlinsen herunterzuladen, um es so jederzeit vor Augen zu haben, und schließlich gesteht er: »Der menschliche Verstand ist unglaublich pervers. Ich weiß das, weil ich selbst einen habe.«
Das zweite »Katzenjammer-Kid der Psychedelic-Szene« ist Terences Bruder Dennis. Zur Diskussion seiner Theorien merkt die »Mondo 2000«-Redaktion in Klammern kühl an: »Dennis McKennas Hyperkarbolations-Theorie verbindet Elektronenwirbelresonanzlehre, holographische DNA-Informationsgewinnung, Supraleiterforschung und psychedelische Chemie. Postdiplom-Abschlüsse auf irgendeinem dieser Wissensfelder wären hilfreich, um herauszufinden, ob das alles nicht nur eine Kiste voller Scheiße ist.«
»Und wenn?« R. U. Sirius macht eine wegwerfende Handbewegung. »Die Wirklichkeit ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir Kreativen und Verrückten mehr Macht und Einfluss bekommen als die engstirnigen Sturköpfe, die normalerweise den Ton angeben.« Um seine eigene Machtbasis auszuweiten, forme er gerade eine Unternehmungsgruppe. »Natürlich mit dem Fernziel, die Welt zu übernehmen. Wenn man eine Sache anfängt, muss man sie auch voll durchziehen.«
Wie Andy Warhol sich selbst zur Ikone des Pop inszenierte, arbeitet R. U. Sirius an seinem Aufstieg zur Ikone des Cyber. Warhol verfügte mit »Interview Magazine« über ein eigenes Sprachrohr, Sirius hat »Mondo 2000«, um seinen Ruhm zu mehren. Warhol brachte seine Pop-Philosophie in Buchform unter die Menschen, Sirius hat den »User’s Guide to the New Edge« publiziert. Nun hat er - wie Warhol mit »Velvet Underground« - eine eigene Band gegründet. Als Name für seine akustische Schöpfung, die »Hauskapelle des Simulacrums«, wählte er »Mondo Vanilli«:
»Ich trete auf und wieder ab. Ich bin der Michael Jackson für Arme. Und Kluge. Ich erscheine und verschwinde. Das soll meine Rolle in der Band sein. Doch wir haben daneben eine phantasievolle Sängerin, Simone 3Arm, eine elektrische Göttin, die schon viele Pornos gemacht hat, eine wunderbare Mischung aus Salvador Dali und Alice Cooper.«
Meint er das ernst?
»Ich nehme nie etwas ernst. Am Ende geht alles zu Ende, unser Leben, die Welt, wie wir sie kennen.« Kein Anflug von Traurigkeit schwebt dabei um seine Miene. »Aber natürlich bin ich von Andy Warhol sehr beeinflusst worden. Er war der erste, der an seiner Stelle einen Roboter hat auftreten lassen. Und er hat jemanden angeheuert, der für ihn Reden gehalten und Interviews gegeben hat. Er erregte Aufmerksamkeit, und ich möchte gleichfalls noch einige Jahre öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Es ist so verdammt leicht, das Interesse der Leute zu verlieren.«
Nachsichtig legt R. U. Sirius mir seine ganz private Theorie der Öffentlichkeit dar: Das menschliche Gehirn ist rückständig, seine Aufnahmekapazität äußerst beschränkt. Wir können die Daten nicht so schnell aufnehmen, wie sie erzeugt werden. Das hat im digitalen Zeitalter zu einer Mangelökonomie besonderer Art geführt. Nicht an Waren oder Informationen, nicht an Ausdrucksmöglichkeiten oder an Einnahmequellen fehlt es uns, sondern an der Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Sie ist das einzige Gut, das sich im Zeitalter universeller Reproduzierbarkeit nicht mehr vermehren lässt.
»Wenn eine Frau wie Madonna vierzig Prozent aller im Land vorhandenen Aufmerksamkeit absorbiert, bleibt für uns andere wenig übrig. Bruce Sterling hat mal bei einer Podiumsdiskussion gesagt, die Aufmerksamkeitsökonomie löse allmählich die Geldökonomie ab. Alle Werte werden früher oder später danach berechnet werden, wie viele Leute etwas wahrgenommen oder benutzt haben. Nach der Aufmerksamkeit, die man erregt, wird man zukünftig bezahlt.« Der Cyberpropagandist strahlt: »Das wird meine Welt sein.«
Kritiker attestieren R. U. Sirius eine »koffeinreiche Prosa«, beste Voraussetzung, um Aufmerksamkeit en gros zu erregen. Eine wandelnde PR-Veranstaltung, Mundstück der Plattitüden, die auch ein Millionenpublikum begreifen könnte, mag der Cyberpropagandist allerdings nicht sein. Er strebt nach intellektuellerem Ruhm.
»Ich bin auf der Suche nach dem Stein der Weisen, was Cyber angeht«, sagt er. »Ich setze immer alles auf die beste Karte in der Stadt. Und das ist gegenwärtig die Cyberkultur, wo das biologisch-physische Menschwesen eine technische Lösung für die quälendsten Probleme seines Seins findet.«
Eine höhere Ordnung in dem wirren und verwirrenden Boheme-dynamischen-Komplex aus kybernetischen und künstlerischen Verrücktheiten zu entdecken, fällt jedoch selbst mit Hilfe avantgardistischer Technik- und Kulturphilosophie, auf die mein Fremdenführer soviel gibt, nicht leicht. Unzählige maßgeschneiderte Subkulturen und Kults, artistisch und artifiziell, elektronisch und eklektisch, scharen sich um die verschiedensten Forschungsgebiete und Kunstrichtungen, um Denk- und Computer-Modelle.
Wenn er dieses grelle Weltbildkaleidoskop aber schon nicht auf den geschichtsphilosophischen Begriff bringen kann, will R. U. Sirius wenigstens der Diderot des Cyber-Age sein, derjenige, der das subkulturelle Chaos enzyklopädisiert. Die sammelsurische Tour d’Horizon, die er mir versprochen hat, absolviert er denn auch atemberaubend versiert mit Warp neun.
Cyberklopädie II:
Gehirnhacking & Cybertheorie,
Körperhacking & Bionische Engel,
Top-vier-Cyberclans
»Für eine Gesellschaft ist es grundsätzlich von Nutzen, eine kleine, kontrollierte Gruppe von selbstzerstörerischen Narren zu besitzen, die bereit sind, ungetestete und unverstandene Geräte und Substanzen an sich auszuprobieren«, schreibt Bruce Sterling: »Und wenn ich je einen Mann getroffen habe, der wie kein anderer für ein solches Leben am äußersten Rande geeignet ist, dann ist es R.U. Sirius.«
An unserem zweiten Initiations-Abend beschränkt der zum Pummeln neigende Cyberguru seine Selbstversuche jedoch auf die Einnahme von wenig Kalorien und gewaltigen Mengen von Mineralwasser. Dazu lächelt er dauerhaft unirdisch.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Julie’s Supper Club in der Bay Area. Zeit: 24:15 h nach dem ersten Kontakt.
Der Strom steter Worte, mit denen R.U. Sirius die zu Clans verschworene Cyberszene heraufbeschwört, ist dafür berauschend genug. Was wir beobachten, erklärt er, seien die gewagten Experimente einer Zwischenzeit, der lange Anlauf zum großen evolutionären Sprung. Die Menschheit habe sich eine Umwelt erschaffen, für die ihre genetische Ausstattung nicht mehr hinreiche, ihre Techniken zur immer notwendiger werdenden Selbstverbesserung aber seien noch zu unausgereift.
Im Zentrum der Cyberkultur stehen daher provisorische Versuche, der Realität auf die Sprünge zu helfen. Sie zielen auf eine Befreiung des Alltagslebens und die Erschaffung alternativer Wirklichkeiten, auf eine Steigerung der körperlichen Empfindungen und eine Erweiterung des Bewusstseins. Darin sind die Cyberclans Nachfolger der Hippie-Revolte der sechziger Jahre und der psychedelischen Popkultur, die um sie herum entstand. Deren revolutionäre Triebkraft war der Rock’n’Roll. Zum ganz normalen Milliardengeschäft mutiert, hat er heute seine innovative und existentielle Bedeutung verloren. Die Musik vermag nicht mehr das Bewusstsein einer neuen Generation zu formulieren. Alles ist ausprobiert und gesagt worden, alles Neue ist Revival. Diese Einsicht markiert Kurt Cobains melancholische Frage auf dem letzten »Nirvana«-Album vor seinem Selbstmord: »What else can I say?« - »Was kann ich noch anderes sagen?«
Seit die Musik von der vordersten Front ins Glied der Künste zurückgetreten ist, spielt der Computer die Rolle, Gemeinschaften und Kultur zu stiften. Das Woodstock der Cyberszenen liegt im Internet, ihre Utopie sieht den Menschen im Medium der Technik, befreit von seinen sozialen wie biologischen Zwängen.
»Meiner Ansicht nach gibt es einen generellen Trend in Richtung dessen, was man die ‘Veräußerlichung der Seele’ nennt«, sagt R. U. Sirius. »Mehr und mehr von dem, was wir sind, realisiert sich in medialen Räumen oder im Cyberspace und nicht mehr in unserer lokalen Umgebung oder in unseren Körpern. Das ist Teil eines Prozesses, der sich nicht aufhalten lässt. Ich glaube, dass wir uns am Ende wahrscheinlich auf die Netze hoch- oder auf Datenspeicher runterladen werden oder Kopien von uns machen werden, um unsere Biologie zu überwinden - ohne notwendig auf sie zu verzichten -, um uns mit der Technik zu vereinen und Alternativen zur Biologie zu haben.«
Solange derlei noch an technische Grenzen stößt, konzentriert sich der utopische Wille der Cyber-Subkulturen, dem Ist-Zustand zu entkommen, auf die bereits vorhandenen Mittel und Wege, die Grenzen der äußeren Realität und des eigenen Körpers zu erweitern.
Gehirnhacking: smarte Drogen. Intelligenz und Kreativität sind in der Cyberkultur so hip, wie es flache Bäuche einst in Yuppiekreisen waren. Der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Workout und Steroide entspricht die Erhöhung der eigenen Smartheit durch Psychotechniken und vor allem Smart Drugs, Hightech-Drogen, die smart hergestellt sind und smart machen.
»Wir können nicht Schritt halten mit der Entwicklung, die uns und die Maschinen vorantreibt, ohne unsere Frequenzen zu erhöhen. Smarte Drogen ermöglichen uns das; sie ermöglichen uns, ein Stück freier von biologischer Kontrolle zu werden. Sie gleichen Steroide für Börsenmakler«, sagt R. U. Sirius: »Ich verwende diese Metapher, um anzudeuten, dass wir uns von genussorientierten psychedelischen Drogen wegbewegen und zu solchen hin, die die Leistungsfähigkeit erhöhen. Wir haben Steroide für den Körper und Intelligenz steigernde Drogen für den Verstand. Wenn man dabei ist, Karriere zu machen, kann man es sich dann wirklich leisten, auf den Vorteil zu verzichten, den die smarten Drogen bieten?«
Der Ausdruck Smart Drugs selbst geht auf John Morganthaler zurück, der auch 1990, zusammen mit Ward Dean, die bestsellernde Bibel der Smartdrogen-Szene geschrieben hat: »Smart Drugs and Nutrients: How to Improve Your Memory and Increase Your Intelligence Using the Latest Discoveries in Neuroscience« - »Smarte Drogen und Ernährungsstoffe: Wie man sein Gedächtnis verbessern und seine Intelligenz steigern kann, indem man von den jüngsten Entdeckungen der Neuroforschung Gebrauch macht«. Das Buch ist gewissermaßen das Alte Testament. Das Neue erschien drei Jahre später und heißt »Star-Trek«-inspiriert: »Smart Drugs II: The Next Generation«.
Die Smart-Drogisten machen sich Erkenntnisse der Psychobiologie zunutze, die zeigen, dass das Gehirn keine unveränderliche Hardware darstellt. Es ist vielmehr eine Art chemischer Dampfkessel, in dem die Synapsen- und Neurotransmittersäfte unter Hochdruck zirkulieren. Ihre Konzentration lässt sich so einfach erhöhen wie die von Alkohol im Blutkreislauf - mittels nootropischer und neuromantischer Drogen, die Intelligenz steigernd und Bewusstseinserweiternd auf die höheren Gehirnzentren einwirken.
Generell lässt sich der Effekt der Nootropics mit der traditioneller Stimulantien wie Koffein, Kokain und Amphetaminen vergleichen. Die jedoch verschaffen dem Körper nur einen schnellen Schub, der die Gedächtnisleistung und das Kombinationsvermögen momentan steigert und das Gehirn wenig später erschöpft zurücklässt.
»Psychedelische Drogen verstärken die Fähigkeit zu fokussieren, sich zu erinnern und Informationen zu verarbeiten«, sagt R. U. Sirius. »Aber sie haben die Nachwirkung eines Vorschlaghammers.«
Smarte Drogen hingegen sollen als Dauerbrenner eine langfristige Erhöhung von Gehirnleistungen wie Konzentrations- und Assoziationsfähigkeit bewirken sowie die Alterungsprozesse des Gehirns verzögern.
Der Vorschlag, die Frequenzweite der Wahrnehmung und die Zahl der arbeitenden Schaltkreise im Gehirn durch chemische Stimulation zu erhöhen, dem Gedächtnis mehr Speicherfähigkeit und dem Denken schnellere Prozessoren zu besorgen, stieß im amerikanischen Westen auf ein breites Bedürfnis. Von San Francisco bis Phoenix schossen im Dutzend Mailorder-Firmen und Smart Bars aus dem Boden, in denen man sich mit Designer-Gehirnfutter und Denk-Getränken mit so schönen Namen wie »Intellex«, »Psyber Tonic« oder »Energy Elixir« versorgen kann, meist Mixturen aus Vitaminen und Koffein plus Cholin, Phenylalaline und Ephedra.
Prominenteste Lieferanten der Gehirnbrennstoffe für die smarte Szene sind die Lebensverlängerungs-Gurus und »Mondo 2000«-Autoren Durk Pearson und Sandy Shaw. Ihre Trockendrinks, die auch der Achtundsechziger-Revolutionär Jerry Rubin bis zu seinem tödlichen Unfall vertrieb, bestehen zu einem Großteil aus Aminosäuren, die sich im Körper zu zell- und Gewebe stärkenden Proteinen verbinden. Einige Aminosäuren und Ernährungsstoffe wie Choline verwandeln sich zu Neurotransmittern - Zerebralfutter, das die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen stärkt.
Stärkere nootropische Gehirnbrennstoffe wie Deprenyl, Hydergine, Phenylalin, Milacemide, Phosphatidyleserin, Vasopressin oder Piracetam sind oft rezeptpflichtig und erfordern umständlichere Beschaffungswege. Piracetam etwa wird üblicherweise zur Nachbehandlung bei Schlaganfällen mit Gedächtnisverlust verschrieben. Als typische Droge des Computerzeitalters beschleunigt es den Datenbus zwischen den getrennten Denkmaschinen in der linken und rechten Gehirnhälfte. R. U. Sirius’ Liebling unter den smarten Drogen ist jedoch das euphorisierende und Gedächtnis steigernde Vasopressin.
»Vasopressin ist der chemische Stoff, der im Gehirn erzeugt wird, wenn man Kokain oder Amphetamine schnupft. Das Zeug gibt einem einen richtigen Kick. Man fühlt sich sehr stimuliert und interessiert sich für alles viel stärker«, sagt Sirius. »Anders als Kokain jagt es aber den Kreislauf nicht so hoch. Man hat das gute Gefühl ohne die Neben- und Nachwirkungen.«
Kevin Kelly, als damaliger Chefredakteur der »Whole Earth Review« ein früher Tester der Droge, gab ihm recht. Er beschrieb, mit welcher Klarheit und Selbstsicherheit er unter dem Einfluss von Vasopressin Thomas Pynchons »Gravity’s Rainbow« lesen konnte und nannte es eine Droge für Schriftsteller:
»Vasopressin ist ein hervorragendes Mittel, um schnelles Lernen und das Begreifen komplexer Gedankensysteme zu befördern.«
Andere, die Vasopressin versuchten, berichten jedoch von unangenehmen Nebenwirkungen wie Schwindelgefühlen, Krämpfen und dem unwiderstehlichen Wunsch nach Darmentleerung.
»Sicher, heute sind die Chemikalien oft noch stümperhaft und roh«, räumt Sirius ein. »Eines Tages werden wir Gehirnimplantate haben. Man wird in der Lage sein, auf einen Knopf zu drücken und so die Chemikalien im Gehirn zu aktivieren, die man gerade möchte.«
Bruce Sterling warnt direkter vor dem Boom der smarten Drogen: »Nehmt nichts von dem Zeug, von dem sie behaupten, es mache euch klüger. Es macht euch nur ärmer.«
Doch der Weg in die breiten Massen ist kaum aufzuhalten. Anti-Depressiva wie Prozac beseitigen allmählich das Stigma, das in weiten Kreisen über Bewusstseinsverändernden Chemikalien lag. Umfragen zufolge nehmen bereits über einhunderttausend Amerikaner regelmäßig smarte Drogen, und von den pharmazeutischen Konzernen werden gegenwärtig über einhundert neue Produkte entwickelt.
Natürlich ist die smarte Szene derzeit klein im Vergleich zu den Millionen, die seit Jahren mit Bewusstseinserweiternden Drogen experimentieren. Auch zu Marihuana, Heroin oder Kokain gibt es aber Alternativen, Drogen wie Ecstasy, Lucidril, L-Dopa, MDMA. In der Cyberkultur werden diese sogenannten »Neuromantics« wegen ihrer Realitäts- modulierenden Kräfte hochgeschätzt. Sie seien, schrieb Tony Marcus in »I-D«, nachdem er »New Brainia« besucht hatte, »der Kultur-Generator, dessen Energie die Cyberpunks der Stadt, die Techno-Hippies und die [Rave-]Clubs in die Zukunft treibt.« Und Rudy Rucker sagt: »Ich bin aus politischen Gründen pro-psychedelisch, weil das bedeutet, gegen die Konsensus-Realität zu sein, und das bin ich mit allem Nachdruck.«
R. U. Sirius sieht die kreativen Kräfte der neuromantischen Drogen als notwendige Aufhebung der Beschränkungen, die der chemische Normalzustand unseren Gehirnen auferlegt. Er schwärmt von den Meisterwerken, die die Drogenkultur der sechziger und siebziger Jahre in Kunst, Literatur, Musik und auch in der Computerindustrie hervorbrachte. Mark Heley, Rave-Organisator in San Francisco, geht noch ein Stück weiter:
»Smarte Drogen und virtuelle Realitäten werden die Welt ändern. Sie wirken wie Zeitbomben. Eine posthumane Kultur ist im Entstehen - wir werden so etwas wie eine neue Spezies.«
Cybertheorie: Wissenschaft als Rebellion. Die Grenzen nicht anzuerkennen, die das jeweils herrschende Weltbild dem Denken und Forschen zieht, das sei die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft, meint der Princeton-Physiker und Extropianer Freeman Dyson. »Wissenschaft ist eine Allianz aller freien Geister in allen Kulturen«, schreibt er, »die gegen die jeweilige Tyrannei rebellieren, mit der jede Kultur über ihre Kinder herrscht.« Nicht immer jedoch finden die intellektuellen Ergebnisse solcher Rebellionen außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ein Interesse, das über Ablehnung hinausginge.
Kollektive Theoriefeindlichkeit ist stets ein Zeichen für sowohl geistige wie historische Stagnation und weist auf Gruppen, die sich eingerichtet haben und in ihren Gewohnheiten und Gedankenlosigkeitsmustern nicht stören lassen wollen. Zeiten des Umbruchs und revolutionäre Bewegungen hingegen versuchen, das Neue, das sie erspüren, zu verstehen, indem sie es auf den Begriff bringen. Theoretische Auseinandersetzung ist in ihrem Kontext keine entfremdete Tätigkeit von wissenschaftlichen Spezialisten. Sie dient vielmehr der Klärung existentieller Fragen und ist ein Stück intellektueller Lebenshilfe. Die cyberbewegte Avantgarde-Szene unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von ihren politischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Vorgängern. Denkfiguren erster Wahl beim Prozess ihrer Selbstverständigung sind Theorien der Postmoderne, insbesondere Poststrukturalismus und Dekonstruktion.
»Ich habe eine Schwäche für französische Autoren, für Leute wie Foucault, Lacan, Deleuze, Derrida und Baudrillard«, gesteht R. U. Sirius. »Sie bieten eine hysterische, oft paranoide, aber immer sehr erkenntnisreiche Sicht auf die grausame Seite unserer Technikkultur. Sie verhandeln Probleme von Sprache und Wirklichkeit in Begriffen aus der Technikwelt. Mit anderen Worten: Sie sehen unsere Gesellschaft als eine große Maschine an, eine Art Betriebssystem. Und sie sprechen vom Hyperspace auf eine Weise, die sehr viele Ähnlichkeiten zum Konzept des Cyberspace besitzt: dass das Reich der Informationen einen Lebenszusammenhang darstellt und nicht einfach eine unwichtige Begleiterscheinung unserer Arbeit ist. Deshalb haben sie auch großen Einfluss auf die Cyber-Schreiber an den Universitäten.«
Die Adaption des Dekonstruktivismus, für die Sirius’ hartnäckige Expeditionen in die zeitgenössische Philosophie typisch sind, scheint durchaus folgerichtig. »Dekonstruktion« - das klingt nicht nur nach einem Abrissunternehmen. Es ist eines. Zertrümmert werden soll die herrschende Ordnung der Dinge und des Denkens. Gleichberechtigte Vielfältigkeit tritt theoretisch an die Stelle des bis dato beherrschenden totalitären Einheits-Denkens: des Glaubens, der Philosophien, der Ideologien, die jeweils alles Abweichende unterdrücken. Wobei, selbstverständlich, der intellektuellen Dekonstruktion realer Zerfall vorangegangen sein soll: der Wirklichkeit, der Tradition, der Kultur, der Kunst, des Denkens.
Die primären Kennzeichen der postmodernen Epoche - die Infragestellung der mechanistischen Rationalität des industriellen Zeitalters, die Aufhebung der hierarchischen Distinktion zwischen Hoch- und Massenkultur, theoretischer Eklektizismus und stilistische Promiskuität - bilden das Fundament des dekonstruktivistischen Theoriegebäudes, wie es im Umkreis der Cyberszene vor allem Allucquere Rosanne Stone vom Advanced Communication Technologies Laboratory im texanischen Austin und die feministische Historikerin Donna J. Haraway mit ihrem kultisch verehrten »Cyborg Manifesto« vertreten, einer Hymne auf die geschlechtskombinatorischen Möglichkeiten des Menschen in einer Hochtechnologie- und Informationskultur.
»Diese Texte zu lesen, erschöpft einen wirklich«, schmunzelt R. U. Sirius, dessen »Mondo 2000« einiges Dekonstruktive gedruckt hat, darunter ausführliche Interviews mit Stone und Haraway: »Aber ich kann es trotzdem empfehlen, denn glaub mir, wenn du Lacan zitieren kannst, bleibt dein Bett nicht leer.«
Körperhacking: Plastische Chirurgie, Implantate und darüberhinaus. Um aber ad indefinitum ihrer Lust leben zu können, benötigt die neue Spezies neben neuen Theorien und denkbeschleunigten und Bewusstseinserweiterten Gehirnen vor allem neue Körper, die diese Gehirne nicht länger »biologisch versklaven« und ihnen eine verbesserte und verlängerte Existenz ermöglichen.
»Ein Haufen Leute in der Cyberkultur bezeichnen den Körper als ‘Fleischstück’, weil er so fest und schwer zu verändern und unflexibel ist«, sagt R. U. Sirius. »Doch auch dieses Stück Wirklichkeit lässt sich heute bereits hacken ...«
Der Gedanke, den Körper zu manipulieren und seine Mängel und Gebrechen gewaltsam zu eskamotieren, ist allerdings nicht neu. Sein Zustand war seit der Aufklärung stets - gerade in Zusammenhang mit Sexualität - ein öffentliches Anliegen. Die »unterirdische Geschichte« nannten Adorno und Horkheimer das Schicksal des Körpers in der Moderne, und Michel Foucault sprach von der »dunklen Kehrseite« unserer Gesellschaft und zeigte in der »Geburt der Klinik« und anderen Schriften zur Biopolitik, wie im Prozess der Modernisierung dem Fleisch zunehmend anspruchsvollere Normen auferlegt wurden - Vorstellungen von Gesundheit und, insbesondere im Hinblick auf den weiblichen Körper, von Schönheit, die schier unerreichbar waren.
Bereits im neunzehnten Jahrhundert begann man deshalb, der Natur nachzuhelfen. Mit komplizierten Schnürpraktiken zwängte man etwa weibliche Taillen peu à peu bis auf dreiunddreißig Zentimeter herunter, und wenn es gar nicht anders ging, wurde schon mal eine Rippe operativ entfernt, um das widerspenstige Fleisch dem gesellschaftlichen Ideal anzupassen. Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, gehören zum medizinischen Alltag nicht nur Operationen, die gesünder machen - von Hornhaut-Übertragungen über künstliche Hüftgelenke bis zu den Füßen, die nach Unfällen wieder »angenäht« werden -, sondern auch plastische Eingriffe, die wesentlich der Anpassung der Biologie an soziale Normen dienen.
»Die einzige gute Entschuldigung dafür, überhaupt noch einen Körper zu haben«, sagt R. U. Sirius, »ist der Sex. Wen wir uns zum Partner suchen, das hat tiefe biologische Wurzeln. Doch diese Prägungen lassen sich jetzt täuschen. Wir treten in das Zeitalter der Plastischen Chirurgie ein. Was früher allein für die alternden Reichen und ein paar Starlets war, ist heute ein ganz normales Mittelstandsphänomen. Jeder, der will, kann seine Biologie überwinden und seinen Körper verändern - seine Nase oder sein Geschlecht.«
Die Zahlen geben dem Cyber-Enzyklopädien recht. Allein 1994 ließ sich rund eine halbe Million Amerikaner, Männer wie Frauen, chirurgisch verbessern - von der Liposuktion (Fett absaugen, einundfünfzigtausend Eingriffe) über die Nasenkorrektur (sechsunddreißigtausend Eingriffe) bis zur Bauchstraffung (siebzehntausend Eingriffe). Die Ankündigung, dass R. U. Sirius plane, sich im Rahmen eines Auftritts von »Mondo Vanilli« auf der Bühne einer plastischen Verschönerung zu unterziehen, erscheint von daher nicht verrückter, als die Wirklichkeit längst ist.
Doch natürlich sind das alles in den Augen der Cyber-Enthusiasten nur kümmerliche Reparaturversuche, vergleichbar einem Karosseriejob in einer kleinen Klitsche. Anvisiert werden stilistische und technische Überarbeitungen von grundsätzlicherer Art - das humane Äquivalent zu dem Einbau eines stärkeren Motors und größeren Tanks, zur Kotflügelverbreiterung und elektronischen Aufrüstung mit Satellitenempfang. Diese Verschmelzung von Menschen und Maschinen steht historisch an, meint Rudy Rucker:
»Eine massive Mensch-Computer-Symbiose vollzieht sich, schneller, als wir es überhaupt begreifen können.«
Fortschreitende Miniaturisierung sorgt nicht nur dafür, dass uns eine Vielzahl von Maschinen immer dichter auf den Leib rückt. Die Wanderung der Kleingeräte, die an uns hängen - Brille, Fernglas, Fotoapparat, Videokamera, Hörgerät, Walkman, Funktelefon, Armbanduhr, Taschenrechner, Taschenübersetzer, Laptop, Digitaler Assistent -, von der Außenseite ins Innere des Körpers hat ebenfalls begonnen. Längst sind erste elektronische upgrades für Menschen zu haben, intelligente Implantate wie Hörchips oder Herzschrittmacher. Die Zahl der Möglichkeiten nimmt ständig zu, wenn auch nicht so schnell, wie viele Cyberianer es wünschen. Richtmikrophonmäßig zu hören, Augen wie Lupen zu besitzen, sich exakt wie ein Tonband zu erinnern, sich via Gehirnstöpsel direkt in den Cyberspace beamen zu können - das alles scheinen dringende und unbefriedigte Bedürfnisse im Hightech-Underground.
»Es wäre doch wunderbar«, schwärmt R. U. Sirius, »wenn wir uns die Daten, die uns interessieren, direkt ins Gehirn laden könnten. Oder stell dir eine künstliche Leber vor, die besser ist als die natürliche. Jeder wird sie haben wollen, weil man dann soviel Drogen nehmen kann, wie man möchte. Es wird Mode werden, sich eine neue Leber einsetzen zu lassen. Dasselbe wird mit den Herzen geschehen. Es wird verschiedene Fabrikate geben, von Sony und Toyota oder meinetwegen von Mercedes.«
R. U. Sirius träumt allerdings nicht nur. Er versucht auch - dabei seiner Annahme folgend, wozu Körper überhaupt noch gut seien -, der Integration von Mensch und Maschine auf avantgardistisch-schockierende Weise vorzugreifen.
»Arthur Abraham, ein sehr bekannter Konstrukteur von Computerspielen, der zum Beispiel an der Mutterplatine für den Amiga mitarbeitete, hat uns den ersten jederzeit fickfähigen Roboter gebaut. Wir werden ihn in den schmierigsten Stripläden von San Francisco auftreten lassen. ‘Mondo Vanilli’ macht den Soundtrack dazu.« Sirius strahlt engelhaft: »Es ist ein Netzwerk-Fickroboter, der in die Vagina fickt und mit den üblichen Haushaltsgeräten vernetzt ist. Man kann sich erregen lassen und dabei seinen Haushaltspflichten nachgehen. Sex und Arbeit werden vollständig integrierbar. Das entspricht unserem Cyber-Traum, die Grenzen der Biologie zu überwinden, ohne auf Sensualität oder Sexualität verzichten zu müssen.«
Bionische Engel: Homo Super Sapiens, tiefgekühltes Leben, planetarisches Kollektivhirn. Dem Wunsch nach upgrading real-existierender Individuen entspricht die Sehnsucht, den Homo sapiens als Rasse zu verbessern - durch Reprogrammierung der Wetware.
»Es gibt keine von der Seele getriebene Kraft, die hinter dem Leben steht, kein wummerndes, wallendes, sprossendes, protoplasmisches mystisches Gel«, schreibt der Oxforder Evolutionsforscher Richard Dawkins, ein Kultautor der Cyberszene: »Leben besteht einfach aus Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information. Gene sind reine Information - Information, die kodiert, rekodiert und dekodiert werden kann, ohne dass sich ihre [grundsätzliche] Bedeutung verringern oder ändern würde. ... Wir - und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensmaschinen, die dazu programmiert sind, die digitale Datenbank fortzupflanzen, die uns programmierte.«
Mit der Umschreibung unserer genetischen Programme, mit der Korrektur von Fehlkodierungen wie Krebs und mit eleganten Verbesserungen intakter Kodes, möchten die meisten Cyberianer keinen Tag länger warten als nötig. Ein zentrales Ziel ist dabei die Kopierung kompletter Individualitäten.
»Ich bin recht nervös im Augenblick, weil ich keine Sicherheitskopie von mir habe«, bekannte ein Leser bereits 1987 in Sirius’ »Reality Hacker Newsletter«: »Ich lege regelmäßig back-ups von meinen Disketten an, doch ich habe noch nicht ein einziges Mal mich selbst zur Sicherheit kopiert. Ich bin deshalb sehr interessiert an Technologien, die in der Zukunft ermöglichen könnten, von der Essenz des menschlichen Wesens einen back-up zu machen.«
Solche Sicherheitskopien sowie die Löschung des unseren Genen inhärenten »Todesprogramms« sollen dem zukünftigen Homo super sapiens Unsterblichkeit verschaffen.
»Die Kids sitzen an den Schaltstellen«, sagt R. U. Sirius. »Alles wird möglich sein. Wir können bionische Engel werden.«
Solange aber eben noch nicht alles möglich ist, gilt es, die Persönlichkeit der heute sterbenden Individuen zu konservieren - Psyche, Erfahrungsschatz, Wissen -, um sie dereinst zu unsterblichem Leben wiedererwecken zu können. Als eine solche Übergangslösung ist die Idee der Kryonik, die Tiefkühlkonservierung menschlicher Wetware, in der Cyberkultur populär. Die idealster auf diese Weise bewahrte »Gehirninformation« soll, so will es die Utopie, entweder in einem neuen, genetisch konstruierten Körper enden oder aber als Down- beziehungsweise Upload in den Netzen selbst.
Denn viele Cyberianer, darunter so verschiedene Charaktere wie Infobahn-Konstrukteur und US-Vizepräsident Al Gore, der Mitbegründer der Chaostheorie Ralph Abraham oder R. U. Sirius, folgen der Vision des französischen Jesuitenpriesters und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin. Er gilt ihnen als Prophet des Cyberspace, da er bereits Jahrzehnte vor Anbruch des digitalen Zeitalters die Ansicht vertrat, dass die Evolution auf einen Punkt zusteuere, an dem alles in der Welt vorhandene Bewusstsein sich zu einem kollektiven Verstand vereinigen werde.
»Man kommt zu der fast mystischen Ansicht, dass Technologien als Teil des natürlichen evolutionären Prozesses erscheinen«, sagt R. U. Sirius. »So wie bestimmte Tiersorten auftauchen, ist vielleicht die Menschheit dazu programmiert, bestimmte Technologien zu entwickeln.« Er grinst. »Was die Frage angeht, worauf das alles hinausläuft, glaube ich, dass die Kommunikations- und Informationstechnologien so weitgehend vernetzt werden, dass eine Art Gehirn und Nervensystem entsteht, welches die gesamte Spezies umfasst. Es mag ein bisschen deterministisch klingen, doch wir haben genauso wenig Wahl, das zu tun oder zu lassen, wie Polypen in einem Korallenriff, Bienen in einem Bienenkorb oder Ameisen in einem Ameisenhaufen. Alles, was wir mit unserer Intelligenz tun können, ist nur, die Sache so zu programmieren, dass sie in eine Richtung verläuft, die uns das biologische Überleben ermöglicht.«
Top-Vier-Cyberclans. Voller Mutanten, Menschen besonderen Erbguts, ist der amerikanische Westen heute schon, denn der typische Sozialcharakter, der seine Heimat verlässt, um eine neue zu finden, ist untypisch; wagemutiger und weniger angepasst als der zurückbleibende Rest. Ein Stück Himmel auf Erden zu realisieren, war zudem die erklärte Absicht der meisten, die in die Neue Welt strömten, der religiös oder politisch motivierten Einwanderer des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, aber auch der Mehrheit derjenigen, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert ökonomische Freiheit suchten - Häretiker und Rebellen, steckbrieflich Gesuchte und Querulanten, Außenseiter und Einzelgänger. Die Ankömmlinge in der Neuen Welt waren daher, schreibt Timothy Leary, die »Mutanten« der Alten Welt - eine besonders abenteuerliche Auswahl aus dem genetischen Material Europas.
»Das nordamerikanische Experiment ist der größte Erfolg in evolutionärer Geschichte. Jeder Genpool sendet seine Samen in Richtung Westen, als eine Form der Selbstselektion ... Die Pilgermütter und -väter wollten einen Platz finden, an dem sie die kollektive verrückte freakige Wirklichkeit ausleben konnten, an die sie glaubten. Kalifornier wiederum sind eine neue Spezies, die sich aus den Amerikanern herausbildet ...«
Späte Erben des in Amerika und vor allem in seinem Westen konzentrierten utopischen Potentials waren, meint Leary, die diversen Aussteiger-Bewegungen, die Beatniks der fünfziger und die Hippies der sechziger Jahre - von denen wiederum eine klare Linie zur Cyberkultur und ihren wagemutigen Gruppen führt. Deutlichstes Indiz für diesen Teil der Traditionslinie ist Timothy Leary selbst.
Der große alte Verrückte der Cyberbewegung begann seine Gegenkultur-Karriere in den frühen sechziger Jahren damit, dass er als Harvard-Psychologe LSD zu freiwilligen Experimenten verteilte, deren Sinn es im wesentlichen war, die Mauern der Realität zu durchbrechen und in neue Wirklichkeitsbereiche vorzudringen. Prompt und unehrenhaft von der Eliteinstitution entlassen, prägte er den Slogan der psychedelischen Bewusstseinserweiterungs-Bewegung: »Tune in, turn on, drop out.« Anderthalb Jahrzehnte und alle denkbaren Drogen später entdeckte er das Bewusstseinserweiternde Potential der elektronischen Technik - und wies damit zahllosen Ex-Hippies den neuen Weg.
»Wie viele Leute in der psychedelischen Szene bin ich von Leary auf die Möglichkeiten gestoßen worden, die in der Technik schlummern«, sagt R. U. Sirius. »Obwohl wir nicht alles ganz ernst nehmen, was Tim predigt ...«
Leary betonte die psychedelische Kraft virtueller Realitäten (VR), pries Elektronik als das LSD der neunziger Jahre, trat in VR-Regalia im Fernsehen auf und visierte als größten Trip der Zukunft Weltraumreisen an. Sein Lächel-Slogan für die neunziger Jahre: »SMI2LE bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert«, wobei SM für »Space Migration« (Auswanderung in den Weltraum) steht, I2 für »exponential Intelligence« (Intelligenz hoch zwei) und LE für »Life Extension« (Lebensverlängerung). Mit der machte er selbst ernst, als er Anfang 1995 an unheilbarem Krebs erkrankte: Leary bestimmte, dass sein Kopf eingefroren und solange zwischengelagert werden soll, bis der Gehirninhalt direkt in die Netze heruntergeladen werden kann.
Damit wurde Timothy Leary zum cyberdelischen Großvater des Computer-Undergrounds und seiner Zukunftsutopie. Sie reagiert wesentlich auf das Versagen radikaler Politik von links wie rechts, die in diesem Jahrhundert statt des Reichs der Freiheit lediglich eine, wie Eric Hobsbawm schreibt, »Renaissance der Barbarei« produzierte. An die Stelle der Hoffnungen auf soziale Veränderungen, die noch die Achtundsechziger-Generation bewegte, ist daher nun der Glaube an die selbstbefreiende Kraft von Technik getreten.
Der Mensch muss besser werden - dieser Leitgedanke aller utopischen und revolutionären Bewegungen zielt nicht länger auf das politisch-moralische, sondern auf das intellektuell-biologische Wesen. Der wissenschaftliche Fortschritt, der in den vergangenen Jahrzehnten eine historisch einmalige Erweiterung des Wissens und der Möglichkeiten des Homo sapiens brachte, spielt so zum Ende des Jahrtausends die Rolle, die politische und soziale Erneuerung seit Anbruch bürgerlicher Zeiten innehatte. Nicht nach links oder rechts soll es gehen, sondern schlicht nach oben auf der Evolutionsleiter.
Der Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine hat einmal bemerkt, dass in einem System, das sehr weit aus seinem Gleichgewicht gerät, die lineare Relation zwischen Ursache und Wirkung verlorengeht. In einem solchen Zustand radikalen Ungleichgewichts können geringe Ursachen große Wirkungen zeitigen. Auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen bedeutet das, kleine Gruppen vermögen unter solchen Umständen beträchtliche Veränderungen zu initiieren. Den Cyber-Bewegungen scheint gegenwärtig diese Rolle zuzufallen.
»Wir propagieren den Gedanken«, sagt R. U. Sirius, »dass technischer Fortschritt kultureller Fortschritt ist. Die Subkulturen, die sich um die Technik herumgebildet haben, zählen zu dem wichtigsten, was es heute gibt. Die Cypherpunks, die Technopaganisten, die Extropianer oder die TAZler, das sind existentielle Stile, vier neue Entwürfe für unser Leben.«
Krypto-Anarchisten & Cypherpunks. Zu ihnen gehören Programmierer, Ingenieure und Techniker von einigen der erfolgreichsten Computer- und Software-Firmen in Silicon-Valley - und als Cypherpunk-Gründungsmitglied auch »Mondo-2000«-Redakteurin St. Jude. Die Cypher-, i.e. Kodierungs-Punks haben sich die Aufgabe gestellt, im Zeitalter der Netzwerke die Privatheit von Informationen wie Email-Briefen, Kreditkartentransaktionen oder medizinischen Akten zu bewahren - durch Verschlüsselung der Daten. Zu diesem Behufe kreieren und verteilen sie gratis oder gegen geringe Gebühren leistungsfähige kryptographische Software. Sie erlaubt, private Nachrichten abhörsicher zu kodieren. Das einfache Motto der Cypherpunks und Krypto-Anarchisten: »Was der Staat oder die allmächtigen Konzerne nicht lesen können, vermögen sie weder zu zensieren noch gegen die Betreffenden zu verwenden.«
Dieses Unterfangen, in einer Welt wachsender Zensur und Kontrolle die Privatheit von Daten durch Steganographie zu bewahren, scheint harmlos genug; ist es jedoch nicht, da die Regierungen der Welt - voran die amerikanische - ihre technische Fähigkeit zu Lauschangriffen gefährdet sehen. Kodierungsverfahren, die den staatlichen Abhörern nicht durch einen speziellen Schlüssel, etwa den Clipper-Chip, Zugang gewährleisten, sollen verboten werden. Kryptologische Produkte fallen unter das US-Waffenexportgesetz, weshalb manche Standard-Software, die leistungsfähige Datenverschlüsselung bietet, zum Beispiel WWW-Browser oder Backup-Programme, nicht ins Ausland verkauft werden darf beziehungsweise nur in »entschärften« internationalen Versionen. Durch zielgerichtete Kontrollen an den Grenzen betreiben Regierungsorgane zudem die Kriminalisierung der Cypherpunks, denen es verboten ist, die von ihnen geschriebene Software außer Landes zu bringen.
Krypto-Anarchisten und Cypherpunks erstreben daher den Ausbau anonymer Wiederversende-Systeme, die das Verschicken elektronischer Nachrichten ohne Preisgabe des Absenders ermöglichen sollen.
»Der ‘Hack’ ist für heutige Daten-Anarchisten«, sagt R. U. Sirius, »was die ‘Tat’, meist das Attentat auf einen Herrscher, für frühere Anarchisten-Generationen war.«
Eine Utopie der Kryptos: In einem einzigen gewaltigen Hack weltweit allen Konten über einhunderttausend Dollar einen bestimmten Betrag abzuziehen und das Geld allen Konten unter dreißigtausend Dollar gutzuschreiben.
»Ich habe meine Zweifel, ob der Krypto-Anarchismus wirklich die Welt verändern kann«, sagt R. U. Sirius: »Aber es ist jedenfalls eine mutige und faszinierende Bewegung.«
Technopaganismus & Technoschamanismus. Die neuen Primitiven verbinden, was in der Moderne unvereinbar schien: radikalen Fortschritt und Rückgriffe auf fernste Vergangenheiten, technisches Wissen und vorchristliche Mythen. Die Bandbreite der paganistischen Bewegungen ist weit; sie reicht von der Anbetung archaischer Göttinnen über Kabbalismus, Hexenverehrung, hermetische Techniken und Alchimie bis zu Magick in der Crowley-Tradition und Religionen, die direkt aus Science-Fiction- und Fantasy-Büchern stammen. Die Zahl der Paganisten in den USA wird auf mindestens einhunderttausend und höchsten dreihunderttausend geschätzt. Die Mehrzahl von ihnen gehört der gebildeten weißen Mittelklasse an.
»In der Schwulen-Szene von San Francisco«, sagt Owen Rowley, Ex-Systemadministrator bei der Virtual-Reality-Firma »Autodesk«, »ist Paganismus die Standard-Religion.«
Wichtigstes Ziel der Technopaganisten ist es, die explodierenden elektronischen Möglichkeiten mit den ältesten Anforderungen der Natur in Einklang zu bringen, wobei sie strukturelle Entsprechungen zwischen den erdumspannenden Computernetzwerken und jenen spirituellen Mächten sehen, mit denen die Schamanen in primitiven Kulturen interagieren.
»Beide Räume, der Cyberspace und das Reich der Magie, manifestieren sich rein in der Imagination«, sagt Mark Pesce, MIT-Aussteiger, erfolgreicher WWW-Programmierer und Chefpaganist: »Beide Räume werden vollständig durch das konstruiert, woran du denkst und woran du glaubst.«
Die Gemeinschaft der technopaganistischen Gruppen konstituiert sich im Internet, etwa in Usenet-Groups wie alt.pagan, alt.magick.chaos und soc.religion.eastern oder in spirituellen MUDs. Lediglich ihre Zeremonien, die teils als Rave, teils als Ritual exerziert werden, finden noch in der Wirklichkeit statt. Sie kreisen um Drogen, ekstatische Tänze und Körperinvasionen, die im Vorgriff auf cyberutopische Bio-Manipulationen und Menschmaschinen primitive Körperinvasionspraktiken wie Piercing wiederbeleben.
Extropianer. Diese Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen, Mathematikern und Programmierern betreibt die aktive Vorbereitung der Menschheit auf den grenzenlosen Fortschritt, Überfluss und Intelligenzzuwachs, den die nähere Zukunft bringen soll. Ihren Ursprung hat die extropianische Bewegung im Silicon Valley, ihr gegenwärtiges Hauptquartier, das Extropy Institute, befindet sich im südkalifornischen Marina del Rey. Ihre Grußformel lautet »Aufwärts!«, ihr Wahlspruch: Entweder du gehst mit oder die Zukunft geht über dich hinweg.
»Die Extropianer entwickeln Nanotechnologie, Eric Drexler und seine Bande von Verrückten. Sie beschäftigen sich mit lebensverlängernden Techniken, viele der Kryoniker gehören dazu«, sagt R. U. Sirius. »Und sie glauben wie Hans Moravec daran, dass man in der Lage sein sollte, menschliches Bewusstsein in digitale Räume zu kopieren. Kurzum, sie widmen sich dem Kampf gegen die Entropie, wo immer sie ihr tödliches Haupt erhebt.«
Entropie ist die Lehre vom Wärmetod. Sie besagt, dass in geschlossenen Systemen allmählich die Temperatur- und Energiedifferenzen schwinden. Mit dem vollständigen Ausgleich, der Entropie, geht das Ende allen materiellen Geschehens einher. Die fortschrittsfreudige Cyber-Denkschule der Extropianer postuliert dagegen eine beständige Zunahme an Energie und Energiegefälle, eben Extropie. Entscheidenden Anteil an diesem Prozess der planetarischen Extropie-Steigerung soll die Evolution des Homo sapiens zu einem höheren oder zumindest technisch höhergerüsteten Wesen haben.
»Am Extropianismus macht absolut Spaß, dass er zum leuchtenden Licht geworden ist, von dem einige der wildesten und wirrsten Ideen-Motten der Zukunftstechnik angezogen werden. All die Konzepte, die der offiziellen Wissenschaft unmöglich oder sonderbar erscheinen, erhalten hier leidenschaftliche Zuwendung«, schreibt Kevin Kelly: »Der unnachgiebige Optimismus der Extropianer treibt einige Leute zum Wahnsinn, während andere die Bewegung für den ganz normalen Lärm halten, den eine Versammlung anarcho-libertärer Verrückter nun mal vollführt. Aber wenn dich die Offizielle Zukunft in der Durchschnittspresse oder die Politisch Korrekte Zukunft in der Alternativpresse langweilt, dann kannst du dir die Augenbrauen versengen, indem du in der extropianischen Presse über die ‘transhumane’ Zukunft nachliest.«
Taz: Temporär autonome Zonen. Die TAZ-Bewegung, wie sie der Cyberpunk-Essayist Hakim Bey in seinem Buch »T.A.Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism« (»TAZ. Die temporär autonome Zone, ontologische Anarchie, poetischer Terrorismus«) konzipiert hat, will den Zerfall der politischen Großsysteme nutzen und im Cyberspace Zonen erschaffen, die zumindest teilweise von jedweder Kontrolle frei sind; elektronische Äquivalente zu isolierten Bergfestungen und Pirateninseln, Zufluchtsorte für Datenpiraten, anarchistische Freihandelszonen, idyllische Fluchtgebiete reiner Binnenkommunikation, von denen die manipulierenden Massenmedien ausgeschlossen bleiben.
»Das letzte Stückchen Erde, das von keinem Nationalstaat beansprucht wurde, verschwand 1899. Unser Jahrhundert ist das erste ohne terra incognita, ohne eine frontier«, schreibt Hakim Bey und empfiehlt als Gegenwehr die nomadische Taktik der TAZ im Cyberspace: »Die TAZ ist wie ein Aufstand, der sich auf keinen Kampf mit dem Staat einlässt, eine Guerillaoperation, die ein Terrain befreit (ein Stück Land, ein Stück Zeit, ein Stück Vorstellungskraft) und die sich dann auflöst, um sich irgendwo oder irgendwann wieder zu formieren, bevor der Staat alles zerstören kann.«
Bewusstseinslärm.
Ein Aufbruch
»Ich selbst würde mich allerdings in einer TAZ ohne Massenmedien zu Tode langweilen«, sagt R. U. Sirius skeptisch, »denn ich bin ein Medienfreak. Außerdem glaube ich nicht recht an den Erfolg der TAZ. Aber man weiß ja nie ...«
Wenn wir den Himmel über dem Hafen sehen könnten, er hätte bestimmt die Farbe eines Fernsehschirms nach Sendeschluss.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen in der Bay Area. Zeit: 26:45 h nach dem ersten Kontakt.
Genauer: Wir befinden uns in den Leerstellen, die der Anfang dieser Fremdenführung ließ. Vor einer Viertelstunde sind R. U. Sirius und ich ins Freie getreten. In ein paar Minuten wird es ihm gelingen, ein Taxi anzuhalten. Noch aber geht er nicht auf dem weißen Mittelstreifen, sondern am äußersten Rand des Trottoirs.
»In San Francisco wird es zuerst geschehen«, sagt R. U. Sirius. »Hier werden die ersten Cyborgs herumlaufen. Im Grunde ist es schon so weit.« Er zeigt auf ein paar Gestalten, die sich in den dunklen Hauseingängen herumdrücken. »Sieh dir die eckigen Bewegungen an, die leeren Augen. Mann, wir sind mitten unter den Menschmaschinen.«
»Wer die Zukunft vorhersagt, der lügt, selbst wenn er die Wahrheit sagt«, meint ein arabisches Sprichwort. Doch Techno-Bohemiens wie R. U. wollen ja nicht prophezeien, sondern lediglich die Zukunft von der Tyrannei der Realität und des Heute befreien.
»Warum mir diese dunklen Zukunftsvisionen gefallen?« sagt R. U. Sirius: »Manchmal macht es eben Spaß, im Dunkeln zu spielen ...«
In seinem Buchprojekt »How To Mutate & Take Over the World« (»Wie man mutiert & die Welt übernimmt«), dessen Fragmente er mir gestern zu lesen gegeben hat und die er und St. Jude in ein paar Wochen auch auf dem Internet veröffentlichten wird, tut er genau das genüsslich. Zusammen mit St. Jude schildert er im Rückblick aus dem Jahre 2001, was die neunziger Jahre der Welt gebracht haben und noch bringen werden.
»Wir sampeln im Channel-Surfer-Stil moderne und postmoderne Philosophien von Marx und Bakunin bis zu Foucault und Donna Haraway. Darüberhaus behandeln wir philosophische Fragen des Gehirn-Fickens sowie magische und neue Techniken der Selbstprogrammierung«, sagt R. U. Sirius. »Und wir bieten viel harte technische Information, Outlaw-Wissen, das man sonst nur in anarchistischen Broschüren findet: Wie man sich in Bankkonten reinhackt, wie man sich in einer Hightech-Gesellschaft eine neue Identität besorgt, Dokumente fälscht, die eigene Wetware upgradet, wie man sich durch plastische Chirurgie verändert, Drogen anrührt, Spionage betreibt. Wir lehren die Kunst der Gehirnwäsche, vielleicht auch, wie man in der postindustriellen Gesellschaft Guerillakrieg führt. Lauter Lektionen für den modernen Cyberpunk. Inklusive einer Gebrauchsanweisung, wie man seinen eigenen faustischen Pakt schließt: Verhandlungstechniken für Verträge, bei denen man nicht verlieren kann. Kurzum, es wird das endgültige Selbsthilfe-Buch.«
Wer R. U. Sirius zuhört, kann keinen Zweifel hegen: Wo einst Cyberland werden soll, überwiegt bis jetzt Cyberspaß. Die Vermählung von Literatur, Kunst und Philosophie mit Hightechnik produziert eine Wunschökonomie, in der die Wünsche der ästhetischen Avantgarde weitläufige Ziele setzen, denen die technische Elite bloß mit Trippelschrittchen folgen kann. In der Realität kennt das Reich des Cyber neben einer Menge harter Fakten auch viel heißen Dampf, statt Hard- oft Vaporware. R. U. Sirius findet das alles andere als störend.
»Wenn wir uns wirklich etwas wünschen, haben wir eine ehrliche Intuition von dem, was einmal real sein wird«, sagt er. »Darin hatte Marx recht. Wir erkennen das Potential einer historischen Situation, und schon revolutionieren sich unsere Wünsche. Aber andererseits hatte auch Hegel recht: Wir entwickeln Ideale und versuchen dann, die Wirklichkeit der Idee entsprechend umzubauen. Was wir imaginieren, wird früher oder später Wirklichkeit. Das geht nicht immer ruckzuck.« R. U. Sirius zuckt mit den Achseln: »Im Augenblick haben wir statt einer Ökonomie, die Wünsche erfüllt, noch eine Ökonomie der Wünsche. Aber um sie herum bildet sich bereits eine ganze Kultur. Die Konzeption des evolutionären Sprungs, den wir durchmachen, beruht auf der Grundannahme, dass menschliche Arbeit überflüssig wird. Und diese Annahme stimmt. Der Rest wird schon kommen. Das ist die eine Seite, dass unsere Wünsche von der Technik bald realisiert werden dürften. Die andere ist, dass eine Realisierung nicht unbedingt Priorität hat. Begehren geht über Bedarf.«
»Und bis dahin feiern wir den Cyberspace wie das Christkind: in absentia?«
»Mehr, als wir uns vor zehn Jahren erträumt hätten, funktioniert ja schon«, sagt R. U. »Außerdem, du legst zuviel Wert auf Realität. Die Äußerung der Wünsche ist wichtiger als ihre Erfüllung. Das nackte Konzept tauscht man von Kopf zu Kopf aus. Man begreift es, man versteht sich. Sobald man hingegen die Ideen in Fleisch und Blut realisiert, werden sie meist ruiniert. Deshalb ist virtuelle Realität so attraktiv - weil in ihr die Konzepte rein und unverfälscht erscheinen. Cyber ist nicht einfach eine weitere neue Szene. Cyber ist die äußerste Kante unserer Kultur, das Terrain, auf dem wir unsere Zukunft kritisieren, der Weg, den unser Leben nehmen wird und nehmen muss.«
Minuten später blenden in dem Fluss der roten und weißen Datenteilchen zwei Lichter kurz auf und ziehen mit einer unprogrammierten Schleife über alle vier Spuren zu uns herüber. R. U. greift nach der Türklinke des Taxis.
»Warte!« sage ich: »Eine letzte Frage noch ... Die Masse der Menschen mag ja für den Anbruch des Cyber-Zeitalters nicht wichtig sein. Doch was ist mit dem kulturellen Jet-Lag ganzer Nationen und Kontinente? Ich komme mir hier vor wie in einer Zeitmaschine. Ihr redet unentwegt von der Freiheit im globalen Cyberspace, dem Ende von Not und Unterdrückung ...
»... und in Europa«, sagt R. U., »machen die Informations-Habenichtse Rollen rückwärts in die Vergangenheit, in Nationalismus, Bürgerkrieg ..?«
»Ja ...«
»Deutschland steht zwar im Zentrum der ökonomischen Welt«, sagt R. U. Sirius, »aber die neuen Subkulturen der Hacker, des Cyberpunk scheint es dort nicht zu geben. Es existiert keinerlei Kommunikation zwischen euch und uns. Ihr seid abgeschnitten von den Leuten, die die Zukunft vorbereiten und dabei sind, die Welt zu verändern.«
Wie soll ich widersprechen? Hardware, Software, Wetware, Interface - für die Schlüsselbegriffe der Epoche haben wir nicht einmal eigene Worte. Jedenfalls keine, die mehr als Unsinn machen. Interface etwa ist ja nicht eine Stelle, wo sich schmerzhaft etwas schneidet, wie die Deutsch-Tech-Rede von der »Schnittstelle« suggeriert, sondern das Niemandsland zwischen zwei sehr verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, das imaginäre Terrain, auf dem Menschen und Maschinen interagieren, wo wir von Angesicht zu Angesicht mit dem Gesichtlosen stehen. Das kulturelle Faszinosum, das sich um »interface« rankt - das Wort ist im Amerikanischen zugleich Substantiv und Verb -, lässt sich in der Übersetzung nicht nachvollziehen; wie so vieles in der Cyberkultur.
Diese Sprachlosigkeit zeugt nicht von subjektivem Versagen, sie hat objektive Gründe. Wer neue Territorien zuerst entdeckt, gibt ihnen ihre Namen. Wer Erfahrungen zuerst macht, hat das Privileg, sie auf den Begriff zu bringen. Die Hightech-Zukunft lässt die Deutschsprachigen daher sprachlos wie einst die Popkultur. Jimi Hendrix’ »Purple Haze« war unübersetzbar, nicht weil die deutsche Sprache beschränkt wäre, sondern weil den Worten keine ursprüngliche Erfahrung in unserer Kultur entsprach. Für die Schlüsselworte des Cyber-Zeitalters gilt das nicht minder.
»Wir würden ja gerne mit euch einen Dialog beginnen«, lächelte R. U. Sirius. »Andererseits, rückständige Gebiete haben wir in Amerika noch genug.«
Der Cyberpropagandist sagt es recht gleichgültig. Die Avantgarde stürmt voran, die anderen müssen sehen, wie sie nachkommen. Aus der Sicht von »New Brainia« bietet die Welt des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ein kurioses Schauspiel: Während ökonomisch die Erde immer mehr zu einem Markt verschmilzt und Kapital wie Konzerne keine nationalen Grenzen mehr akzeptieren, während CNN internationale Ereignisse weltweit wie Lokalnachrichten präsentiert, während der Cyberspace sich als unsichtbares Netz um den ganzen Planeten gelegt hat, brechen gleichzeitig von Afrika bis Europa gewalttätiger Nischen-Nationalismus und massenmörderischer Tribalismus aus.
Auf diese nationalen Anfälle, von den französischen Medienquoten zur Abwehr amerikanischer Massenkultur über die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland bis zu den »ethnischen Säuberungen« im früheren Yugoslawien, reagieren die kosmopolitischen Cyberianer nicht anders als die Angehörigen anderer internationaler Subkulturen, nicht anders als etwa Topmanager und Börsenmakler, Diplomaten oder Spitzenforscher: teils verständnislos, teils angewidert, teils gleichgültig. R. U. Sirius jedenfalls schenkt den europäischen Rückzugsgefechten soviel Aufmerksamkeit wie einst die Eliten des kolonialen Europa afrikanischen oder asiatischen Stammesfehden.
»Wenn man eine neue Phase der Geschichte erreicht, verschwinden die früheren Bewusstseinsformen nicht. Sie sind alle präsent. Von der Steinzeit über das Mittelalter bis zur industriellen Moderne. Ein gewaltiger Bewusstseinslärm liegt über der Welt«, lächelt er, die Hand nach wie vor auf der Türklinke des Taxis. »Aber die neue Kultur entwickelt sich und setzt sich durch. Sie verändert unser Denken, die Art, wie wir die Welt sehen und verstehen. Ob das die Mehrheit der Menschen heute oder in zwanzig Jahren bemerkt, ist ziemlich egal. Auf Dauer kann sich kein Volk dem globalen Trend widersetzen. Da können sie noch so viele umbringen. Wieder und wieder werden die Leute in diesen Ländern zurückfinden zu dem Wunsch, an der internationalen Kommunikations-Ökonomie zu partizipieren und so ihren Teil der Zukunft abzukommen.«
»Was ist nun?« ruft der Taxifahrer ungeduldig.
R. U. Sirius öffnet den hinteren Schlag.
»Man hat mich zum Generation-Xer-honoris-causae ernannt«, sagt er nachdenklich. »Ich gebe den Kids meine Sechziger-Jahre-Erinnerung an jenen Moment des Optimismus, was die Chancen einer totalen politischen und kulturellen Revolution angeht. Ich habe immer noch denselben drive und Impetus in ... tja, in eben irgendeine Richtung. Auch wenn ich nicht genau weiß, in welche. Auf jeden Fall müssen wir endlich zu Ende bringen, was damals begonnen hat.«
Der ganze Mensch, samt Felljacke und langen offenen Haaren, schaut plötzlich drein, als sei er gerade aus einer Yippie-Wohngemeinschaftsküche in die Gegenwart eingeflogen.
»Was macht Dutschke?« fragt er.
»Weiß nicht. Ist tot.«
»Und Cohn-Bendit?«
»Stadtpolitik in Frankfurt.«
R. U. Sirius wirft die Mähne zurück, mehr spöttisch als unwillig.
»So endet’s, wenn man nicht aufpasst. Deshalb müssen wir Mutanten die Welt übernehmen.« Er zeigt ins Innere des Taxis. »Willst du mit?«
Augenblicke später schießt der gelbe Wagen klappernd über einen der vielen Hügel von San Francisco. Vor uns taucht, angestrahlt von einem halben Tausend Scheinwerfer, der Hafen auf. Ein Gewirr aus Stahlträgern und Kränen verstellt den pazifischen Himmel. Was jedoch zwischen den metallenen Schatten hindurchschimmert, hat tatsächlich die Farbe eines Fernsehschirms nach Sendeschluss.
Wer fremde Kulturen erkundet, denke ich, muss lernen, die Welt mit deren Augen zu sehen.