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ОглавлениеII. Gallatheas weisse Haut
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Die Adresse, die ihm Kelling auf eins der rotgeränderten Chef-Memos geschrieben hatte, lag ein ganzes Stück außerhalb. Der Weg dorthin war zu weit, um es mit dem Fahrrad zu versuchen, und das Villenviertel zu abgelegen, um mit dem Bus zu fahren. Er musste sich einen Wagen leihen. Dafür kamen nur zwei Menschen in Frage; Anne, die ihm zwar noch ihren Käfer, aber nicht mehr ihren Körper überließ; und Peter, der, aus dem schlechten Gewissen heraus, allzu viel Geld zu verdienen, ihm mehr oder weniger alles geben würde, was er besaß. Leihweise, verstand sich.
Harry Mann nahm am Nolli den 19er Bus, schaukelte im Oberdeck den Ku’damm hinunter und stieg am Olivaer Platz aus.
Peter Talmer residierte nahe der Leibnizstraße und nicht weit von Marios Ristorante in einem protzigen Dachdomizil, das sich über die gesamte Grundfläche des Gebäudekomplexes erstreckte und seinen Eigentümer zum einsamen Herrscher über siebenhundertfünfzig Quadratmeter bester Citylage machte. Den dazugehörigen pechschwarzen 500er Mercedes sah Mann schon von weitem vor dem Haus parken, halb auf dem Bürgersteig, die aggressive Blechschnauze einen knappen Meter vor der frisch gestrichenen Altbauflügeltür. Durch sie gelangte Mann, nachdem er seinen Namen in die defekte Gegensprechanlage gebrüllt und Peter den Summer betätigt hatte, in die restaurierte Pracht des marmorverkleideten Aufgangs und zu dem unsichersten aller Berliner Fahrstühle, einem mit gusseisernen Jugendstilgirlanden vergitterten Drei-Personen-Käfig, der seine Fracht mit Hilfe eines absurden Gewindes an öligen alten Seilen ächzend und ätzend langsam hoch in den fünften Stock hievte.
Im Flur hinter der offenen Stahltür empfing Peter den Besuch halbnackt und tropfnass von den langen schwarzen Haaren, die auf seinen Schultern klebten, bis zu den haarigen weißen Zehen, um die sich kleine Pfützen bildeten. Er kam frisch aus der Heimsauna, hatte ein Handtuch um die kräftiger werdenden Hüften gewickelt und hielt wie immer weiten Abstand. An seiner panischen Berührungsangst hatte sich nichts geändert.
Mann grinste ihn an. „In Strapsen gefällste mir besser.“
Peter lächelte säuerlich zurück. „Kannst mir ja welche leihen.“
„Was denn? Haste keine mehr?“
„Hatte ich denn mal welche?“
„Hundertprozent. Als du noch Dichter werden wolltest.“
Peter sah ihn verständnislos an.
„Weißte nicht mehr“, sagte Mann, und er hörte, dass seine Stimme fast traurig klang, „wie du uns damals, nackt bis auf Annes Strumpfhosen, deine Gedichte vorgetragen hast?“
„Ja. Stimmt wohl.“ Ein Anflug von Erinnerung ging über Peters Gesicht, gepaart mit einer gehörigen Portion Misstrauen. „Ist aber schon nicht mehr wahr ...“
„Vorm Spiegel im großen Zimmer, das volle Programm: Ich, Petronius, der mittelalterliche Barde. Kurz bevor ...“
„Tja ja, wenn’s auch schön war“, unterbrach ihn Peter in seinem besten Arbeitgebertonfall, „war ist gewesen ...“
Er drehte sich um und platschte mit seinen nassen Füßen über den Marmorboden in Richtung Arbeitszimmer. Harry Mann folgte ihm stumm ein Stück weit. Durch die offene Tür sah er auf dem schneeweißen Fantoni-Schreibtisch ein neueres Modell des grauen Kastens flimmern, der ihm seit Tagen das Leben zur Hölle machte.
Peter nahm die Schlüssel zu seinem Zweitwagen, einem silbergrauen Golf Cabrio, aus dem obersten Fach des Büroschranks und warf sie Harry Mann zu.
„Benimm dich anständig, Alter!“ sagte er und lächelte für einen Augenblick freundlich, „die Chance kommt nie wieder!“
„Keine Chance kommt je wieder. Dafür kommen andere.“
„An deiner Stelle hätte ich da mehr Zweifel,“ sagte Peter, viel zu ernst, und platschte durch den langen Flur zurück zu der stählernen Eingangstür.
„An meiner Stelle! Dass ich nicht lache!“ Jetzt war es Mann, dem das Lächeln verunglückte. „Du hättest dich von mir nie in so ’ne Situation quatschen lassen.“
„Was is’n an der Sache so fürchterlich?“ Peters Stimme klang wenig verständnisvoll. Die Probleme seines Freundes schienen ihn nicht recht zu berühren. Es war offensichtlich, dass er ihn möglichst schnell loswerden wollte.
„Mein Gott, stell dir doch nur mal die Gespräche vor!“
Mann wandte sich zum Gehen. Sicher hatte Peter in der Sauna nicht allein geschwitzt, und sicher wartete auf der Sonnenterrasse davor ein Stück Fleisch, das er seinem Freund ganz bestimmt nicht vorstellen wollte. Irgend so ein halbprofessionelles Dummchen, für das er sich schämte, eine seiner Kellnerinnen wahrscheinlich. Mann öffnete die Tür und trat hinaus in den Hausflur.
„Dumpfe Scheiße“, sagte er, und was er sagte, hallte durch den Aufgang, „den ganzen Abend lang. Und die Leute erst!“
„Sind doch vielleicht ganz nett ...“
„Du kennst die Sorte nicht.“
„Sei nicht albern.“ Peter lächelte spöttisch. „Außerdem, was die Qualität meines Umgangs betrifft, wär’ ich mir nicht so sicher.“
Zwanzig Minuten später lenkte Harry Mann den Golf langsam und ein wenig ziellos gen Norden, entlang der sich endlos ziehenden Reihen von Laternen und Jägerzäunchen. Der gewölbte Teerbelag der Vorstadtstraßen schimmerte noch weich von der Hitze der untergegangenen Sonne, und die Reifen des Cabrios summten auf den Geraden und gingen quietschend in jede der sanften Kurven. War der Tag zu schön und zu warm gewesen für einen deutschen Spätsommer, so lag nun über dem Abend ein Hauch von Unwirklichkeit, der gut zu Manns Erwartungen passte.
Er atmete den Fahrtwind.
Links und rechts der schmalen Straßen schienen die Einfamilienhäuser festgeklammert wie Wäsche an der Leine, und die menschenleeren Bürgersteige glänzten so sauber, als würden sie täglich gewischt. Dies war ein Teil von Berlin, wo die Hauptstadt der Flippies und der halbseidenen Subventionskünstler jede Dumpfheits-Konkurrenz mit der fernsten Provinz im fernen Wessieland gewann.
Nicht gerade Manns Milieu. Je näher er seinem Ziel kam, desto mehr versprach es einer dieser Abende zu werden, die man am besten überstand, indem man immer mehr trank und immer weniger Worte machte.
„Bla-bla-bla“ ging es durch seinen Kopf, bis ihm die Melodie dazu einfiel und er es leise in die heiße Abendluft sang: „Bla-bla-bla, Ba-Bar-bra-Ann, I love you more than you ever can.“
Das war natürlich Stuss.
Eine Barbara hatte er nie gekannt, Anne liebte er schon lange nicht mehr, und auf das Bla-Bla, das Kelling über ihn ergießen würde, hatte er verdammt wenig Lust.
Keine Ahnung, was der Alte von ihm wollte. Nur dass er etwas im Schilde führte, daran konnte es keinen Zweifel geben. Mit seinem mal großmäuligen, mal verschwörerischen, immer aber gönnerhaften Gerede war er ihm so lange auf die Nerven gefallen, bis Mann den geplanten Wochenendtrip nach Hamburg verschoben und Kellings Einladung angenommen hatte.
Allmählich wurden die Häuser größer und die Auffahrten länger. Unter zwei Garagen bekam man hier wahrscheinlich keine Baugenehmigung.
Harry Mann war von ganzem Herzen unzufrieden.
Anfang der Woche hatte er in der weisen Einsicht, dass es so nicht weiterging, den ersten Arbeitsvertrag seines langen arbeitslosen Lebens unterzeichnet. Fünf Tage später wurde ihm bereits die Rechnung präsentiert. Von heute an würde er nicht mehr drum herum kommen, zu öden Abendgesellschaften in neudeutsche Nobelvorstädte zu pilgern und zwischen Flachbungalows, Bonsai-Gärtchen, Rasensprengern und Hollywoodschaukeln für den Verrat an den Idealen seiner Jugend zu büßen.
Derlei Horrortrips gehörten nunmehr zu seinen erweiterten Berufspflichten.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr begann er sich selbst auf die Nerven zu gehen, also drehte er das Radio an und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Suche nach dem richtigen Straßenschild zu. Bis jetzt hatte der Freitagabend nach Holzkohlenfeuer und gegrilltem Fleisch gerochen. Die Gegend hier stank nach Geld. Was zumindest jeden ärgern musste, der keins besaß.
Es wurde neun Uhr, eine nölige Stimme verlas die Nachrichten. In Spanien hatte eine Chartermaschine den Kamikaze gemacht, woran man sehen konnte, dass immer noch Urlaubszeit war, und in Afghanistan spielten die Russen halbherzig Vietnam, wie um zu beweisen, dass sie auch wirklich in allem zwanzig Jahre hinter den Amis herhinkten.
Die Katastrophen dieser Welt interessierten Harry Mann herzlich wenig. Seine eigenen Schwierigkeiten reichten ihm vollauf.
Die zweite Hälfte der Nachrichten nahmen langatmige Meldungen über die Bonner Korruptions-Arie ein. Selbst die Skandale waren langweilig. Er erklärte dem Radio-Heini in Gedanken zum xten Mal, dass er damit nichts zu tun haben wollte, weshalb er ihn mal könne, schaltete aus und sah im Rückspiegel zu, wie die elektrische Antenne im Heck des Cabrios versank.
Alle drei-, vierhundert Meter ging eine weitere saubere Teerstraße ab. Ein Weg namens Am Rehwinkel war schon seit einer Viertelstunde nicht dabei.
„Also, wir sehen Sie um acht“, hatte Kelling gesagt, bevor er heute Mittag direkt vom Arbeitsessen in die Freizeit geglitten war. „Meine Frau freut sich, Sie kennenzulernen. Und nicht nur sie kann’s kaum erwarten ...“
Harry Mann hasste den aufgeräumten Ton seines zukünftigen Chefs, diese immer etwas zu laute Mischung aus Stabsoffizier und Feldwebel. Wie viele Leute kamen, hatte Kelling nicht verraten, und er hatte versäumt, danach zu fragen. Er war spät dran. Wenn es eine kleine Einladung war, schlichen alle schon eine Weile mit gierigen Blicken um den gedeckten Tisch herum und verfluchten den säumigen Gast.
Ein paar Sekunden spielte er mit dem Gedanken, einfach umzukehren. Auf seinem zerfledderten und verfalteten Faltplan ließ sich der Winz-Weg, in dem Kelling wohnte, nicht finden. Zudem war Wochenende, und er würde wenig Mühe haben, in einer der Bafög-Discos eine Frau für die Nacht aufzutun. Am Montag konnte er dann Kelling im Büro anrufen und behaupten, den Zettel mit der Adresse verloren zu haben; im ordinären Telefonbuch stand der wichtige Herr ja nicht.
Aber bevor er sich zu einem Entschluss aufraffte, der sein vertrautes Dasein hätte retten können, entdeckte Harry Mann das richtige Straßenschild.
Natürlich war es eine kleine Einladung. Vor dem Haus Am Rehwinkel Numero sieben, einem beige verputzten Flachbau, der von einem überraschend weitläufigen Grundstück umgeben war, parkte nur ein Wagen, ein dunkelblauer Jaguar mit US-Kennzeichen.
Auf den Vordersitzen der Limousine lümmelte sich ein dottergelbhaariger Punkjunge. Er hatte die Fenster heruntergelassen und beschallte das ausgestorbene Villenviertel mit englischsprachigem Lärm. Seine hochhackigen Schuhe bearbeiteten das Armaturenbrett. Jemand stellte unmelodisch die Frage, wer Bambi abgeknallt habe. Auch nicht mehr das Neueste vom Neuen, aber die Begeisterung des Punkie war ungebrochen.
Den Golf parkte Mann bescheiden hinter dem Jaguar. Das Verdeck ließ er offen. Mit ziemlicher Sicherheit war heute einer der zehn Tage, an denen es in diesem Jahr östlich der Elbe nicht regnete.
Im Vorbeigehen nickte er dem Punkie in der Limo zu, was der geflissentlich nicht bemerkte. Er trug eine blaugrüne Chauffeursuniform im strengen Military-Stil, garantiert nach Maß geschneidert.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Mann den abschätzigen Blick, mit dem der Junge seine Durchschnittsklamotten streifte. Das Urteil konnte Mann ihm ansehen: Opa hatte einfach nicht die richtige Klasse, zu schluffig und zu billig. Für die In-Kids war hartes Styling angesagt, die brutale Schlichtheit des Luxus.
Das schmiedeeiserne Gittertor zu Kellings Grundstück stand offen. Irgendwie beleidigt ging Mann den leicht geschwungenen Weg hinauf zur Eingangstür. Um den künstlichen Goldfischteich im Vorgarten flirrte die Luft noch in Erinnerung an die Hitze des Tages. Die Missachtung des Punkies ärgerte Harry Mann, und dies umso mehr, als er sich in seiner Stoffhaut selbst unwohl fühlte. Er hatte die helle Sommerhose mit der ekelhaft geraden Bügelfalte angezogen, dazu das dunkelblaue Jackett mit den dicken Goldknöpfen à la Admiral. Eine Kombination, wie er sie, im Einklang mit seinem sorgfältig gestutzten schwarzen Kinnbart, den er seit einem halben Jahr kultivierte, nicht hätte spießiger wählen können.
Genau der richtige Aufzug für diese Einladung, hatte er sich ausgerechnet, und zumindest die Architektur des Viertels gab ihm recht. Die Häuser zeugten von der erlesenen Einfallslosigkeit ihrer Bewohner, Rudolf Kellings mittelriesiges Eigenheim, komplett mit drei Garagen, machte da keine Ausnahme. Viel Glas und viele Meter teure Gardinen, hinter denen sich das Treiben der Nachbarn unauffällig beobachten ließ. Antike Muster zierten die bronzene Haustür und kündigten teure Stilmöbel an, die Mann fast mehr noch verabscheute als die billigen Bowlen, die in solchem Ambiente unweigerlich serviert wurden.
In Erwartung viel neureichen Elends drückte er den breiten Klingelschalter eher zart. Über die Lebensart der Aufsteiger hatte er einiges gehört, seit seine besten Freunde Karriere machten. Noch war ihm keiner untergekommen, der es nicht bereut hätte, dass er seinen Langzeit-Protestmarsch durch die Billig-Szene abgebrochen hatte und der Verlockung eines regelmäßigen Einkommens erlegen war.
Kelling konnte die Existenz, die Harry Mann bisher geführt hatte, nicht verborgen geblieben sein. Warum zum Teufel stellte er ihn dann ein, warum hatte er einen Narren an ihm gefressen? Eine halbwegs plausible Antwort auf diese Frage suchte Mann seit seinem ersten Vorstellungsgespräch vergeblich.
Niemand kam, um ihn hereinzulassen.
Nach einer Weile drückte er wieder den breiten Schalter, diesmal mit mehr Gewalt und Ausdauer. Im Innern des Bungalows brach ein Getöse los, das an afrikanische Fruchtbarkeitstänze erinnerte. Der erste Eindruck ließ Schlimmstes befürchten. Wer so wohnte, besaß den Geschmack eines Kaufhausdekorateurs.
In das elektronische Tamtam hinein wurde geöffnet. Im selben Augenblick fiel ihm der Blumenstrauß ein, den er nicht gekauft hatte.
„Harry Mann“, sagte er und verbeugte sich leicht. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin ...“
„Unpünktlich wie die Maurer“, sagte die Frau in der Tür. „Aber schön, dass Sie doch noch kommen!“
Er nickte und dachte das Gegenteil. Erst als er genauer hinsah, änderte er seine Ansicht.
2
Die Frau war seit zwei Dutzend Jahren kein Teenager mehr, und sie sah aus, als wüsste sie das Beste daraus zu machen. Die hohen Wangenknochen waren gerötet, von Rouge und von Alkohol und von Lust nach mehr. Sie streckte ihm ihre Hand hin.
„Ich bin Gallathea Kelling“, sagten ihre karmesinroten Lippen dazu.
Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, um ihren Körper besser taxieren zu können. Weit kam er damit nicht. Schon zwei Handbreit unter dem Kinn blieben seine Augen hängen, da, wo nur weiße Haut war und gewölbtes Fleisch . Erst knapp vor den Brustwarzen, deren harte Erhebungen sie als Spitzen der darunterliegenden Eisberge verrieten, schwebten halbdurchsichtige Fetzen schwarzen Musselins. Sie wurden allem zum Trotz, was man Harry Mann in der Schule über Naturgesetze erzählt hatte, von einem Nichts gehalten, das sich in Richtung Rücken ahnen ließ.
„Sie wollen doch reinkommen, oder?“
Der spöttische Unterton in ihrer Stimme drang nur schwach durch den Schleier seiner Gedanken. Die Frau war schön, entschieden zu schön. Wenn es auf der Welt gerecht zuginge, wäre sie Kellings Tochter und nicht seine Ehefrau. Harry Mann stand da, starrte sie an und nickte mechanisch. Gallathea Kelling schüttelte ihr halblanges gelocktes Haar, das tiefschwarz ihr weißes, leicht slawisches Gesicht einrahmte, und ihre Zähne lächelten dazu so grell und einladend wie eine frische Schneelandschaft.
„Wie wär’s, wenn Sie’s dann jetzt täten? Reinkommen, meine ich.“ Sie lehnte sich zurück an die Tür und kreuzte die Beine.
„Tut mir leid“, sagte er und setzte unwillkürlich zu einer seiner weitschweifigen Entschuldigungen an, ohne den Blick von Gallathea Kelling abwenden zu können.
„Mein Mann erwartet Sie im Esszimmer“, unterbrach ihn die Frau in der Tür. Und Harry Mann, Idiot, der er war, stellte sich gleich vor, wie es wäre, wenn nicht nur ihr Mann sich etwas von diesem Abend erwartete.
Gallathea Kelling ging ein paar Schritte voraus. Sie war eher klein, um die einssechzig, und balancierte leicht schwankend auf extrem teuren und extrem hochhackigen Schuhen. Ihren straffen, durchtrainierten Körper hatte sie in einen signalroten Rock von unglaublicher Enge gezaubert.
Mann folgte ihr und bewunderte die üppige Rückseite seiner Gastgeberin. Sie hatte einen kräftigen Hintern, und der Rücken darüber war bis auf zwei Muttermale und einen millimeterdünnen Faden, der die dürftige Bedeckung der Vorderseite in Schwebe hielt, vom Nacken bis zum tiefen Ansatz des Rockes nackt.
Als hätte sie seinen Blick auf ihrer Haut gespürt, drehte sie sich zu ihm um und wartete, bis er neben ihr war.
„Hatten Sie Schwierigkeiten, zu uns herauszufinden?“
„Natürlich.“
Kellings Frau machte ihn auf Anhieb unsicher, und wie immer wenn er unsicher war, wurde er schroff. Ein wenig zu demonstrativ schaute er sich um.
Das Haus war in den sechziger Jahren gebaut worden, als alle Welt unbedingt einen Bungalow im Grünen wollte. Die Halle war groß, mit grünem Velours ausgelegt und von afrikanischer Kunst umstellt. Die primitiven Kultgegenstände passten hervorragend zum übersinnlichen Hüftschwung der Frau neben ihm. Alles in diesem Haus war zu schön und zu teuer. Allein das Wenige, was die Gastgeberin am Leibe trug, hatte soviel Geld gekostet, dass es Kelling bei aller Liebe jedes Mal leid tun musste, wenn sie sich auszog.
Woher, überlegte Harry Mann, nahm der kleine Abteilungsleiter einer kleinen Import-Export-Firma mit seinen, wenn’s hochkam, zehn brutto im Monat das Geld für so ein Haus und für so eine Frau?
Neid, der gute, verlässliche Neid und beste Ratgeber in allen kitzligen Lebensfragen, stieg in ihm auf.
Sie hatten die gut zehn Meter lange Halle durchquert, und Kellings Frau öffnete die Tür zu einem Raum, der mühelos als Operationssaal durchgegangen wäre. Auf dem Boden lagen weiße Kacheln, an den Wänden glänzte weißlackierte Raufaser. In dem angeblichen Esszimmer war nicht gedeckt.
Der Raum war so gut wie leer. Außer einem Glastisch mit weißen Metallfüßen, sechs schwarzweißen Lederstühlen in der unbequemen Bauhaus-Tradition, einer klobigen Bodenvase mit Schachbrettmuster und einer bunten Neonröhre sah Mann lediglich einen schlechten Chagall sowie einen hageren, leicht gebückten Herrn an der Grenze zum Greis, der sich beim Geräusch der Tür umdrehte.
„Ah, Harry, gut, dass Sie doch noch gekommen sind!“
Kelling wirkte aufgekratzt. Er hatte sich in einen tropenhellen Kolonial-Einreiher geworfen, garniert mit einem blaurotgrüngestreiften Schlips aus dem Diners-Club-Sonderangebot, dazu ockerfarbene italienische Schuhe mit eingelegtem Strohgeflecht und weißen Spitzen. Der typische Nordland-Gigolo mit einem Hauch von Adria.
Mann sprach die notwendigen Floskeln und wich dem musternden Blick des Gastgebers vorsichtig aus. Der Alte überprüfte als erstes die Kleidung seines künftigen Stellvertreters, pingelig wie sonst kaum, aber wohl mit positivem Abschluss. Entlastung gewährt.
Die Frau des Hauses stand dabei und lächelte arrogant. Mann musste sich alle Mühe geben, nicht auf ihr Dekolleté zu starren.
„Schön haben Sie’s hier“, sagte er, um sich abzulenken. Da er altdeutsche Eichenmöbel erwartet hatte, betrachtete er die Einrichtung mit kaum geheuchelter Bewunderung.
„Meine Frau ...“, sagte Kelling ungewöhnlich kraftlos und lächelte ihr zu. „Sie hat ihr Talent zur Innenarchitektin entdeckt.“
„Ich kümmere mich um Irene.“ Die Stimme der schönen Gallathea hatte einen bösen Unterton, als sie sich zum Gehen wandte.
„Hmmh“, murmelte Kelling, „mach das.“
Der alte Kraftmeier fühlte sich in seinen eigenen vier Wänden sichtlich unwohl. Und er schien, zu Manns ziemlicher Überraschung, unter der Fuchtel zu stehen.
Mit einer bedauernden Geste wies Kelling quer durch den Raum, während sein Blick dem nackten Rücken mit den zwei Muttermalen auf dem Weg durch den Wintergarten hinaus auf die Terrasse folgte. Erst als seine Frau außer Hörweite war, verzog er den Mund zu einem überlegenen Lächeln und zeigte auf den Kachelboden.
„Letztes Jahr lag hier noch flauschiger Teppichboden, und wir lümmelten uns auf einer kackbraunen, knapp kniehohen Sitzlandschaft.“ Kellings Stimme war jetzt wieder zu laut wie immer. „Ein Schlückchen Champagner?“
Mann nickte.
„Tja“, sagte Kelling, „heute ist ein wichtiger Abend.“
„Sie haben etwas zu feiern?“ Mann gab seiner Stimme einen leicht empörten Unterton. „Das hätten Sie mir sagen müssen ...“
Kelling winkte ab und grinste wie Kater Karlo. „Es geht nicht um uns, es geht um Sie, mein Lieber. Wenn Sie wollen und sich nicht allzu blöd anstellen ...“
Befriedigt über seine verworrenen Andeutungen, stiefelte er zu einem Tisch mit einer improvisierten Bar, der im Wintergarten stand.
Mann wusste nicht, was er dem alten Mann antworten sollte. Wie immer, wenn er mit ihm sprach, beschlich ihn das Gefühl, in einen großdeutschen Spielfilm geraten zu sein. Kelling hatte eine fatale Neigung, diese vierschrötigen Helden-Jungs zu imitieren: sexy wie Kruppstahl und dumm wie die Sünde. Oder umgekehrt. Es kam nicht so genau drauf an bei Männern wie Kelling, bei diesen Psycho-Krüppeln aus der großen Vergangenheit, schneidig und servil, vielseitig verwendbar und von ihrer Hitlerjugend an missbraucht.
Spannender war seine Frau. Mann schätzte sie auf drei, vier Jahre älter als er selbst, also Anfang Vierzig.
„Geheiratet haben wir erst“, hatte Kelling ihm bei ihrem ersten Abendessen mit Lüstlingszwinkern anvertraut, „als die Sozis die neuen Scheidungsgesetze machten.“
Bestimmt hatte der alte Knabe damals, in den frühen siebziger Jahren, bunte Nyltesthemden getragen und einen roten Sportwagen mit weißen Ledersitzen gefahren, ein toller Fang für eine Sekretärin namens Gallathea. Und bestimmt hatte Kelling dabei das Sagen gehabt.
In fast allen Ehen, die Mann kannte, waren die Männer jahrzehntelang obenauf gewesen, bis die alternden Tyrannen die Macht mit schöner Regelmäßigkeit abgeben mussten. Wahrscheinlich, sobald sie im Bett versagten. Wenn er seine private Theorie über Lust und Herrschaft in der real existierenden Ehe auf den speziellen Fall übertrug, bedeutete das: Vielleicht könnte er heute Abend die Weichen stellen für ein zweites, privateres Treffen mit Kellings schöner Gallathea.
„Na, denn mal Prost“, sagte Kelling und hielt Mann den Champagnerkelch hin. „Auf gutes Gelingen!“
Sie stießen an, und dann nahm Kelling seinen Gast am Arm und führte ihn hinaus auf die Terrasse. Auch hier hatte die Frau des Hauses ihren gestalterischen Talenten freien Lauf gelassen. Der Garten glich dem Ausstellungsgelände eines Fachhandels für Freizeitbedarf: eine halb überdachte und mit Elektroheizern bestückte Sitzecke an den hohen Hecken rechts, ein halbes Dutzend bunter Plastikliegen rund um den ovalen Pool in der Mitte und ein alternatives Glashäuschen zum Kräuteranbau links. Der überpflegte Rasen dazwischen hätte genauso gut aus Plastik sein können.
In der Nähe des Swimmingpools stand Gallathea Kelling mit einer großen und sehr dünnen, fast ausgemergelten Frau von bestimmt siebzig Jahren. Gallathea sprach kein Wort. Die andere Frau wandte den Ankömmlingen ihren Rücken zu. Um den knabenhaften Körper trug sie einen schwarzen, Smoking-ähnlichen Anzug mit Bauchscherpe, für den mancher Sargträger sein Leben gegeben hätte. Ihre vollen kurzen Haare schimmerten lila. Harry Mann hatte das dumme Gefühl, dass die beiden auf ihn warteten.
„Das ist Irene Hexter, meine Halbschwester“, sagte Kelling leise, während die beiden Männer in Richtung Pool gingen. „Versuchen Sie, einen guten Eindruck zu machen. Es hängt einiges davon ab.“
Mann meinte, einen Hauch Ehrfurcht in der Stimme seines Chefs zu hören. Beide Frauen schienen in ernste Gedanken versunken. Ihre Silhouetten boten einen scharfen Kontrast. Unwillkürlich gingen Kelling und Mann etwas langsamer. Die Szene am Pool glich einem romantischen Genrebild. Zweimal Narziss; einmal die Lust, einmal der Tod.
Als Kelling und Mann näherkamen, wandte Irene Hexter ihnen ihr zerfurchtes Gesicht zu. Mann schreckte unwillkürlich zusammen. So hatte er sich, wenn in den Zeitungen von Konzentrationslagern und Lampenschirmen aus Menschenhaut die Rede gewesen war, immer die weiblichen Aufseher vorgestellt. Hagere, böse und inzwischen natürlich uralte Todesengel.
„Sie sind also Harry Mann“, sagte Irene Hexter mit einem leichten, nicht identifizierbaren Akzent in der Stimme. „Sie haben uns warten lassen ...“
„Tut mir leid.“ Er hörte selbst, dass es nicht sehr bedauernd klang. „Ich hatte noch einen Termin.“
„Doch nicht etwa gearbeitet?“ Der spöttische Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „So spät noch, am heiligen Freitag?“
„Was Arbeit betrifft, bin ich Atheist.“
Kelling schaute unglücklich drein. Sie hatten einen klaren Fehlstart.
Die Alte verzog die beiden roten Drähte, die ihr als Lippen dienten. „Das will ich Ihnen gerne glauben.“ Sie lachte kurz auf, bevor sie seine Worte in ihrem Mund verdrehte. „Mein Bruder erzählte schon, dass Sie Fleiß nicht sonderlich anbetungswürdig finden. Ihre Stärke liegt wohl eher in der Vermeidung von Arbeit.“
Irene Hexters Stimme war ein wenig zu schnarrig und ihre Gesten überheblich.
„Ich bitte dich ...“, widersprach Kelling hilflos.
„Lassen Sie ruhig.“ Aber es klang nicht echt. Manns Tonfall war ganz beleidigte Unschuld. Das höfliche Heucheln bereitete ihm schon immer Schwierigkeiten.
Natürlich hatte er einen Großteil seines Lebens schlicht in einem Berliner Hinterhof verpennt, und natürlich hatte er auch nicht vor, an seinem neuen Arbeitsplatz mehr als notwendig zu tun. Warum auch?
Sollte er sein Herzblut an die Computerisierung der bekloppten Transaktionen vergeuden, mit denen Kelling und seine Kretins sich im hoch subventionierten Osthandel gesundstießen? Schon jetzt, fünf Wochen, bevor er seine neue Stelle antreten sollte, konnte er das scheinheilige Gesäusel nicht mehr hören: Berlin, die Brücke zwischen Ost und West! Es war zum Kotzen. Bestenfalls eine brüchige Eselsbrücke war die Halbstadt für dieses Pack, eine willkommene Abkürzung auf dem Schleichweg von Unfähigkeit zu Erfolg, von Dummheit zu Reichtum.
Irene Hexter jedenfalls gab keine Ruhe. Ein kleiner Streit schien ihr der beste Aperitif. „Ich tue Ihnen doch nicht Unrecht?“
„Ihre Bemerkung mag vielleicht der Wahrheit entsprechen“, sagte Mann und spürte, wie die seit Tagen unterdrückte Wut über seine private Kapitulation ihn gestelzt klingen ließ, „aber besonders höflich ist sie nicht.“
„In meinem Alter“, gab Irene Hexter zurück und trank aus ihrem Glas etwas, das wie Cognac mit Kohlensäure aussah, „hat man keine Zeit mehr für allzu viel Höflichkeit.“
„Wer dafür zu alt ist, sollte eben zu Hause bleiben. Oder seinen Mund halten.“
„Harry, ich dulde nicht ...“, setzte Kelling in seinem Büroton an.
„Ich bitte dich, hör mit dem Unsinn auf!“ sagte Irene Hexter. Es klang nicht wie eine Bitte. Sie erteilte Kelling einen Befehl. Die schöne Gallathea legte ihre Hand auf den Arm ihres Angetrauten.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen den Abend ...“, sagte Harry Mann steif und hatte plötzlich das frohe Gefühl, dass gleich alles überstanden sein würde. „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe.“
„Sie gefallen mir, junger Mann.“
Irene Hexter strahlte ihn unvermittelt an.
Ihre Freundlichkeit machte all seine Hoffnungen auf ein schnelles Entkommen zunichte. War die Alte auf Koks? Abrupte Stimmungsumschwünge wie diesen kannte er nur aus der Zeit, als sein bester Freund Peter sich mit allem vollpumpte, was gerade greifbar war. Er wünschte einmal mehr, er wäre gar nicht erst gekommen.
Die anderen taten, als sei nichts passiert. Sie schienen sich dabei nicht einmal sonderlich verstellen zu müssen. Als sie ihren Cocktail vernichtet hatte, stöckelte Kellings Frau zu dem vorbereiteten Tisch in der laubenartigen Sitzecke, zerrte die Plastikfolien und Handtücher von den Platten und Schüsseln und brachte zum Vorschein, was ein Partyservice dort aufgebaut hatte. Schließlich klatschte sie in die Hände und rief mit falscher Fröhlichkeit: „Auf zur Schlacht am kalten Buffet.“
Mann fiel dazu das passende Lied ein, derselbe Klampfensong, an den die Gastgeberin wahrscheinlich auch gedacht hatte, und es schüttelte ihn doppelt. Der Rest des Abends versprach so öde zu werden, wie man es von einem Stehempfang für vier Personen erwarten durfte.
Sie aßen eine Weile im Garten. Anschließend setzten sie sich auf die Terrasse vor dem Wintergarten, und während in den hohen Büschen, die das Grundstück vor den Blicken der Nachbarn schützten, die Grillen zirpten, schwadronierte Kelling über seine Zukunft als Pensionär, über lukrative Gelegenheits-Geschäfte und große Urlaubsreisen, die er nie machen würde. Seine Frau schaute gelangweilt, und Irene Hexter trank auf Teufel komm raus ihr dubioses Gemisch aus Cognac und Champagner.
Mann schien es, als könnten sie in seiner Gegenwart über nichts reden, was ihnen wichtig war, und doch wollten sie ihn nicht gehen lassen. Seine Versuche, Geistreiches zum Gespräch beizusteuern, beschränkten sich weitgehend auf gelegentliches Kopfnicken. Wann immer er aber mehr als zwei Silben äußerte, widmeten die drei anderen ihm sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und er wurde den Verdacht nicht los, gerade einen eigentümlichen Eignungstest zu absolvieren.
„Verdienen Sie genug, mein Lieber?“ unterbrach Irene Hexter schließlich das dahinplätschernde Gespräch.
Wollte sie ihm schon vor seinem ersten Arbeitstag einen anderen, besseren Job anbieten? Er schaute ihr in die Augen, weiche, tiefbraune Hundeaugen, die so gar nicht zu ihrem zerknitterten Gesicht passten. Sie imponierte ihm. Sie trank mehr als die anderen und verlor doch keinen Augenblick die Kontrolle.
„Ich meine“, setzte sie nach, „reicht Ihnen das Gehalt, das Sie bei ,Schlosser‘ bekommen werden?“
Ihr Ton war jetzt wieder so gönnerhaft und herablassend wie zu Beginn des Abends. Mann fiel keine Antwort ein, die zugleich intelligent und unverschämt war.
Natürlich war es lausig, was „Schlosser, Rulow & Co.“ dem ältlichen Anfänger zu zahlen bereit waren. Andererseits konnte er froh sein, überhaupt noch einen Job gefunden zu haben. Also schüttelte er nur dumm grinsend den Kopf. Die herrische alte Dame grinste zurück.
„Was würden Sie von einer kleinen Nebentätigkeit halten?“
„Zeitungsaustragen war mir schon als Zehntklässler zu dumm.“
„Nun, das muss ja nicht immer so bleiben. Vielleicht sind Sie inzwischen erwachsener geworden?“
„War nie mein Lebensziel.“
„Sondern?“
Er zog die Schultern hoch und grinste ausdruckslos. Noch zwei Stunden in dieser Gesellschaft, dachte er, dann bleibt mir das Gesicht so stehen und ich werde für den Rest meiner Tage an Grinsomanie leiden.
„Geld ohne Arbeit?“ setzte Irene Hexter nach.
„Besser als umgekehrt.“
„Einen Scheißjob werden Sie da haben bei ,Schlosser‘, was?“
„Ich werd’s sehen.“
„Stimmt fürwahr!“ Kelling lachte laut auf und schlug sich auf die Schenkel. „Wenn einer das weiß, bin ich es!“ Seine krachlederne Geste passte schlecht zu dem Gigolo-Kostüm.
„Lässt sich ändern“, lächelte Irene Hexter. „Gesetzt den Fall, dass Sie manche Handelsgesetze Ihres Landes genauso albern finden wie ich.“
Harry Mann gab ihr keine Antwort.
„Denken Sie drüber nach ...“, sagte sie. „Nächste Woche werde ich wieder in der Stadt sein.“
„Gleiche Stelle, gleiche Welle!“ sagte Kelling.
Irene Hexter sah ihn aus den Augenwinkeln böse an. Man konnte die Verachtung fast greifen, die sie ihrem Halbbruder entgegenbrachte.
3
Gegen Mitternacht begleitete Rudolf Kelling die Alte zu ihrem Wagen. Obwohl sie für ein paar Hunderter Cognac und Champagner intus hatte, schritt sie so gerade dahin wie ein russischer Gardeoffizier. Der strohblonde Punkie-Chauffeur draußen musste inzwischen Schwielen am Hintern und an den Hacken Blasen haben. Aber vielleicht war ihm dafür gedämmert, wer Bambi auf dem Gewissen hatte.
Die Nacht war kühler geworden. Gallathea Kelling schüttelte es leicht.
„Kommen Sie“, sagte sie, „gehen wir rein!“
Kaum hatte Harry Mann genickt, nahm sie ihr Glas und rannte in Richtung Terrasse davon, als hätte sie einen wichtigen Termin. Er hielt nur mit Mühe Schritt.
An der Tür zum Wintergarten blieb sie stehen und drehte sich halb zu ihm um, so dass ihre Haut auf dem Rücken tiefe kleine Falten warf. Ihre vollen Lippen lächelten ihn entschieden zu freundlich an.
Er war vernünftig genug, nichts daraus zu machen, und seine Gastgeberin dirigierte ihn, unverdrossen strahlend, zu dem weißen Esstisch und den unbequemen Bauhaus-Stühlen.
„Mein Mann sagt, Sie seien der älteste Kandidat für den Job gewesen.“ Ihr roter Mund lachte weich. „Und der lustloseste.“
„Sie müssen nicht alles glauben, was Sie hören.“
„Also hat mein Mann Unrecht?“
„Die Leute sehen immer nur, was ihnen gefällt.“
Kellings Frau blickte ihn mit verwunderten Augen an. „Wie kommen Sie auf die seltsame Idee, es könnte einem gefallen, wenn der zukünftige Stellvertreter stinkfaul ist?“
„Er scheint zufrieden, ich bin zufrieden.“
„So sehen Sie nicht gerade aus.“
„Jetzt bin ich privat. Sie sollten mich mal im Büro erleben!“
„Geschieht mir recht“, sagte Kellings Angetraute. Sie kratzte sich ungeniert am Ausschnitt hinter den Fetzen schwarzen Musselins.
Er schwieg.
Eine seltsame Stimmung kroch zwischen ihnen hoch. Die schöne Gallathea schwankte zwischen den Rollen von Hure und Kommissar. Alles lief auf Streit oder Sex hinaus. Er hoffte, Kelling käme endlich zurück.
„Sie sind nicht verheiratet. Und eine feste Freundin haben Sie auch nicht ...“
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, also gab er ihr keine Antwort. Kelling hatte ihn nicht nur unerbittlich über sein Privatleben ausgefragt; er hatte seine Erkenntnisse obendrein weitergetratscht.
„Lassen Sie uns Bruderschaft trinken“, sagte sie, als er keinerlei Anstalten zur Konversation machte.
„Ich heiße Gal.“ Sie sprach es „Gell“ aus. Dabei strahlte sie ihn an, dass es ihm zwischen den Beinen pochte.
„Aha“, sagte er und rührte sich nicht.
Die Situation war gequirlter Irrsinn. Wahrscheinlich legte es die Hausherrin auf eine Eifersuchts-Szene an, bei der ihr Angetrauter mal so richtig den Kürzeren zog.
„Soll ich dich so nennen: ,Aha‘?“ fragte Gal, dezent wie ihr Lippenstift.
„Wenn’s dir gefällt.“ Er konnte es nicht ändern, dass er so blöd daherredete. Er musste sie zurückstoßen oder er musste sie an sich reißen.
Gal sagte: „Dann bin ich ,Oho‘!“ und lächelte nachsichtig, als handele es sich bei ihm um ein trotziges Kind in den besten Flegeljahren.
Sie hob ihr Glas und stieß es über den Tisch. Beim obligatorischen Kuss tauchte ihr Mund an der dargebotenen Wange vorbei. Ihre Zunge glitt über seine verschlossenen Lippen, zweimal, dreimal, dann stieß sie durch und drückte auf seine Schneidezähne. Er spielte toter Mann und bewegte sich nicht.
Sie wich ein wenig zurück und sagte „Mannomann“, wie bei einem Streit im Sandkasten.
Genau da wohl ahnte er es zum ersten Mal. Er starrte zurück, schwieg und überlegte angestrengt, was ihm mehr einbringen würde: Kellings Sympathie oder diese Nacht mit seiner Frau?
Aber irgendwo in seinem Hinterkopf spürte er schon, dass er sie lieben würde, so sehr, wie niemanden zuvor. So sehr fast, wie sich selbst.
Für diesen Augenblick nahm Gal ihm die Entscheidung ab. Sie stand auf und kam um den Tisch herum. Bevor er sich rühren konnte, schnappte sie sich seine Hände und legte sie auf die Brüste, die er so lange angestarrt hatte. Die Fetzen Musselin schwebten beiseite. Sie beugte sich zu ihm herunter und sagte leise:
„Küss mich.“
Er schob seine Zunge zwischen ihre karmesinroten Lippen und vergaß zu denken.
Nach einer zeitlosen Zeit hörten sie, wie der Jaguar in der Auffahrt wendete und davonfuhr. Gal löste sich von ihm.
„Später“, sagte sie nur, stieg aus ihrem schwarzen Schlüpfer, der in Wadenhöhe hing, warf ihn in die klobige Bodenvase mit dem Schachbrettmuster, die neben dem Esstisch stand, und zerrte ihren engen roten Rock mit weiten Hüftbewegungen wieder über die Schenkel. „Gib mir deine Telefonnummer, ja?“
Mann nickte, griff in die Innentasche seines Jacketts, zog seinen antiken Pelikan-Füller heraus und schaute sich suchend um. „Ich hab’ kein Papier ...“
„Ich auch nicht.“ Gal verzog die Mundwinkel. „Für so was gibt’s Visitenkarten ...“
Draußen im Flur ließ Kelling die Haustür ins Schloß fallen.
„Scheiße!“ Gal zog ihren Rock wieder drei Handbreit hoch. „Schreib’s mir hier auf’s Bein!“
Sie stellte ihren linken Fuß auf seine Stuhlkante, und er malte die sieben Zahlen knapp über dem Knie auf ihre Schenkel.
„Sie sollten“, sagte Gal dabei laut, „Frau Hexters Vorschlag noch einmal überdenken ...“
Als sie sich wieder ihm gegenüber gesetzt hatte, musste sie plötzlich lachen. Sie hielt die Hand vor den Mund und zischte: „Mein Gott, du bist total verschmiert. Wisch dich ab! Deine Lippen, die Backe, rundrum!“
Er tat es, und sein Handrücken war rot von ihrem Lippenstift. Während Kelling eine weitere Flasche seiner klebrigen Spätlese öffnete, schmierte Mann die Farbe von den Händen an die Unterseite der Bauhaus-Stühle.
Die Kellings und ihr Gast soffen und quasselten weiter, als wären sie alte Freunde. In regelmäßigen Abständen gähnte Gal und schaute auf die Uhr. Ihr Ehemann ließ sich nicht beirren und goss unerbittlich nach.
Lange nach zwei Uhr hatte der Alte endlich genug geredet und genug in sich hineingeschüttet. Er wankte zur Toilette. Sie hörten ihn kotzen. Dann wurde es still.
Als er sich nicht wieder blicken ließ, zog Gal den müden Harry Mannomann aus dem Stuhl.
„Komm!“ sagte sie.
„Was ist mit deinem Mann?“ fragte er und blieb unschlüssig stehen.
„Der? Pahh.“ Sie machte eine kurze, verächtliche Kopfbewegung in Richtung Bad. „Das kenne ich schon. Suffkopp wacht erst morgen Mittag wieder auf ...“
Sie streckte sich hoch und küsste und biss sanft in Manns stopplige Haut an Kinn und Hals.
Dann polterten sie nach oben, Gal voraus, er hinterher, auf Stufen, die sich drehten und wendeten, sobald seine Füße sie berührten. Mit beiden Händen tätschelte er den Hintern vor seinen Augen und fühlte sich dabei wie in seinen schmutzigsten Phantasien.
4
Sein müder Körper hatte schon bessere Nächte erlebt. Er war zu unsicher, zu wütend, und er war zu betrunken. Erst allmählich, als alles vorbei war, wurde sein Kopf nüchterner, und durch seinen Halbschlaf hallten die Schritte im Parterre des Bungalows.
Er lag im Gästezimmer unter dem Dach auf einem flauschigen Kaufhausfell. Gal schlief neben ihm. Sie hatte sich halb zur Seite gerollt und atmete flach. Ihr rechter Arm lastete schwer auf seinen Schenkeln. Langsam drehte er sich beiseite, und Gals Hand rutschte zwischen seine Beine. Es erregte ihn. Unablässig schlurfte der Mann im Parterre hin und her.
Gals weicher nackter Körper war weiß, als hätten die Jahre alle Farbe aus ihr gesaugt.
Er konnte nicht schlafen; nicht solange ihre Hand lag, wo sie lag, und nicht solange der Alte dort unten auf und ab rumorte. Gal zuckte leicht im Schlaf wie ein Hund, der von der Jagd träumt. Die schöne Gallathea hatte bekommen, was sie wollte. Sie waren in ihre Falle gegangen, Kelling und er und vielleicht auch sie selbst.
Mit ziemlicher Sicherheit markierte diese missglückte Liebesnacht das Ende seiner kurzen Karriere. Von Anfang an war alles verquer gewesen, schon vor Wochen, als Kelling nach dem zweiten Gespräch, bei dem sie sich auf die Modalitäten des Vertrages geeinigt hatten, Harry Mann und seine Frau zum Essen einladen wollte.
„Ich habe keine Frau“, hatte er misstrauisch geantwortet.
Sein Lebenswandel entsprach kaum den Ansprüchen, die Chefs an zuverlässige Mitarbeiter stellen. Das begann schon bei der scheinheiligen Frage nach seiner Frau. „Ledig“ stand in seiner Bewerbung. Für Häuslichkeit brachte er, seit Anne ihn verlassen hatte, kein Interesse auf, und von Mädchen, die wie er Sex für eine Nacht wollten, waren die Kneipen voll. Alle Welt fürchtete sich zwar vor Aids, aber praktische Konsequenzen hatte das sowieso nur für die Redakteure, die darüber ihre Horrorstories schrieben, und für ein paar unheilbare Hypochonder, die jede Krankheit begrüßten wie der König von Theben seinen Sohn. Und lief einmal wirklich nichts, so bezahlte Mann halt. Das kam immer noch bei weitem billiger als Frau oder Freundin.
„Nichts Festes?“ hatte Kelling weitergebohrt. Und auf sein Kopfschütteln: „Dann essen Sie eben solo, meine Frau nervt allemal für zwei.“
Zu der Verabredung in einem dieser rustikalen Steakhäuser war Kelling aber ebenfalls allein erschienen. Der Abend verlief halbwegs erträglich. Die beiden kippten hemmungslos Bier und Korn, und Kelling, der kurz vor der Pensionierung stand, merkte nicht die Spur, wie gleichgültig Harry Mann seine vielversprechenden Andeutungen ließen. Ein süßes Lebenslänglich von neun bis fünf, abgesessen für Leute, die sich mit seiner Arbeit eine goldene Nase verdienten, reizte ihn nicht sonderlich. Natürlich endete der Abend auf Spesen in einem Grunewalder Nobelpuff, und natürlich gab Kelling viel Geld aus, ohne dass einer von ihnen mit einem der Mädchen was gemacht hätte.
Und jetzt lag er neben Kellings Frau im Bett, und statt seinen Rausch auszuschlafen, schlurfte der Alte im Parterre unaufhörlich auf und ab. Das Radio, das sie hatten laufen lassen, spielte dazu die Tanzmusik.
Mann kam sich in seiner eigenen Haut wie ein Fremder vor.
Er gehörte nicht hierher. Es war das Morgengrauen, die Zeit, zu der er sonst aus dem „Slumberland“ wankte, in die halbe Sonne blinzelte und mit dem guten Gefühl, ein hoffnungsloser Fall zu sein, nach Hause taperte, über den leeren Winterfeldplatz in die vage Richtung seiner dunklen Vier-Zimmer-Bad-Klo-Hinterhof-Höhle, die er teilte mit Kistenmöbeln und Ikea-Regalen und mit all dem Oma-Plüsch-Sperrmüll, den er so sehr hasste.
Da gehörte er hin.
Nach Hause. Er, der letzte Mohikaner, einziger Überlebender jener legendären Drei-Männer-zwei-Frauen-Wohngemeinschaft. Nach Hause, durch das Vorderhaus, vier muffige Treppen, „Morj’n“ ohne Antwort zu einem der zahllosen Türken, die einem immer entgegenkamen auf ihrem Weg zur Fabrikarbeit; das Gefummel mit dem Schrottschloss, dann der Tritt gegen die verzogene Tür, drinnen. Erst mal pissen ...
Neben ihm bewegte sich Gal im Schlaf. Pissen wär’ jetzt auch nicht schlecht.
Der Fall ins Bett. Zu Hause sein. Am frühen Nachmittag dann das verkaterte Erwachen, ein weiterer Tag verschlafen, zum Bäcker. Die Sesamschrippen sind aus, längst; die sinnlose Frage nach den Croissants kann er sich ersparen. Zurück, am Briefkasten vorbei. Bunte Reklame, triste Auszüge vom leeren Postscheckkonto, mal eine Postkarte aus Kreta oder aus der Toscana, immer wieder weiter, und dann plötzlich: Bäng!
Er schreckte aus seinem Halbschlaf. Kelling lärmte demonstrativ im Erdgeschoß.
Der große Bäng, das war Kellings Brief gewesen, die Antwort auf Manns Bewerbungsschreiben, das erste und einzige, das er losgeschickt hatte, lieblos und ohne Hoffnung und eigentlich nur, um sich Peters Lamento über seine Lebensuntüchtigkeit nicht länger anhören zu müssen. Und dann eben: Bäng, die Einladung zum Vorstellungsgespräch, gezeichnet Rudolf Kelling, darüber der edle Briefkopf: „Schlosser, Rulow & Co.“.
Die Treppen war er hoch gestürmt, Peter angerufen. Der hatte ihn gleich – „Vorschuss auf’n Erfolg, bald kannste selbst bezahlen!“ – zum Frühstück in die „Paris Bar“ eingeladen: „Nimm dir ‘n Taxi, aber lass dir ‘ne Quittung geben.“
Den halben Sieg hatte Peter schon als ganzen und den ganzen Sieg als persönlichen Triumph genommen. Sein Sieg. Zum zweiten Mal hatte er Harry Mann bekehrt. Erst Rote Garde, nun Karriere. Kader bleibt Kader, auch wenn er inzwischen eine gut gehende Kneipe besaß und einen schwarzen 500er Mercedes fuhr.
Immerhin, es war eine Chance. Vielleicht wirklich die letzte.
Und hätte er weniger Mut besessen, seiner Gier auf Gal zu folgen, wäre er noch feiger gewesen, als er es ohnehin schon war, so hätte wohl sein Leben endlich werden können, was es sollte: todsicher inklusive Kündigungsschutz und sterbenslangweilig. Ohne jede Aussicht auf Veränderung, wenn man einmal von der Möglichkeit einer Frührente absah.
Aber er: Rumsbums. Daneben. Vorbei. Tilt.
Jetzt lag er möglichst bewegungslos neben der schönsten Frau, mit der er je geschlafen hatte, und fühlte sich mies. So mies, wie schon die ganze Nacht.
Er starrte zum Fenster hinaus in den taghellen Morgenhimmel. Nach einer Ewigkeit war es sechs Uhr. Der SFB sendete Nachrichten. Im Gegensatz zu seinem Leben hatte sich seit gestern Abend in den Meldungen wenig geändert. Viel Lärm um ein paar lausige Millionen für ein paar graue Bonner Herren. Er hatte keine Ahnung, worum es dabei ging. Und er kannte niemanden, der sich auf dieses Tohuwabohu einen Reim machen konnte. Genaugenommen kannte er auch keinen, der sich dafür interessierte. Außer ihm selbst und Peter, wenn sie beide besoffen waren.
„Der niedersächsische Innenminister Paul Wineck bestritt vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, im fraglichen Zeitraum über die im Bundesanzeiger ausgewiesenen Beträge hinaus irgendwelche persönlichen oder zweckgebundenen Zuwendungen erhalten zu haben“, leierte der Nachrichtensprecher. „Wineck betonte auf Nachfrage, dies gelte auch für die Block-Vermögensverwaltung und insbesondere hinsichtlich des ,Verein zur Förderung grenzüberschreitenden Denkens‘, von dessen Existenz er offiziell erst vor wenigen Wochen erfahren habe.“
„Wer soll’n sowat fastehn“, murmelte Mann unwillkürlich in dem falschen Berliner Tonfall, der Peter zur zweiten Sprache geworden war. Szene-Slang, der mit echtem Berlinern soviel zu tun hatte wie falscher Hase mit einem Löffeltier.
Neben ihm rekelte sich Gal im Schlaf, und er, weil er nichts weniger wünschte, als dass sie jetzt aufwachte, lag da wie ein Toter, bis sie wieder gleichmäßig atmete.
5
Eine Ewigkeit später zog er Gals Hand vorsichtig von seinen Schenkeln, stand auf und kleidete sich langsam an. Es war noch keine sieben Uhr, aber draußen schien bereits die Sonne, und man spürte die Hitze, die bald aus dem wolkenlosen Himmel hervorbrechen würde wie ein Haufen feindlicher Jäger.
Er schlüpfte gerade in seinen zweiten Schuh, als sich Gal wieder herumwälzte, nach ihm tastete und die Augen aufschlug. Sie schaute ihm eine Weile schweigend zu, dann sagte sie ohne jede Betonung:
„Geh nicht! Er wird mich schlagen.“
Mann gab ihr keine Antwort. An diesem Morgen war nicht die Zeit für Liebeserklärungen. Er und Gal Kelling, das schien einfach nur falsch und unpassend. Der Billig-Freier und die Luxus-Nutte.
Mit übertriebener Langsamkeit band er seinen Schlips, hob das blaue Jackett mit den dicken Goldknöpfen vom Boden auf und öffnete die Tür.
Von der Halle unten blickte Kelling zu ihm herauf. Der alte Verlierer tat ihm leid, aber entschieden mehr Mitleid empfand er mit sich selbst.
„Ich hoffe, es hat Spaß gemacht?“ lamentierte Kelling mit einer Stimme, die zwischen Betrunkenheit und Kater, zwischen Geilheit und Eifersucht schwankte.
Der übliche Hang zu Vulgarität und Selbsterniedrigung, dachte Mann und spürte, wie seine guten Vorsätze zum Teufel gingen. Er hasste solche Situationen. Sie erinnerten ihn an seine Kindheit. Und er hasste seine Kindheit.
„Na, wie ist meine Alte?“ hakte Kelling nach. „Zufrieden?“
Mann gab sich einen Ruck und ging die Treppe hinunter. Die afrikanischen Kultgegenstände hatten die Nacht gut überstanden, besser als Kelling und er.
„Gerade noch jung genug“, sagte er, als er neben dem Alten war.
Er wollte raus, nichts als raus aus der Ehehölle namens Kelling. Wahrscheinlich wäre ihm der Abgang mit begrenztem Schaden geglückt, wenn in diesem Augenblick nicht oben auf dem Treppenabsatz Gal erschienen wäre.
Weiß und nackt und weich, wie ihre vier Jahrzehnte sie geschaffen hatten, sah die schöne Gallathea an diesem dunstigen Samstagmorgen aus wie ein verblichener Jugendstilakt, leicht unscharf und ziemlich blass.
Auf ihren Ehemann wirkte sie wie ein rotes Tuch.
„Verpiss dich, du miese Schlampe“, schrie er, grobe Stilrichtung sozialer Wohnungsbau.
Mann hatte die Haustür erreicht, als scharf neben seinem Kopf etwas gegen die Wand schlug und der Putz ihm in die Augen spritzte. Sekunden später gab es, ohne dass er die Reihenfolge zu sagen gewusst hätte, einen Schrei und ein dumpfes Geräusch. Aus unerfindlichen Gründen meinte er, dass ihn das etwas anginge.
Er wirbelte herum und sah, wie in Trance, alles ganz langsam: das massige, breitlippige, teakschwarze Negergesicht auf dem Boden unter ihm, Gal auf dem grünen Velours vor der Treppe, Kelling über ihr: eine Szene aus einem dieser Tagesschau-Videos, in denen behelmte Außerirdische vor Bauzäunen aus Nato-Draht sommerlich gekleidete Demonstrantinnen attackieren. Er lief dazu, seine Schritte alptraumschwer, und veränderte damit sein Leben ebenso nachhaltig, wie es seine Geburt getan hatte.
Der alte Mann trat noch immer auf den weißen Körper ein. Harry Mann riss ihn von hinten an den Schultern zurück. Kelling war mindestens zwei Kopf größer als er, aber es war schon eine Ewigkeit her, dass die Autorität seiner Stimme einmal nicht ausreichte und er sich wehren musste. Er war zu schwach und zu zögerlich geworden.
„Drecksau, geiles Schwein“, schrie er.
Der soignierte Handelsmann war nicht wiederzuerkennen. Er atmete schwer, den Atem voller Cognac, und holte noch tiefer Luft. Endgültig gewann bei Kelling nun der Feldwebel die Oberhand über den Stabsoffizier. Er drehte sich unter Manns Griff und spuckte ihm ins Gesicht.
Harry Mann lief der Sabber über die Lippen. Angeekelt wischte er ihn beiseite, riss Kelling herum und gab ihm mit der feuchten Hand eine Ohrfeige.
Kelling bekam einen Wutanfall. Er trat nach seinem Gegner, und er traf ihn, bis der zurückschlug, irgendwo in die Mitte des schwächeren Angreifers.
Und plötzlich, als hätte etwas in ihm ein Leben lang auf diesen Ausbruch gewartet, rammte Harry Mann wieder und wieder seine Faust in den alten Mann, er traf seine Nase, bis sie blutete, hakte nach den weit aufgerissenen Augen, und weil Kelling die Arme vor sein Gesicht legte und sich krümmte, um seinen Unterleib zu schützen, prügelte er auf die Ohren und seinen Hinterkopf. Nach langen Sekunden versuchte Kelling noch einmal, sich zu verteidigen. Da nahm Mann ihn beim Kragen und hämmerte seinen Kopf gegen die Wand, bis der weiße Putz einen Haufen rote Flecken zeigte.
Erst als er seine schmerzenden Arme spürte, ließ Harry Mann sein Opfer los, und der Alte rutschte bewusstlos die Wand hinunter gen Boden.
Gal hockte nackt auf der zweituntersten Treppenstufe und schaute zu ihnen herüber. Ihre Brüste lagen schwer, die kräftigen Spitzen erigiert, auf ihren gekreuzten Armen. Ihr Blick war nachdenklich und zugleich fasziniert.
„Komm!“ sagte sie und deutete auf den freien Platz neben sich.
Mann hob sein Jackett auf, das er irgendwann hatte fallen lassen, und hängte es ihr um die Schultern. Sie zog die Beine an und legte die Arme darum, so dass allein ihre schmalen weißen Waden frei blieben.
Er setzte sich neben sie, eine Treppenstufe höher, und fuhr ihr über die nasse Stirn. Dann ließ er seine rechte Hand den Hals hinunter zu ihren Brüsten gleiten. Gal rückte näher und rieb sich langsam an ihm, bis sie die richtige Position gefunden hatte; ihren Kopf an seiner dritten Rippe.
So saßen sie und sahen auf Kellings leblosen Körper herab, bis Gal zu sprechen anfing.
6
Sie bat ihn nicht, sie machte ihm keinen Vorschlag, und sie sagte nicht, was wäre wenn. Sie erzählte, wie man von einem alten, vertrauten Tagtraum erzählt, in den man sich an den einsamsten Stunden des Tages flüchtet, und ihre Lippen bewegten sich dabei so weich und absichtslos, wie es nur die Lippen von Wo-nach-auch-immer-Süchtigen zustandebringen.
„Wenn Kelling aus seiner Ohnmacht erwachen wird“, begann sie mit gleichgültiger Stimme, als sei von einem flüchtigen Bekannten die Rede, „wird er eine Weile brauchen, um zu erkennen, wo er ist. Ganz allmählich erst wird sich alles zusammenfügen: Er liegt auf hartem Boden. Kacheln. Er ist an Händen und Füßen gefesselt und mit einer Serviette geknebelt. Der Raum ist winzig, fensterlos, dunkel. Keine Ahnung, wie spät es ist. Die Konturen von Regalen, Flaschen, Dosen zeichnen sich ab. Man hat ihn in die Abstellkammer hinter der Küche gebracht. Sein Gesicht ist eine offene Wunde. Vorsichtig versucht er, sich zu bewegen. Vergeblich. So liegt er da und schwelgt in Rachephantasien.“
Gal sah Harry Mann an, aber ihr Blick ging durch ihn hindurch. Als sie weiter sprach, lächelte sie:
„Kelling wird sich alles sehr genau überlegen: Wie er sich scheiden lassen wird, ohne dass er seiner Frau, dieser verbrecherischen Hure, einen Pfennig zahlen muss; wie er dafür sorgen wird, dass Mann, dieser Versager, auf den er seine Hoffnungen gesetzt hatte, in der gesamten Exportbranche nie wieder eine Anstellung finden wird; wie ... Doch je detaillierter er seine Pläne schmiedet, desto deutlicher wird er die Gefahr ahnen. Weder Mann noch seine Frau sind so dumm, dieses Risiko einzugehen. Schließlich weiß Kelling, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr lange zu leben hat. Er kann plötzlich den Tod so deutlich riechen wie den scharfen, klinischen Geruch, den das halbe Dutzend Plastikflaschen mit Haushaltsreinigern verströmt. Er wird versuchen sich abzulenken: Mann ist ein Idiot, mit seiner Hilfe hätte der Junge ein Vermögen machen können. Gut, minus dreißig Prozent für Kelling, der damit seine alten Tage finanziert hätte, aber immer noch ein Vermögen für diese verkrachte Existenz, diesen Verlierer namens Mann. Und was tut er stattdessen? Geht dieser Schlampe auf den Leim. Oder auf den Schleim.“
Gals Gesicht war jetzt ausdruckslos. Nicht sie sprach. Gespenstisch klang ihre Stimme nach Kellings Kasinoton.
„Löcher!“ sagte sie verächtlich. „Nur aus Löchern besteht sie, heiß und hohl. Keine Ahnung, warum sie das tut, nach all den Jahren. Aber sie und ihr Ficker werden nicht davonkommen damit. So kurz vor dem Ziel, mit dem Haus fast bezahlt, die Pensionierung zum Greifen nahe, die Abmachung zwischen Hexter und Mann so gut wie perfekt ... Allmählich, erst ganz allmählich werden Kellings Gedanken versiegen. Zu seinem Tod fällt ihm wenig ein. Eigentlich nur, dass die Außenwände des Bungalows kaum dreißig Zentimeter messen, was er immer viel zu dünn fand, und dass hinter diesen dreißig Zentimetern die Welt ein stinknormales Wochenende verlebt, während er, der große Rudolf Kelling, sterben muss.“
„Nein“, sagte Mann, „ich bin nicht verrückt, niemals!“
Nicht Gals weiße Brüste und nicht ihre festen Schenkel und erst recht nicht seine Liebe, von der er noch kaum etwas wusste, konnten ihn überreden. Auch seine Angst vor Kellings Rache hielt sich in Grenzen. Im Zweifel würde seine Aussage gegen die Anschuldigungen eines betrogenen Ehemannes stehen. Nicht einmal für eine lausige Kündigung reichte das.
Außerdem hatte er schon einiges mitbekommen, was die Beteiligten nicht allzu gerne einem Arbeitsrichter erklären würden: Kellings ungewöhnlicher Wohlstand hatte mit Irene Hexter zu tun. Worum es auch immer ging, es war illegal. Daher das eigentümliche Interesse seines Chefs an ihm. Gerade sein zweifelhaftes Arbeits-Vorleben und sein augenfälliger Mangel an Eifer hatten ihm erst den Job und, weil auf seine Unzufriedenheit Verlass schien, dann Hexters Antrag eingetragen. Wenn er auch noch nichts richtig begriff, die Schlacht war zu gewinnen.
„Verrückt ist anders ...“, sagte Gal in seine Gedanken hinein. Ihre Stimme hatte immer noch keinen Ausdruck. Sie leierte die Worte weiter wie die einer fremden, unverständlichen Sprache: „Verrückt wäre es, die Gelegenheit vorbeigehen zu lassen.“
„Was ist das überhaupt für eine Abmachung zwischen Kelling und Hexter?“ fragte er.
Zu seiner Überraschung antwortete sie ihm, ohne zu zögern: „Du übernimmst in anderthalb Jahren seinen Job für zwei Drittel seines Anteils, er bekommt, gewissermaßen als Patent- und Vermittlungsgebühr, weiter das restliche Drittel.“
„Drei Drittel von was? Für was?“
„Keine Ahnung. Er“ – sie zuckte mit dem Kopf in die Richtung der Wand, vor der Kelling lag – „macht es, solange wir uns kennen. Kapital-Reimport nennt er es. Über’n Osten eben.“
„Wessen Geld?“
„Soll ich sein Nachfolger werden oder du?“ Allmählich kam sie in die Wirklichkeit ihrer Großschnauze zurück. „Ich habe ihn nie gefragt, wozu auch? Ich hätte es eh nicht verstanden.“
„Wie viel bekommt er dafür?“
„Zuletzt zehn pro Monat. Das war doppelt soviel wie ihm die Steuer von seinem Gehalt ließ.“ Sie lachte kurz, als erinnere sie sich an die Witze einer fernen Vergangenheit. „,Brutto gleich netto‘, sagte er immer.“
„Er lebt noch ...“, sagte Mann.
„Nicht mehr lange!“ sagte sie.
7
Am Nachmittag fuhr Harry Mann wieder raus nach Konradshöhe, diesmal mit seinem verrosteten Fahrrad, das er aus der hintersten Ecke des Kellers hervorgezerrt hatte. Der Tag war so heiß geworden, wie der Morgen versprochen hatte; ein Spätsommer wider die deutsche Natur. Die Geschäfte waren schon eine Weile geschlossen, und der Ausflugsverkehr verstopfte die Straßen. In Richtung Tiergarten mussten selbst die Radfahrer in Pulks fahren und hatten Mühe, einander zu überholen.
Vor Sonntagfrüh würde er mit niemandem sprechen können und bis dahin auch nichts mehr zu essen bekommen, also hatte er zwei Tafeln Nuss-Schokolade eingesteckt und seinen Walkman, aus dem ihm die Beatles „A Hard Day’s Night“ entgegen schrien.
Kurz hinter der blassbeigen Philharmonie nahm er die breite Schneise der Bellevueallee, deren gute Aussicht auf das Schloss natürlich schon lange verbaut worden war, umrundete die Siegessäule und entschloss sich, nachdem er den Blattgold-Engel in seinen Rücken gebracht hatte, zu einem kleinen Umweg durch die rasend veraltete Moderne des Hansaviertels. Unendlich viel Zeit hatte er noch totzuschlagen. Seine Wochenendfahrt ins neue Leben musste gemächlich weitergehen, ohne jeden Gedanken daran, was vor ihm lag.
Harry Mann strampelte an den roten Backsteinbögen der S-Bahn entlang, über die Spree und am ehemaligen Sudhaus vorbei, das zu einer Art Gewerbehof umfunktioniert worden war. Die langgezogene Steigung dahinter, hinauf zur Putlitzbrücke, brachte ihn ziemlich ins Schwitzen. Er stieg ab und schob das Rad, was ihm mehr als gewünscht Gelegenheit gab, das vertraute und doch sehr befremdliche Architektur-Patchwork aus stucklosen Altbauten und schmucklosen, früh verfallenden Neubauten zu bewundern.
Hier, am Rande der City, fügten sich die letzten Reste der Prolo-Schultheiß-Eck-Kultur zu einer unheiligen Allianz von „Glühwürmchen 1“ und „Selevacik-Grill“, freudlos, grau und schmuddelig wie alles in Berlin; zu einem leicht slumartigen Wie-soll-man-leben-Vakuum, in das bald holzgetäfelte Bistros und hell gestylte Cafés stoßen würden. Tempel des Schneller Wohnen, Schneller Leben. Ambiente statt Milieu, begeistert begrüßt vom aufstrebenden Publikum. Zum Teufel mit den real existierenden Versatzstücken der stillstehenden Immer-noch-Nachkriegs-Zeit! Und her mit der Fernsehweh-Gegenwart, in der endlich kein Spiel nicht mehr ging!
„Mann“, dachte Mann und schüttelte sich, „du denkst dir einen Scheiß zusammen.“
Genaugenommen war es Peters Scheiß.
„Was wir erleben, ist die Abschaffung des Erlebens“, pflegte der immer zu klagen, damals, als sie alle noch zusammenwohnten und dagegen ankämpften, so zu werden, wie sie nun mal sollten.
„Gestern war’s noch schlimm“, hatte Anne eines Abends auf das Verlustgerede geantwortet, mit einem lauten Lachen, im „Slumberland“, kurz bevor sie plötzlich verschwunden war, „aber heute lacht man schon drüber.“
Harry Mann war oben auf der Brücke angekommen. In ihrer Mitte, dort, wo vor einem halben Jahrhundert eine längst abgerissene Treppe hinabführte auf die viel spurigen Gleisanlagen, hinab in die Waggons, in die Lager, in die Öfen, in der prallen Sonne, an Tagen wie diesem, lagen unter dem Denkmal mit dem Davidstern, von keiner Träne genässt, ein paar blasse Kränze und verdorrten.
Die Vergangenheit ..., dachte er, und wusste nicht, was er denken sollte. „Meine eigene jedenfalls“, sagte er dann leise und fast fröhlich vor sich hin, „die schaff’ ich heute ab. Futsch, verloren, dahin.“
Futsch wie der alte Pelikan, den Peter ihm vor einem Jahr zum siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, mit einer echten Goldfeder und „Harry Mann“ in Sütterlin eingraviert. Aber ihn immerhin würde er wiederfinden. Am Abend bei Kellings hatte er den Füller noch benutzt, und wie. Also lag er wahrscheinlich in Gals Gästezimmer, und wenn nicht, dann musste Mann ihn bei der Heimfahrt heute morgen in Peters Cabrio verloren haben, als er das Jackett, statt es aufzuhängen, wie üblich einfach auf den Rücksitz geschmissen hatte.
Er stieg wieder aufs Rad. Die harmlosen hohen Schornsteine am Hohenzollernkanal vor Augen, fünf dicke und zwei dünne, ließ er sich anstrengungslos hinunterrollen, zu auf das schöne neue grüne Schild mit gelbem Rand, auf dem „Wedding“ stand.
Erst nach einem Vierteljahr hatte Anne ihm damals eine Karte geschickt, aus Kreta. Heute wohnte sie, von Kopf bis Fuß Professorin auf Lebenszeit, im schnuckeligsten Zehlendorf, wo man, was die Verniedlichung des Berliner Miefs betraf, schon wesentlich weiter war als hier oben im schäbigen Norden.
Eine Viertelstunde später etwa, er war gerade vorbei am Volkspark Rehberge, wo das grüne Container-Klo zum Leidwesen seiner Blase ebenso besetzt gewesen war wie der Parkplatz, am Ende der Afrikanischen Straße also, senkte sich dann ein brüllender bauchiger Vogel über die farblosen Baukastenwürfel der Friedrich-Ebert-Siedlung, so tief, dass Harry Mann für einen sehr langen, sehr unangenehmen Augenblick in seine Schattenflügel eintauchte.
Voll unliebsamer, schlechter Erinnerungen, voller Lebensreste, von denen sie wenig wussten, steckte der Alltag, und so wollte keiner in diesem Land sich gerne erinnern. Ungewusst war die eigene Zeit und doch so wenig vergessen, wie er Kelling vergessen konnte, der morgen bereits ein weiteres Stück toter Vergangenheit sein würde.
Die Musik in Harry Manns Kopf stoppte. Er behielt die Hände am Lenker, lauschte dem Rauschen und wartete auf das Surren des Autoreverse. Er hatte diese Kassette schon Hunderte von Malen gespielt. Er wusste, womit die Rückseite begann.
„Yesterday ...“, säuselte es aus dem Walkman. Und mit der weichen Melodie kamen andere Erinnerungen, an andere, spätere Tage, die er hier verbracht hatte, fleischrote, feuchte Erinnerungen an die wenigen heißen Teenage-Sommer vor einem Vierteljahrhundert, als er vierzehn, fünfzehn war, an tonnenschwere Kofferradios mit piepsigen Lautsprechern und Mopeds, die glatt fünfundsechzig brachten, an Kühltaschen voll lauem Bier und an volumige Bikinis, in die man nachts auf irgendeiner einsamen Wiese ganz kurz die Finger rutschen lassen konnte.
Ohne Nachzudenken drehte er lauter. Das Lied hatte ihn mal zu Tränen gerührt, in jener vergangenen Zeit, als er noch an seine Zukunft glaubte. Jetzt fand er es lächerlich. So lächerlich wie dieses verfluchte Dorf vor Berlin! Ausgerechnet hier ging er jetzt hin und erledigte den Rest, seinen Teil, nur für sich selbst und diesmal endgültig.
Er trat schneller in die Pedale. Eine Ewigkeit war es her, dass er Fahrrad gefahren war, und er hatte das unangenehme Gefühl, Schwielen am Hintern zu bekommen. Alt und albern und am Anfang eines neuen Lebens fühlte er sich. Vor allem alt.
Aber alles schien ihm gut so, wie es war.
Die Straße vor Kellings Bungalow lag samstagnachmittäglich und menschenleer in der Sonne wie all die anderen kleinen Straßen auch. Mann fuhr direkt die Auffahrt hoch und auf dem schmalen Plattenweg um das Haus herum. Das Loch hatte er schon am Morgen in die Scheibe der Terrassentür geschlagen. Er drehte den Schlüssel, der von innen im Schloss steckte, und öffnete die Tür. Dann trug er das Fahrrad die Stufen hinauf, schob es durch den Wintergarten ins Esszimmer und lehnte es an die Wand bei der Vase mit dem Schachbrettmuster.
Die Luft in dem Raum, im ganzen Haus war stickig. Es roch nach Langeweile, nach tiefem Missmut, nach so vielen vergeblichen Versuchen, das gute Leben zu leben.
Kalter Schweiß lief Harry Mann plötzlich die Schläfen hinunter. Er lehnte sich gegen die Glaswand des Wintergartens, erschöpft und betäubt.
Erst als er an Gal und Kelling dachte, kam die Wut zurück, die er brauchte. Er stellte sich vor, wie die beiden hier gesoffen und gestritten hatten und sich nach Strich und Faden betrogen. Wie sie sich verbiesterten und gierig vergeudeten. Er hasste den Mann, und er liebte seine Frau. Gallathea. Eingefangen von ein bisschen Luxus. Wieder und wieder beschlafen von diesem einfallslosen Pflichtapostel, einem dieser Hauruck-Typen, dieser tumben Kriegs-Schufte und Nachkriegs-Schufter, die der allgemeine Personalmangel damals nach oben gespült hatte; ein körperliches und intellektuelles Leichtgewicht, dem es gelungen war, sich erfolgreich bis zur Pensionsgrenze durchzumogeln.
Jetzt aber hatte es ihn erwischt.
Rudolf Kelling lag auf den weißen Fliesen in der hintersten Ecke des kühlen Esszimmers. Gal hatte, bevor sie gegangen war, den gefesselten Körper aus der Abstellkammer dorthin geschleift und den Kachelboden gründlich gereinigt. Kellings Gesicht war blutig und geschwollen. Er zitterte und stammelte unverständlich hinter seinem Knebel.
Die Zeit des alten Mannes lief heute ab, und die Harry Manns begann. Mit einer Viertelmillion, die Gal ihm bot, brutto gleich netto. Ein neues Leben. Auf Kellings Kosten. Endlich eine Lebensversicherung, die ihrem Namen Ehre machte.
Mann wendete sich von dem Bündel am Boden ab. Einen Augenblick sah er hinaus in den Garten, wo der ovale Pool blau glänzte. Dann setzte er sich in einen der Bauhaus-Stühle und schob sich die Kopfhörer des Walkman über die Ohren. Der SFB brachte mal wieder Nachrichten. Bonn.
Mann schaltete die Kassette ein. Lennon/McCartney & Co. Er drückte den Autoreverse. „Hey, Joe“, der gute böse Hendrix. Auch schon lange begraben.
Gerne hätte Harry Mann es hinter sich gebracht, doch er musste warten. Kelling zappelte unermüdlich am Boden. Es schien so, als wollte er etwas sagen. Auf das Geseiere konnte Mann verzichten. Er sah sich um. Auf dem Tisch lag Schmuck und ein wenig Bargeld.
Unglaublich langsam wurde es Abend. Mann konnte sich nicht erinnern, jemals auf einen Sonnenuntergang gewartet zu haben. Es war eine Tortur, und es wäre das auch ohne das lebende Paket in seinem Rücken gewesen.
Gegen sieben klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter in der Halle schaltete sich ein. Mann lief hin und drehte laut: „Wir sind leider nicht zuhause...“, sagte die Stimme des Hausherrn vom Band. Der Anrufer legte auf.
Mann stand in der Halle auf dem grünen Velours, an der Stelle etwa, wo sein Opfer gelegen hatte, und betrachtete die geschnitzten afrikanischen Skulpturen. Sie interessierten ihn nicht sonderlich. Er sah die breite Treppe hinauf, die er heute morgen heruntergekommen war. Er dachte an das Kaufhausfell, auf dem er und Gal sich in der Nacht geliebt hatten. Und plötzlich fiel ihm ein, was er vergessen hatte.
Er lief hinauf in das Gästezimmer. Es war leer und aufgeräumt und frisch gesaugt. Gal hatte sorgfältig gearbeitet. Von seinem Füller keine Spur. Wenn er ihn hier verloren hatte, so musste sie ihn gefunden haben. Der Gedanke an ihre Gründlichkeit beruhigte ihn. Er ging wieder hinunter ins Erdgeschoß, durch die große Halle und in das Esszimmer, wo Kelling lag und stammelte.
Kurz vor neun schreckte Mann zusammen, als die automatische Einbruchssicherung nacheinander die elektrischen Jalousien im Parterre herunterließ und ein paar Lampen anschaltete.
Draußen fiel Schatten für Schatten die Dämmerung über die Bäume und verdunkelte die Freizeitlandschaft.
Gegen elf war es endlich Nacht genug.
Das stundenlange Warten hatte Mann die Wut geraubt. Es dauerte eine Weile, bis er sich überwand, aufzustehen. Er griff nach dem teakschwarzen Negerkopf mit den breiten Lippen, der wie verabredet auf dem Esstisch stand, und ging zu Kelling. Als der Alte ihn kommen hörte, setzte sein Stammeln und Zappeln wieder ein, wilder denn je.
Mann stand da und sah auf sein Opfer herab. Was sollte er sagen? Er holte aus. Die Augen am Boden waren so weit aufgerissen, dass sie zu bluten schienen. Es gab einen leisen, ekelhaften Knack.
Ein Hieb hatte genügt, um Kelling zu töten.
Mann ging zur Terrassentür und kurbelte die Jalousie ein Stück weit von Hand hoch, gerade genug, um hindurchschlüpfen zu können. Dann packte er die Leiche an den Beinen und schleifte sie durch den Wintergarten auf die Terrasse. Der Kopf zeichnete eine breite, rote Spur auf die weißen Kacheln.
Die Nacht war wolkig und fast lichtlos. Schon die bunten Plastikliegen um den Swimmingpool waren nicht mehr zu erkennen. Harry Mann stieß Kellings Körper Stufe für Stufe von der Terrasse hinunter in den Garten, zerrte ihn zum Pool und ließ ihn langsam in das Wasser gleiten. Es war zu dunkel, um zu sehen, wie die Oberfläche sich verfärbte.
Im Haus wischte er den Negerkopf sorgfältig ab. Als er das Papiertaschentuch automatisch in die Bodenvase mit dem Schachbrettmuster werfen wollte, fiel ihm Gals Schlüpfer ein. Sie hatte ihn dort vergessen. Er nahm ihn heraus. Das schwarze Etwas roch nach ihrem Parfüm, nach ihrem Schweiß. Er wickelte es in das blutige Papiertaschentuch und steckte das Knäuel ein. Dann setzte er sich wieder und wartete auf das Ende der Nacht. Sein Kopf war leer.
Von irgendwo hinter den Bäumen kam das erste Licht.
Als er, ganz Sonntagsausflügler, den dunklen Flachbungalow Am Rehwinkel Numero sieben durch den Gartenausgang zum See verließ, hatte der Pool einen schmutzigen Glanz. In den Satteltaschen des Fahrrads steckten das Geld und die Schmuckstücke, die Gal ihm bereitgelegt hatte. Und ein paar andere Kleinigkeiten, die ihm gefielen. Abgang war überall.
Gallathea besuchte ihre Eltern. Den Garten schützten hohe Hecken und Schilfmatten vor den Blicken der Nachbarn. Rudolf Kelling, das Opfer brutaler Einbrecher, würde man frühestens am Montag finden.
Auf dem langen Rückweg durch den leeren Sonntagmorgen versuchte er, über diese wichtigste Tat seines Lebens nachzudenken.
So sehr er sich auch anstrengte, er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Die Luft im Wald war kühl und frisch, der Tegeler See lag leer und blau und kalt und unbeweglich dar.
Was hatte er gespürt dabei, Gefühle irgendwelcher Art?
Nichts. Keine Gefühle. Und wenn, musste er sie fast schon vergessen haben.
Dies war ein Sonntagmorgen, wie er ihn fast zwei Jahrzehnte lang verschlafen hatte. Ein Sonntagmorgen aus seiner Kindheit, zu dem eigentlich ein Frühstück im Freien gehörte. Es war ein wunderbares Morgengrauen, an dem selbst die Vögel glücklich schrien.
Alles; das alles war ihm vertraut.
Immer wieder wunderte er sich nur über eins, über etwas, das er nicht verstand, eine unbekannte, fremde Leere: die Gleichgültigkeit, mit der er seinen ersten Menschen vom Leben zum Tode befördert hatte.