Читать книгу Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß - Страница 5

DIE DIREKTORIN

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Liebe Sonja!

du wirst erstaunt sein, von mir Post zu bekommen, habe ich doch alle Deine Briefe und Karten nicht beantwortet. Aber ich weiß, du bist nicht nachtragend. Vergessen habe ich dich nie, aber immer wieder weggeschoben, denn die Erinnerung war mir unbequem, sie erschien mir unpassend wie ein Kleid, das aus der Mode gekommen ist. Inzwischen trage ich lieber Männerhosen, sie vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Weißt du noch, wir trugen einmal die kürzesten Röcke, wir zeigten gern unsere Beine, und es war, als wollten wir den Beweis führen, dass wir die Grenzen unserer Kindheit überschritten hatten. Die Dozenten störten sich nicht daran. Erinnerst du dich noch an die Gruse? Sie gab Geschichte, wir nannten sie wegen ihrer Putzsucht nach so einem Scheuermittel "Meister Fleckenlos", also die Gruse fand uns wenig vorbildhaft als Studentinnen der Pädagogik. Lehrer, so sagte sie immer, sei kein Beruf, sondern eine Berufung.

Sonja, erst heute ist mir bewusst geworden, wie recht die Frau hatte, auch wenn sie ohne Lust und Liebe war und uns gern keimfrei den Schülern gegenüber gestellt hätte.

Was ich dir sagen will, entschuldige, dass ich so lange geschwiegen habe. Aber ich habe die vergangenen Jahre gebraucht, um zu begreifen, was da eigentlich passiert ist. Selbst heute kann ich es noch nicht ganz verstehen. Erinnerst dich noch? Eines Abends standen wir uns bei einer Montagsdemo gegenüber. Du unter den Demonstranten, die 'Wir sind das Volk!' riefen. Und ich unter denen, die euch fotografieren und auseinandertreiben sollten. Wir standen uns wie versteinert gegenüber. Jede hat wohl in der anderen die Verräterin gesehen. Dann haben wir einander ins Gesicht geschlagen, uns umarmt und sind voneinander weggerannt. Wir hatten geglaubt, dass wir uns alles sagten, und doch hatten wir Geheimnisse voreinander. Heute kann ich dir verzeihen, und ich hoffe, ja, ich wünsche mir, dass du mir verzeihen kannst.

Oh Himmel, wir werden alt, liebe Sonja. Wir sind jetzt Ende der Zwanzig, und mit achtzehn dachte ich, so alt wirst du nie. Wir haben Vergangenheit, Mädchen, wer hätte das einmal gedacht. Dabei ist alles nur ein paar Jahre her, rein rechnerisch, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.

Inzwischen ist viel passiert, Sonja, Weltbewegendes. Aber es hat mich nicht so sehr beunruhigt wie das, was mir jetzt passiert. Ich komme plötzlich mit allem nicht mehr zurecht. Und nur, weil eines Tages ein Junge aus meiner Schule auf dem Baum sitzt statt im Klassenzimmer, immer wieder, stundenlang. Es ist wie in den Märchen, wo man an einer Kreuzung ankommt, an der alle die Wegweiser stehen. Bisher gab es nur einen Weg für mich, keine Frage, eine Straße, schnurgerade, und die bin ich gegangen. Nun weiß ich nicht, wie weiter, und so sehe ich zurück, und was mir da alles einfällt. Wie war das doch? Und dieses? Und jenes?

Wir wohnten im Internat zu viert in diesem Zimmerchen. Gleich am Einzugstag bildeten wir zwei Parteien, die Kliemann und die Renft kannten sich von der Oberschule, sie klammerten sich aneinander, wobei ich überzeugt bin, dass sie einander nicht ausstehen konnten und bestimmt jeden Morgen schadenfroh die Pickel im Gesicht der anderen zählten. Wir nannten sie die heiligen Kühe, weil der Dekan sie bei jeder Versammlung als Zierde der Studentenschaft ausstellte und uns zur Anbetung solcher Leistungen auf die Knie zwingen wollte.

Ich weiß, ich bin ungerecht, aber ich muss es sein, mir ist danach, es hat etwas Befreiendes und schmeckt zuckersüß. Weißt du noch, weißt du noch? Ich schlief im unteren Bett und du im oberen, und wenn eine von uns großen Kummer oder große Freude hatte, schliefen wir zusammen in einem Bett, bei Freude im oberen, bei Kummer im unteren, oder war es umgekehrt? Weißt du noch, wie oft du dachtest, du wärst schwanger, du wolltest schnell Erfahrungen sammeln, damit du in dieser Männerwelt dich als Frau behaupten lernst. Du sagtest: Macht ist eine Frage des Unterleibs. Oh Himmel, Sonja, du glaubtest fest daran, Mädchen, bis zu deiner ersten Abtreibung.

Und ich redete viel von Hingabe, hoffte auf den einen Richtigen, hatte infantile Phantasien vom Märchenprinzen, trotz aller Emanzipationsideale. Und tatsächlich, eines Tages kam er, Redford in einem altersklapprigen Golf, der mir als vergoldete Luxuslimousine erschien, Jazzliebhaber, heimlicher Dichter und mit einer Schwäche für westlichen Luxus. Oh, war ich hin! Wer sich das vorstellen kann, ein halbes Jahr gab es mich nicht mehr. Von wegen Befreiung, hast du gesagt, totale Unterwerfung, völlige Selbstaufgabe wegen dieser bescheuerten Orgasmen, die einen vergessen machen, dass eins und eins zwei und zwei weniger eins immerhin noch eins ist. An mich solle ich endlich wieder denken, ich müsse bestimmen, wann, wo und wie ich Lust empfangen wolle, täglich hundertmal solle ich ICH! schreiben.

Nicht ein einziges Mal hab ich Ich! geschrieben, nicht einmal ich gedacht hab ich, oh Himmel, ich war handzahm geworden, aber begriffen habe ich nichts, bis es kam, wie es mit so einer Geschichte eben immer kommen muss. Peng! hast du gesagt. Aus der Traum. Redford hat eine andere, dafür hast du dich wieder. Das ist nur gerecht. Lernen wir daraus, sagen die Pädagogen.

Weißt du noch, weißt du noch? Was wir alles wollten, nie heiraten, jede drei Kinder haben, zwei Mädchen und einen Jungen, oder doch lieber zwei Jungen und ein Mädchen, uns nie vor der Wahrheit fürchten, uns für unsere Überzeugungen einsetzen, nie Fett ansetzen, in jeden Zirkus gehen, einander ohne Parfüm riechen können, unsern Schülern ein tragfähiges Rückgrat anerziehen und ihnen ein Mundwerk bilden helfen, durch das die eigene Meinung findet ...

Ja, es ist etwas passiert, Sonja, eben das mit diesem Jungen, der auf diesem Baum sitzt, und ich kann nichts mehr begreifen. Ich will dir erzählen, was da vor sich geht, aber vorher muss ich dir noch sagen, wie ich lebe, wer und wie ich bin, oder richtiger: wie ich lebte, wer und wie ich war. Denn ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll und wer und wie ich bin. Und das alles, stell dir vor, wegen dieses dummen Jungen auf diesem Baum!

Weißt du noch, wie wir gefeiert haben, als wir unser Diplom bekommen hatten? Wir fuhren noch zusammen in die Ferien, zelten an der Ostsee, dann mussten wir an unsere Schulen, du zurück ins Thüringische, und ich blieb in der Stadt.

Ich kam in eine Schule, die sich vor Altersschwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte und sich mit Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit ein eisernes Stützkorsett angelegt hatte. Im Schulhaus und den Klassenzimmern roch es nach Rheumamittel, Baldrian und Knoblauch. Obwohl der Putz von den Wänden bröckelte und die Nässe bis in die oberen Stockwerke gestiegen war, glänzten das rissige Linoleum und die Fensterscheiben, und nirgendwo lag auch nur ein Schnippselchen Papier herum. Die Schüler blieben mir eigenartig gesichtslos, ich hatte Mühe, mir ihre Namen zu merken, und oft kam es zu Verwechslungen. Im Lehrerkollegium wurde ich "mein Mädchen" genannt, die Alten streichelten mir über die Haare, sie kochten Kaffee für mich und steckten mir Süßigkeiten zu. Ich fühlte mich ihnen gegenüber verpflichtet und auch schuldig, als würde ich sie insgeheim betrügen. Überhaupt kam mir unser Lotterleben im Internat wie ein Betrugsversuch an unseren Eltern vor. Ich war plötzlich wieder das Kind meiner Eltern, die mir mit ihrer besorgten Frage "Wie geht's?" sagten: "So geht's."

Es geriet ja gerade die Welt aus den Fugen damals im Herbst neunundachtzig. Wendezeit. Ich rief dich an, jeden Tag; aber du warst nicht zu erreichen. Ich wollte dich fragen, ob du wüsstest, was da eigentlich los sei? Am Anfang stand ich am Straßenrand und sah zu, wie die nicht enden wollende Menschenschlange durch die Stadt zog, manchmal stumm, ein andermal schreiend. Es wurde erwartet, dass auf sie geschossen würde, und doch gingen sie Montag für Montag diesen gemeinsamen Weg. Ich war fasziniert wie von einem Abenteuer, das wie ein Film vor mir ablief. Schauer kitzelten meinen Rücken, und so ein Prickeln war im Bauch und ein schwacher Schmerz hinter der Stirn. Da holten sie uns zusammen, junge Genossen, und sie sagten uns, was wir zu tun hatten: den Weltfrieden retten. Weißt du, eigentlich bin ich nur mitgelaufen, so lange ich denken kann, eben auch damals an diesen Montagabenden. Ich habe bei den Demonstrationen blind in die Menge fotografiert. Und ich habe irgendwelche Namen weitergemeldet, Müllers und Krauses. Ich habe niemand anrempeln können, und so bin ich selbst umgestoßen worden. Keine Ahnung, warum ich mich so verhalten habe. Oder doch? Vielleicht war ich feige. Vielleicht mutig. Und dann stand ich dir gegenüber. Meiner besten Freundin. So nahe waren wir uns noch nie. Und vor allem so weit voneinander entfernt. Die eine sah in der anderen die Verräterin. Ich wusste nicht, hattest du oder hatte ich den Verrat begangen. Ich war völlig durcheinander, und ich spürte nur Wut, ja Hass. Wir hatten doch beide fest an den Kommunismus geglaubt, die einzig mögliche menschenwürdige Gesellschaftsform, wie man uns gelehrt hatte. Bei den Vorbeimärschen an den Tribünen hatten wir im Chor der Tausende "Hurra!" gerufen. "Es lebe die Sozialistische Einheitspartei, die führende Kraft der Arbeiterklasse!"

Ich sagte dir doch, ich bin wohl immer nur mitgelaufen. Ich habe die Hand festgehalten, die mich mitzog. Selbstmitleid? Nein, nein, ich habe es ja gebraucht, irgendwie, die Berührung, das Führen lassen. Es hat mir nur niemand beigebracht, wie man wieder loslässt.

Die Wende passierte, ohne dass sich in mir wirklich was änderte. Ich wartete täglich auf ein tiefes Erschrecken oder eine überwältigende Freude; aber in mir passierte nichts, Sonja, ich musste mich nicht ändern, umstellen oder anpassen - ich blieb unverändert, nur das verunsicherte mich.

Ich zog wieder zu meinen Eltern. Abends dann, im Kinderzimmer, in dem die Puppen auf dem Regal saßen wie seit Ewigkeiten und hämisch auf mich herabgrinsten, habe ich versucht, dir zu schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich dir sagen wollte. Deine Briefe habe ich verbrannt. Ich hatte nicht den Mut sie zu lesen. Vielleicht würdest du mir etwas sagen, dass mein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Ich wollte aber keine Fragen hören. Ich brauchte eine Antwort, für meine Schüler, für mich selbst.

Ich trainierte das Vergessen, das Abschalten, verstehst du? Alles ist Training, alles, sage ich dir. Man muss nur die richtigen Zauberformeln kennen und sie oft genug aufsagen. Gestern und morgen ist jetzt. Zum Beispiel das. Oder das: Du bist wie ein Fels in der Brandung. Alles prallt von dir ab. Und so weiter. Bald war mir alles wieder so klar und einfach wie in meiner Kindheit, ich musste eben nur brav sein. Das Gefühl, wieder gutmachen zu müssen, eine alte Schuld zu begleichen, wurzelte wieder fest in mir. Ich bekam viel Lob, von meinen Eltern, von den Kollegen, ich wurde zu Lehrgängen geschickt, es hieß "Unsere Kleine macht sich", und ich fühlte mich gut, wirklich nicht schlecht, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich viel gelächelt, aber nie gelacht habe.

"Du bist gereift", sagte Vater und legte mir seine magere Hand auf die Schulter. Bestimmt zitterte ich und nicht er, und ich dachte: Ja, er hat recht, ich bin alt geworden. Und stell dir vor, ich war froh darüber, denn so war ich den Alten, die mich mochten und mir Sicherheit signalisierten, näher.

Eins kam zum anderen. Du, ich weiß, wovon ich rede, ich habe es erlebt, wie so etwas geht. Ich lernte einen Mann kennen auf meinem morgendlichen Weg zur Straßenbahn. Wir wären aneinander vorbeigegangen, wie bestimmt schon oft, wenn ich nicht gestolpert wäre und er mich nicht am Oberarm festgehalten hätte. Zufall oder Notwendigkeit, da war sie wieder, eine Hand, die mich hielt. Er hat den gleichen Vornamen wie Redford, Robert also, einssechsundachtzig, schlank, sportlich, Akademiker, mit Sinn für alles Schöne, ich weiß, das klingt wie aus einer Heiratsannonce. Nach drei Wochen waren wir verheiratet. Es geht uns gut, zum Glück, Robert konnte in seinem Betrieb bleiben, er hat sogar eine Leitungsposition übernommen. Das Geld reicht für Miete, Urlaub unter der Sonne, Ausgehen und was man sonst noch so braucht. Nein, Kinder haben wir keine, noch nicht, im Moment passen sie nicht in unser Leben. Ich weiß nicht. Ich weiß so vieles, was ich einmal sicher wusste, nicht mehr.

Es ist etwas passiert, Sonja, ich erzähle es dir sofort, ich will nur, dass du alles weißt, denn wem sonst soll ich es sagen, ich lebe in einer Welt voller Bekannter, du aber bist meine Freundin. Bist du es noch? Ich wünsche es mir so sehr.

Also die alte Schule wurde weggerissen und auf ihren Platz eine neue gebaut, fast über Nacht, wie im Märchen. Nur ein mächtiger alter Baum ist übrig geblieben, er steht mitten auf dem Schulhof, eine Kastanie, ich hatte ihn nie beachtet. Weißt du, es lief eben, man machte mich zur Direktorin der neuen Schule, Sonja, mich, stell dir vor. Wohl weil sie gerade niemand anders fanden, der bei gleicher Qualifikation politisch unbelastet war. Man fand ja jetzt im Osten fast bei jedem irgendwelche Leichen im Keller. Und wo keine waren, da trug man sie hinein. Aber ich war ja auch in der Partei gewesen und hatte mich Kommunistin genannt. Vielleicht brauchten sie mich als Beweis ihrer demokratischen Toleranz gegenüber der gestürzten sozialistischen Diktatur.

Ich wollte mich hineinknien, Sonja, ich wollte bestätigen, dass mir zu Recht vertraut wurde - aber da passierte etwas, das mir weder in die alte noch in die neue Schule zu passen scheint, eher in unsere Studienzeit, Sonja, dort gehört es vielleicht hin, ich erinnere mich nicht, dafür bist du zuständig.

Was ich erzählen will: Mein erster Tag in der neuen Schule, ich hatte die Nacht kein Auge zubekommen und stand schon kurz nach Sonnenaufgang auf dem Schulhof mit klopfenden Herzen und feuchten Handflächen. Ich versuchte durchzuatmen und sagte mir immer wieder: "Das schaffst du schon." Ich schaute zum Himmel auf, ob neuerdings nicht doch ein Täuberich mir freundlich zublinzelte. Aber der Himmel blieb leer, ein schmutziges Taubenblau, als hätte jemand, der längst weitergezogen war, eine alte Decke ausgebreitet, auf der Essenkrümel und Papierreste herumlagen. Es würde wieder ein schwüler Tag werden, schon jetzt war die Luft schwer zu atmen. Nichts Hilfreiches zu erkennen, ich würde mich also auf der Erde zurecht finden müssen - da bewegt es sich im Wipfel des Baumes, schaukelnd, als hätte soeben ein großer Vogel darin aufgesetzt. Bald aber kam Ruhe in die Baumkrone, ich glaubte schon, mich getäuscht zu haben, als das Auf und Ab der Zweige und Blätter erneut einsetzte und ich ein paar weiße Turnschuhe, nackte Beine, einen schwarzen Pulli und schließlich den Kopf eines Jungen entdeckte.

Da saß also ein Junge im Baum, was weiß ich, wie viel Meter über der Erde, hoch genug, um sich etliche Knochen, wenn nicht gar den Hals zu brechen.

Ich erschrak, zugegeben, weniger wegen dem, was dem Jungen passieren konnte, vielmehr, was mit mir geschehen würde, wenn er nicht heil von da oben herunterfände. So eine Situation war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte darüber nie etwas gehört und gelesen, was sollte ich tun? Der Junge musste vom Baum, bevor Lehrer und Schüler kamen.

"Du", sagte ich, "du da oben." Ich sprach wie zu einem Schlafwandler, den man nicht wecken darf, wenn er auf den Dächern spazieren geht.

Aber da oben regte sich nichts. "Hallo", sagte ich etwas lauter. "Hörst du mich?"

Ich bekam keine Antwort, die Zweige und Blätter im Wipfel zitterten nur kurz. Der Straßenlärm wurde lauter, durch eine Häuserschlucht blendete mich das Sonnenlicht, ich fühlte, wie ich meine frische Bluse verschwitzte, ich verspürte das Bedürfnis zu weinen, jemandem um den Hals zu fallen, meinen Kopf an seine Brust zu lehnen, drauflos zu heulen.

"Bitte", sage ich. "Du, ich sehe dich doch da oben. Komm herunter, und langsam, und sieh nicht nach unten, du brauchst keine Angst zu haben."

Und ich stellte mich unter den Baum und breitete tatsächlich das Ende meiner Bluse aus, als könnte ich den Jungen darin auffangen. Zugleich war mir bewusst, dass der Junge auf dem Baum bleiben würde, er wollte oder konnte mich nicht hören, da kam etwas auf mich zu, von dem ich keine Ahnung hatte. Auf alles war ich vorbereitet worden, sogar auf den Abwurf einer Atombombe, nur eben nicht darauf, dass ein Junge im Schulhof auf einem Baum sitzt.

Liebe Sonja, weißt du noch, was Grützner uns lehrte als oberstes Gebot für einen Lehrer: "Niemals die Fassung verlieren." Wir sollten uns das vorstellen wie bei einer Glühlampe, käme die aus der Fassung, sei es ringsum zappenduster. Wir nannten ihn "Rotlicht", weil er jede Rede mit "Die Partei meint ..." begann und ein bedingungsloser Dogmatiker war, aber auch wegen seiner Vergleiche aus der Elektrotechnik, denn er liebte es wohl mehr, sich in komplizierte Schaltungen zu vertiefen als uns in Psychologie zu unterrichten.

Du, ich bin außer Fassung, und das Unglaubliche ist eingetreten, ich stehe nicht im Dunkeln, ganz im Gegenteil, ich sehe mehr Licht als je zuvor, verschiedene Strahlen sozusagen, die von hier und da aufblitzen, dass es mich dreht, bis mir schwindlig wird. Ich sehe Sterne, Sonja, am helllichten Tag, es ist verrückt. Aber lass dir erzählen, was weiter passierte, ich befürchte ohnehin schon, dass ich mich dir nicht verständlich machen kann, denn ich begreife mich selber nicht.

Der Junge kam nicht vom Baum herunter, Lehrer und Schüler standen inzwischen auf dem Schulhof und schauten nach oben. Ich sah sie innerlich grinsen in dieser Art Schadenfreude, die ich von mir selbst kenne, wenn ich beobachte, wie einer, der es allzu eilig hat, über seine eigenen Füße stolpert. Ich wusste genau, was sie dachten: Mal sehen, wie die Kleine damit fertig wird. Ich glaube, ich habe geschrien, zum ersten Mal in meinem Leben.

"Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"

So hilflos, so allein, so verlacht habe ich mich selten gefühlt, es war wie in einem Traum, wenn man plötzlich nackt vor all den Leuten steht.

Ich lief in mein Zimmer und suchte die Telefonnummer von Roberts Betrieb heraus, wählte sie, sagte meinen Namen und dass ich meinen Mann sprechen möchte. Als ich seine Stimme hörte, selbstbewusst und klar - "Hier Wendisch" -, legte ich den Hörer auf. Von der alten Schule aus hatte ich ihn nie angerufen, mir wäre nicht der Gedanke gekommen, ihn zu stören. Er arbeitet als Ingenieur im Fernmeldeamt, und seit wir uns kennen, meint er, er stünde kurz davor, mit einem Verstärkersystem den Weltmarkt zu erobern. Er sagt, wir hätten beide wichtige Aufgaben zu erfüllen, wobei wir uns nicht stören sollten, am Abend dann könnten wir über alles reden.

Ich erkundigte mich nach dem Jungen auf dem Baum, er heißt Hans Schorn, ist vierzehn Jahre alt, geht in die achte Klasse, hat einen Zensurendurchschnitt von zweikommaacht und ist bisher in keiner Weise auffällig geworden. Oh Himmel, Sonja, das klingt wie ein Polizeibericht, aber mehr wissen wir oft nicht voneinander, und nun weiß ich, dass das nicht reicht. Erinnerst du Dich noch an Frau Palluschke, diese Riesendame mit dem Milchkuhbusen, tortensüchtig und asthmatisch, sie unterrichtete in Vertretung Philosophie, wir nannten sie "Kügelchen" und erledigten in ihrem Unterricht die Hausaufgaben für andere Fächer. Also Kügelchen - jetzt fällt mir so manches wieder ein -, sie sagte einmal in der Pause: "Es ist unmöglich, sich wissend zu machen, wenn es einem an Glauben fehlt."

Sonja, du, ich habe Angst, dass es mir an Glauben fehlt und dass ich darum nicht ein noch aus weiß. Ich denke, man hat uns eine Menge gelehrt, nur nicht, wie man daran glauben kann, davon war nie die Rede. Aber die Geschichte von dem Jungen auf dem Baum verlangt Glauben, das Wissen darum lässt mich allein.

Also ich wusste, dass der Junge Hans Schorn heißt. Sein Klassenlehrer ist Herr Hausmann, ich kenne ihn von der alten Schule her, dort gehörte er zu den lieben Alten, die mich "mein Mädchen" nannten. In der neuen Schule ist er inzwischen ein anderer geworden; aber ich kann mir kein Bild von ihm machen, es ist so, als ließe er das nicht zu. Hausmann steht kurz vor der Pensionierung, er ist der Einzige von den Alten in der neuen Schule, und mir war anfangs so, als hätten sie ihn mir als Vaterfigur mitgegeben, damit ich jederzeit weiß, woran ich bin.

Als der Junge auch in den nächsten Tagen auf den Baum kletterte und Minuten bis Stunden auf ihm verbrachte, ließ ich mir den alten Hausmann in mein Zimmer kommen.

Ich hatte mich geschminkt und zurechtgesetzt, ich hielt den Kugelschreiber in der Hand, und ein Blatt Papier lag vor mir auf dem Schreibtisch. Ja, ich war aufgeregt, wie sollte ich reagieren, wenn er "mein Mädchen" zu mir sagen würde. Aber es kam anders, ich bekam Wut, ja Hass auf ihn, wie er so vor mir stand. Du musst dir einen Riesen vorstellen mit Gicht und Rheuma, was weiß ich, im grauen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Binder, alles zerknittert, die Hände auf dem Rücken, den schweren Kopf gesenkt und so ein Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Er erinnerte mich an meinen Vater und all die Männer, die seine Rolle übernommen haben, die sich mir immer stark zeigten und scheinbar das Richtige zu sagen wussten. Nur, dieser Hausmann zeigte mir noch eine andere Seite von sich, die mir bisher verborgen geblieben war, eine schwache Seite, gebrechlich und müde. Vielleicht war er nur ehrlich, aber gerade das verzieh ich ihm nicht, denn so sehr ich manchmal unter der Allwissenheit und Unangreifbarkeit meines Vaters gelitten habe, unsicher, vielleicht gar schwach wollte ich ihn nicht sehen.

Ich ließ Hausmann stehen wie einen Schuljungen, der Autorität zu spüren bekommen muss. Ich warf ihm vor, dass Hans Schorn, der mit seinem disziplinlosen Verhalten die Schule in Verruf bringen würde, sein Schüler sei, und ich fragte ihn, wie lange er sich den Vorgang noch mit ansehen wolle. "Bringen Sie das schnellstens in Ordnung!" sagte ich ihm. Er ging aus meinem Zimmer ohne Gegenwehr, ich schämte mich, begriff nicht warum, und wusste, dass die neue Schule nicht einfach nur ein neuer Anfang war. Ich trat an das Fenster und sah auf den Schulhof, der Baum zeigte das einzige Grün weit und breit, der Junge saß nicht darin, es war Hofpause, ich wünschte mich in eine Gruppe Mädchen der achten Klasse, die in einem Kreis zusammenstanden.

Ach, Sonja, es ist gut, dass es dich gibt, dass ich weiß, du wirst diese Zeilen lesen. Weißt du noch, weißt du noch? Ich befinde mich wie in einem Zug, der mich fährt, irgendwohin, und ich erinnere mich einer Traumhaltestelle, wo der Sommer so lang war, so warm und so bunt, dass ich glaubte, er muss ewig dauern. Mir fällt auf, dass ich beim Schreiben lange Sätze bilde, ich fürchte mich, einen Punkt zu setzen, bevor ich begreife, was an meiner Schule passiert.

Ich bin ja so klug, Sonja, dass es mir oft weh tut. Ich weiß vielleicht manches, habe aber wenig begriffen. Der Körper, nun ja, der ist so weit in Ordnung, der Geist, er arbeitet einigermaßen - aber die Seele, Sonja, mit der Seele hatten wir doch nie etwas zu tun. Dachten wir. Auch jetzt ist das so. Aber sie ist da, dieses unsichtbare Fädchen zieht wie die Spinne ein Netz um uns und lässt uns zappeln.

Jeden Tag geschieht so viel Schlimmes, und ich bedaure es pflichtgemäß, aber es tut mir nicht wirklich leid. Wenn ich lachen muss, so sagt mir das mein Denken, verstehst du, es überrascht mich nicht. Und Robert, mein Mann - ob ich ihn liebe? Was ist das eigentlich - Liebe? Wenn ich dich das frage, schäme ich mich. Es ist, als würde ich mir damit selbst alle Rechte zum Leben entziehen. Warum nur kann ich an nichts glauben? Warum nur?

Denkst du manchmal noch an Doktor Schindler, der ein Semester lang unser Schwarm war, groß, schlank, dunkelhaarig, traurige braune Augen und schmale weiße Hände? Er trug maßgeschneiderte Anzüge und kam auf einem uralten klapprigen Fahrrad in die Hochschule. Sein Spitzname war Sensibelchen, aber wir nannten ihn Felix Krull, er unterrichtete Deutsch und Literatur und mühte sich, uns Ahnungslosen die Werke von Thomas Mann nahezubringen. Vom Zauberberg und den Buddenbroocks weiß ich nicht mehr viel, aber ich mag noch immer Schachtelsätze, die den Leser nicht aus der Geschichte lassen. Also wenn ich mich richtig erinnere, hat Doktor Schindler einmal sinngemäß gesagt: Du musst Läufer sein. Das ist Bestimmung. Entweder du läufst in eine Gruppe hinein und löst dich in ihr auf, oder aber du rennst ihr davon und sitzt in dir selbst gefangen. In beiden Fällen kann dir keiner zu nahe kommen.

Ich glaube, der Mann war sehr allein, damals konnte ich mir das nicht vorstellen, heute aber doch, denn ich bin mitten in der Gruppe, zum Alleinlaufen und Davonrennen habe ich nie Lust verspürt oder den Mut aufgebracht.

Zugegeben, ich lenke von meiner Geschichte oder von dem, was ich dir erzählen will, ab, ich komme dir mit Erinnerungen, Sprüchen und Bildern.

Also weiter, weiter. Der Junge, Hans Schorn, kletterte plötzlich nicht mehr auf die Kastanie, er war zwischen den Jungen und Mädchen verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Also hatte Hausmann ihn sich vorgenommen, und der Erfolg gab mir recht. Aus und vorbei die Angelegenheit, dachte ich, und atmete tief durch, mir war, als hätte mir eine Gefahr gedroht, der ich gerade noch einmal entkommen war. Der Junge auf dem Baum, verrückt, ich wollte schnell vergessen und stürzte mich in die Arbeit, die mir kaum eine Pause gönnte, was mir ganz recht war. An den Abenden überredete ich Robert zu Kinobesuchen, so oft kamen wir sonst das ganze Jahr nicht von zu Hause weg. Anschließend gingen wir Essen oder bummelten durch die Innenstadt, bis ich dann nur noch schlafen wollte. Zum Wochenende setzten wir uns ins Auto und fuhren über vierhundert Kilometer bis zur Ostsee, sahen von der Warnemünder Mole auf die See, die wie ein Dorfteich vor uns lag, verbrachten die Nacht in einem Strandkorb oder im Auto, und am nächsten Tag rasten wir auf der Autobahn zurück. Und doch war es schön, ich kann nicht sagen warum, vielleicht weil nichts geplant war.

"Was ist los mit dir?", fragte mich Robert schließlich, er hatte sich meinen Wünschen widerspruchslos gefügt, aber ich spürte, er war beunruhigt und misstrauisch, so kannte er mich nicht.

"Was soll sein?", fragte ich zurück. "Nichts ist. Danke".

"Ist schon gut", sagte er, und diesmal war ich froh, dass er nicht mehr von mir wissen wollte.

Bei Hausmann bedankte ich mich, wir grüßten uns freundlich aus der Entfernung, als würden wir ein Geheimnis miteinander teilen, an dem besser nicht zu rühren ist. Ich wollte schnell vergessen, und was war denn schon passiert, ein Junge hatte auf einem Baum gesessen, na und, das kommt alle Tage vor, ich hatte nur etwas nervös reagiert, kein Wunder, es war mein erster Schultag als Direktorin gewesen.

Vergessen, den Vorgang abhaken mit einem roten Bleistiftstrich, konnte ich nicht. Du, ich bin es nicht gewöhnt, mir selbst Fragen zu stellen, das hat mir niemand beigebracht, zum Beispiel die Frage: Warum beunruhigt dich der Junge auf dem Baum? Etwas in mir war wach geworden, ich nenne es ‚drittes Auge‘, und ich kann es einfach nicht wieder schließen, es macht mich unruhig und krank.

Mit diesem dritten Auge sah ich den alten Hausmann, in dem etwas vorging, das auch mich betraf. Der Alte, den ich müde und Aufregungen scheuend kannte, machte den Eindruck, als fühle er sich von irgendetwas bedrängt und manchmal gar gehetzt. Ich sagte mir, dass ihm die Schwüle zu schaffen mache, das Alter, Kreislaufprobleme, und wie ich erfuhr, der noch nicht lange zurückliegende Verlust seiner Frau. Er ist ein Gartennarr, soll sich auf Rosenzucht spezialisiert haben, ein Einsiedler vielleicht, der seine Einsiedelei nicht erträgt. Eines Abends bin ich durch den Gartenverein ‚Zur Erholung‘ gegangen, sagen wir, ich bin an den Zäunen entlang geschlichen, ich wollte mich überzeugen, dass ich mich täusche, dass es Hausmann gut geht, ich wollte sehen, wie er Rosen schneidet, sie gießt, und wie er vor seiner Laube sitzt, ein Bier trinkt und in den Himmel sieht, was für Wetter wird. Aber er war nicht in seinem Garten, ich entdeckte nur überall Spuren seiner großen und klobigen Schuhe. Der Garten sah unordentlich aus, den Bäumen und Blumen fehlte Wasser, Tomaten vertrockneten auf der Erde, ein Korbstuhl war umgekippt, das Fenster der Laube war blind.

Ich musste endgültig einen Schlussstrich ziehen, meinem dritten Auge verbieten, sich umzusehen, denn was es sah, forderte den nächsten Blick heraus und so weiter, es kam kein Bild zustande, das ich fertig abheften konnte. Das dritte Auge riss ein Loch nach dem anderen auf, und bald würde ich vor einem Abgrund stehen, wenn ich nicht aufpasste. Ich suchte nach Haltepunkten und Griffen, nach festen Größen, an denen nicht zu rütteln war, aber alles zeigte sich mir wacklig, nur der alte Baum auf dem Schulhof stand fest. Kannst du dir vorstellen, dass ich sogar auf den Gedanken kam, ihn fällen zu lassen? Aber die Kastanie war gesund, stark und fest, sie stand wie ein Bollwerk aus längst vergangener Zeit, das auch mich überdauern würde, und jeden Morgen aufs Neue ließ sie mich klein und zerbrechlich fühlen.

Mir fiel Kastunke ein, der zu unserer Zeit Hausmeister an der Hochschule war und das ewige Leben zu haben schien, und nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen, er rauchte Zigarren und spuckte alle paar Schritte aus, trug im Kohlenkeller wie in der Aula zu Feierstunden seine speckige Pudelmütze, und er erzählte den Studenten gern vom Krieg, wo es gerecht zugegangen sei und Ordnung geherrscht habe, er sagte, damals hätten wir unsere Schlampigkeit mit dem Leben bezahlen müssen. Dozenten und Studenten sahen in ihm ein Fossil, man entschuldigte ihm alles, er wurde ja gebraucht, uns den Dreck nachzuräumen. In Prüfungszeiten saßen wir gern im Heizungskeller, tranken Bohnenkaffee, rauchten und sahen Kastunke bei irgendeiner Arbeit zu, wie er einen Stuhl leimte oder einer Tischlampe das Kabel auswechselte. Ich mochte den Alten nicht, ich fand ihn ungewaschen, er roch, seine Sachen waren alt und schmutzig, auf seinem Tisch standen trotz des Kohlendrecks Fotografien, gerahmt, hinter sauberem Glas, vergilbt zwar, aber noch gut erkenntlich; sie zeigten Gruppenbilder von lachenden jungen Soldaten und immer wieder einen uniformierten jungen Mann, der eine junge Frau im Arm hält, er kerzengerade, den Blick sieghaft in die Ferne gerichtet, sie an ihn gelehnt und zu ihm aufschauend wie zum lieben Gott. Für mich war Kastunke ein Faschist, nicht aus der Welt zu bringen, und ich schob ihm alle Schuld an den Verbrechen des Krieges zu. Aber in diesen Stunden im Keller, in meiner Prüfungsangst, gab der Alte mir das Gefühl von Geborgenheit. Ich wehrte mich dagegen, aber nur schwach und um mein Gewissen zu beruhigen. Schnell gab ich der angenehmen Wärme nach, ließ mich gefangen nehmen von dem engen niedrigen Raum, vom leisen Zischen im Gewirr der Rohre, dem dämmrigen Licht und dem Alten selbst, wie er so dasaß, im blauen Kittel, eine Zigarre paffend, schniefend, die Brille auf die Stirn geschoben, mit Zange und Schraubenzieher an irgendeinem elektrischen Teil bastelnd.

Was will ich eigentlich damit sagen, was hat das mit dem alten Hausmann und Hans Schorn zu tun? Plötzlich erinnere ich mich und ich finde Bilder und Worte wieder, die mich verwirren. Sie sind alle wieder da, meine Lehrer, der Grützner, die Palluschke, die Gruse, der Schindler und der Kastunke, und wer weiß, wer da noch auftaucht mit seinen Sprüchen und Eigenheiten, was fange ich mit ihnen an? Und was eigentlich beunruhigt mich? Was steckt dahinter? Wie kann ein Junge auf einem Baum mich so aus der Bahn werfen? In meinem ganzen Leben war ich nicht so durcheinander.

Ich fühlte, mein drittes Auge bemerkte es, da war etwas in mich gekommen und arbeitete, wie ein Tier nagte es, fraß, spuckte aus, ruhte und bewegte sich, griff an und riss aus, und, ich täusche mich nicht, es lachte, ja, es lacht noch immer.

Ich wusste, die Sache ist nicht ausgestanden, sie geht weiter, da passiert noch mehr, was?

Da sitzt doch der Junge wieder auf dem Baum, Hans Schorn auf der alten Kastanie, mitten auf dem Hof der neuen Schule, vor aller Welt Augen.

Mir war, als hätte ich das selbst herbeigerufen, wie unter einem fremden Zwang.

Wieder fühlte ich mich allein, hilflos und verlacht, wieder schreie ich: "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"

Der Junge da oben rührt sich nicht, er ist weit weg, er hat keine Verbindung mit mir, ich kann ihn nicht erreichen, der Baum trägt und schützt ihn. Und dann wippt der Junge im Wipfel, ein sanftes Auf und Ab, ein Schaukeln, ein Wiegen, wie Musik, ruhig, gleitend, über den Schulhof hinweg in die Ferne ziehend.

"Aber dann...!", rufe ich, der Schulhof ist eng, er umklammert mich, dahinter die Stadt, Häuser, Straßen, Steine, überall Steine.

"Wenn du jetzt nicht sofort ..."!

Mir kommen die Tränen, was weiß ich warum. Nur weg, ich renne, vorbei an Hausmann, dem ich etwas zurufe, dann bin ich in meinem Zimmer und lasse mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen.

Du wirst verrückt, sagte ich mir, du bist verrückt, so geht das nicht weiter, was ist los mit dir, willst du aufgeben, aber warum und was dann. "Härte", sagte der Dekan in all seinen Reden vor versammelter Mannschaft, "Unnachgiebigkeit gegen uns selbst. Von unseren Gefühlen her sind wir Tiere. An unserem Verstand ist es, uns als Menschen zu erweisen durch ein kluges, der Gemeinschaft nützliches Ordnen und Beherrschen unserer Gefühle."

Es klopfte an meine Tür, wie lange schon, ich rief: "Moment noch!", rieb mit dem Handtuch über mein Gesicht und setzte mich hinter den Schreibtisch.

"Bitte!"

Der alte Hausmann trat ein, sein Gesicht gerötet, seine Haare in Unordnung, den Binder aufgezogen, die obersten Hemdknöpfe geöffnet, und sein Gesicht zeigte das Lachen, das ich in mir gehört hatte, das Lachen eines Kindes, das etwas Verbotenes tun wird und dem weder mit Lob noch Drohung beizukommen ist.

Härte, Unnachgiebigkeit, denke ich, Beherrschen der Gefühle, und drücke meine Empörung aus, kanzle ab, wehre mich nicht gegen das Tier in mir, nicht gegen sein Schmeicheln und nicht gegen seine Bisse.

"Das muss aufhören, Kollege Hausmann, ein für alle Mal! Verstehen wir uns recht!"

Da sagt doch der Alte, das musst du dir vorstellen, Sonja, da sagte er: "Tja. Vielleicht sollten wir den Baum fällen."

Und wieder lacht er aus seinem Bauch heraus und hält sich wie ein Schuljunge die welke Hand vor den Mund.

Und was mache ich, ich biete ihm Platz an, er setzt sich leise stöhnend. Und mir rutscht doch die Frage, gegen die ich mich gewehrt habe, heraus: "Warum steigt der Junge auf den Baum? Was will er denn da oben?"

Hausmann antwortet nicht. Ich spüre seine Unruhe, sie erreicht mich wie eine warme Welle, die mich entspannt, ich werde mir meines Alters bewusst, ich bin noch jung, und ich habe den Geschmack von Himbeereis auf der Zunge, mir ist, als dringe Seewind durch das geschlossene Fenster.

Der alte Mann sitzt keine zwei Meter von mir entfernt, zwischen uns ist der Schreibtisch, und in diesem Augenblick fühle ich mich dem Alten verwandt wie noch nie einem Menschen, ich möchte ihn berühren, ich strecke einen Arm aus, reiche ihm meine Hand, und er gibt mir seine Hand.

Hinter dem Fenster steht der Baum, und der Junge sitzt darauf.

"Verrückt soll doch nur heißen: Schön", sagt der alte Hausmann. "Lebendig. Sie verstehen doch?"

"Aber", sage ich, und immer wieder "Aber", es wird immer lauter und kraftvoller, es wirft mich nieder und richtet mich wieder auf, ich werde hart, ziehe meine Hand zurück, vor mir, weit weg steht der alte Hausmann und spricht beruhigend auf mich ein; dann bin ich allein und schreie aus dem Fenster: "Wenn du nicht sofort...!"

Vor meinem Zimmer war Lärm, die Tür wurde aufgerissen, zwei Mädchen aus einer unteren Klasse kamen hereingerannt, sie hielten sich an den Haaren gepackt und plapperten los, dann aber sahen sie mich an, ließen voneinander ab und wollten platzen vor Lachen. Im Taschenspiegel sah ich ein Clownsgesicht, die Schminke war verwischt, die Haare züngelten wie kleine Flammen vom Kopf ab, und als ich lachte, endlich lachte, schauten die beiden mich böse an und rannten nach draußen.

Verrückt ein Synonym für schön, ich habe es nicht gewusst.

Hast du etwa Professor Hocke vergessen, Vaterunser, erinnere Dich, wir nannten ihn auch Stellvertreter, weil er in allen möglichen Funktionen der zweite Mann war, also Hocke sprach mit salbungsvoller Stimme zu uns, er liebte es, seine Gedanken in Bilder zu bringen, und ich bin sicher, dass er liebend gern Pfarrer gewesen wäre und Sonntagspredigten gehalten hätte. Er selbst nannte sich gern einen Logiker. Beim Durchblättern meiner Hefter habe ich ein paar Tipps von ihm gefunden, die er gern vergab, wobei er einen streng anschaute, ob die von ihm verabreichte Medizin auch eingenommen wurde und vielleicht schon zu wirken begann. Hocke sagte: "Lasst kein Schön zu, es ist der verlockende Sprung von der Straße in eine blühende Wiese, die aber von einem Sumpf getragen wird. Das Schöne taugt nicht für die Pädagogik. Bleibt auf der Straße, die vor euch schon so viele Lehrer gegangen sind. Und haltet euch an ihre Verkehrsregeln."

Sonja, ich muss Dich sehen, und wenn es nur für einen Augenblick ist, für einen Blick in Deine Augen. Früher habe ich den Leuten auf die Gesichter gesehen, jetzt blicke ich ihnen in die Augen, ich suche - weiß nicht was.

Der Schulrat hatte sich angesagt, ich kenne ihn von Besprechungen. Palm wohnt in Hannover, er kann nur an den Wochenenden bei seiner Familie sein, aber er nimmt alle Unbequemlichkeiten auf sich, weil er den "Aufschwung des Ostens" als persönliche Herausforderung sieht. Der Mann ist knapp fünfzig und herzleidend, und ich überlege, ob er einen eigenen Neuanfang will, oder ob er sich verlorene Jugend zurückholen möchte. Er ist ein kleiner quirliger Mann mit wohlklingender Bassstimme, die etwas Suggestives hat. Zu jüngeren Frauen ist er freundlich und hilfsbereit, die Männer erkennen an, dass er vor schwierigen Situationen nicht ausweicht, und allgemein wird bestätigt, dass er sich nicht nur gern reden hört, sondern auch zuhören kann. Er entscheidet schnell, man könnte meinen, ohne zu überlegen, auch mich hat er völlig überraschend zur Direktorin vorgeschlagen, wobei seine Vorschläge fast immer schon Beschlüsse sind, denn es widerspricht ihm keiner.

Was würde Palm sagen, was würde er tun, wenn er den Jungen auf dem Baum entdeckte? Sonja, es ist nicht so, dass ich für mein Leben an der Direktorenstelle hängen würde, aber die Arbeit könnte mir Freude bereiten, es ist die Verantwortung, die mich reizt, vor allem aber ist es wohl, dass ich endlich aus meinem Mädchendasein herauswachsen will.

Was soll ich tun? Schön oder aber? Abwarten, die Dinge auf mich zukommen lassen, meine Verantwortlichkeit abschieben, verreisen, krank werden, einen Lehrgang besuchen? Ich erzählte Robert von dem Jungen auf dem Baum, er lachte, er begriff nicht, er sagte, die neue Arbeitssituation mache mir zu schaffen, ich solle mich auf das Wesentliche konzentrieren, das andere würde von allein nachziehen. Er bot mir an, mit dem Jungen zu sprechen, von Mann zu Mann, er sehe da kein Problem, der Junge könne ebenso in einer Turnhalle an einem Seil hochklettern. Ich lehnte erschrocken ab; ich wollte von diesem Jungen noch etwas erfahren, weiß nicht was, es war da nur eine Ahnung, ein Duft, eine Farbe vielleicht, ein Blau, nein, ein Grün, es war da ein Anfang, ein dünnes Seil, das über einen Abgrund führt und auf das ich vorsichtig einen Fuß gesetzt hatte.

Den alten Hausmann sah ich nur noch aus großer Entfernung, ich achtete darauf, ihm nicht zu begegnen, ich schämte mich vor ihm. Einmal lief ich ihm in den Weg, verrückt, wollte ich sagen, schön, als Erkennungszeichen, aber ich stotterte eine Entschuldigung und stolperte weg.

An Hans Schorn habe ich mich dann doch herangewagt. Wenn er von zu Hause wegkam und nicht einem Ball nachjagte, fuhr er mit dem Fahrrad an den südlichen Stadtrand ins Tagebaugelände, wo auf dem Rest des Stausees noch ein paar Segelboote an der Anlegestelle festgemacht waren. Ich bin ihm auf meinem Rad nachgefahren, der Junge saß in einem der Boote, schaukelte es, zog ein verwittertes Segel auf und gab mit zwei Flaggen Signale ins Tagebaugebiet hinein, aus dem die Bagger wie vorsintflutliche Tiere schrien.

Als der Junge mich über den Bootssteg heranbalancieren sah, nahm er eine Haltung ein wie ein neuer Schüler auf einem Schulstuhl, verkrampft und steif.

Ich blieb vor dem Boot stehen, das leicht schaukelte, obwohl der Junge bewegungslos auf der Sitzplanke saß.

"Grüß dich", sagte ich, empfand die Worte anbiedernd und sagt: "Guten Tag."

"Guten Tag", erwiderte Hans Schorn höflich.

"Entschuldige", sagte ich, "dass ich dich hier aufgestöbert habe. Ich hatte als Kind auch einen Lieblingsplatz, vom Bahndamm aus sah ich den Zügen zu."

Der Junge zeigte keinerlei Regung, ob er mich überhaupt verstanden hatte, ich setzte einen Fuß auf den Bootsrand, verlor das Gleichgewicht, zog das Bein zurück und hielt mich am Geländer fest.

"Warum ich gekommen bin", sagte ich nun streng, "du weißt es, so geht das nicht weiter, du da oben auf dem Baum und wir anderen da unten auf der Erde. Alle Menschen müssen sich schließlich an bestimmte Regeln halten, sonst gibt es keine Gemeinschaft."

Himmel, Sonja, so dumm kann man sein, und so klein kann man sich machen, wie oft hatte ich wohl schon solchen Unsinn von mir gegeben, ohne es zu merken. Für einen Augenblick war mir, als säßen in dem kleinen Boot eine Menge Menschen, Kinder und Erwachsene, die mich so abweisend ansahen wie Hans Schorn, dieser unscheinbare, blasse Junge mit Augen, die irgendwie ins Weite zu blicken schienen. Er ist noch ein Kind, sagte ich mir, du lässt dich täuschen, sein Lebensraum ist eng begrenzt, du musst nur die richtigen Worte finden, ihn zurechtweisen, ohne ihn mehr als notwendig zu verletzen.

"Nun hör mir mal zu", sagte ich, "du lässt uns ja keine Wahl, kannst du denn nicht sein wie alle anderen, oder gefällt es dir, außerhalb zu stehen und von allen verlacht zu werden...?"

Keine Ahnung, was ich noch alles von mir gegeben habe, jedenfalls klang es wie Wenn du nicht sofort ...!, ich bereute, dass ich hierher gekommen war. Hans Schorn saß im schaukelnden Boot, ich stand auf dem Steg, ich erreichte ihn nicht.

In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich während des Studiums und als Lehrerin etwas nicht begriffen oder nicht erfahren hatte, vielleicht das Wichtigste, nämlich einen Andersdenkenden und -fühlenden zu verstehen, und ich dachte an Robert und dass wir uns immer fremd bleiben würden.

Ich wollte so nicht weggehen, mein Trotz war hellwach, ich musste es schaffen, den Jungen erreichen, egal wie, so konnte, so durfte ich nicht gehen.

"Rede du", sagte ich, "also ich höre dir zu."

Aber der Junge schwieg, das Boot wiegte ihn, aus dem Tagebau kamen Schreie wie aus längst vergangener Zeit, ich hatte das Bedürfnis mitzuschreien, hemmungslos zu schreien.

Ich weiß nicht, ob ich die Frage Warum sitzt du auf dem Baum? wirklich ausgesprochen habe, es dämmerte schnell, Scheinwerfer flammten auf, ich sagte: "Lassen wir das. Mein Wort drauf."

Ich ging zu meinem Fahrrad und schob es auf der Landstraße der Stadt entgegen. Dann war Hans Schorn neben mir, er saß auf dem Rad und blieb mit mir auf gleicher Höhe.

"Ja", sagte ich, "ja!", aber da fuhr er davon, aus dem Sattel steigend und über den Lenker gebeugt.

Ich habe mich in eine Eckkneipe gesetzt und Wasser getrunken, ein Glas nach dem anderen, ich war wie ausgebrannt, der Wirt und all die Männer haben mich neugierig beobachtet, gegen Mitternacht habe ich Robert angerufen, dass er mich abholt. Er hat mir keine Vorwürfe gemacht, er hat überhaupt nichts gesagt. Robert ist der Meinung, im Leben muss man die Dinge kommen und gehen lassen, alles sei Rhythmus, anders in der Wissenschaft, dort müssten die Dinge vorangetrieben werden mit der Peitsche des Intellekts. Bestimmt hatte er recht, aber ich wollte mich dagegen wehren, Robert verletzen, um seine Unbeherrschtheit zu erfahren und vielleicht einen guten Grund zu erhalten, ihn zu verlassen. Ich empfand mich undankbar und schuldig, ich sah in das strenge Gesicht meines Vaters, in die abgeklärten Gesichter meiner Lehrer, ich saß neben Robert im Auto und presste die Lippen aufeinander.

Liebe Sonja, wenn ich nur wüsste, was ich dir eigentlich mitteilen will, was ich dich fragen will.

Als Palm, der Schulrat, kam, saß Hans Schorn auf der alten Kastanie. Ich hatte es nicht verhindern können, und vielleicht hatte ich es auch nicht verhindern wollen, es war ein schmerzlicher Wunsch in mir nach einem großen Knall.

Und stell dir vor, der alte Lehrer Hausmann, dem ich nicht zugetraut hätte, dass er eine Bockleiter gefahrlos besteigt, kletterte auf den Baum. Der Alte und der Junge, Lehrer und Schüler, saßen da oben im Grün und schaukelten sich. Und ich, Sonja, ich hatte großes Verlangen, mich zu ihnen zu setzen, einmal aus allem raus zu sein und doch mittendrin, mein drittes Auge einmal in alle Himmelsrichtungen blicken zu lassen, über alle Grenzen hinweg. Aber ich fürchtete mich, Sonja, vor dem Steigen, vor dem Fallen, dem Wippen, dem Grün, in dem schon Bunt war, der Weite, vor mir selbst, ich hatte Angst vor allem, Sonja, sie steckt in mir, sie ist mir anerzogen, denke ich, Entschuldigungen fand ich schnell und genug: verboten, gefährlich, verpflichtet, verantwortlich, unmöglich ... Mir war, als hörte ich unsere Lehrer sprechen, im Chor.

Verrückt, Schön - Aber, Sonja, was weiß denn ich, weißt du es, dann sage es mir, oder sage es mir nicht, wenn du es weißt, tu doch was du willst.

Ich ahne es, es wird Winter sein, der Baum ist kahl, sein Stamm schwarz, von seinen Zweigen tropft es, er lässt Grau durchblicken. Die Angelegenheit wird erledigt sein, der Junge wird nicht mehr auf dem Baum sitzen, und Hausmann kommt mir nicht zu nahe, ich denke, er wird nur noch auf sein Ausscheiden aus dem Schuldienst warten.

Kann sein, dass ich mich täusche, Sonja, ich hoffe es sogar, das ist das Verrückte. Es ist kein Verlass mehr auf mich, mein drittes Auge lässt sich nicht schließen, es schießt Bilder wie ein Fotoapparat und hält sie mir vor die Augen, und eines davon zeigt den Jungen und den Alten auf dem Baum im Grün.

Ich habe noch am gleichen Morgen mit dem Schulrat gesprochen, habe ihm gesagt, dass ich als Direktorin abgelöst und in eine andere Schule versetzt werden möchte. Palm fragte nicht warum, ich war froh, was hätte ich ihm auch antworten sollen, er sagte, er wisse Bescheid, so etwas machten wir alle mal durch; aber danach sei man gehärtet und so schnell würfe einem dann nichts mehr um. "Also", hat er gesagt und mir fest die Hand gedrückt. "Sie enttäuschen mich doch nicht, "mein Mädchen". Sie doch nicht."

"Ja. Nein", habe ich gesagt, ich wusste nicht, welche Antwort grammatikalisch richtig ist, die Regel wollte mir einfach nicht einfallen.

"Schon gut", sagte Palm. "Wir kriegen das schon hin. Also dann."

Also dann, Sonja, aber was und wie? Weißt du noch? Was weißt du noch? Und was, Sonja, was sollten wir wissen, und vor allem, Sonja, woran können wir glauben?

Ich wünsche mir, dass sich mein drittes Auge nicht wieder schließt, und ich habe mir fest vorgenommen, den alten Hausmann bald, noch in diesen milden Herbsttagen, vielleicht schon morgen zu besuchen. Warum? Frage mich nicht, ich kann es dir nicht sagen

Deine Ina

Die Schule auf dem Baum

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