Читать книгу Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß - Страница 6
DER SCHÜLER
Оглавление"Fünf - vier - drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Wir fuhren am Freitag, dem dritten August vierzehnhundertzweiundneunzig, um acht Uhr morgens von der Saltersbank ab; wir segelten bei starkem Seewind bis zum Sonnenuntergang sechzig Meilen nach Süden; dann weiter in Richtung Südwest und Süd - zu - West, also auf die Kanarischen Inseln zu.
Im Chor, Jungs!
So öffneten wir die Meere,
die nie zuvor Geschlechtern aufgetan,
erblickend neue Inseln und Himmelstriche,
die einst erschloss Henriques kühner Plan.
Es ist Nacht. Der Mond ist da. Die Sterne leuchten. Mein Name ist Hans Schorn. Ich bin Schiffsjunge auf der Pinta. Sie ist eine Karavelle, sechzig Tonnen groß, sie hat sechsundzwanzig Mann Besatzung. Und sie ist noch schneller als die Nina. Der Admiral ist auf der Santa Maria, dem Flaggschiff. Ich weiß, auch er ist wach. Und er sieht, was ich sehe.
Wasser. Weit und breit nur Wasser. Ein leichter Südwind. Aber wir kommen voran.
Endlich bin ich wo die Erde aufhört und die Wellen schlagen. Keiner holt mich vom Mast herunter. Ich sitze im Ausguck. Ich werde mit dem Admiral rufen: Mein Indien!
Ich spreche ins Mikrofon meines Kassettenrekorders. Nur ein Blödmann denkt, dass ich noch immer im Schulhof auf der alten Kastanie sitze. Ein paar Leute sollen von meiner Reise erfahren, bevor es die ganze Welt weiß. Mein bemooster Lehrer Hausmann soll es als erster wissen. Dann die Wendisch, Schulzirkusdirektorin. Meine beiden einbalsamierten Alten, die den Berechtigungsschein haben, an mir herumzuerziehen. Auch Panzer aus meiner Klasse soll es erfahren. Und eine gewisse Christa Mällmann, vielleicht. Wenn sie es hören will. Sie sollen von meiner großen Reise wissen. Und wie es dazu kam, dass ich auf der Pinta anheuerte und die Schiffe unter dem Oberkommando des Admirals bei starkem Seewind ausliefen. Mein Schiffstagebuch führte ich schon lange vor der großen Fahrt. Eigentlich seit ich schreiben kann. Es weiß mehr von mir als jeder Mensch. Ich brauche es jetzt nur berichten lassen.
Eigentlich fing alles zu Beginn des neuen Schuljahres an. Mir ist, als wäre ich da erst geboren worden. Es hat wehgetan. Plötzlich saß ich auf dem Baum und getraute mich nicht, die Augen aufzumachen.
Sie fuhren den ganzen Tag und die Nacht über, in der gleichen Richtung mehr als vierzig Meilen.
Also wer mich hören will.
Drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Fünfter September. Fünf Uhr.
Endlich sind die Ferien zu Ende. Die Ostsee stinkt. Nach Sonnenöl und Bratwürsten. Vierzehn Tage lang war sie platt wie ein Dorfteich. Kein Kahn ist gestrandet. Keine Seele wollte gerettet werden. Meine beiden Alten waren nicht vom Strand wegzulocken. Ruhe und Sonne, mehr brauchen sie nicht, sagten sie. Jetzt zerreißt sie der Sonnenbrand. Aber sie sind total zufrieden. Ein Tag länger, und ich hätte mich beerdigen können.
Ich muss losgehen. In die neue Schule. Ein neues Schuljahr beginnt. Großer Neptun, lass endlich Wind aufkommen! Sturm! Es kann doch nicht ewig Flaute sein.
An diesem Tag fuhr er, die Nacht mitgerechnet, sechzig Meilen, zehn Meilen pro Stunde, was zweieinhalb Meilen entspricht; aber er zählte im ganzen nur achtundvierzig Meilen, damit die Leute nicht Angst bekämen, falls die Reise lange dauerte.
Einundzwanzig Uhr. Ich liege im Bett und versuche zu lesen. Im Schiffstagebuch des Admirals. Aber es klappt nicht. Aus dem Wohnzimmer plärrt der Zauberkasten. Irgendeine Tante heult ihrem Onkel ein Lied vor. Das stinkt gewaltig nach Rosen und Vergissmeinnicht. Meine beiden Alten sind in ihren Sesseln versunken. Der Mann ist längst hinüber. Er schnarcht, als wollte er ins Guinnessbuch der Rekorde. Die Frau redet über den Film, als bekäme sie es bezahlt. Wenn der Mann kurz zu sich kommt, sagt die Frau: 'Trink nicht soviel Bier, Werner.' Der Mann sagt: `Ist in Ordnung, Ines.'
Der erste Tag im neuen Schuljahr ist gelaufen. Der große Neptun hat mich erhört. Er hat Sturm geschickt. Aber es ist ein eiskalter Sturm. Und er stemmt sich gegen mich. Mir wird nicht wieder warm, obwohl der Tag heiß war und es jetzt noch über fünfundzwanzig Grad sind.
Es ist was passiert heute, tatsächlich gleich am ersten Schultag. Ich weiß nicht, wem ich es erzählen könnte. Dem Mann nicht. Und der Frau nicht. Nicht den Jungs. Nicht den Mädchen. Niemandem also. Aber es muss raus.
Dietmar Sänger, den wir Panzer nennen, kenne ich seit dem vierten Schuljahr. Panzer will später einmal Panzerfahrer bei der Bundeswehr werden, sagt er. Sein Erzeuger, der schon seit NVA-Zeiten in einer Kaserne den Staub von den Akten bläst, meint, das wäre was Solides. Da könnte ihn keiner überfahren. Panzer würden immer gebraucht. Und das Geld stimmte auch.
Also Panzer gehört zu den Klassenstärksten. Er sieht aus wie so ein Knabe vom Film. Das sagen jedenfalls ein paar Mädchen. Panzer hat sich mit allen Jungen aus der Klasse gehauen. Ich denke, er will das nicht. Aber immer wieder baut sich einer vor ihm auf, der sich ein blaues Auge wünscht. Nur mich hat Panzer noch nicht auf die Bretter gelegt. Er hat mich sogar in Schutz genommen, wenn einer seine Muskeln vor mir aufblies. Manchmal hat er mich im Unterricht so angesehen. Keine Ahnung wie. Dass ich weggucken musste. Beim Schwimmen stand er plötzlich hinter mir und flüsterte: 'Du bist ein Weib, Schorn.' Er stieß mich ins Wasser und zog mich wieder raus.
Panzer. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Heute hat er mir solche Fragen gestellt. Ich war lange vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof. Aber Panzer war vor mir da. Wie es mir denn so ginge?, hat er von mir wissen wollen. Ob die Ferien mich auch so angestunken hätten? Was ich denn heute nach der Affendressur so unternehmen würde?
Der Hausmeister hatte den Zirkus schon geöffnet oder vergessen abzuschließen. Ich trabte ins Schulhaus und besuchte die Toilette. Panzer kam mir nach. Er hat sich dicht neben mich gestellt. Er hat gewollt, dass ich sein Ding anfasse. Ich würde staunen, hat er gemeint. 'Nein', habe ich gesagt. 'Kein Bedarf.' 'Los!' hat Panzer gesagt. 'Hab dich nur nicht so zickig, Schorn.' Und er hat meine Hand gefasst. 'Mensch, du bist ja wohl schwul!' habe ich gerufen. Da hat Panzer mir die Luft abgedrückt. 'Sag das noch mal', hat er gesagt. 'Sag das nur noch mal.'
Ich habe mich losgerissen und bin gerannt. Aus der Toilette. Den Flur entlang. Die Treppen hinunter. Auf den Schulhof. Panzer immer hinter mir her. Ich dachte: Kriegt der dich, macht der dich alle!
Da stand der Baum vor mir. Die alte Kastanie. So schnell bin ich noch nie auf einen Baum gekommen. Mit einem Mal saß ich da oben. Panzer stand ganz klein irgendwo da unten. Ich kletterte noch höher, dass die Äste mich gerade noch trugen. Ich setzte mich in eine Astgabel. Die Schule stand weit unter mir. Ich sah nur das Flachdach. Eine Fläche grauer Beton. Dann sah ich über die Schule hinaus. So weit habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal vom Völkerschlachtdenkmal aus, das doch viel höher ist als dieser Baum. Aber es war so. Mir ist schwindlig geworden von der Weite. Dabei habe ich gar nicht viel gesehen. Eigentlich nur Farben. Eine Farbe. Blau. Nein, grün. Das Meer. Ich sagte mir, dass es fünfhundert Kilometer weit weg war. Aber ich konnte es hören. Wie es sang.
Da hörte ich eine Stimme. Von unten. Vom Schulhof. Es war die neue Direktorin, die nach mir rief. Ihre Stimme klang ängstlich. Ich antwortete ihr nicht. Sie wollte, dass ich vom Baum steige. Aber ich wollte nicht herunter. Nicht wegen Panzer. Der hatte sich unsichtbar gemacht. Ich war einfach nur froh, dass ich auf dem Baum war. Mir war, als gehörte ich hier hoch. In die Nähe der Vögel, die mich aufgeregt umflatterten.
Bald war der Schulhof voller Lehrer und Schüler. Sie verrenkten sich die Hälse. Ich sah den alten Hausmann ins Schulhaus schleichen. Und Frau Wendisch rief: 'Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!'
Ich wusste, dass ich jetzt nicht von der Kastanie steigen würde. Ich konnte mich höchstens fallen lassen.
Er segelte an diesem Tag mit der Nacht siebenundzwanzig Meilen und noch ein paar mehr in westlicher Richtung, und zu Beginn der Nacht sahen sie einen herrlichen Feuerzweig vom Himmel ins Meer fallen, vier oder fünf Meilen von ihnen entfernt.
Drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Sechster September. Vierundzwanzig Uhr.
Schon wieder im Bett. Die engen Wände. Das kleine Fenster. Die niedrige Zimmerdecke. Die Standuhr im Wohnzimmer läutet die Geisterstunde ein. Keine Ahnung, wie viel Scheine meine beiden Alten für das Gerät hinblättern mussten. Sie haben es mir nie gesagt. Es hätte den Westminster Gong und was weiß ich noch zu bieten. Nur wenige Leute besäßen so eine Seltenheit.
Der Mann und die Frau liegen längst auf Eis. In ihrem rosa Käfig mit den blauen Tüllgardinen, den sie Schlafzimmer nennen. Sie haben heute eine Viertelstunde früher den Zauberkasten ausgeschaltet. Zehn Minuten hat ihr Bett geknarrt. Nun ist vierzehn Tage Pause angesagt.
Was mich betrifft, ich kriege kein Auge zu. Ich habe heute tatsächlich wieder auf dem Baum gesessen. Keine Ahnung, wie ich das einschätzen soll. Mir geht es gut da oben. Es ist, als hätte ich schon immer da hinauf gewollt. Und seitdem ich auf dem Baum sitze, bemerken mich die Leute. Früher haben sie durch mich gesehen, dass ich mir mit den Fäusten gegen den Denkapparat gehämmert habe. Christa Mällmann hat heute herumgefragt, wer dieser Verrückte da oben auf dem Baum wäre. Bei Neptun, das soll sie bald erfahren.
Er segelte an diesem Tag und in der Nacht weiter nach Westen. Von da an sahen sie viele Büschel sehr grünen Grases, das anscheinend erst vor kurzer Zeit vom Land losgerissen worden war, weshalb alle der Meinung waren, dass in der Nähe eine Insel sein müsse, nicht aber Festland, wie der Admiral sagte: Denn das feste Land vermute ich noch weiter vorn.
Neunter September. Siebzehn Uhr zwanzig.
Ich liege auf der Erde. Am Rand des Tagebaus. Auf dem Rücken liege ich. Mir ist der rote Saft aus der Nase geschossen. Ich habe die Stadt auf dem Rad umkurvt. So lange, bis ich weggekippt bin. Inzwischen ist der Kurzschluss beseitigt. Der Film flimmert noch ein bisschen. In mein Schiffstagebuch schreibe ich gegen den Himmel. Die Schrift ist groß und zittrig. Wie bei alten Leuten.
Fünf Tage sind gestrichen, seitdem ich zum ersten Mal auf den Baum gestiegen bin. An jedem Tag bin ich hochgestiegen. Manchmal bin ich ein paar Stunden da oben geblieben. Manchmal nur ein paar Minuten. Aber hoch musste ich. Ich habe nie geglaubt, dass ich süchtig werden könnte. Ich kenne eine Menge Leute, die es sind. Der Rauch, unser Sportlehrer, denkt, er muss kaputtgehen, wenn er nicht jeden Tag zehntausend Meter wegtritt. Die Frau vom Hausmeister kann sich nur mit Schwarzwäldertorte am Leben erhalten. Und meine beiden Alten sind von vielen Dingen abhängig. Beide vom Zauberkasten. Der Mann von Bier und Zigaretten. Die Frau von Kaffee und Zigaretten. Und wieder beide von der guten Stube. Vom Garten. Von weichen Matratzen und Keilkissen. Vom Wetter. Von ihren Chefs. Immer von irgendwas. Es muss nicht unbedingt die Nadel sein.
Ich hätte nie gedacht, dass einer abhängig werden kann, auf einem Baum zu sitzen und in die Gegend zu sehen. Da oben - das ist nicht zu beschreiben. Nur ein Seefahrer kann das verstehen. Es ist eben wie auf der Pinta im Ausguck. Mehr kann ich darüber nicht sagen, großer Neptun. Es ist einfach schön da oben. Alles erscheint irgendwie erreichbar. Sogar Christa Mällmann. Macht das der Höhenrausch?
Meine beiden Alten werden auf mich warten. Der Mann wird einen Blutdruck um hundertachtzig haben. Er wird sagen, dass ich ihn wiedermal um ein gutes Stück Zeit seines kurzen Lebens betrogen habe. Die Frau wird sagen, wir sollten nicht streiten, wo unser Leben doch so kurz und schwer wäre. Jeden Freitag punkt siebzehn Uhr fahren wir bis Sonntag achtzehn Uhr auf unser Grundstück. Das ist eine Laube und zweihundert Quadratmeter Erde vor der Stadt in einem Gartenverein.
Es ist das erste Mal, dass ich sie warten lasse. Mir tut es leid, dass sie warten müssen, weil sie sich echt freuen auf ihr Wochenende. Ich verstehe sie ja, aber ich verstehe sie auch nicht. Es sind zwei völlig verschiedene Brillen, durch die ich meine Erzeuger sehe. Manchmal könnte ich auf der Stelle abhauen. Dann aber wieder möchte ich ihnen ganz nahe sein. Ich tue keines von beiden. Ich halte einfach nur aus und hoffe, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich ihnen nicht zu viel Ärger mache. Aber diesmal kann ich nicht mit ihnen hinterm Zaun sitzen. Ich musste mich aufs Rad schwingen und in die Pedalen treten, bis es mich abwirft. Das ist manchmal so bei mir.
Der alte Hausmann hat mich ins Lehrerzimmer kommen lassen. Gleich nach dem Unterricht. Er ist schon eine Ewigkeit mein Klassenlehrer. Nach jedem Unterricht habe ich vergessen, dass es den alten Hausmann gibt. Oft sogar im Unterricht. Der Alte tut mir leid. Weil er so alt ist. Ich weiß nicht warum. Niemand aus der Klasse spielt ihm einen Streich. Keiner ist wütend auf ihn. Aber es mag ihn auch keiner. Der Alte ist eben da und unser Lehrer. Wenn eine Klassenarbeit angekündigt ist und vor Prüfungen hören wir ihm zu. Er weiß bestimmt eine Menge. Es ist nur, man will es von ihm nicht hören.
Heute war er ganz eigenartig. Jedes Wort ist ihm schwer gefallen. Er schwitzte und bekam schlecht Luft. Er hat sich angestrengt, sicher zu wirken. Wollte den harten Mann spielen. Hat mich stehen und warten lassen. 'Hans Schorn', hat er gesagt. 'Ich muss mit dir reden.' Er hat das Fenster aufgerissen. Dann hat er es zugestoßen und den Vorhang zugezogen.
Er hat vom Baum erzählt. Von der Kastanie. Von mir da oben und den anderen da unten. Dass es so nicht geht. Was ich mir denn dabei denken würde. Und, und, und. Mit einem Kugelschreiber hat er auf den Schreibtisch geklopft. Wie mit einem Hammer.
Ich habe nichts gesagt. Ich habe ihm noch nie was sagen können. Aber ich hätte ihm gern was gesagt. Dass er mir leidtut. Dass er sich nicht so aufregen soll. Ich weiß ja auch nicht, warum ich auf die Kastanie steige.
Da hat er geschrien. Zum ersten Mal habe ich den alten Hausmann schreien gehört. Da bin ich aus dem Zimmer gerannt, und aus der Schule raus.
Ich wollte nur weg. Als hätte ich eine Bank geknackt. Oder jemandem das Leben aushauchen lassen. Bei den Fahrradständern hat Panzer gesessen. 'Mensch!' hat er gerufen. 'Wie siehst du denn aus?'
'Lass mich in Ruhe', habe ich gesagt. 'Lasst mich doch alle in Ruhe!'
Er hat wissen wollen, was denn los wäre mit mir. Die Leute würden mich nicht wiedererkennen.
'Nichts ist los', habe ich gesagt. 'Verdammt gar nichts.'
'Wenn du Hilfe brauchst', hat Panzer gesagt. 'Du, ich haue jedem das Maul zu. Du musst es nur sagen.'
Fast hätte ich Panzer alles erzählt. Wenn ich auch nicht weiß was. Immerhin wäre ich ohne die Sache auf der Toilette vielleicht nie auf den Baum gestiegen. Seine Stimme hatte geklungen, als wollte er mir tatsächlich zuhören. Das war mir selten passiert. Eigentlich nur bei meiner Oma. Als sie krank im Bett lag, kurz bevor Neptun sie für immer untergehen gelassen hat. Zwei Jahre ist das her.
Ich habe mich auf mein Fahrrad geschwungen und bin losgefahren. Um zu erkunden, was da eigentlich mit mir läuft. Und ob ich da noch was dran ändern kann.
Ich werde nicht mehr auf diesen Baum klettern. Bei Neptun. Ich schwöre. Ich will nicht schuld sein, dass der alte Hausmann es alle macht. Und meine beiden Alten haben genug mit sich zu schaffen. Und überhaupt. Was interessiert mich diese steil frisierte Christa Mällmann. Hinter der Rappke her ist. Dieser alte Knabe aus der Dreizehnten. Sollen die beiden doch zusammen in Rente gehen und sich einen Sarg teilen. Mit mir nicht.
Das stinkt ja alles! Und wie das stinkt! Nach Sonnenöl und Bratwürsten! Wegen euch vergieße ich doch keine müde Träne! Wegen euch doch nicht!
Er segelte weiter auf seinem Kurs nach Westen, und sie legten an dem Tag und in der Nacht wohl über fünfzig Meilen zurück; er gab nur siebenundvierzig an. Sie waren alle sehr guter Stimmung, und die Schiffe wetteiferten, wer als erster Land zu sehen bekäme; sie sahen viele Thunfische, und die Matrosen von der Nina erlegten einen. An dieser Stelle sagte der Admiral, jene Zeichen sind von Sonnenuntergang gekommen, und ich hoffe, dass der allmächtige Gott, in dessen Hände alle Siege gelegt sind, uns dort binnen kurzem Land schenken wird. Er sagt, er habe an diesem Morgen einen weißen Vogel gesehen, der Tropikvogel heißt und der nicht auf dem Meer zu schlafen pflegt.
Aufnahme! Aufnahme! Wer mich hören will!
Sechzehnter September. Neunzehn Uhr.
Eine Woche ist vergangen, seitdem ich nicht mehr auf der Kastanie gesessen habe. Es ist Freitag. Meine beiden Alten und ich befinden sich auf ihrem Grundstück. Ich sitze auf einem Birnbaum. Nicht einmal drei Meter über der Erde. Es ist der höchste Baum, der in unserem Radieschenbeet zu finden ist. Leider kann ich von hier das Meer nicht sehen.
Der Mann liegt auf den Knien. Er buddelt in der Erde und gibt grunzende Laute von sich. Die Frau wendet jede Menge Würste auf dem Grill. Es zischt und brutzelt und stinkt. Sie ruft: 'Werner, hörst du denn nicht! Ob die Würste denn die richtige Farbe haben?' Der Mann ruft: 'Nicht zu blass, Ines! Aber auch nicht schwarz! Braun, Ines! Hörst du: Knusperbraun!'
'Mein Gott!', sagt die Frau. Sie ruft: 'Hans! Fall mir ja nur nicht vom Baum! Du hast doch bestimmt riesigen Hunger, mein Junge, was!'
'Ja', sage ich. Nicht einen Bissen würde ich runterkriegen. Freitags fliegen hier Würste übern Zaun. Elf Katzen sitzen auf dem Schuppendach des Nachbarn. 'Was die Katzen nur wollen?' ruft die Frau. 'Jedes Mal werden es mehr. Diese dummen Tiere.'
Mir geht es nicht gut. Überhaupt nicht. Mir fehlt was. Ich weiß nicht was. Es hängt mit dem Baum auf dem Schulhof zusammen. Mit dem Blau, in das ich gesehen habe. Mit dem Grün.
Die Leute in der Schule haben sich wieder beruhigt während dieser Woche. Manchmal sehen sie mich an, als sei ich untergegangen und unerwartet wieder aufgetaucht. Christa Mällmann gibt ein 'Puh!' von sich, wenn wir uns begegnen. Ich wollte, ich könnte sie so dumm finden, wie ich es möchte. Wenn ich nur nicht immer rot anlaufen würde, wie ein verdammter Anfänger. Ich bete zu Neptun, dass ich das Weib verachten kann.
Manchmal, wenn ich mich von allen vergessen fühle, wünsche ich mir, Panzer wäre mein Freund. Aber Panzer geht mir aus dem Weg.
Ob er wirklich schwul ist? Solang er mich nicht anmacht, wäre es mir, denke ich, egal. Mehr stört mich, dass er zur Bundeswehr will. Ich halte nichts von der Marschiererei und den vielen Flinten. Ob Panzer nur zum Bund will, um seinen Alten bei Laune zu halten? Dieser klapprige Schreibtischhengst der Nationalen Volksarmee, da ist mein Erzeuger ja noch blankes Gold. Aber vielleicht kommt es Panzer ja nur auf die Panzer an, die Technik und die Kraft, das könnt ich verstehen. Jeden Tag habe ich das Schiffstagebuch vom Admiral bei mir. Ich will es Panzer zum Lesen geben. Aber dann lasse ich es doch in meiner Tasche stecken. Was ist, wenn es ihn überhaupt nicht interessiert?
Auch dem alten Hausmann würde ich das Schiffstagebuch gern geben. Auch dem Mann und der Frau. Eigentlich vielen Leuten. Allen. Ob sie mit mir singen würden: So öffneten wir die Meere, die nie zuvor Geschlechtern aufgetan ... ?
Der alte Hausmann muss von der Direktorin Prügel bezogen haben. Wegen mir. Die Wendisch schlägt eine knallharte Dublette. Dabei sieht sie aus, als wäre sie die kleine Schwester von der Mällmann. Das andere Geschlecht ist mir ein Rätsel. So was begreift kein Mann.
Wenn nur der alte Hausmann nicht wäre. Keiner bekäme mich vom Baum herunter. Keine Ahnung, warum ich ihm nicht wehtun will. Ich kenne ihn ja gar nicht. Er erinnert mich manchmal an meine Oma. Als sie krank im Bett lag. Ich glaube, sie hat nur noch gebetet, dass Neptun sie in Ruhe untergehen lässt. Sie konnte keinen Windstoß mehr vertragen. Kein lautes Wort. Wir haben uns nur noch auf Zehenspitzen in der Wohnung bewegt. Selbst der Zauberkasten war leise gestellt. Der Mann und die Frau waren total fertig in diesem halben Jahr. Aber sie wollten Großmutter nicht in ein Krankenhaus oder in ein Pflegeheim geben. Die Alten sind, wie sie sind. Doch dafür würde der Admiral ihnen eine Belobigung aussprechen.
Aber mit dem alten Hausmann ist es noch was anderes. Es ist, als würde ich ihn mein Leben lang kennen. Als gehörte er zu mir. Und ich könnte einmal ganz so sein wie er. Wenn ich daran denke, bekomme ich das große Zittern.
In den letzten Tagen ist es, als hätte der alte Hausmann seinen Beerdigungstermin erst einmal verschoben. Im Unterricht beobachtet er mich. Ich benehme mich, als bemerke ich es nicht. Er sieht mich an, als ob er mich röntgen will. Er erzählt, was er uns erzählen muss. Doch er möchte mich etwas fragen. Was nur? Auch ich würde ihn gern etwas fragen. Ob er schon immer ein alter Mann war?
Nach dem Unterricht beobachtet mich der alte Hausmann. Was will er von mir? Soll er doch zufrieden sein, wenn ich nicht mehr auf dem Baum sitze. Ich komme mit dem Mann nicht mehr klar. Früher stank es in seiner Nähe tödlich nach Sonnenöl und Bratwürsten. Meine Nase riecht das sofort. Die meisten Leute stinken danach. Es bringt mich um. Der alte Hausmann stinkt jedenfalls nicht mehr so stark.
Auch ich habe mich an ihn herangepirscht. Er hat auch einen Garten. Darin läuft er hin und her. Manchmal quer durch die Beete. Dann immer am Zaun entlang.
Er segelte an diesem Tag in Richtung West - zu - Nord und einen halben Strich darüber, dann bei der vorherrschenden Windstille schlugen die kurzzeitigen Brisen häufig um. Am frühen Morgen kamen zwei oder drei kleine Landvögel zum Schiff und sangen; später verschwanden sie wieder, noch vor Sonnenaufgang; danach kam ein Pelikan herbei, diese Vögel schlafen an Land und fliegen morgens aufs Meer hinaus, um Nahrung zu suchen, sie entfernen sich keine zwanzig Meilen von der Küste.
Die Frau ruft. Mir wird schlecht. Ich muss die Katzen füttern.
Dreiundzwanzigster September. Zehn Uhr.
Er segelte in Richtung Nordwest und manchmal Nordwest - zu - Nord. Weil das Meer still und glatt war, murrten die Leute und sagten, da es in diesem Meer keinen hohen Seegang gäbe, würden sie niemals ausreichend Wind haben, um nach Spanien zurückzukehren; dann aber erhob sich ein ziemlich starker Wellengang, obwohl es windstill blieb, darüber wunderten sie sich. Der Admiral sagte an dieser Stelle: 'Der hohe Seegang war mir unendlich wichtig, keiner brauchte ihn vielleicht so sehr seit der Zeit der Juden, als jene Ägypten verließen, mit Moses an der Spitze, der sie aus der Knechtschaft führte.'
Drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Vierundzwanzigster September. Elf Uhr.
Ich sitze wieder auf dem Baum! Neptun hätte mich auf Grund gehen lassen, wenn ich heute nicht auf die Kastanie geklettert wäre.
Ich habe es da unten nicht mehr ausgehalten. Es ist wieder Freitag. Das Wochenende auf dem Grundstück steht bevor. Das Klassenzimmer war wie ein Schraubstock. Es stank grausam nach Sonnenöl und Bratwürsten. Man geht kaputt daran.
Ich musste auf den Baum steigen. Der alte Hausmann hat es gewusst. Wir haben uns angesehen. Zum ersten Mal so richtig in die Augen gesehen. Da erschien mir der Mann gar nicht so krank oder gar tot. Seine Augen haben mir gesagt: Dann tu es doch endlich! Und ich bin mitten im Unterricht aus dem Klassenzimmer gegangen. Bin auf den Schulhof gerannt. Panzer kam hinter mir her. Aber anders als neulich. 'Tu's nicht!', hat er gerufen. 'Warte! Ich muss mit dir reden!' Aber ich bin auf den Baum geklettert. So schnell war ich noch nie oben.
Nun stehen sie wieder da unten. Mein Lehrer Hausmann. Die Schulzirkusdirektorin Wendisch. Eine gewisse Christa Mällmann. Der alte Knabe Horst Rappke. Wie Figuren stehen sie. Als hätte sie jemand hingestellt. Um in die Luft zu starren.
Ich kann endlich wieder durchatmen. Ich sehe ins Blau. Ins Grün sehe ich. Dahin, wo die Erde aufhört und die Wellen schlagen. Von weit her höre ich die Mannschaft singen. Von der Santa Maria. Von der Nina. Und von der Pinta. Sie singen: 'So öffneten wir die Meere, die nie zuvor Geschlechtern aufgetan, erblickend neue Inseln und Himmelstriche, die einst erschloss Henriques kühner Plan.'
Die Wendisch schimpft. Sie verlangt, dass ich sofort auf die Erde zurückkehre. Ich darf nicht auf sie hören. Das Kommando hat der Admiral. Ich trage in mein Schiffstagebuch ein, was ich sehe.
Er segelte auf dem üblichen Kurs, sie kamen siebenundvierzig Meilen voran, er sagte den Leuten aber vierzig Meilen. An dieser Stelle sagte der Admiral, er habe sich in der vergangenen Woche nicht mit Herumkreuzen aufhalten wollen und auch in den letzten Tagen nicht, wo es so viele Anzeichen der Nähe von Land gegeben, obwohl er Kunde von mehreren Inseln in dieser Gegend hätte; denn er wolle sich nicht aufhalten, da es sein Ziel sei, nach Indien zu kommen; und wenn er sich aufhielte, sagte er, wäre dies nicht vernünftig.
Von unten ruft die Direktorin. Sie schimpft. Sie befiehlt. Ich entferne mich immer weiter von ihr und den anderen. Ich sehe noch, wie sie über den Schulhof rennt. Ins Schulgebäude hinein. Der alte Hausmann läuft ihr hinterher. Aber er geht nicht mehr so geduckt wie früher.
Ich sehe in die Weite. Das Blau ist ruhig. Das Grün treibt darin. Gras, das vom Land abgerissen ist. Und darüber die vielen Sturmschwalben.
Aufnahme! Drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Wer mich hören will!
Sechsundzwanzigster September. Dreiundzwanzig Uhr zehn.
Ich kann mich nicht erinnern, aber der Traum war gut. Ich habe darin lachen müssen. Der Stift aus dem Erdgeschoß hat mich geweckt. Karlchen. Er ist gerade erst in die Schule gekommen. Wenn er nachts munter wird, und seine Mutter ist nicht in der Wohnung, fängt er an zu trommeln. Manchmal trommelt er die ganze Nacht durch. Bis selbst die Tauben ihn hören. Sein Vater ist Musiker. Schlagzeuger. Vor einem Jahr ist er mit einer Madame auf und davon.
Es ist immer noch Montag. Und so was vergeht nicht so schnell. Er ist wie das Wochenende auf dem Grundstück. Es hat wieder mal mächtig gestunken. Der Mann und die Frau haben bis spät in die Nacht vor der Laube gesessen und den Mond angeheult. Das ist grausam. Dann erzählen sie sich, was sie alles noch zu überstehen haben. Einmal ganz weit weg wollen sie fahren. Fliegen wollen sie. Bis ans Ende der Welt. Und darüber hinaus. Vielleicht sogar bis dorthin, wo die Erde aufhört und die Wellen schlagen. Aber ich denke, selbst wenn sie es sich leisten könnten, sie würden aus ihrem alten Mief nicht raus wollen. Wegen ihnen hätte die Mauer nicht fallen müssen. Wir hatten einmal einen Wellensittich. Der blieb im Käfig auf seiner Stange hocken. Obwohl die Tür manchmal weit geöffnet war. Einmal habe ich ihn rausgenommen und auf das Fensterbrett gesetzt. Da ist er sofort in den Käfig zurückgeflogen. Seitdem hat er sich die Federn ausgerissen. Der Mann sagt: 'Besser, es bleibt, wie es ist, als dass es nur noch schlechter wird.' Die Frau nickt, dass sie sich fast den Hals bricht. Für des Admirals Besatzung sind meine beiden Alten jedenfalls untauglich.
Heute haben Panzer und ich uns zum ersten Mal richtig unterhalten. Er hat mich nach dem Unterricht in die Eisdiele vom Rothaarigen, der sich Italiener nennt, eingeladen. Wenn es nach Panzer ginge, würde er nur von Eis leben, hat er gesagt. Ohne vernünftiges Eis würde er längst nicht mehr richtig ticken. Ob ich denn noch richtig ticken würde, hat er wissen wollen. 'Keine Ahnung', habe ich geantwortet. 'Es interessiert mich auch kein bisschen.' Da hat Panzer gesagt: 'Jedenfalls kannst du schweigen, Hans. Und das kann außer mir sonst keiner.'
Wir haben beim Rothaarigen in der Schlange gestanden. Als wir dran waren, gab es nur noch Fruchteis. Das schmeckt nach dem, aus was es gemacht ist. Aus Wasser. Und davon haben wir uns jeder acht Kugeln geben lassen. Panzer hat darauf bestanden. Wegen dem richtigen Ticken.
Als das Eis nur noch rote Soße war, haben wir an einem Tisch Platz gefunden. 'Hier kann man es aushalten', hat Panzer gesagt. 'Hier steht einem keiner die großen Zehen ab.' Panzer hat erzählt, dass er am Freitag die Direktorin und den alten Hausmann belauscht hat. Als ich wieder auf der Kastanie saß. Die beiden hätten im Direktorenzimmer gestritten. Wegen mir. Und dem Baum. Den alten Hausmann hat es dabei fast zerrissen.
'Warum steigst du eigentlich auf diesen blöden Baum?' hat Panzer gefragt. 'Etwa wegen der dürren Mällmann?'
'Die Mällmann ist nicht dürr', habe ich gesagt.
'Ich will nur nicht, dass du dich unglücklich machst', hat Panzer gesagt.
Das hat ganz nach meinen beiden Alten geklungen. Und all den Onkels und Tanten.
'Ist ja schon gut', hat Panzer gemeint. 'Was ist denn da oben so Besonderes? Kannst du mir das vielleicht sagen?'
Ich habe vorgelesen: 'Er fuhr weiter auf seinem Weg nach Westen, und sie legten am Tag und in der Nacht dreiundsechzig Meilen zurück, er gab den Leuten gegenüber sechsundvierzig Meilen an; ans Schiff kamen in dichtem Schwarm mehr als vierzig Sturmschwalben und zwei Pelikane; ein Schiffsjunge von der Karavelle warf mit Steinen nach einem von ihnen; zum Schiff kam auch ein Fregattvogel und ein Vogel, der weiá war wie eine Möwe.'
Ich habe Panzer gefragt: 'Würdest du mit mir auf der Pinta anheuern? Unter dem Oberbefehl des Admirals?'
'Ich weiß nicht', hat Panzer gesagt. 'Das Meer, Hans - Mensch, es ist doch so unendlich weit. Und so verdammt tief. Du, ich muss festen Boden unter den Füßen haben. Ich brauche ihn. Zum - zum Tanzen.'
'Zum Tanzen? Du machst wohl Witze?'
'Ich mache keine Witze. Ich - ich würde gern - ich will Tänzer werden.'
'Tänzer?' habe ich gefragt. 'So auf der Bühne? Vor allen Leuten?'
'Ja', hat Panzer gesagt. 'Wenn du lachst, haue ich dir die Kinnlade weg.'
Ich lachte kein bisschen, warum auch?
'Und dein Vater', habe ich gesagt. 'Der Mann ist doch Major oder so was in der Art. Der hat doch die ganze Brust voller Blech. Du hast immer gesagt, du wirst Panzerfahrer.'
Panzer hat geschwitzt, so sehr hat er die Hände gegeneinander gepresst. Am Nachbartisch haben Mädchen gelacht. 'Weiber', hat Panzer gesagt. 'Überall müssen die sich reinhängen. Wir brauchen sie nicht.'
Panzer ist dann ganz bleich und still geworden. Ich wohl auch.
Wir sind aus der Eisdiele gerannt. Haben uns 'Mach's mal gut!' zugerufen. Das viele Eiswasser hat zu wirken begonnen. Ich habe es gerade so bis nach Hause geschafft.
Karlchen trommelt noch immer. Woher der Stift nur die Kraft nimmt? Die Leute schreien sich im Treppenhaus heiser. 'Rabenmutter! ' 'Hure!' 'Dreckstück!' Aber am Tag werden sie alle wieder vor Karlchens Mutter in die Knie gehen. Weil ihr nämlich das Haus gehört.
Es ist schon komisch, dass Panzer mich ins Eiscafé eingeladen hat. Was für ein Mensch ist Panzer eigentlich wirklich? Jedenfalls spielt er den Angeber nur. Ich hätte ihn gern mit auf der Pinta. Aber Panzer will ja tanzen. Wer das verstehen kann? Tänzer reißen mich auch nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Auf alle Fälle sind sie mir sympathischer als Panzerfahrer.
Großer Neptun. Und Karlchen trommelt. Wenn der Stift nur nicht so verdammt jung wäre, würde ich ihn unter das Kommando des Admirals stellen. Als Trommler. Wenn Land in Sicht ist.
Achtundzwanzigster September. Sieben Uhr fünfzehn.
Aufnahme! Aufnahme!
Er segelte weiter auf seinem Weg nach Westen. An diesem Tag, bei Sonnenaufgang, hisste die Karavelle Nina - sie fuhr voraus, da sie sehr segeltüchtig war, die Schiffe fuhren jetzt um die Wette, denn jeder wollte zuerst Land sichten, um der Gnade teilhaftig zu werden, welche die Könige jenem verheißen hatten, der es als Erster sähe - eine Fahne auf dem Topp ihres Großmastes, und sie schossen eine Lombarde ab zum Zeichen, dass Land in Sicht war; denn so hatte es mir der Admiral befohlen. Da sie am Abend nicht das Land erblickten, das die Männer von der Karavelle Nina zu sehen vermeint hatten, und weil eine große Menge Vögel von Norden nach Südwesten vorüberflog und anzunehmen war, dass sie zum Schlafen an Land flögen oder dass sie vielleicht auf der Flucht vor dem Winter waren, und weil der Admiral wusste, dass die Portugiesen die meisten der Inseln, die sie besitzen, durch Beobachtung des Vogelfluges entdeckt hatten, erklärte sich der Admiral einverstanden, dass man den Westkurs verließ und den Bug nach Westsüdwest richtete, mit der Absicht, zwei Tage lang auf diesem Kurs weiterzusegeln.
Die ersten beiden Unterrichtsstunden fallen aus. Ich bin nicht gewöhnt, morgens Zeit zu haben. Jeden Morgen renne ich wie blöd durch die Gegend. Um ja nicht zu spät zu kommen. Das ist nämlich für meine beiden Alten das zweitschlimmste Verbrechen. Es kommt gleich nach der Unordnung.
Der Mann und die Frau sind längst aus dem Haus. Sie reden am Morgen kein Wort miteinander. Alles geht wie geschmiert. Auf die Sekunde. Drei Minuten machen sie Sitz, um diese schwarze Brühe zu schlucken. Aber dann jagen sie los. Irgendeinem unsichtbaren Hasen hinterher.
Ich sitze am Küchenfenster und sehe hinaus. Wir wohnen im dritten Stock. Aber ich kann trotzdem nicht weiter sehen als bis zum nächsten Haus. Das steht einen Katzensprung von unserem Haus entfernt. Dazwischen ist eine Straße, auf der Tag und Nacht das ganze Blech scheppert und kracht. Hinter dem Haus sind auch Häuser. Meilenweit Mauern. Wer das aushalten kann.
Der Schulrat will unsere Schule besichtigen. Nun müssen wir alle kreiseln. Es ist wie bei Schorns, wenn meine beiden Alten Besuch erwarten. Da wird alles keimfrei gemacht. Als hätten sie Angst, der Besuch könnte sich mit einer unheilbaren Krankheit anstecken und sie dafür verantwortlich machen.
Ich soll ein für alle Mal vom Baum herunter. Jeder verlangt das von mir. Die Direktorin Wendisch. Die Lehrer. Horst Rappke, der alte Knabe, hat mir angedroht, mich in seiner Umarmung verhungern zu lassen. Keine Ahnung, warum den stört, dass ich auf dem Baum sitze. Er kurvt jeden Tag enger um Christa Mällmann herum. Ich habe sehen müssen, wie sie erste Hilfe trainiert haben. Mund-zu- Mund-Beatmung. Sollen sie doch ersticken daran.
Auch der alte Hausmann sagt, dass ich von der Kastanie herunter soll. Aber bei ihm klingt es so, als wollte er, dass ich da oben bleibe. Er hat auch nicht meine beiden Alten informiert. Wie es sein Auftrag war. Panzer versorgt mich mit Informationen. Er sagt, wenn er aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen kein Tänzer werden kann, dann wird er Geheimagent. Er weiß nur noch nicht für wen er arbeitet. Für die Russen. Oder für die Amerikaner. Aber wahrscheinlich für die Indianer. Oder für die Aborigines. Jedenfalls für einen Freund.
Ich will keinem Ärger machen. Auch dem Schulrat nicht. Früher hätte ich vielleicht das große Zittern bekommen, wenn so ein Max angetanzt wäre. Aber ich stehe bald unter dem Kommando des Admirals. Inzwischen hat nur noch der große Neptun das Sagen über mich.
Ich schreibe es den Leuten in der Schule jetzt auf. Und werde es ans Schwarze Brett pinnen. Vielleicht versteht mich dann einer.
Er segelte nach Westsüdwest, und sie legten am Tag und in der Nacht elfeinhalb oder zwölf Meilen zurück; das Meer war ruhig wie der Fluss bei Sevilla. Gott sei gelobt, sagt der Admiral hier: Die Lüfte sind sehr sanft wie im April in Sevilla, so dass es ein Vergnügen ist, sie um sich zu spüren, so wohlriechend sind sie. Das Gras schien sehr frisch zu sein; man sah viele Landvögel, und sie fingen einen von denen, die nach Südwesten flohen, es waren Tölpel, Enten und ein Pelikan.
Zweiter Oktober. Vierundzwanzig Uhr.
Aufnahme! Wer mich hören will!
Es ist wieder einmal Freitag. Und Geisterstunde. Ich bin auf den Apfelbaum gestiegen. Auf dem Grundstück rührt sich nichts. Absolute Flaute. Wie an jedem Wochenende. In der Hütte habe ich es nicht aushalten können. Der Gestank nach Sonnenöl und Bratwürsten ist noch hier draußen zu riechen. Das Schnarchen meiner beiden Alten ist bis hierher zu hören. Sie haben irgendwas gefeiert. Der Mann hat fast einen Kasten Bier geschluckt. Die Frau hat zwei Flaschen vom Rotwein befreit. Nun sind die Alten happy.
Heute haben die Mällmann und der Rappke wieder Mund-zu-Mund- Beatmung betrieben. Dass ich es sehen musste. Panzer hat gesagt, sie wären zwei alte Säue. Er hat von mir wissen wollen, ob er dem alten Knaben Rappke einen Arm, ein Bein oder sonst was auskugeln soll. 'Lass mal', habe ich gesagt. 'Es interessiert mich kein bisschen, wie die beiden ihre Bazillen übertragen.'
Panzer hat gewollt, dass wir nach dem Unterricht gemeinsam was unternehmen. Er kennt einen Mann vom Theater. Der würde uns hinter die Kulissen sehen lassen. Das wäre spannend, hat Panzer gesagt. Der reinste Krimi. 'Ein andermal', habe ich gesagt. 'Heute passt es nicht.' 'Na schön', hat Panzer gesagt. 'Ein andermal. Aber versprochen.' Er hat schnell begriffen, dass ich allein sein wollte.
Bevor meine beiden Alten mich zu ihrem Grundstück transportierten, bin ich mit dem Rad zum Tagebaugelände gefahren. Vom Stausee ist hier eine Pfütze übrig geblieben. Am Steg sind noch zweieinhalb Boote vertäut. Einer der Kähne hat schon viele Jahre auf dem Buckel. Er ist leck an vielen Stellen. Neptun hätte ihn längst absaufen lassen, wenn ich ihn nicht ab und zu leer schöpfen und mit Kaugummis abdichten würde.
Als ich den Kahn wieder trocken hatte, habe ich Segel gehisst und Flagge gezeigt. Lust hatte ich zu gar nichts. So eine Frau wie Christa Mällmann ist schlimmer als Zahnziehen ohne Betäubung. Ich finde sie rundum behämmert. Und trotzdem. Das Weib bringt meine Hormone in Aufruhr. Wenn ich auf See bin, schenke ich sie dem alten Knaben Rappke. Und ein Grundstück dazu. Vielleicht produzieren sie mal einen Jungen oder ein Mädchen, die die Katzen mit ihren gegrillten Bratwürsten mästet.
Plötzlich ist Frau Wendisch aufgetaucht. Ich habe mir gewünscht, dass der Kahn ein U-Boot wäre. Sie hat eine Menge Zeug erzählt. Aus ihrer Kindheit oder so was. Dass sie an einem Bahndamm gesessen hat. Stundenlang hätte sie den Zügen hinterher gesehen.
Ich habe nichts sagen können. Das geht mir oft so. Da bin ich zu. Ich kann mich nur mit jemand unterhalten, wenn es sich ergibt. Nicht, wenn ich es mir vornehme. Oder wenn der andere es will.
Die Direktorin hat dann auch gleich gesagt, was Sache ist. Dass es nicht so weiter geht. Ich da oben. Die anderen da unten. Und dass doch alle Menschen sich an irgendwelche Regeln halten müssten. Und. Und. Und. Von wegen Gemeinschaft und so. Es hat wieder einmal ungeheuer nach Bratwürsten und Sonnenöl gestunken.
Sie muss es selber gerochen haben. Es ist ihr davon schlecht geworden. Ich hätte ihr gern geholfen, dass es ihr wieder besser geht. Aber sie hat die Wut in den Bauch bekommen. Sie hat mir gedroht. Wie meine beiden Alten. Und all die anderen, wenn ich es ihnen nicht recht mache.
Nun habe ich gleich gar nichts mehr sagen können. Sie auch nicht. Frau Wendisch kam leicht ins Schwanken. Ich wollte ihr das Blatt aus dem Schiffstagebuch geben, das ich immer noch nicht ans Schwarze Brett gepinnt hatte. Doch entweder war ich zu langsam, oder sie zu schnell. Sie ist schon wieder auf ihr Rad gestiegen und weggefahren. Auf der Landstraße habe ich sie eingeholt. Kennen Sie Sevilla im April? Waren Sie schon mal in Indien? habe ich fragen wollen. Aber ich habe dann doch meine ganze Kraft in die Pedale gelegt.
Ich bin gerade noch zur rechten Zeit zum Abtransport gekommen. Meine beiden Alten meinten, ich könnte schon, wenn ich nur wollte. Und dass ich wollte, dafür würden sie sorgen. Schließlich seien sie meine Eltern.
Jetzt schreien die Katzen. Der Mond ist voll da. Irgendwo, weit weg heult ein Hund.
Er segelte nach Westsüdwest, sie legten etwa zehn Seemeilen pro Stunde zurück, manchmal auch zwölf und eine Weile sieben; in den ganzen vierundzwanzig Stunden brachten sie neunundfünfzig Meilen hinter sich. Er sagte den Leuten allerdings nur vierundvierzig. An diesem Punkt konnten es die Leute nicht länger aushalten. Sie beklagten sich über die lange Reise; aber der Admiral ermutigte sie, so sehr er konnte, und weckte bei ihnen Hoffnungen auf die Vorteile, die ihnen zufallen könnten. Und er fügte hinzu, es sei zwecklos, sich zu beklagen, denn er habe den Weg nach Indien einmal eingeschlagen und müsse ihn nun fortsetzen, bis er das Land mit Hilfe unseres Herrn gefunden habe.
Fünfter Oktober. Achtzehn Uhr fünfundzwanzig.
Drei - zwei - eins - null. Aufnahme! Aufnahme!
Heute war der Schulrat in unserer Schule. Mit ihm sind eine Menge Leute gekommen.
Ich bin am Tagebau. Am Stausee. Der Kahn ist voll Wasser. Heute lasse ich ihn untergehen. Ich will dabei sein, wenn der große Neptun ihn auf Grund holt. Das Segel habe ich aufgezogen. Die Flagge gehisst. Nun muss ich nur noch warten.
Ich wollte heute nicht auf den Baum steigen. Ich hatte mir fest vorgenommen: Heute bleibst du unten. Warum eine Extravorstellung geben, wenn der Zirkus Generalprobe hat.
Als ich am Morgen auf den Schulhof kam, hat der Baum mich gewaltig angezogen. Ich habe mir die Augen zugehalten und den Befehl gegeben: Vorbei! Aber da ist was Verrücktes passiert. Ich habe an all die Leute denken müssen: den alten Hausmann, die Direktorin, Panzer, Christa Mällmann, Rappke und sogar an meine beiden einbalsamierten Alten. Und keiner hat verlangt, dass ich unten bleiben soll. Sie haben getan, als wüssten sie von nichts. Sie waren stumm und taub. Jeder war wie erstarrt. Das war ziemlich böse. Eine Welt aus Stein.
Noch nie ist es mir so schwergefallen, auf den Baum zu kommen. Ich habe gespürt, wie auch ich zu Stein werden sollte. Da habe ich mich hochgearbeitet. Stück für Stück. Als ich oben war und ins Grün sah, wusste ich, dass ich es richtig gemacht hatte. Was auch passieren würde.
Auf dem Schulhof herrschte inzwischen Panik. Alle schwirrten wild durcheinander. Da war noch was im Gange. Der alte Hausmann versuchte auf den Baum zu klettern! Mein Lehrer!
Zuerst dachte ich, er will mich herunterholen. Aber dann wusste ich, er will wie ich auf den Baum. Der alte Mann. Ich hatte so etwas geahnt. In der letzten Zeit. Manchmal hatte er sich verhalten, als wollte er auf der Santa Maria anheuern. Auf dem Admiralsschiff. Als Decksmann. Oder so was. Er getraute sich nur nicht, mit dem Admiral zu reden. Vielleicht sollte ich ein gutes Wort für ihn einlegen.
Und nun versuchte mein Lehrer in den Ausguck zu gelangen. Ich betete zum großen Neptun, dass er es ihn schaffen lässt.
Aber der alte Hausmann fiel immer wieder vom Baum. Ich konnte ihm nicht helfen. Unmöglich. Christa Mällmann und Rappke kamen mit einer Leiter, ausgerechnet die beiden.
'Hier bin ich!' habe ich gerufen. 'Kommen Sie hierher!'
Und dann saß der alte Hausmann neben mir. Auf dem Baum. Mein Lehrer. Er hat geschwitzt. Und gezittert. Seine Stimme war ganz dünn.
'Sehen Sie nur', habe ich gesagt.
Mit einem Mal hat der alte Hausmann gelacht. Es war, als wäre eine Quelle aufgebrochen und sprudelte nun über. Auch ich musste lachen.
Keine Ahnung, was da unten los war. Aber es rührte sich was.
Er segelte in Richtung Westsüdwest, und sie hatten hohen Seegang, der stärker war, als sie ihn auf der ganzen Reise erlebt hatten. Sie sahen Sturmschwalben und eine frische grüne Binse, die nahe am Schiff vorübertrieb. Die Leute von der Pinta sahen ein Schilfrohr und einen Stock, und sie fischten aus dem Wasser einen anderen kleinen Stock auf, der anscheinend mit einem Eisenwerkzeug bearbeitet worden war, und noch ein Stück Rohr und anderes Grünzeug, das auf der Erde wächst, und ein kleines Brett. Die Männer von der Karavelle Nina entdeckten noch andere Anzeichen nahen Landes und dazu einen Zweig, an dem Hagebutten hingen oder etwas Ähnliches. Bei diesen Anzeichen atmeten sie auf, und alle waren voller Freude. Sie fuhren an diesem Tag bis zum Sonnenuntergang siebenundzwanzig Meilen. Nach Sonnenuntergang segelte er weiter auf seinem ursprünglichen Kurs nach Westen...
Der Kahn ist untergegangen. Der große Neptun hat es so gewollt.
Dreiundzwanzig Uhr zehn.
Karlchen trommelt. Mit aller Kraft. Bum - bum, bum - bum - bum, bum - bum ...
Aufnahme! Aufnahme! Aufnahme! Wer mich hören will!
Es ist Nacht. Ich heiße Hans Schorn. Bin Schiffsjunge auf der Pinta. Ich bin, wo die Erde aufhört und die Wellen schlagen. Ich sitze im Ausguck und sehe ins Grün. Und bald werde ich dem Admiral zurufen: Mein Indien!"