Читать книгу Butler Parker Jubiläumsbox 6 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 5

Оглавление

Das schwere Wurfmesser war deutlich in der Luft zu sehen.

Es schwirrte durch den Sonnenglast und galt einem jener Passagiere, die die Boeing 707 verließen und die Gangway hinunterkamen. Die Frauen und Männer auf der Treppe ahnten nichts davon. Sie alle hatten erwartungsfrohe und heitere Gesichter. Einige von ihnen hatten die Arme erhoben und winkten zum Flughafengebäude des Kaitak Airports hinüber. Hinter der gerade gelandeten Maschine erhob sich ein durchsichtiger gelb gefärbter Staubschleier. Durch ihn waren die Gipfel der Kowloon-Mountains zu sehen. Über allem lastete die gnadenlose, grelle Sonne von Hongkong.

Das Wurfmesser hatte sein Opfer erreicht.

Es stak in der Brust eines Mannes, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte. Er war untersetzt und besaß die Andeutung eines kleinen runden Bauches. Er trug einen zerdrückten Sommeranzug und war auf den Stufen der Gangway zusammengebrochen.

Die Passagiere vor ihm auf der Treppe hatten noch nichts bemerkt. Die Gäste hinter dem Getroffenen beugten sich vor. Einige von ihnen deuteten auf den abrutschenden Mann.

Mit der linken Hand umklammerte er den Griff einer dunklen Aktentasche. Die rechte Hand aber hatte sich um das Heft des Wurfmessers gelegt, als wollte sie im letzten Moment noch die Waffe aus der tödlichen Wunde ziehen.

»Reiner Zufall, daß diese beiden Fotos geschossen wurden«, sagte Inspektor McParish vom Kriminal-Departement. »Sie stammen von einem Andenkenfotografen. Ich fürchte, sie werden uns nicht besonders helfen.«

Anwalt Mike Rander legte die beiden Aufnahmen zurück auf den Schreibtisch des Inspektors. Mit langsamen Bewegungen zündete er sich eine Zigarette an.

»Weiß man, wer das Opfer ist?« fragte er dann.

»Natürlich. Der Mann heißt Larry Croften und stammt aus Miami. Er war Miss Morefields Vermögensverwalter.«

»Zum erstenmal hier in Hongkong?«

»Den Eintragungen in seinem Paß nach zu urteilen, zum erstenmal«, bestätigte Inspektor McParish, ein drahtiger, mittelgroßer Mann von etwa 45 Jahren.

Die Sonne von Hongkong hatte ihm im Laufe langer Dienstjahre jedes unnötige Gramm Fett aus dem Körper gebrannt. Sein Gesicht mit den grauen kühlen Augen war lederartig gespannt.

»Wann wurde er genau ermordet?« fragte Mike Rander.

»Vor knapp einer Woche«, erwiderte der Inspektor. »Es passierte, wie ja auf den Fotos zu sehen ist, gleich nach der Landung. Von den Tätern fehlt leider jede Spur.«

»Konnte die Aktentasche, die auf den beiden Fotos zu sehen ist, sichergestellt werden?« schaltete sich Josuah Parker ein. Im Gegensatz zu McParish und Mike Rander, die sich ihre Jacketts ausgezogen hatten und in Hemdsärmeln waren, trug der Butler seinen pechschwarzen Dienstanzug. Der weiße Eckkragen wirkte wie frisch gestärkt. Seine Hände, die in schwarzen Zwirnhandschuhen staken, hielten die steife Melone und den unvermeidlichen, altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm.

»Verflixt, Parker, schwitzen Sie eigentlich nicht?« stöhnte Mike Rander. Obwohl er unter dem Deckenventilator saß, griff er verzweifelt nach dem Tischwirbler und lenkte den Luftstrom auf sein Gesicht.

»Ich gestatte es mir einfach nicht, mich der Transpiration hinzugeben«, gab Josuah Parker würdevoll und auch etwas tadelnd zurück. Während er redete, ließ er den Inspektor nicht aus den Augen. McParish unterdrückte ein Grinsen. In Hongkong hatte er schon manch seltsamen Vogel kennengelernt. Menschliches war ihm nicht mehr fremd. Doch dieser Butler Parker übertraf alle Vorgänger. Er war einmalig skurril.

»Die Aktentasche wurde sichergestellt«, antwortete McParish. »Sie enthielt Geschäftsunterlagen, Papiere, einiges Bargeld. Rückschlüsse auf den Mörder läßt der Inhalt nicht zu.«

»Könnten wir uns die Tasche mal ansehen?« bat der junge, sympathisch aussehende Anwalt, der nicht wie ein Strafverteidiger, sondern eher wie ein Sportsmann aussah. Dunkelgraue Augen, braunes Haar und regelmäßig geschnittenes, ovales Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines großen netten Jungen, mit dem man Pferde stehlen konnte.

»Klar, läßt sich machen«, beantwortete McParish die Frage. Er beugte sich über das Mikrofon seiner Sprechanlage, drückte einen Knopf und gab seine Order durch. Dann wandte er sich wieder Rander zu. »Seit wann sind Miss Morefields Briefe ausgeblieben?«

»Seit fast drei Wochen«, gab Rander zurück. Er hatte alle wichtigen Daten im Kopf. »Da sie aber weiterhin ihr Konto plünderte, fuhr Croften hierher nach Hongkong.«

»Hat Miss Morefield eine Verfügungsgewalt über das Konto?« fragte Inspektor McParish.

»Seit einem halben Jahr, nachdem sie großjährig geworden ist.« Mike Rander griff erneut nach dem Tischventilator und blies sich kühle Luft auf die schwitzende Haut. »Sie ist nach dem Tod ihrer Eltern Alleinerbin des Familienvermögens.«

»Muß sich wohl um viel Geld handeln, wie?«

»Darauf können Sie Gift nehmen, sonst hätten Miss Morefields Verwandte nicht so schnell Alarm geschlagen und uns gebeten, den Dingen nachzugehen. Um es rundheraus zu sagen, wir sollten Anwalt Croften in seinen Ermittlungen unterstützen.«

»Darauf wird er jetzt wenig Wert legen, fürchte ich.«

»Warum wurde dieser harmlose Mann ermordet?« fragte sich Rander laut. Dabei sah er den Kriminalinspektor an. »Ich vermisse jedes Motiv. Er hatte mit seiner Arbeit noch gar nicht begonnen.«

»Der Mörder wird die Antwort geben können, nicht ich.« McParish griff nach dem Tischventilator und fächelte sich damit kühle Luft zu. Er übersah, daß Randers Hand bereits darauf wartete, wieder nach dem Ventilator zu greifen.

Parker tat so, als ob er von der schwülen, drückenden Hitze im Dienstzimmer nichts bemerke. Er schien eine Klimaanlage unter dem Rock zu haben. Zurückhaltend, würdevoll, aber auch sehr aufmerksam verfolgte er die Unterhaltung.

»Haben Sie inzwischen herausbekommen, wo Miss Morefield zur Zeit wohnt?« erkundigte sich Mike Rander weiter.

»Erkundigt schon, Mr. Rander, aber leider ohne Ergebnis. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.«

»Könnte sie Hongkong verlassen haben?«

»Offiziell nicht. Aber denken Sie an die vielen Dschunken, die wir einfach nicht kontrollieren können. Wenn Sie mich fragen, so ist Miss Morefield nicht in Erpresserhänden. Sie wird sich einen netten Begleiter zugelegt haben und in den Bergen irgendwo Honigmond feiern.«

»Und zusätzlich ihr Bankkonto plündern«, meinte Rander lächelnd. »Mag ja alles stimmen und zutreffen, McParish, aber warum schreibt sie dann nicht? Warum gibt sie ihre teure Wohnung auf? Warum beantwortete sie nicht die Telegramme ihres Vermögensverwalters Croften? Nein, da muß etwas Böses mit ihr passiert sein!«

»Das ist natürlich nicht ausgeschlossen«, räumte Inspektor McParish ein. Er erbarmte sich und reichte den Tischventilator an Mike Rander zurück, der dankbar aufstöhnte. »Hier in Hongkong passieren ja die unglaublichsten Dinge. Erpressung und Entführung sind unser tägliches Brot.«

»Wo könnte man den Hebel ansetzen, Inspektor?«

»Sie brauchen Zugang zu der Unterwelt.«

»Wo finde ich den?«

»Ich kann’s nur inoffiziell tun. Ich werde Ihnen eine Telefonnummer geben. Ein gewisser Li Wang wird sich melden. Sagen Sie ihm, was vorliegt?«

»Kann man sich auf ihn verlassen?« wollte Mike Rander wissen.

»Da überfragen Sie mich, Rander. Er ist gerissen und verschlagen. Wenn er Tips liefert, dann nur, um seine eigenen Fäden zu spinnen. Versuchen Sie’s mit ihm, aber seien Sie auf der Hut.«

Inspektor McParish erinnerte sich, daß er eine Order gegeben hatte. Er drückte noch mal die Taste der Sprechanlage und fragte nach der sichergestellten Aktentasche des ermordeten Larry Croften. Im gleichen Moment klopfte es an der Tür, und ein uniformierter Beamter betrat den Raum. Er salutierte, ging zum Schreibtisch und beugte sich zum Inspektor hinunter. Er flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.

Das Gesicht von McParish färbte sich rot. Einen Moment lang sah er verlegen und etwas unglücklich aus. Doch dann räusperte er sich knapp.

»Die Tasche ist aus dem Asservatenraum verschwunden«, sagte er zu Rander. »Daß uns das passieren muß! Einfach unglaublich!«

»Darf ich Ihre Worte dahingehend interpretieren, daß die bewußte Aktentasche gestohlen worden ist?« schaltete sich Josuah Parker in die Unterhaltung ein.

»Sie dürfen, verdammt noch einmal«, schimpfte McParish. »Ich finde einfach keine Worte …!«

»Suchen Sie sie inzwischen«, meinte Anwalt Rander und stand auf. Er griff nach seinem Jackett. »Wir werden uns inzwischen um Miss Morefield kümmern. Sie erreichen uns im ›Queens‹. Wir werden hier auf der Insel wohnen.«

»Drüben im Kowloon wohnen Sie aber besser.« McParish war nicht ganz bei der Sache. Der Diebstahl der Tasche saß ihm in den Knochen.

»Hier auf der Insel hat Miss Morefield aber gewohnt. Wir wollen all ihren Schritten nachgehen, Inspektor. Falls wir auf eine Spur stoßen, werden wir Sie verständigen.«

»Ich halte Ihnen die Daumen«, sagte McParish. »Sie werden sehr viel Glück brauchen. Sie ahnen ja nicht, was sich in dieser verrückten Stadt abspielt …«

*

Selbst Josuah Parker war beeindruckt. Und das wollte schon etwas heißen.

Wanchai, die eigentliche Chinesenstadt der Insel Hongkong, glich einem aufgescheuchten, wimmelnden Ameisenhaufen. Scharen von Rikschahkulis mit ausgemergelten, alten Gesichtern trabten durch die engen, überfüllten Straßen. Lastenträger balancierten abenteuerlich Lasten an langen, schwankenden Bambusstangen durch das Gewühl. Das Geschrei der Warenausrufer, das Hupen der Autos und das irre Geklingel der Radfahrer peinigte die Ohren. Seidenfahnen mit chinesischen Schriftzeichen flatterten von Häusern, Geschäften und Lokalen bis fast zur Straße herunter. Es roch nach Fisch, nach seltsamen Gewürzen, nach Schweiß, nach Hunger, Armut, Leidenschaften und Gier. Wanchai, der Halbinsel Kowloon fast genau gegenüber gelegen, war ein riesiger brodelnder Topf, der überkochte.

Doch nicht nur Parker war beeindruckt.

Selbst die Chinesen, die ihre Neugier kaum zeigen, rätselten an diesem seltsam gekleideten Mann herum, der trotz der schwülen Hitze in korrektes Schwarz gekleidet war, der eine steife Melone trug und einen Regenschirm mit sich führte.

Prüfende und mißtrauische Blicke aus schwarzen Jettaugen trafen den Butler, der aber nichts zu bemerken schien. Er war es schließlich gewohnt, daß er Aufsehen erregte.

Anwalt Mike Rander und sein Butler waren auf dem Weg zu den Kassenschaltern der ›Victoria Bank of Hongkongs die an der Nahtstelle zwischen Wanchai und Victoria City lag. Von dieser Bank aus war das Morefield-Vermögen drüben in den Staaten bisher angezapft worden. Dort mußte Jane Morefield mehr als nur gut bekannt sein.

Parker und sein junger Herr Mike Rander blieben auf der Connaught Road Central immer wieder stehen. Hinreißend war der Blick auf den Meeresarm, der Kowloon von der Insel Hongkong trennt. Nicht umsonst wird Hongkong von erfahrenen Kennern als die schönste Stadt der Welt bezeichnet.

Im tiefen Fahrwasser ankerten Kriegsschiffe und Flugzeugträger Ihrer Majestät der Königin. Schnelle Fähren transportierten wahre Heerscharen von Menschen hinüber nach Kowloon und wieder zurück. Die vielen vorgelagerten kleinen Inseln und die Hafenbecken waren umsäumt und angefüllt mit Hausbooten und Dschunken. Auf Kowloon waren die schroff ansteigenden Berge deutlich zu erkennen. Nur wenige Meilen dahinter befand sich bereits der Bambusvorhang, hinter dem das rotchinesische Territorium beginnt.

Die Räume der »Victoria Bank of Hongkong« waren im Erdgeschoß eines hohen Geschäftshauses aus Beton, Glas und Stahl untergebracht. Mike Rander ließ sich bei dem leitenden Manager anmelden. Sie brauchten nur wenige Minuten zu warten, bis sie zu ihm geführt wurden. Ein rundlicher Chinese mit sehr wachsamen Augen kam freundlich lächelnd auf Rander und Parker zu. Der Mann trug einen europäisch geschnittenen Anzug und stellte sich als Ty Hong vor. Höflich erkundigte er sich nach den Wünschen seiner Besucher.

Mike Rander ging geradewegs auf sein Ziel zu. Er nannte seinen Namen, legitimierte sich und legte seine Vollmachten der Familie Morefield auf den Tisch.

»Sie forschen nach Miss Morefield?« fragte Ty Hong erstaunt zurück. »Aber warum denn das?«

»Es besteht der Verdacht, daß sie entführt worden ist und erpreßt wird«, gab Rander zurück.

»Ausgeschlossen, Sir«, widersprach der Manager und schüttelte den Kopf. »Miss Morefield war erst vor knapp einer Stunde hier bei uns und hob zehntausend Dollar ab!«

»Wie bitte?« Mike Rander sah den Bankmanager ungläubig an.

»Es entspricht den Tatsachen. Ich habe selbst für Miss Morefield die Formalitäten erledigt. Sie erfreute sich bester Gesundheit.«

»Sind Sie sicher, daß es Miss Morefield gewesen ist?«

»Selbstverständlich. Daran besteht gar kein Zweifel.« Ty Hong sprach ein hartes, aber sehr gut zu verstehendes Englisch. »Ich kenne Miss Morefield seit drei Monaten. Seinerzeit habe ich mir alle Unterlagen und Papiere genau angesehen. Ich weiß, daß ich die ganze Zeit über mit Miss Morefield verhandelt habe.«

»Sehr schön.« Mike Rander setzte sich. »Dann wissen Sie auch, wo wir Miss Morefield erreichen können?«

»Ich werde Ihnen die Adresse geben. Schade, daß Sie nicht schon vor einer Stunde gekommen sind, Sie hätten sich dann sofort mit ihr in Verbindung setzen können.«

Ty Hong griff nach einem Scheck, der vor ihm auf der Schreibunterlage lag. Er hielt ihn hoch und wies auf die Unterschrift. Er sagte:

»Das hier ist Miss Morefields Handschrift. Und hier haben Sie auch ihre Adresse. Sie wohnt, warten Sie, an der Repulse-Bay, im Süden der Insel. Ganz in der Nähe des dortigen Country-Clubs.«

»Werden wir das Haus finden?«

»Natürlich. Aber ich mache Ihnen den Vorschlag, Miss Morefield doch anzurufen. Sie hat telefonischen Anschluß. Ich glaube, sie wird gegen Abend bestimmt wieder zu Hause sein. Wie sie mir sagte, wollte sie noch drüben in Kowloon Einkäufe machen.«

»Wie ist die Telefonnummer?«

Der Manager holte einen Zettel und schrieb Adresse und Telefonnummer nieder. Als er Rander den Zettel reichte, schüttelte er noch mal den Kopf.

»Miss Morefield und erpreßt werden? Völlig ausgeschlossen, wenn Sie mich fragen.«

»Wissen Sie, warum sie ihre Wohnung verlassen hat, ohne ihre neue Adresse anzugeben?«

Ty Hong lächelte wissend.

»Miss Morefield ist noch recht jung«, antwortete er. »Vielleicht hat sie eine Romanze. Wer kennt sich in den Herzen junger Frauen aus?«

»Darf ich mir eine bescheidene Frage erlauben?« mischte sich Josuah Parker in die Unterhaltung ein. Dann, bevor er die Erlaubnis dazu bekam, redete er weiter: »Sprach Miss Morefield davon, daß sie den Besuch ihres Vermögens Verwalters erwartete?«

»Nein«, sagte Ty Hong knapp und abwehrend.

»Wurde Miss Morefield heute bei ihrem Bankbesuch begleitet?«

»Allerdings. Sie unterhielt sich mit einem jungen, sehr sportlich aussehenden Mann. Er blieb allerdings im Schalterraum zurück, als Miss Morefield hierher zu mir kam.«

»Ist Ihnen dieser junge Mann bekannt?«

»Leider nein, ich hatte ihn noch nie gesehen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Im Moment nicht«, gab Rander lächelnd zurück. »Mir scheint, alle Fragen werden sich bald beantworten lassen.«

»Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ihnen geholfen zu haben«, sagte der Bankmanager und geleitete sie zur Tür.

Im Korridor lachte Rander leise auf.

»Sie werden sich hier in Hongkong aber noch mächtig anstrengen müssen«, sagte er zu Josuah Parker.

»Und warum, Sir, wenn mir diese Frage gestattet ist?«

»Ich habe das Gefühl, die Chinesen können sich noch wesentlich umständlicher und höflicher ausdrücken als Sie.«

Parker verzichtete auf eine Antwort. Ob er sich Mike Randers Worte durch den Kopf gehen ließ, war fraglich. Im Grunde brauchte er Vergleiche dieser Art ja niemals zu scheuen …

*

Mike Rander stand am Rand der asphaltierten Fahrbahn und sah sich nach einer Rikschah um. Er hatte keine Lust mehr, durch die sengende Hitze zu laufen. Er sehnte sich nach einem kühlen Drink, nach Schatten und nach einer voll aufgedrehten Klimaanlage.

Plötzlich hörte er links neben sich spitze, gellende Schreie. Im gleichen Moment legte sich eine harte Hand auf seine Schulter. Mike Rander wurde ruckartig zurückgerissen, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Bruchteile von Sekunden später sauste dicht an ihm ein schneller Kleinlastwagen vorbei, der nun zurück auf die Fahrbahn tanzte und im Gewühl der auseinanderspritzenden Menschen verschwand.

Mike Rander fluchte in sich hinein. Für Überraschungen dieser Art war die Hitze zu groß. Er hörte hinter sich Josuah Parkers Stimme.

»Ich möchte mir zu bemerken erlauben, Sir, daß das kein Zufall gewesen sein kann.«

»Helfen Sie mir auf, Parker!« Mike Rander war noch etwas benommen. Parker hatte natürlich recht. Er war gerade einem sehr einfachen, aber auch sehr wirkungsvollen Mordanschlag entgangen. Parker hatte ihm wieder in letzter Sekunde das Leben gerettet.

»Einen Moment, Sir.« Parker hatte Rander aufgeholfen. Jetzt zauberte er aus einer seiner Rocktaschen eine schmale Staubbürste. Damit entfernte er einige Schmutzspuren von Randers Anzug. Parker schien den bösen und drohenden Zwischenfall bereits vergessen zu haben. Im Moment interessierte ihn nur Randers Anzug.

»Wir dürften bereits unangenehm aufgefallen sein«, meinte der Anwalt und wehrte Parkers Säuberungsversuche ab. »Verschwinden wir, Parker! Ich habe keine Lust, ein Wurfmesser mit meinem Rücken aufzufangen!«

»Ich möchte mir die Feststellung erlauben, Sir, daß wir wahrscheinlich seit der Landung beobachtet werden.«

»Kaum zu glauben, Parker. Wer weiß denn von unserem Auftrag, vom Termin unseres Eintreffens? Vielleicht ist das eben doch nur ein dummer Zufall gewesen.«

»Ich wage zu widersprechen, Sir. Es handelte sich, wie ich mit aller Deutlichkeit feststellen möchte, um einen wohlüberlegten Mordversuch. Wenn ich so frei sein darf, schlage ich vor, die dortige Rikschah zu nehmen und zurück ins Hotel zu fahren.«

In der Rikschah zündete sich Mike Rander eine Zigarette an. Erst jetzt spürte er den Schock des Anschlages. Nein, ein Irrtum oder ein Zufall schieden aus. Ein Mord war geplant worden. Man hatte ihn wie den Vermögensverwalter Croften umbringen wollen. Hier sollten Dinge verschleiert werden, die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatten. Wer mochte hinter dem Mord an Croften und hinter diesem Mordanschlag stehen? Etwa Jane Morefield? Nun, sie selbst wußte doch nicht, daß ihre Verwandten Rander und Parker beauftragt hatten, hier in Hongkong nach dem Rechten zu sehen. Wer besaß so erstaunliche Informationen? Wer mochte die Karten mischen …?

*

Hell und dünn wie die eines Kindes, so war die Stimme des ehrenwerten Li Wang, der sich am Telefon meldete. Er hatte den Vorzug, mit Josuah Parker zu sprechen. Kaum im Hotel angelangt, hatte Parker diesen Mann angerufen.

»Gern verkaufe ich Ihnen meine Mitarbeit«, sagte Li Wang. »Darf ich Sie in Ihrem Hotel besuchen?«

»Wir erwarten Sie«, antwortete Parker würdevoll.

»Und von wem erfuhren Sie meine Adresse?« Das Englisch des Chinesen war recht schlecht.

»Inspektor McParish.«

»Welch eine Ehre«, gab Li Wang zurück. »Er scheint mir vergeben zu haben. Erwarten Sie mich in einer halben Stunde. Ich werde mich beeilen.«

Josuah Parker legte den Hörer auf und griff gedankenversunken nach seinem Zigarrenetui. Im letzten Moment, als er sie bereits anzünden wollte, dachte er daran, daß er ja nicht allein war. Mike Rander konnte das von Parker gerühmte Aroma dieser Spezialzigarren nicht vertragen und flüchtete regelmäßig, wenn Parker nur nach diesem Etui griff.

Mike Rander befand sich im angrenzenden Badezimmer. Dort stand er unter der Dusche und erfrischte sich. Parker stand am Fenster des Hotelzimmers und schaute auf die See hinaus. Seine sonst so krausen Gedanken liefen auf Hochtouren. Er versuchte, verschiedene Tatsachen und Beobachtungen in ein Schema einzubauen.

Am Luftzug spürte er plötzlich, daß die Tür geöffnet wurde. Als er sich umwandte, sah er zwei Männer, die sich in das Zimmer hineinschoben. Es waren Chinesen, klein, mager, drahtig. Sie trugen korrekte Anzüge und sahen auf den ersten Blick recht harmlos aus.

Nur die Pistolen, die sie in Händen hielten, waren weniger harmlos.

»Was darf und kann ich für Sie tun?« fragte er. Er zuckte mit keiner Wimper, zeigte keine Angst. Vielleicht hatte er sogar keine Angst. Bei Parker war eben alles möglich.

»Gutel Lat geben«, sagte der Chinese, der eine knallrote Krawatte trug und den Wortführer machte. »Gutel Lat geben, velstehen?«

»Ich kann Ihnen geistig folgen«, erwiderte Parker höflich. »Wenn ich richtig verstanden habe, wollen Sie mir einen guten Rat geben.«

»Lichtig«, redete der Chinese weiter. »Da er das ›R‹ nicht aussprechen konnte, hielt er sich an das leichtere ›L‹. »Fahlen Sie sofolt zulück nach England. Hiel zu gefähllich fül Sie, velstehen?«

»Ihre Deutlichkeit läßt viel zu wünschen übrig«, meinte Parker würdevoll. »Von wem stammt dieser Ratschlag, wenn ich fragen darf?«

»Gelbe Dlachen von Hongkong. Sie velstehen?«

»Haben Sie Mister Croften gewarnt, als er in Hongkong landete?«

»Keine Flagen stellen«, meinte der Chinese streng und hob die Mündung seiner Waffe an. »Gehen! Sofolt, vielundzwanzig Stunden Zeit; Velstehen«

»Und falls etwas dazwischenkommt?« wollte Josuah Parker wissen.

»Gelbe Dlachen dann töten«, drohte der Gangster im korrekten Anzug. »Vielundzwanzig Stunden Zeit, dann wil töten!«

»Noch eine Frage. Ist Miss Morefield mit Ihrem Vorgehen eigentlich einverstanden?«

»Zuviel geflagt, keine Antwolt. Denken an Gelbe Dlachen. Will töten molgen!«

»Ich werde es ausrichten«, versprach Josuah Parker höflich. »Vielen Dank für die Warnung. Und meine Empfehlung an den Oberdrachen, falls es ihn geben sollte, was ich allerdings unterstellen möchte.«

Die beiden chinesischen Gangster sahen den Butler aus gefährlich geschlitzten Augen an. Nur zu gern hätten sie geschossen. Doch sie hatten Anweisungen, die vorerst anders lauteten. Sie verbeugten sich und waren im gleichen Moment auch schon aus dem Zimmer verschwunden.

Parker ging zur Badezimmertür und klopfte an. Mike Randers Stimme blieb aus.

Parker klopfte lauter. Er hörte das Rauschen des Wassers, aber nicht die Stimme seines Herrn. Unruhig geworden, öffnete er nun die Badezimmertür.

Die Tür zum angrenzenden, benachbarten Zimmer, in dem Mike Rander wohnte, war weit geöffnet.

Josuah Parker sah für wenige Augenblicke eine schlanke Frau, die einen chinesischen Cheongsam trug, ein Kleid im chinesischen Schnitt, das bis zu den Schenkeln geschlitzt war. Diese Frau huschte wie ein flüchtiger Schatten auf die Eingangstür zu und verschwand.

Der Butler ging durch das Badezimmer, das sein Zimmer von dem Mike Randers trennte. Er rief den Namen des Anwalts, doch die erwartete Antwort blieb aus.

Das Zimmer war leer.

War Anwalt Mike Rander freiwillig gegangen? Oder war er von dem Gelben Drachen bereits gekidnappt worden?

*

Nein, Mike Rander konnte sein Hotelzimmer nicht verlassen haben. Sein Rock hing über der Stuhllehne. Und seine Brieftasche, die herausgezogen war, lag geöffnet auf dem kleinen Schreibtisch. Sie war von der Frau im Cheongsam geöffnet und durchsucht worden.

Gehörte sie zu den beiden chinesischen Gangstern?

Parker widmete sich einer im Moment viel wichtigeren Frage, er suchte nach seinem jungen Herrn, für den er sich in allen Lebenslagen immer verantwortlich fühlte.

Das Rauschen der Dusche lockte ihn zurück in das Badezimmer. Sollte Anwalt Mike Rander von den Besuchern überhaupt nichts bemerkt haben? Parker blieb vor der Duschnische stehen und klopfte gegen die Milchglasscheibe, hinter der das Wasser rauschte.

Als er keine Antwort erhielt, ging er der Sache auf den Grund. Er öffnete die Tür mit der Milchglasscheibe und – fand seinen jungen Herrn. Mike Rander hockte in einer Ecke. Er war an Armen und Beinen gefesselt worden. Über seinem Mund klebte ein breites Heftpflaster.

»Sie ahnen nicht, Sir, wie sehr ich Ihre augenblickliche Situation bedaure«, sagte Parker. Er drehte das Wasser ab und barg den Anwalt. Er schleifte ihn mit erstaunlichen Körperkräften in die Mitte des Badezimmers.

»Soll ich Sie gleich hier entfesseln, oder wäre es Ihnen lieber, diese Prozedur im Salon zu überstehen?«

Der Blick, mit dem Rander seinen Butler maß, sprach Bände. Er ging selbst dem Butler unter die Haut. Josuah Parker machte sich daran, die Stricke zu lösen. Da er ein sparsamer Mensch war, verzichtete er darauf, sie mit einem Messer zu zerschneiden. Er knotete sie los und rollte sie vorsichtig ab. Dann steckte er die dünnen Bindfäden in die Tasche und widmete sich dem Heftpflaster.

Es war schon recht schmerzhaft, es zu lösen. Mike Rander stöhnte, als Parker es mit einem schnellen Ruck abriß. Rander stand auf, hüllte sich in den Bademantel, den sein Butler ihm vorsorglich hingehalten hatte und ging ein wenig taumelnd in seinen Salon. Er ließ sich in einen Sessel fallen.

»Darf ich fragen, Sir, wie lange Sie schon vom Wasser belästigt wurden?« erkundigte sich Parker.

»Viel zu lange«, gab Rander brummig zurück. »Haben Sie denn nichts gehört, Parker?«

»Bedaure, nein, Sir. Ich war meinerseits beschäftigt, wenn ich das an dieser Stelle bemerken und einflechten darf.«

»Wie? Sie sind auch überfallen worden?«

»Nicht in der Weise, wie Ihnen mitgespielt wurde, Sir. Man sah wohl, daß man es mit einem alten verbrauchten Mann zu tun hatte. Die Gelben Drachen benahmen sich überhaupt erstaunlich zurückhaltend, wenngleich sie mit Drohungen auch nicht sparten.«

»Waren es auch bei Ihnen zwei Chinesen?« wollte Rander wissen.

Parker nickte.

»Sie stellten sich als Abgesandte der Gelben Drachen vor. Sie bestehen darauf, daß Sie und meine Wenigkeit innerhalb von vierundzwanzig Stunden Hongkong verlassen, ein Ansinnen, das ich, offen gesagt, Sir, nicht ernst nehmen kann und will.«

»Man will uns also loswerden«, überlegte Rander laut. »Warum, ist mir allerdings noch unklar. Wer weiß denn schon von unserer Existenz, von unserem Fall?«

»Wenn Sie erlauben, möchte ich die bewußten Personen aufzählen.«

»Sie haben sich bereits eine Liste zusammengestellt?« staunte der Anwalt.

»Gewiß, Sir. Da wäre zuerst mal Mister Bannon, der Onkel Miss Morefields, der Ihnen diese Aufgabe übertragen hat. Dann käme Inspektor McParish in Betracht und schließlich Mister Ty Hong, der Manager der Bank. Sie alle wissen sehr genau, weshalb wir uns in Hongkong befinden.«

»Der ermordete Larry Croften, nicht zu vergessen«, warf Mike Rander ein. »Ernest Bannon verständigte ihn von unserer Abreise und Ankunft.«

»Könnte sich in seiner Aktentasche nicht ein Hinweis darauf befunden haben, Sir?«

»Natürlich, Parker, daß wir daran nicht schon gedacht haben.« Mike Rander stand auf und probierte einige Schritte. Es ging bereits wieder. Er hatte die Nachwirkungen seiner kurzfristigen Ausschaltung fast vollständig überwunden.

»Zu dieser bisherigen, vielleicht recht unvollständigen Liste kommt noch eine Dame«, bemerkte der Butler. »Sie befand sich eben noch in Ihrem Zimmer und durchsuchte Ihre Brieftasche, Sir.«

»Eine Frau? Eine Chinesin?«

»Dessen bin ich mir nicht ganz sicher, Sir. Ich sah sie nur von der Seite. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß sie chinesische Kleidung trug.«

»Mein Bedarf an Rätseln ist bereits gedeckt«, meinte Rander und faßte vorsichtig nach der Beule an seinem Hinterkopf.

»Sie möchten Hongkong wieder verlassen, Sir?« Parker sah einen kurzen Moment lang verstört aus.

»Auf keinen Fall!« Mike Rander schlug mit der geballten Faust in seine flache Hand. »Auf keinen Fall, Parker. Jetzt werden wir zum Gegenangriff übergehen. Ich habe es satt, herumgestoßen zu werden. Besorgen Sie uns einen schnellen Wagen!«

»Geh ich richtig in der Annahme, Sir, daß Sie zur Repulse-Bay zu fahren gedenken?«

»Worauf Sie sich verlassen können. Ich will diese Jane Morefield mit meinen eigenen Augen sehen.«

»Ich eile, Sir, Ihren Auftrag umgehend auszuführen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß wir noch den Besuch dieses Mister Li Wang erwarten. Es steht zu erwarten, daß er Informationen über die Gelben Drachen zu verkaufen hat.«

Bevor Mike Rander antworten konnte, klopfte es an der Tür. Sekunden später erschien ein freundlich grinsender, behäbig aussehender Chinese von etwa 45 Jahren. Er trug einen hellen, fast weißen Leinenanzug und verbeugte sich mehrmals.

»Li Wang zu Ihren Diensten«, stellte er sich mit einer hellen, dünnen Kinderstimme vor. Er lächelte derart freundlich, daß Mike Rander innerlich sofort auf größte Wachsamkeit umschaltete …

*

»Was halten Sie von Li Wang?« fragte Mike Rander eine Stunde später seinen Butler. Sie saßen in einem Wagen, den der Chinese besorgt hatte. Parker hatte das Steuer übernommen und hielt sich an die strikten Anweisungen seines jungen Herrn. Er fuhr erstaunlich langsam, was für den Butler zumindest überraschend war.

»Er scheint, um es vorsichtig auszudrücken, Sir, mehr zu wissen als er sagt.«

»Meine Frage nach dem Gelben Drachen hat ihm Magenschmerzen verursacht«, sagte Rander lächelnd. »Immerhin hat er zugegeben, daß es sich um eine gefährliche Geheim-Organisation handelt, der man besser aus dem Weg geht.«

Mike Rander und sein Butler waren auf dem Weg zur Repulse-Bay. Dazu mußten sie quer über die Insel Hongkong fahren. Die gut ausgebaute und asphaltierte Straße schmiegte sich an schroffe Bergrücken. Kleine Wäldchen, Terrassen für den Reisanbau und kleine Seen schufen immer wieder neue Ausblicke. Der Verkehr auf dieser Straße war nur gering. Parker kam zu seinem Leidwesen nicht in den Genuß, Slalom fahren zu können. Zudem achtete Mike Rander scharf darauf, daß Parkers Fahrtemperament nicht zum Ausbruch kam. Rander wollte mit wachen und gesunden Sinnen in Repulse-Bay ankommen …

Der Wagen befand sich inzwischen östlich von Little Hongkong, kurvte über Kehren hinunter zur Deep-Water-Bay und überholte dabei eine Kolonne schwitzender Kulis, die sich mit vollbeladenen Rikschahs abmühten.

Plötzlich mußte der Butler die Bremse treten. Die Straße vor ihnen war gesperrt. Rot-weiß gestrichene Warnbalken beendeten die Fahrt. Ein paar ausgemergelte Straßenarbeiter rammten ihre Spitzhacken in den Asphalt. Ein Richtungsanzeiger deutete die Umleitung an.

Es wurde dämmrig. Die Sonne sank mit atemberaubender Geschwindigkeit, wie es in den Tropen üblich ist. Mike Rander schaute ungeduldig auf seine Uhr.

»Wenn Sie erlauben, werde ich mich bemühen, den wahrscheinlich entstehenden Zeitverlust aufzuholen«, bemerkte Parker.

»Lieber nicht«, schreckte Rander zusammen. »Bleiben Sie bei dem bisherigen Tempo. Es bekommt mir ausgezeichnet.«

Josuah Parker ließ den schweren, weich gefederten amerikanischen Wagen wieder anrollen, steuerte ihn von der Straße und fuhr ihn in den Seitenweg. Hier gab es nur losen Schotter. Ob er wollte oder nicht, Parker mußte das Tempo noch mehr drosseln.

Hinter dem Wagen erhob sich eine wüste Staubfahne, die alles einnebelte. Die Straße wurde derart eng, daß ein entgegenkommender Wagen nicht hätte vorbeifahren können.

Parker trat überraschend die Bremse.

»Was ist los?« fragte Mike Rander.

»Ich habe was entdeckt, Sir, was Sie als ein Haar in der Suppe bezeichnen würden«, erwiderte der Butler. »Ich mußte gerade an die Rikschah-Kulis denken, die wir vor wenigen Minuten passierten.«

»Na und?«

»Die Kulis schwitzen zwar, doch waren sie nicht mit Staub bedeckt, Sir.«

»Ich weiß, daß Sie gern in Rätseln reden«, spottete der Anwalt. »Wo ist das Haar, wo ist die Suppe?«

»Wenn die Kulis diese Umleitung benutzt hätten, müßten sie grau vor Staub gewesen sein, Sir. Mit anderen Worten, wie ich bescheiden vermerken darf, ist die Straßensperre erst wenige Minuten vor unserem Erscheinen errichtet worden!«

»Verflixt, Sie haben recht, Parker. Eine Falle?«

»Ich bin nicht sicher, Sir, doch ich möchte Ihr Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen.«

»Also raus und zurück, Parker. Gehen wir der Sache auf den Grund!«

Parker war einverstanden.

Die beiden Männer stiegen aus, vergewisserten sich, daß sie ihre Waffen bei sich hatten und gingen dann vorsichtig zurück zur Abbiegung. Der aufgewirbelte Staub hatte sich noch nicht gelegt. Parker und Mike Rander konnten ihn vorzüglich als Deckung benutzen.

Plötzlich blieb der Butler stehen.

Im Gegensatz zu Mike Rander schien er etwas gesehen und gehört zu haben.

»Gestatten Sie«, sagte er. Dann warf er seinen jungen Herrn ruckartig hinter einen niedrigen Felsklotz. Er selbst folgte mit Schwung, erstaunlicherweise aber dennoch mit Würde. Bevor Mike Rander Fragen stellen konnte, sah er einige Gestalten, die durch den Staubnebel liefen.

Es handelte sich um schätzungsweise sechs Kulis, die schweigend dem Wagen nachliefen. Sie verhielten sich vollkommen schweigend, eine Tatsache, die die Unheimlichkeit und tödliche Drohung, die von ihnen ausging, nur noch unterstrich.

»Und jetzt?« flüsterte Mike Rander.

»Ich möchte vorschlagen, Sir, die augenblickliche Stellung zu räumen und sich nach einem taktisch günstigeren Punkt umzusehen.«

Im Verlauf der langjährigen Zusammenarbeit hatte Mike Rander es sich abgewöhnt, sich über seinen Butler zu wundern. Die jeweilige Situation mochte noch so heikel und gefährlich sein, Parker hielt an seiner barocken Ausdrucksweise fest. Er ließ sich eigentlich niemals aus seiner Bombenruhe bringen.

Mike Rander folgte seinem Butler.

Josuah Parker übernahm die Führung. Er lotste seinen jungen Herrn vorsichtig zurück auf die Straße. Im nahen Busch- und Strauchwerk konnten sie gut untertauchen. Von ihrem Platz aus erkannten sie auch die Baustelle.

Sie war, um es kurz zu sagen, nicht mehr vorhanden. Sie schien sich in der Luft aufgelöst zu haben. Die weiß-rot gestrichenen Sperren waren weggeräumt worden. Der Asphalt wies kaum Beschädigungen auf. Parkers Instinkt hatte sich als richtig erwiesen. Man hatte ihnen eine raffinierte Falle gebaut.

»Ich wette, daß wir es mit den Gelben Drachen zu tun haben«, flüsterte Mike Rander. »Wollen wir warten, bis die Kerle zurückkommen?«

»Ich schlage vor, Sir, ihnen einen kleinen Denkzettel zu verpassen, um es sehr volkstümlich auszudrücken.«

»Schön, lassen Sie sich etwas einfallen, Parker. Darin sind Sie mir über.«

»Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen, Sir.«

Ohne Mike Randers Antwort und Erlaubnis abzuwarten, verschwand Parker zwischen den Büschen. Mike Rander, der sich bequemer zurechtlegen wollte, schreckte plötzlich zusammen. Er hörte Schüsse, das unangenehme Rattern einiger Maschinenpistolen und anschließend eine peitschende Detonation.

Die Straßenkulis befaßten sich mit dem amerikanischen Wagen. Ob sie bereits wußten, daß die beiden Insassen ihn verlassen hatten? Rander schaute auf seinen 38er hinunter. Der kühle Stahl in der Hand beruhigte ihn. Er kam sich wenigstens nicht wehrlos vor.

»Sir, wenn ich bitten darf …!«

Parker schob sich heran. Er winkte diskret. Mike Rander schnellte hoch, folgte seinem Butler, der es recht eilig hatte. Nach wenigen Minuten verließen die beiden Männer das schützende Gesträuch. Parker wies auf einen kleinen Lastwagen mit geschlossenem Aufbau, der am Straßenrand stand.

»Wenn mich nicht alles täuscht, Sir, muß es sich um den Wagen der Straßenarbeiter handeln«, sagte er. »Darf ich Sie zur Weiterfahrt einladen?«

»Ist der Wagen unbewacht?«

»Jetzt ja, Sir.«

»Und vorher?«

»Ich mußte zwei Chinesen überreden, mir den Wagen abzutreten, Sir. Sie beugten sich meinen Argumenten.«

»Da müssen Sie aber ganz hübsch zugelangt haben«, antwortete Rander ironisch. »Wir sollten uns wenigstens einen Mann mitnehmen. Vielleicht plaudert er einige Details aus.«

»Ich erlaubte mir, daran schon zu denken«, gab Josuah Parker zurück. »Er befindet sich, gefesselt und geknebelt, auf der Ladefläche.«

Rander und Parker nahmen im Fahrerhaus Platz. Bevor sie anfahren konnten, peitschten erneut Schüsse auf. Einige Geschosse schlugen in den kastenförmigen Aufbau. Die Chinesen kehrten zurück. Sie wollten den Diebstahl ihres Wagens verhindern.

Nun, sie wußten schließlich nicht, was Parker als Fahrer zu leisten vermochte. Der Butler legte einen Schnellstart auf den Asphalt, daß die Pneus rauchten. Blitzschnell schaltete er hoch. In wahnwitziger Fahrt preschte der an sich müde Lieferwagen auf die erste Spitzkehre zu.

Mike Rander schloß hastig die Augen, stemmte sich mit den Beinen ab und hielt sich mit beiden Händen am Fenstereinschnitt fest.

Die überbeanspruchten Reifen sangen und pfiffen. Parker brachte den Wagen glücklich um die Kehre und gab wieder Vollgas. Er wäre in diesem Augenblick nicht mehr zu stoppen gewesen.

*

Wie ein riesiges Schwalbennest klebte der große Bungalow an den schroffen Felsen, die steil ins Meer fielen. Eine lange Treppe führte hinunter zu einem kleinen Bootshaus. Am Landungssteg schaukelte eine Motoryacht im Wasser.

In diesem Haus also wohnte Jane Morefield. Sie hätte sich keinen schöneren Platz aussuchen können. Der Blick auf das tiefgrüne Meer war bezaubernd. Jetzt, als die Sonne in der See versank, verwandelte sich die Wasseroberfläche in flüssiges Silber.

Josuah Parker genoß diesen Anblick. Mike Rander hingegen war wesentlich kühler.

»Worauf warten wir noch?« fragte er seinen Butler. »Ich brenne darauf, Miss Morefield kennenzulernen.«

»Darf ich mir die Freiheit nehmen und eine gewisse Arbeitsteilung Vorschlägen?« erwiderte der Butler.

»Wie soll’s laufen?«

»Sie, Sir, könnten sich vielleicht mit Miss Morfield unterhalten. Ich hingegen möchte das Terrain sondieren. Meiner bescheidenen Ansicht nach dürften die Gelben Drachen sich nicht zurückgezogen haben.«

»Schön, sondieren Sie«, meinte der junge Anwalt. »Und wo treffen wir uns?«

»In der Lounge des Repulse-Bays-Hotels, wenn Ihnen dieser Vorschlag genehm ist.«

Mike Rander nickte und winkte eine Rikschah heran. Er nahm darin Platz, nannte den Zielort und ließ sich von dem eifrig losjagenden Kuli abtransportieren. Josuah Parker legte den Griff seines Universal-Regenschirms über den linken Unterarm und schritt zu Fuß hinunter zum Badestrand, der selbst nach Sonnenuntergang noch recht belebt war.

Der Butler schritt vorbei an Bikini-Schönheiten und muskelstarken Strandlöwen. An einem Bootssteg mietete er sich ein kleines Außenborder-Boot und nahm darin Platz. Er kümmerte sich auch jetzt nicht um die ironischen und amüsierten Blicke, die ihm galten. Nun, einen recht seltsamen und skurrilen Anblick bot er schon. Er saß in einem schnittigen Motorboot und trug dazu eine Kleidung, die hier und an diesem Ort wirklich nicht angebracht war.

Er wußte aber mit solch einem Boot umzugehen. Parker legte vom Landungssteg ab und fuhr in mäßigem Tempo hinauf auf die See. Es paßte ihm sehr gut ins Konzept, daß die Nacht überraschend schnell hereinbrach. Selbst wenn man ihn vom Bungalow beobachten wollte, reichte das Licht dazu nicht mehr aus. Ungeniert konnte er sich an die Seeseite von Jane Morefields Bungalow heranpirschen.

Ganz kurz nur dachte er an den kleinen Lieferwagen, den er auf einem Parkplatz abgestellt hatte. Um den sichergestellten, chinesischen Gangster hatte er sich bisher aus Zeitgründen noch nicht kümmern können. Er nahm sich aber fest vor, das so bald wie möglich nachzuholen.

Nach etwa zwanzig Minuten hatte der Butler sich geschickt an den Bootssteg des Bungalows herangeschoben. Er schaltete den Außenbordmotor ab, benutzte seinen Universal-Regenschirm als Paddel und landete dreißig Meter unterhalb des Steges am felsigen Strand. Josuah Parker machte das Boot fest und stieg aus. Ihm kam es darauf an, ungesehen auf das Grundstück zu kommen. Er wollte im Gegensatz zu seinem jungen Herrn nicht als angemeldeter Gast erscheinen …

*

Mike Rander war gebeten worden, in der kleinen Halle auf Miss Morefield zu warten.

Sie war von ihrem Ausflug nach Kowloon noch nicht zurückgekommen, hatte aber angeblich angerufen und mitgeteilt, sie würde etwa gegen 22.30 Uhr eintreffen.

Mike Rander war von einer jungen, sehr attraktiv aussehenden Chinesin empfangen worden. Sie hatte sich als Gesellschafterin und Sekretärin von Jane Morefield vorgestellt. Ihr Name war May Tai Hing, ihr Englisch ausgezeichnet. Den fein durchklingenden Klang nach zu urteilen, mußte sie sich längere Zeit an der Westküste der Staaten aufgehalten haben.

Mike Rander wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich im Bungalow etwas näher umgesehen. Eine unerklärliche Scheu hinderte ihn daran. Seit seinem Eintreten hatte er nämlich das untrügerische Gefühl, daß er beobachtet wurde. Nein, es war eigentlich noch mehr. Er fühlte sich belauert. Er kam sich vor wie auf einem Präsentierteller. Eine leichte Gänsehaut, die ihm über den Rücken lief, konnte er nicht unterdrücken. Er dachte an geräuschlose Wurfmesser, an Seidenschlingen, die sich um seinen Hals legen konnten, er dachte an schallgedämpfte Schüsse und an … die Gelben Drachen.

Im Haus blieb alles unheimlich ruhig. Die Chinesin May Hing hatte sich kurz nach der Begrüßung zurückgezogen. Sie hatte sich mit Randers Erklärung zufrieden gegeben, Miss Morefields Verwandte hätten ihn in geschäftlichen und persönlichen Dingen nach Hongkong geschickt.

Mike Rander zuckte zusammen.

Um ein Haar hätte er sogar einen Schrei ausgestoßen, denn, wie aus dem Boden gewachsen, stand vor ihm ein breitschultriger Chinese, der ihn aus unergründlichen dunklen Augen forschend ansah. Dieser Chinese setzte einen kleinen Tisch vor Rander nieder. Auf diesem Tisch standen eine Karaffe Fruchtsaft, eine Flasche Gin und ein Syphon.

Ohne ein Wort zu sagen, verbeugte sich der Chinese mehrmals, schritt rückwärts davon und verschwand hinter einer Tür aus Glasperlenschnüren. Rander schnappte hörbar nach Luft und genierte sich nicht, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Er hatte Durst.

Nur zu gern hätte er sich etwas erfrischt, doch er riskierte es nicht. Er hatte Angst, eingeschläfert zu werden. Zuviel von gedopten Getränken schwirrten ihm im Kopf herum. Er dachte an Opium, an Haschisch und an Drogen, die ihm als Amerikaner unbekannt waren. Er begnügte sich mit einer Zigarette, schlug die Beine übereinander und wartete geduldig. Insgeheim bedauerte er es, seinen Butler nicht mitgenommen zu haben. Parker hätte sich von dieser bedrohenden, unheimlichen Atmosphäre ganz gewiß nicht beeinflussen lassen.

In der Halle roch es nach verbrannten Räucherstäbchen, ein süßlich, schweres Aroma, das sich auf die Lungen legte. Rander stand auf, trat an eines der beiden breiten Fenster, die einen weiten Blick auf die See gestatteten. Auf dem Wasser war schon nichts mehr zu erkennen. Die Dunkelheit verschluckte alle Einzelheiten.

»Mr. Rander …?«

Wie ein ertappter Dieb drehte der Anwalt sich um. Vor ihm stand die junge, mandeläugige Chinesin, die ihn höflich und distanziert ansah und lächelte. Sie hatte es verstanden, sich unhörbar zu näheren.

»Nachrichten von Miss Morefield?« fragte Rander sofort.

»Nein, wieso? Sie rief ja bereits an«, antwortete May Tai Hing. »Bis sie eintrifft, werden Sie sich noch etwas gedulden müssen. Wenn Sie erlauben, Sir, leiste ich Ihnen etwas Gesellschaft.«

»Aber sehr gern.« Randers Befangenheit wich. Er wies einladend auf die Sesselgruppe unterhalb der Fenster. Arbeiten Sie schon lange für Miss Morefield?«

»Seit drei Wochen«, gab die Chinesin zurück.

»Darf ich einige Fragen stellen?« holte Rander nach.

»Hoffentlich kann ich sie beantworten«, gab May Tai Hing zurück.

»Meine Fragen bestimmt«, sagte Rander lächelnd. »Sind Sie darüber informiert worden, daß Miss Morefield ihren Vermögensverwalter aus den Staaten erwartete?«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Wüßten Sie davon, wenn es so wäre?«

»Selbstverständlich. Ich erledige alle Post.«

»Ich möchte annehmen, daß Sie einen ruhigen Job haben, oder? Viel wird’s doch nicht sein, was an geschäftlichen Dingen zu erledigen ist, oder?«

»Ich glaube, da irren Sie sich, Mr. Rander. Es gibt sogar sehr viel zu tun.«

»Soll das heißen, daß Miss Morefield sich hier geschäftlich betätigt?«

»Natürlich. Miss Morefield ist doch Teilhaberin einer Kleiderfabrikation Sie wissen das nicht?«

May Tai Hing sah Mike Rander mißtrauisch und abschätzend an. Sie wunderte sich, daß der Anwalt nicht orientiert war.

»Ich hatte keine Ahnung«, räumte Rander ein. »Kleiderfabrikation? Wie heißt denn die Firma? Oder ist das ein Geheimnis?«

»Keinesfalls. Die Firma ist bei der Handelskammer registriert und sehr aktiv. Miss Morefield hat einen Aufsichtsratsposten übernommen. Sie beabsichtigt, Damenkleider chinesischen Zuschnitts drüben in den Staaten populär zu machen.«

»Und der Name dieser Firma?«

»Hongkong Silk and Cotton Company. Ich möchte privat dazu sagen, Sir, daß Miss Morefield gut gewählt hat.«

»Oh, jetzt verstehe ich, warum Sie seit drei Wochen nichts mehr von sich hören ließ. Ihre Verwandten in den Staaten waren sehr beunruhigt.«

»Sind Sie deswegen geschickt worden, Sir?«

»Und wegen der Geldabhebungen.«

»O ja, ich weiß. Miss Morefield brauchte natürlich Betriebskapital. Darf ich eine Gegenfrage stellen?«

»Selbstverständlich.«

»Soviel ich weiß, ist Miss Morefield doch die alleinige Erbin des Familienvermögens.«

»Das stimmt.«

»Wieso kümmern sich dann die Verwandten darum, was sie mit ihrem Geld tut? Woher wissen die Verwandten, welche Kontenbewegungen vorgenommen werden?«

»Eine verflixt treffende Frage«, antwortete Mike Rander. »Um ehrlich zu sein, Miss May, darauf kann ich nicht antworten.«

»Die Verwandten fürchten wohl, Miss Morefield könne erpreßt werden, nicht wahr?«

»Jetzt treffen Sie den Nagel auf den Kopf. Sagen Sie, Miss May, woher stammt Ihr ausgezeichnetes Englisch?«

»Ich habe in Los Angeles ein College besucht und längere Zeit in Florida gelebt.«

»Sie kennen Miss Morefield von früher her?«

»Nein, ich lernte sie hier in Hongkong kennen. Um Ihren Verdacht zu zerstreuen, Mr. Rander, Miss Morefield wird weder erpreßt noch gefangengehalten. Lassen Sie es sich von ihr selbst sagen.«

»Klingt alles recht gut«, gestand Mike Rander. »Nur gibt es da einige Dinge, die nicht in das allgemeine Bild passen.«

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur fragend an.

»Der Vermögensverwalter, Mr. Larry Crofton, wurde gleich nach der Landung seiner Maschine ermordet«, redete der junge Anwalt weiter. »Mein Butler und ich wurden vor das Ultimatum gestellt, bis morgen Hongkong zu verlassen. Einigen Leuten hier in Hongkong scheint es nicht zu passen, daß wir uns mit Miss Morefield in Verbindung setzen wollten und noch immer wollen.«

»Wer sollte Sie denn bedroht haben?« fragte May Tai Hing erstaunt.

»Die Gelben Drachen, falls Sie von dieser Gang schon mal gehört haben.«

May Tai Hing stand abrupt auf. Sie war sehr überrascht. Der Hinweis auf die Gelben Drachen schien ihr Angst und Entsetzen einzuflößen.

»Was ist?« fragte Rander und stand ebenfalls auf.

»Ich glaube, ich habe Miss Morefields Wagen gehört«, schwindelte die attraktive Chinesin mit der gertenschlanken Figur. Bevor Mike Rander diesen Irrtum richtigstellen konnte, trippelte sie mit schnellen, kleinen Schritten auf den Glasperlenvorhang zu und verschwand hinter ihm.

Rander wollte ihr folgen, doch als er den Vorhang erreicht hatte, versperrte der muskulöse und gedrungene Chinese ihm den Weg. Er breitete nur seine Arme aus und schüttelte den Kopf.

Rander wollte es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Er ging zurück zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Mit dem gerade Gehörten konnte er noch nichts anfangen. Daß ihn aber Geheimnisse und Gefahr umgaben, stand für ihn fest.

»Mr. Rander …?«

Der Anwalt fluchte in sich hinein.

Wieder hatte er nichts gehört. Die dicken Teppiche auf dem Boden verschluckten jeden Schritt. Miss May Tai Hing stand wieder vor ihm. Ihr Gesicht war maskenhaft starr.

»Miss Morefield hat gerade angerufen«, sagte sie mit etwas hastiger Stimme. »Sie bittet Sie, nicht zu warten. Sie möchten telefonisch einen Termin mit ihr vereinbaren. Sie erwartet morgen Ihren Anruf und zwar bis gegen Mittag.«

»Sie haben gerade mit Miss Morefield gesprochen?« gab Rander ungläubig zurück.

»Wie ich sagte, sollen Sie einen Termin mit Miss Morefield vereinbaren«, wiederholte die Chinesin noch mal. »Der Hausdiener wird Sie zur Tür bringen.«

May Tai hing klatschte in die Hände. Der Vorhang aus Glasperlenschnüren teilte sich, der vierschrötige, muskelbepackte Chinese trat höflich und devot näher. Unter vielen Verbeugungen brachte er Mike Rander an die Tür.

Rausgeschmissen, sagte sich Rander. Zum Teufel, was mag sich in diesem Bau abspielen. Ich möchte fast wetten, daß Jane Morefield längst zu Hause ist.

Er ging durch den weiträumigen Vorgarten, der betörend nach Blüten duftete. Der feine Kies knirschte unter seinen Schuhen. Im aufkommenden Wind einer Brise raschelten die Blätter. Von weither waren die Rhythmen einer modernen Tanzkapelle zu hören.

Der Anwalt hatte das niedrige Gartentor noch nicht ganz erreicht, als er ein seltsames Geräusch hörte, das einem unterdrückten, gequälten Aufschrei glich.

Rander blieb sofort stehen.

Hatte er sich nur getäuscht? Sollten ihm die aufgepeitschten Sinne einen üblen Streich gespielt haben?

Nein …! Da war wieder dieser seltsame Aufschrei. Eiskalt rieselte es ihm über den Rücken. Er war jetzt sicher, daß eine Frau geschrien haben mußte.

Spontan wollte er sich umdrehen und zurück zum Haus gehen.

Da teilte sich das Strauchwerk dicht neben ihm. Im schwachen Mondlicht war die gedrungene Gestalt des Chinesen zu erkennen. Der Mann schüttelte nur schweigend den Kopf und wies auf das Gartentor.

Mike Rander verzichtete auf alle Fragen.

Er ging, aber er dachte gerade in diesem Augenblick sehr intensiv an seinen Butler Josuah Parker …

So spontan Josuah Parker auch zu handeln pflegte, wenn er sich zu irgendeinem Schritt erst mal entschlossen hatte und ihn ausführte, dann traf er alle Vorkehrungen, um jede Peinlichkeit im voraus auszuschalten.

Nach seinem geglückten Landeunternehmen inspizierte er zunächst den Bootssteg, an dem das schnell und schnittig aussehende Motorboot festgemacht war. Es handelte sich um einen Kajütenkreuzer, dessen Twin-Außenborder leicht zugänglich waren. Es handelte sich um starke Evinrude-Motoren, die sehr schnelle Fahrt versprachen.

Das Boot war leer.

Der Butler dachte selbstverständlich sofort daran, diese beiden Motoren unbrauchbar zu machen. Für den Fall einer hastigen Fahrt wollte er auf dem Wasser nicht unnötig belästigt werden.

Jeder andere Mensch hätte nun an den Motoren herummanipuliert und vielleicht die Vergaser oder Benzinleitungen zerstört. Parker dachte anders. Was er auch immer tat, es mußte einen besonderen Pfiff haben. Er legte stets Wert darauf, daß seine Gegner immer mehr oder weniger liebevoll an ihn zurückdachten.

Er benötigte einige Minuten, bis er das gefunden hatte, wonach ihm der Sinn stand. Er interessierte sich für eine Kabeltrommel, die er in der Nähe des kleinen Bootshauses fand. Wahrscheinlich war eine telefonische Verbindung vom Bootshaus hinauf zum Bungalow geplant und noch nicht fertiggestellt worden.

Der Butler spulte ein gutes Stück Kabel ab und befestigte es geschickt und gekonnt an dem Haltegestänge der beiden Außenbordmotoren. Er spulte das Kabel weiter ab und band es an dem Eisengeländer der steilen Treppe fest, die hinauf zum Bungalow führte. Natürlich sorgte er dafür, daß das Kabel viel Spielraum erhielt. Um eine gewisse Zerreißfestigkeit zu erzielen, legte er einen zweiten und dritten Kabelstrang aus. Er richtete alles so ein, daß das Motorboot durchaus normal gestartet und vom Steg weggebracht werden konnte. Nach etwa fünfzig Metern aber strammte sich dieses dreifache Kabel und zeigte das Bestreben, das davonpreschende Boot festzuhalten. Was dann passierte, konnte sich der Butler leicht ausrechnen. Dazu gehörte wirklich keine große Phantasie.

Nach dieser Montagearbeit schritt Josuah Parker würdevoll hinauf zum Bungalow. Was ihn dort erwartete, wußte er nicht. Innerlich erwartete er allerdings Überraschungen. Schließlich war nicht umsonst der Versuch unternommen worden, sie auf der Hinfahrt nach Repulse-Bay mit Maschinenpistolen zu begrüßen.

Parker hatte das Ende der langen und steilen Treppe noch nicht erreicht, als er plötzlich einen Schrei hörte, der die Nacht wie ein scharfes Messer durchschnitt.

Parker fühlte sich sofort für seinen jungen Herrn verantwortlich. War er angegriffen worden? Mußte er sich mit den Gelben Drachen auseinandersetzen? Der Butler pfiff auf seine Würde, jagte den Rest der Steinstufen hinauf und erreichte einen weiträumigen, sehr gepflegten Garten, in dem sich das Mondlicht niedergelassen hatte.

Bis auf ein Fenster war die Rückseite des Bungalows unbeleuchtet.

Parker benutzte die Sträucher als Deckung. Er pirschte sich schnell und gekonnt an das Haus heran. Er war sicher, daß er dabei nicht beobachtet wurde.

Doch er sollte sich gewaltig täuschen.

Nach etwa zwanzig Schritt hörte er hinter sich ein eigenartig gefährliches Geräusch. Blitzschnell drehte er sich um. Und in diesem Augenblick verspürte selbst Josuah Parker so etwas wie ein grauen, das für Bruchteile von Sekunden seine Nerven und Muskeln lähmte. Ja, im ersten Moment glaubte er sogar zu träumen.

Über den weichen, kurz geschorenen Rasen federte ein riesiger, gefleckter Hund auf ihn zu. Dieses Tier verhielt sich unheimlich still. Aber es wußte genau, wen es anzufallen hatte.

Weit zurück war die Silhouette eines Mannes zu sehen, der diesen Hund wohl von der Kette gelassen haben mußte. Parker dachte nicht einen Augenblick lang an Flucht. Er war sich klar darüber, daß er diesem Tier nicht entkommen konnte.

Dann kam der zweite Schock für den Butler …!

Josuah Parker konnte den angeblichen Hund identifizieren. Das Tier war schon nahe genug herangekommen. Es handelte sich nicht um einen Hund, sondern um einen Panther! Was er von solch eine blutrünstigen Bestie zu halten hatte, war dem Butler bekannt. Wenn ihm nicht schleunigst etwas einfiel, war er verloren. Es blieb keine Zeit mehr, den vorsintflutlichen Colt aus der Tasche zu ziehen. Zudem hätte solch ein Schießeisen mehr Krach verursacht als ein Böllerschuß.

Der Butler hatte die rettende Idee. Sie kam ihm instinktiv, ohne langes Überlegen.

Er stemmte sich mit den gespreizten Beinen fest gegen den weichen Rasen ab und … spannte seinen Universal-Regenschirm auf. Zuverlässig und prompt funktionierte seine Geheimwaffe. Der Schirm entfaltete sich wie ein schützendes Dach.

Im gleichen Augenblick drückte sich der Panther vom Rasen ab. In herrlichem Flug schoß das geschmeidige Tier durch die Luft. Die Vorderpranken mit ihren langen, messerscharfen Krallen warteten nur darauf, sich in den Hals des Opfers versenken zu können.

Der Panther war verständlicherweise verblüfft, als er sein Opfer plötzlich nicht mehr sah. Er sah vor sich nur ein kreisrundes schwarzes Etwas, das ihm die Sicht nahm. Da das Tier seinen Sprung aber nicht abbrechen konnte, landete es genau auf dem Regenschirm.

Mißmutig fauchte es, zumal Josuah Parker auf den am Griff versteckt angebrachten Alarmknopf gedrückt hatte. Aus dem unteren Teil des Schirmstocks zischte eine lange, nadelspitze Degenklinge hervor, die das Bauchfell des Tieres empfindlich kitzelte.

Parker sprang ein, zwei Schritte zurück und erwartete den nächsten Angriff. Er konnte sich schlecht vorstellen, daß das Tier schon jetzt aufgab. Es dürstete nach Blut, es wollte sein Opfer haben.

Doch der Panther steckte tatsächlich auf. Er hatte, wie es so treffend heißt, genug. Er verspürte einigen Schmerz auf der Bauchseite und war zudem derart verwirrt, daß er sich mit aller Kraft nach seinem sicheren Käfig zurücksehnte. Kurz, das Tier trat einen schnellen und gekonnten Rückzug an. Parker konnte eine kleine Verschnaufpause einlegen.

Sie währte allerdings nicht lange.

Der Tierwärter war Zeuge dieser Pleite geworden. Er stieß einen schrillen Pfiff aus. Dieser Pfiff wurde von anderen Pfiffen beantwortet. Der ganze Garten schien zu antworten. Das erleuchtete Fenster auf der Rückseite des Bungalows erlosch.

Parker wäre freilich nicht zurück zum Bootssteg gelaufen. Die Straße vor dem Bungalow war ja bedeutend näher. Aber dieser Weg war ihm versperrt. Einige finstere Gestalten tauchten aus den Büschen auf. Sie schossen nicht, aber sie arbeiteten dafür mit Messern. Sie schleuderten, was die Handgelenke hergaben. Nur der Regenschirm bewahrte den Butler vor einem bösen Treffer. Die zähe Schirmseide, die mit dünnen Stahldrähten durchsetzt war, fing den Messerhagel auf und ließ die Klingen wirkungslos abprallen.

Der Butler hielt es in Anbetracht dieses massierten Angriffes für geraten, das Feld zu räumen. Gegen solch eine Übermacht konnte selbst er nichts ausrichten.

Nun zeigte sich aber, was in dem Butler stak.

Er begnügte sich nicht mit einer wilden Flucht. Nein, er hielt sich an einen durchaus geordneten Rückzug, der seiner inneren Würde entsprach. Er verschwand hinter schützenden Sträuchern, täuschte seine Gegner und lockte sie zur Straßenseite hinüber. Nach dieser Finte schritt der Butler zurück zu der steilen Treppe und schickte sich an, nach unten zu gehen.

Das ging natürlich nicht ohne gewisse Komplikationen ab.

Zwei stämmige Chinesen bauten sich vor ihm auf. Sie waren wohl als Treppenwache zurückgelassen worden. Sie stürzten sich sofort auf Parker und hatten das einzige Bestreben, ihn über die steilen Klippen hinunter ins Wasser zu befördern.

An Luftreisen dieser Art kaum interessiert, ging der Butler etwas aus sich heraus. Er benutzte seinen leicht zerfetzten Regenschirm als Degen. Übrigens nicht zum ersten Mal. Er schüchterte damit, seine Gegner ein, trieb sie an den Rand der Klippen zurück und zwang sie, hinunter ins schäumende Wasser zu springen. Er unterstellte, daß. sie schwimmen konnten. Bevor er sich dessen vergewissern konnte, mußte er allerdings seine Absetzbewegung fortsetzen.

Die übrigen Angreifer hatten nämlich inzwischen bemerkt, daß sie getäuscht worden waren. Eine harte Befehlsstimme rief sie zurück zur Treppe. Parker schritt nach unten, wo das rettende Boot auf ihn wartete. Er wollte die Dinge nicht auf die Spitze treiben. Zudem war ihm an einem kleinen Vorsprung durchaus gelegen.

Unten am felsigen Strand angekommen, bog der Butler zu seinem Boot ab, drückte sich von Land und startete es. Der kleine Außenbordmotor war sofort da. Der Butler legte den Universal-Regenschirm neben sich, setzte sich die schwarze steife Melone zurück und stach in See.

Die Verfolger waren schnell. Sehr schnell sogar.

Sie jagten die Stufen hinunter, liefen mit ihren nackten Füßen über den Bootssteg und warfen sich in den Kajütenkreuzer. Sie verzichteten darauf, auf Parker zu schießen. Für sie war der Butler nämlich bereits ein toter Mann.

Ihr Boot mußte in jedem Fall viel schneller sein. Es war klar, daß sie Parker auf offener See rammen und erledigen wollten. Die notwendigen Voraussetzungen dazu waren ja bestens gegeben.

Parker hatte keine Eile.

Er vertraute dem dreifach geschlungenen Kabel, er baute darauf, daß die Verfolger sich nicht die Zeit nahmen, alles genau zu kontrollieren. Und genauso war es dann auch.

Die beiden Evinrude-Außenborder röhrten wie Urwelttiere auf. Das Boot wurde losgemacht und nahm sofort volle Fahrt auf. Hoch schäumte die Bugwelle auf. Im silbernen Mondlicht war sie besonders gut und deutlich zu erkennen.

Parker schlitterte mit seinem kleinen Boot etwas zur Seite, um besser sehen zu können. In wenigen Augenblicken mußte die rasende Fahrt des lospreschenden Kajütenkreuzers enden.

Da passierte es auch schon!

Das dreifach geschlungene Kabel hatte sich aufgespult. Es zerrte an der Halterung der beiden Außenbordmotoren. Durch das Boot ging ein kurzer, harter Ruck, als sei es von einer unsichtbaren Riesenfaust gestoppt worden.

Das Kabel war stark genug.

Krachend riß es das Haltegestänge aus der Bordwand. Die beiden schweren Motoren wirbelten durch die Luft und landeten im aufklatschenden Wasser. Das Boot hob sich mit dem Heck aus dem Wasser, stieg steil hoch, machte eine fast höfliche Verbeugung und bohrte sich dann mit dem Bug ins Wasser.

Holz splitterte, Glas barst klirrend auseinander. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich der Kajütenkreuzer in ein U-Boot und ging auf Tauchstation.

Nach weiteren Sekunden tauchten die Köpfe der Besatzungsmitglieder an der Wasseroberfläche auf. Die Chinesen paddelten zurück an Land. Sie gaben die Verfolgung auf. Sie straften den Butler mit Verachtung und kümmerten sich nicht weiter um ihn.

Parker aber zündete sich im Vollgefühl seiner soeben vollbrachten Taten eine seiner spezialangefertigten Zigarren an und stuckerte langsam zurück zum Bootsverleih …

*

Am frühen Morgen schon fanden Mike Rander und Butler Parker sich im Polizei-Hauptquartier ein. Inspektor McParish, drahtig und frisch, empfing sie freundlich.

»Hoffentlich hatten Sie eine ungestörte Nacht«, meinte er.

»Wir konnten uns nicht beklagen, Inspektor«, antwortete Mike Rander. »Die Gelben Drachen scheinen eine kleine Verschnaufpause eingelegt zu haben.«

»Damit haben Sie sich etwas eingehandelt«, erwiderte der Inspektor. »Diese Gangster werden Ihnen keine Ruhe gönnen. Sie haben es geschafft, innerhalb weniger Stunden Arger mit der gefährlichsten Gang von Hongkong zu bekommen.«

»Sind diese Leute tatsächlich so gefährlich?«

»Noch gefährlicher.« McParish zündete seine Pfeife an. »Diese Leute sind wie Schatten, die man nicht greifen kann. Überall haben sie ihre Vertrauensleute und Spitzel. Aus Angst vor einem Messer machen alle mit, die von den Gelben Drachen angesprochen werden.«

»Haben Sie den Chinesen bereits verhört, den Parker zusammen mit dem Lieferwagen abgeliefert hat?«

»Ich hab’ mir die Mühe gemacht, Resultat, wie erwartet, gleich Null. Diese Leute reden nicht, Rander. Sie erdulden lieber die schlimmste Folter, als auch nur ein einziges Wort zu sagen. Was übrigens nicht besagen soll, daß ich den Chinesen scharf verhört habe.«

»Auf was haben die Gelben Drachen sich eigentlich spezialisiert?«

»Fragen Sie lieber, womit sie sich nicht befassen. Die Skala der Verbrechen reicht vom einfachen Diebstahl über Schmuggel bis zur Entführung und Erpressung. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Sie in Lebensgefahr schweben.«

»Das hört sich nicht freundlich an.«

»Wenn Sie einen privaten Rat annehmen wollen, Rander, dann packen Sie schleunigst die Koffer und verschwinden. Ich gebe offen zu, daß ich Sie nicht schützen kann.«

»Wir werden natürlich bleiben«, meinte der junge Anwalt, »Mein Butler ist der Meinung, daß dieser Fall interessant zu werden verspricht. Dagegen komme ich nicht an. Haben Sie sich bereits um Miss Jane Morefield gekümmert?«

»Sergeant Noreland war schon in aller Frühe drüben in Repulse-Bay und befaßte sich mit Ihren Beobachtungen.«

»Hat er Miss Morefield gesehen und gesprochen?«

»Selbstverständlich.«

»Verrückt«, murmelte Rander. Dann redete er lauter weiter. »Ich ahne schon, daß alles abgestritten worden ist, wie?«

»Erraten, Rander. Von einem Panther weiß man im Bungalow nichts. Auch nichts von einer Hetzjagd durch den Garten.«

»Was ist mit dem Boot, das absoff?«

»Auch von einem Boot weiß man nichts, Rander. Schütteln Sie nicht ungläubig den Kopf! Am Steg lag gut vertäut ein Kajütenkreuzer, genau der, den Parker versenkt hat! Natürlich, ich weiß, daß Parker nicht geschwindelt hat. Aber die Chinesen haben es innerhalb weniger Stunden verstanden, alle Spuren zu beseitigen.«

»Halten die Gelben Drachen uns für dumm?«

»Bestimmt nicht, Rander. Aber sie kennen die Gesetze. Sie lassen es darauf ankommen, daß Aussage gegen Aussage steht. Damit binden sie der Polizei die Hände. Aufgrund welcher Tatsachen soll ich eingreifen, soll ich etwas unternehmen? Äußerlich betrachtet, liegt keine Handhabe gegen Miss Morefield vor.«

»Noch einmal, Inspektor, handelt es sich wirklich um Miss Morefield?«

»Sergeant Noreland ließ sich natürlich ihre Papiere zeigen. Sie sind vollkommen in Ordnung. Es stimmt auch, daß sie Teilhaberin der Hongkong Silk an Cotton Company geworden ist. Diese Vorgänge sind ordnungsgemäß von der Handelskammer registriert worden. Ihnen bleibt eine Möglichkeit, Miss Morefield anzurufen und sich mit ihr zu verabreden.«

»Ausweise kann man fälschen. Wer garantiert mir, daß ich Miss Morefield gegenüberstehen werde?«

»Sie besitzen kein Bild von ihr?«

»Vergessen Sie nicht, daß wir von England aus nach Hongkong geflogen sind. Hier wollten wir ja Verbindung mit Anwalt Croften aufnehmen.«

»Er wird Miss Morefield gut gekannt haben, wie?«

»Natürlich. Drüben in den Staaten hat er sie sehr oft gesehen.«

»Deshalb ist er hier wohl ermordet worden«, gab Inspektor McParish zu überlegen. »Er hätte Miss Morefield identifizieren können. Können Sie sich keine Bilder aus den Staaten besorgen, Rander?«

»Das haben wir bereits in die Wege geleitet, McParish. Ich hoffe, daß sie in drei oder vier Tagen hier sein werden. Bis dahin müssen wir halt improvisieren.«

»Sie wollen also bleiben, wirklich?«

»Ganz sicher, Inspektor. Fragen Sie doch Parker.«

McParish wandte sich Josuah Parker zu, der bisher geschwiegen hatte. McParish mußte unwillkürlich lächeln, als er den skurril aussehenden Butler vor sich sah.

»Ich beuge mich selbstverständlich den Wünschen meines Herrn«, sagte Parker, die wirklichen Tatsachen leicht verdrehend. »Mister Rander besteht darauf, diesen Fall zu Ende zu bringen. Es ist für mich eine Frage der Loyalität, diese Wünsche zu respektieren.«

»Glauben Sie ihm kein Wort«, meinte Rander lächelnd. »Er besteht darauf, nicht ich.«

»Ich kann Sie nur warnen«, sagte McParish. Sein Gesicht verzog sich sorgenvoll. »Sie spielen mit Ihrem Leben! Vergessen Sie nicht, daß die Abreisefrist gegen Mittag abläuft! Danach sind Sie Freiwild für die Gelben Drachen!«

*

»Und jetzt?« fragte Mike Rander, als sie das Hauptquartier der Polizei verließen. »Beruhigend zu wissen, daß uns kein Mensch helfen kann.«

»Ich würde vorschlagen, Sir, so zu handeln, wie es die Gelben Drachen von uns nicht erwarten. Man müßte versuchen, Verwirrung zu stiften.«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Man wird erwarten, daß wir Miss Morefield anrufen und mit ihr einen Termin vereinbaren.«

»Das sollten wir sogar. Ich will diese Miss Morefield endlich mal aus der Nähe sehen.«

»Darf ich vorschlagen, Sir, erst einen mehr oder weniger flüchtigen Blick auf jene Firma zu werfen, in die Miss Morefield als Teilhaberin eingestiegen ist.«

»Was versprechen Sie sich davon?«

»Im Moment, das gestehe ich ein, Sir, könnte ich darauf keine präzise Antwort geben.«

»Also gut, Parker, sehen wir uns diesen Laden an. Haben Sie die genaue Adresse?«

»Ich war so frei, sie mir bereits zu verschaffen. Die Firmenräume befinden sich im Stadtteil Wanchai, genauer gesagt, in der Jaffee Street. Wenn Sie erlauben, besorge ich ein Taxi.«

»Sind Sie dann auch sicher, daß der Fahrer kein Mitglied der Gelben Drachen ist?« fragte Rander ironisch.

»Diese Garantie kann ich Ihnen in der Tat nicht geben, Sir. Ich pflichte Ihnen allerdings bei, daß Sie und meine Wenigkeit ununterbrochen beschattet und beobachtet werden.«

»Beunruhigende Aussichten, Parker. In England habe ich mich wohler gefühlt, selbst in Brighton, als wir uns mit den Beachcombern herumschlagen mußten. Da konnte man wenigstens die Gesichter unterscheiden. Hier erscheint mir das unmöglich.«

Parker bemühte sich um ein Taxi.

Er winkte das erste an den Straßenrand heran, warf einen Blick in das Innere des Wagens und schickte den Fahrer wieder fort. Erst den vierten Wagen nahm Parker. Er hoffte, mit diesem Verfahren Spitzel ausschalten zu können.

Als Rander und er im Fond saßen, nannte er dem Fahrer das Ziel in Wanchai. Während der Fahrt drehte der Butler sich wiederholt um. Er studierte aufmerksam den Verkehr, der ihnen folgte.

»Können Sie was feststellen?« erkundigte sich Mike Rander.

»Unmöglich, Sir«, antwortete Josuah Parker. »Ich muß ehrlich gestehen, daß die Schwierigkeiten wachsen. Damit erhöht sich aber, wie ich sofort bemerken möchte, meine echte Freude an diesem Fall. Ich hoffe, das auch bei Ihnen unterstellen zu können.«

»Sie haben vielleicht Nerven«, murmelte Mike Rander. »Wie gut könnte ich es in den Staaten haben. Aber nein, ich muß mich am laufenden Band mit Gangstern hemmschlagen.«

Josuah Parker hütete sich, auf Mike Randers Klagen einzugehen. Er kannte schließlich die kurzfristigen Depressionen seines jungen Herrn, die meist schnell vorübergingen, sobald sich wieder etwas ereignete. Und Parker war sehr sicher, daß die Gelben Drachen ihnen kaum eine Atempause gönnen würden.

Je näher sich das Taxi dem Stadtteil Wanchai näherte, desto unübersichtlicher wurden die Straßen. Das Gewimmel der Menschen nahm beängstigende Formen an. Der Taxifahrer erwies sich als ein Künstler seines Berufs. Selbst Josuah Parker mußte neidlos anerkennen, daß er von diesem mageren Mann mit dem undurchdringlichen Gesicht noch einiges lernen konnte.

Es war schon nicht mehr rücksichtslos, wie der Fahrer sich seinen Weg durch das Menschengewimmel bahnte. Brutal steuerte er die Menschen an, ließ ununterbrochen die schrille Hupe gellen und kam dennoch ohne die geringste Kollision ans Ziel.

Das Taxi hielt vor einem mächtigen Holzbau, der insgesamt drei Stockwerke aufwies. Von den Etagengalerien flatterten Reklamebänder und Fahnen herab. Im Erdgeschoß waren ein Restaurant, eine Art Café und ein Babierladen untergebracht.

Von einem Firmenschild der Hongkong Silk Cotton Company war weit und breit nichts zu sehen …

»Sind Sie sicher, Parker, daß wir in der Jaffee Street sind?« fragte Rander seinen Butler.

»Einen Eid, Sir, würde und könnte ich darauf nicht ablegen«, gab Josuah Parker ehrlich zurück. »Wenn Sie gestatten, werde ich aussteigen und erste Erkundigungen einziehen.«

»Sie trauen diesem Braten wohl nicht, wie?«

»Es ist mehr mein ehrliches Bestreben, Sir, Ihnen jeden Ärger vom Leibe zu halten«, gab Parker höflich und würdevoll zurück. »Ich werde mich bemühen, in wenigen Minuten wieder zurück zu sein.«

Mike Rander und Parker stiegen aus, entlohnten den Taxifahrer und trennten sich. Sie warteten, bis der Wagen im Gewühl der Straße verschwunden war. Dann nahm Parker seinen Universal-Regenschirm hoch, kümmerte sich nicht weiter um die neugierigen Blicke, die ihn trafen, und verschwand im schmalen Eingang des Hauses, der sich zwischen Babierladen und Café befand.

Eine ausgetretene Holztreppe führte hinauf in den ersten Stock. Am Fuß dieser Treppe waren Firmenschilder und eine Art Lageplan des Hauses angebracht. Parker informierte sich. So sehr er aber auch suchte, die Firmentafel der »Hongkong Silk und Cotton Company« war nicht zu entdecken. Die neu gegründete Firma schien sich noch nicht richtig etabliert zu haben.

Auf der Treppe erschien ein Chinese, der den traditionellen Baumwollkittel und lange, breite Hosen trug. Er verbeugte sich wie ein Automat und grinste Parker freundlich an.

»Ich suche die Silk and Cotton Company«, sagte Parker.

»Oh, Silk und Cotton, Sil«, meinte der Mann mit den geschlitzten Augen. »Nach oben gehen, velstanden?«

Parker verneigte sich ebenfalls und betrat die Treppe. Er war verstanden worden. Das beruhigte ihn. Die Firma schien hier im Haus bekannt zu sein.

Rüstig und munter stieg er nach oben.

Als er jedoch den ersten Treppenabsatz hinter sich gebracht hatte, hörte er plötzlich das Gewisper von Stimmen.

Parker drehte sich um.

Ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete er die drei Chinesen in blauen Kitteln, die sich anschickten, ihm zu folgen. Als sie merkten, daß Parker sie entdeckt hatte, gaben sie das vorsichtige Schleichen auf und rannten ihm entgegen.

Parker kam nun zu dem treffenden Schluß, daß diese drei Chinesen etwas von ihm wollten. Er war, wie er es ausgedrückt hätte, äußerst peinlich berührt.

Um jedem Nachteil aus dem Weg zu gehen, wollte er weiter nach oben steigen.

Doch auch das stieß nun plötzlich auf Hindernisse.

Auf dem Treppenabsatz der ersten Etage hatten sich ebenfalls drei blau bekittelte Chinesen aufgebaut. Sie warteten darauf, daß Parker ihnen in die Arme lief.

Eine Falle also …! Der Taxifahrer mußte trotz der scharfen Auswahl Parkers ein Gelber Drache gewesen sein. Und er hatte ihn und Mike Rander auch prompt in die Arme der Gegner befördert …

Josuah Parker, um einen Ausweg niemals verlegen, schätzte seine in diesem Fall beengten Möglichkeiten ab. Er entschloß sich, einen Rückgriff auf die Tage seiner unbeschwerten Kindheit zu tun.

Blitzschnell schwang er sich rittlings auf das glatt polierte Treppengeländer, zog die Beine wie ein Reiter an und ließ sich rasant nach unten sausen.

Den schwarzen Universal-Regenschirm stemmte er rechtwinklig ab. Er sollte die drei Chinesen von den Beinen mähen.

Parkers Rechnung ging zuerst mal auf.

Wie eine niederzischende Bombe fuhr er nach unten. Er hatte die Technik des Geländerrutschens noch nicht verlernt. Er säbelte auch die drei Gegner von den Beinen.

Parker schien bereits gerettet zu sein.

Er landete sicher auf den Beinen, hörte hinter sich die schrillen und aufgeregten Schreie seiner chinesischen Gegner und wollte sich würdevoll wie möglich auf die Straße begeben.

Doch weit kam er nicht.

Vor ihm hatten sich zwei weitere Chinesen aufgebaut.

Sie schienen einer höheren Klasse anzugehören, denn sie trugen europäische Kleidung. Und dazu je eine Maschinenpistole, deren Mündungen auf Parkers Leib gerichtet waren.

Der Butler blieb sofort stehen.

»Ich fürchte«, sagte er, »daß ich Ihren Überredungskünsten kaum widerstehen kann. Wenn Sie erlauben, beende ich hiermit meine Flucht.«

Dann hob er andeutungsweise die Arme und befand sich damit in der Gewalt seiner Gegner …

*

Anwalt Mike Rander hatte sich eine Zigarette angezündet und wartete auf seinen Butler.

Was sich im Haus abspielte, wußte und ahnte er nicht. Der Lärm zwischen den Häusern und Buden war derart stark, daß seine Trommelfelle litten. Er schlenderte ein Stück die Straße hinunter und beobachtete das Leben und Treiben.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.

In einer engen und dunklen Gasse hatte er für wenige Augenblicke das Gesicht einer weißen Frau gesehen. Sofort dachte er an Jane Morefield. Es lag durchaus im Bereich des Möglichen, daß sie es war, denn nur wenige Schritte von hier entfernt befanden sich ja die Räume ihrer Firma.

Mike Rander nahm diese Spur sofort auf. Er brannte ja darauf, sich mit Jane Morefield gründlich unterhalten zu können. Der junge Anwalt betrat die enge, übelriechende Gasse. Er stellte sich ein paarmal auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die weiße Frau schien sich aber in Luft aufgelöst zu haben. Sie war verschwunden.

Rander mußte sich eingestehen, daß er abgeschüttelt worden war. Er wollte zurückgehen zur Hauptstraße. Da fühlte er zwei starke Arme, die sich um seine Schultern legten. Sie preßten seine eigenen Arme fest gegen seinen Körper und machten ihn im ersten Moment wehrlos.

Mike Rander war aber aus einem guten und harten Holz geschnitzt. Kaum angegriffen, wehrte er sich bereits. Und wie er sich wehrte …!

Er wußte, was Judo war, und hatte diese Kampfart intensiv studiert.

Geschmeidig und durchtrainiert warf er sich nach vorn. Er katapultierte seinen Angreifer über den Kopf hoch in die Luft, warf sich zur Seite und entging so einem kleinen Sandsack, den ein zweiter Gegner ihm auf den Schädel schmettern wollte.

Die harmlosen Passanten um ihn herum entpuppten sich plötzlich als Gegner. Sie drangen auf den amerikanischen Anwalt ein. Aber sie behinderten sich gegenseitig und gaben Rander die Chance, sich erfolgreich zu wehren.

Automatisch spielte Rander seine gekonnten Tricks aus. Er benutzte dazu nicht nur die Arme und Hände, sondern setzte auch seine Beine und Füße ein. Er war tatsächlich besser als die Angreifer, die sich nur auf ihre Muskeln und auf ihre Übermacht verließen.

Innerhalb weniger Sekunden segelten einige Chinesen hoch durch die Luft und knallten krachend gegen dünne Ölpapierwände. Andere wieder blieben keuchend und angeschlagen auf dem schmutzigen Boden liegen. Mike Rander arbeitete sich warm. Bisher war er noch nicht in die Versuchung gekommen, seine Schußwaffe zu ziehen.

Als dann aber einige Messerklingen aufblitzten, griff er rasch zu diesem letzten Mittel. Er feuerte zwei Warnschüsse dicht über die Köpfe der noch auf den Beinen stehenden Angreifer und verschaffte sich damit Respekt. Dann drückte Rander sich vom harten Lehmboden ab und verschwand mit einem Hechtsprung in einem Hauseingang.

Mit dem Fuß schmetterte er die leichte Tür zu. Die ihm nachrennenden Gegner wurden für weitere Sekunden aufgehalten. Rander hetzte durch den langen düsteren Korridor des Hauses und bremste vor einer Treppe, die steil nach oben führte. Unter dieser Treppe führte eine andere Steintreppe hinunter in die Kellerräume.

Ein süßlich-muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Instinktiv entschied Rander sich für die nach oben führende Holztreppe, hastete hinauf und hörte dann hinter sich bereits die schrillen Zurufe seiner Verfolger.

Die ersten Wurfmesser schwirrten durch die Luft. Sie waren erstaunlich und bestürzend genau geschleudert worden. Sie surrten an seinem Kopf und Körper vorbei und blieben in den Holzwänden stecken.

Rander nahm sich nicht die Zeit, einen dritten Warnschuß abzufeuern. Dazu hätte er einen Moment stehenbleiben müssen. Damit hätte er den Messerwerfern ein zu gutes Ziel geboten.

Rander schwitzte aus allen Poren. Er landete im ersten Stock, sah vor sich einen langen Korridor und setzte seine Flucht fort. Überrascht blieb er auf einem kleinen Balkon stehen. Hier endete seine Flucht.

Mike Rander schätzte die Entfernung zum nächsten Haus ab.

Es mußte gehen …!

Mit den Füßen trat er das zierliche Geländer aus dem Boden, nahm einen Anlauf und … segelte für Bruchteile von Sekunden durch die Luft. Er landete sicher. Seine Hände umklammerten das Geländer eines Balkons, der bereits zum nächsten Haus gehörte. Rander schwang sich über die Brüstung, warf sich mit der Schulter gegen eine leichte Tür und fiel förmlich in einen Raum hinein, in dem Schreibmaschinen klapperten.

Zwei mit Sommeranzügen gekleidete Chinesen sprangen von ihren Arbeitstischen hoch und sahen Rander wie eine schreckliche Erscheinung an.

»Sehr heiß heute, nicht wahr?« redete Rander die beiden Chinesen an, nickte grüßend und stieß eine Tür des Büros auf. Er ließ zwei total verwirrte Chinesen zurück, die gar nicht ahnten, wie nahe sie vor einem Krampf ihrer Kinnladen standen.

Mike Rander ging höflich grüßend durch weitere Büros, fand ein Treppenhaus und beeilte sich, hinunter auf die Straße zu kommen. Noch war die Gefahr ja nicht gebannt. Noch wußte er nicht, ob die Gelben Drachen die Verfolgung aufgegeben hatten.

Der Anwalt landete in einem engen Hof, in dem ein motorisiertes Rikschah stand. Er schwang sich in den harten Sattel dieser Fortbewegungsmaschine, brachte den kleinen Zweitaktmotor in Gang und rauschte knatternd hinaus auf die Straße. Er ließ seinen Zeigefinger auf dem Knopf der schrillen Hupe und kariolte lautstark und verwegen durch eine mit Menschen dicht gefüllte Straße.

Schrille Warnrufe bahnten ihm eine Gasse. Die Chinesen hatten bemerkt, daß ein Weißer sich als Rikschahfahrer betätigte. Sie trauten seinen Fahrkünsten nur wenig und zogen es vor, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen.

Knatternd, eine blau-weiße Auspuff-Fahne hinter sich lassend, erreichte Mike Rander endlich die Gloucester Road, jene breite Uferstraße, die die Piers und Hafenanlagen miteinander verbindet.

Mike Rander war gerettet. Daran gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Es war ihm gelungen, die Gelben Drachen abzuschütteln.

Er war nur teilweise froh darüber.

Er dachte an Josuah Parker, den er zurückgelassen hatte, über dessen Schicksal er nichts wußte.

Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, schnellstens zu helfen. Doch dazu mußte er noch mal zurück in die Hölle, der er gerade erst entronnen war …

*

»Für Ihren Butler sehe ich schwarz«, sagte Inspektor McParish eine halbe Stunde später. Zusammen mit Sergeant Noreland und einigen chinesischen Polizeibeamten war er von Mike Rander vor das Haus geführt worden, das Parker betreten hatte. Mike Rander hatte den Inspektor alarmiert. Allein hätte er ja doch nichts ausrichten können.

»Sie meinen …?« Mike Rander brach seinen Satz ab. Er scheute sich, ihn zu beenden. McParish wußte aber auch so, was der junge Anwalt gemeint hatte.

»Ich will gar nichts sagen«, antwortete er. »Ich weiß nicht, wie die Gelben Drachen reagieren werden. Machen Sie sich nur keine zu großen Hoffnungen. Diese Burschen sind mit anderen Maßstäben zu messen als Gangster drüben in den Staaten.«

»Wir sind ihnen glatt in die Falle gegangen«, berichtete Rander. »Parker hat sich die Taxis genau angesehen. Er rechnete mit der Möglichkeit, daß wir reingelegt werden sollten.«

»Sie sehen ja, trotz aller Vorsicht sind Sie an einen Gelben Drachen geraten, Rander. Verdammt, hätten Sie sich doch an meinen Rat gehalten und Hongkong verlassen!«

Bevor Mike Rander darauf antworten konnte, teilte McParish seine Leute ein. Sie schwärmten aus und durchsuchten das Haus. Rander und McParish blieben neben dem dunklen Dienstwagen des Inspektors stehen.

Mike Rander hatte endlich Zeit, auch von seinen wilden Erlebnissen zu berichten. McParish schüttelte wiederholt den Kopf.

»Sagenhaft, daß Sie entwischen konnten«, meinte er schließlich. »Sehen wir uns doch mal das Haus an, durch das sie flüchteten. Vielleicht findet sich dort eine brauchbare Spur.«

Mike Rander sollte sein blaues Wunder erleben.

Er führte den Inspektor in die schmale Seitengasse und deutete auf den Bau, in den er sich hineingerettet hatte.

»Hier bin ich überfallen worden«, sagte er und sah sich suchend um. »Komisch, ich vermisse nur die geplatzten Wände aus Ölpapier. Ich hatte einige Drachen dort hineinbefördert.«

»Nichts zu sehen«, meinte McParish. »Alle Papierwände sind vollkommen in Ordnung.«

»Ich weiß, daß es diese Gasse gewesen ist«, behauptete Mike Rander. »Gehen wir doch hinauf. In der ersten Etage habe ich die Brüstung eines kleinen Balkons eingetreten und bin von dort aus ins Nachbarhaus gesprungen.«

»Schön, sehen wir uns den Balkon aus der Nähe an«, stimmte McParish zu. Das Haus war leer, als sie durch den langen, düsteren Korridor schritten. Von Meter zu Meter wurde Rander sicherer, daß er sich im Haus unmöglich geirrt haben konnte. Und dort war ja auch schon der Niedergang zum Keller. Es roch muffig-süß.

»Irrtum ausgeschlossen«, sagte er hastig zu McParish. »Ich erkenne jede Einzelheit, McParish. Gehen wir rauf zum Balkon!«

Knapp drei Minuten später zweifelte Mike Rander an seinem Verstand. Er stand auf dem Balkon, von dem aus er sich gerettet hatte. Doch die Holzbrüstung war vollkommen intakt. Sie schien niemals eingetreten worden zu sein.

»Ich bin doch nicht verrückt«, schnaufte Rander erregt. »Ich schwöre einen Eid darauf, daß es dieser Balkon gewesen ist.«

»Vollkommen intakt«, meinte McParish. Er beugte sich nieder und untersuchte das Holzwerk. Nach einigen Sekunden richtete er sich wieder auf. Er grinste verhalten.

»Sie brauchen an Ihrem Verstand nicht zu zweifeln«, beruhigte er den Anwalt. »Die Holzbrüstung ist frisch verleimt worden. Man hat alles wieder in Ordnung gebracht.«

»Und warum in dieser rasenden Eile?«

»Man will jede Spur verwischen. Alter chinesischer Trick. Wenn uns Zeugen an irgendeinen Tatort führen, sind alle Spuren beseitigt. Diese Chinesen arbeiten ungewöhnlich schnell, wenn es sein muß.«

»Dann können wir es uns ersparen, dort drüben in den Büroräumen nachzufragen«, meinte der Anwalt. »Ich bin jetzt sicher, daß die Chinesen alles abstreiten werden.«

»Darauf können Sie Gift nehmen, Rander. Es genügt ein zarter Wink der Gelben Drachen, und die Chinesen wissen von nichts. Sie alle haben eine entsetzliche Angst vor den Gangstern.«

»Und Parker befindet sich in ihren Händen«, seufzte Mike Rander. »Was soll ich tun, McParish? Ich weiß einfach nicht, wo ich den Hebel ansetzen soll.«

»Sie können nur abwarten«, erwiderte McParish mit müder Stimme. »Vielleicht melden sich die Gelben Drachen noch. Es kann durchaus sein, daß sie für Ihren Butler ein Lösegeld fordern.«

»Ich würde alle Hebel in Bewegung setzen, dieses Lösegeld zu zahlen«, gab Rander zurück. »Mein Gott, Sie wissen nicht, wie oft er mich schon aus der Tinte geholt hat.«

»Hoffen Sie«, sagte McParish noch mal. »Hoffen Sie, Rander! Mehr können Sie im Moment nicht tun …!«

*

Müde und abgekämpft kam Mike Rander in sein Hotel zurück. Er fühlte sich nach den aufregenden Abenteuern wie zerschlagen. Als er durch die Lounge schritt, kam ihm eine bekannte Figur entgegen. Ein freundlich aussehender, etwa 45jähriger Chinese, dick und korrekt gekleidet, winkte ihm zu.

»Mr. Li Wang?« fragte Rander. »Haben Sie auf mich gewartet? Haben Sie Nachrichten für mich?«

»Vielleicht, Sir, vielleicht.«

»Gehen wir hinüber in die Bar. Dort können wir uns unterhalten.«

Li Wang nickte und lächelte. Er verbeugte sich wie ein Automat und trippelte mit kurzen, kleinen Schritten neben Mike Rander einher. In einer stillen Nische ließen sie sich nieder. Rander bestellte beim Waiter zwei Eisdrinks und zündete sich mit nervösen Bewegungen eine Zigarette an. Insgeheim hoffte er, daß Li Wang ihm ein Angebot der Gelben Drachen überbrachte. Er hätte sich darüber überhaupt nicht gewundert.

Seine Vermutung sollte sich bestätigen.

»Ihr sehr verehrungswürdiger Mister Parker ist in die Hände der Gelben Drachen gefallen«, sagte Li Wang rund heraus. »Ihr sehr verehrungswürdiger Mr. Parker lebt.«

»Was wissen Sie? Los, sprechen Sie schon, Li Wang!«

»Ich bekam Nachrichten«, antwortete der Chinese mit seiner hellen dünnen Stimme. »Die Gelben Drachen sind sehr böse. Sie hatten erwartet, daß Sie und Mr. Parker Hongkong verlassen würden.«

»Was verlangen sie für Parker?« fragte Mike Rander rundheraus.

»Sie sollen Hongkong verlassen, Sir.«

»Ohne Parker? Ausgeschlossen!«

»Sie sollen zurück in die Staaten fliegen. In einer Stunde geht eine Maschine. Sobald Sie von San Franzisko aus ein Telegramm an mich gesendet haben, wird man Ihren ehrenwerten Mr. Parker freilassen und ebenfalls nach Hause schicken.«

»Ich glaube diesen Gangstern kein Wort.«

»Sir, Sie müssen es glauben«, erwiderte Li Wang freundlich. Seine Stimme klang im Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck mehr als ernst. »Sie haben keine andere Möglichkeit. Wenn Sie nicht einwilligen, wird man den verehrungswürdigen Mr. Parker töten. Glauben Sie mir, daß es keine leere Drohung ist.«

»Welche Garantien habe ich, daß man Parker freilassen wird?«

»Keine, Sir …! Sie müssen sich auf das Wort der Gelben Drachen verlassen. Mehr können Sie nicht tun.«

»Ich kann verdammt wenig tun, wenn ich McParish und Sie höre«, erregte sich der junge Anwalt. »Ich kann meinen Butler nicht in der Patsche sitzen lassen.«

»Sie schaden ihm, wenn Sie bleiben, Sir. Sie werden ihn töten. Sie werden dann sein Mörder sein!«

»Wissen Sie, wo Parker festgehalten wird, Li Wang?«

»Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es nicht wagen, Ihnen ein Wort zu sagen«, gab Li Wang zurück. »Die Gelben Drachen erfahren alles. Ich würde nicht mehr lange leben. Sie müssen die Stadt verlassen, wenn Sie den ehrenwerten Mr. Parker retten wollen!«

»Langsam glaube ich auch daran. Werden die Gelben Drachen ihr Wort halten?«

»Sie werden es bald wissen, Sir. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Und das alles wegen Jane Morefield«, knirschte Mike Rander. »Hier geschieht eine Riesenschweinerei, und ich kann dagegen nichts ausrichten.«

»Miss Jane Morefield sollten Sie ab sofort vergessen, Sir. Denken Sie nur noch an den …«

»… verehrungswürdigen Mr. Parker«, unterbrach Mike Rander seinen Gesprächspartner. »Ich weiß, ich weiß, ich werde gehorchen müssen. Nennen Sie mir Ihre Adresse, damit ich Ihnen telegrafieren kann.«

»Sie erreichen mich stets unter dieser Adresse, Sir.« Li Wang reichte dem Anwalt eine Visitenkarte und stand dann auf. »Sie werden sich beeilen müssen. Ich war so frei, Ihnen einen Platz in der Maschine zu reservieren. Sie geht in knapp einer Stunde.«

Rander sah dem Chinesen Li Wang nach. Er hatte das Gefühl, daß dieser Mann sehr viel mehr wußte. Wahrscheinlich war er sogar aktives Mitglied der Gelben Drachen. Doch was Li Wang auch immer sein mochte, er hatte ein Ultimatum überbracht, dem man einfach wohl gehorchen mußte. Die Gelben Drachen hatten alle Trümpfe in ihrer Hand.

Mit schweren Schritten ging Mike Rander zur Rezeption und bat um Ausstellung seiner Rechnung. Daß er dabei von einem Spitzel der Gelben Drachen beobachtet wurde, war ihm längst klar. Diese Gangster würden ihn nicht mehr aus den Augen lassen.

Rander wunderte sich nur, daß die Gelben Drachen ihn nicht einfach ermordeten. Möglichkeiten dazu boten sich doch in jeder Zahl an. Warum planten sie wohl erst umständlich? Fragen über Fragen, auf die Mike Rander keine Antwort fand …

*

Josuah Parker befand sich in einer unwürdigen Lage.

Man behandelte ihn wie ein wildes Tier und hatte ihn in einen niedrigen Eisenkäfig eingesperrt. Er vermochte darin nur zu sitzen. Die Eisenstäbe waren fingerdick und trotzten jeder Gewalt.

Dieser Käfig stand in einem feuchten, muffigen Keller, der von zwei blakenden Petroleumlampen spärlich erleuchtet wurde. In einer Ecke des niedrigen Raumes hockten zwei riesige Chinesen, die Mah-jong spielten. Das eintönige Klappern der Steine war das einzige Geräusch in diesem Kellerraum.

Parker klagte nicht.

Geduldig hockte er in seinem Gitterkäfig und entspannte sich. Panikartige Zustände waren ihm fremd. Sie entsprachen auch nicht seiner Geisteshaltung.

Bis auf seinen Universal-Regenschirm und dem Colt hatte man ihm alles belassen. Nun, die Gelben Drachen brauchten auch wirklich nichts zu befürchten. Parker war vollkommen sicher untergebracht. Ein staatliches Zuchthaus hätte ihn nicht besser verwahren können.

Was die Chinesen mit ihm vorhatten, war Parker unbekannt. Die Tatsache allein, daß er noch lebte, ließ einige Rückschlüsse zu. Parker war längst zu dem Schluß gekommen, daß man ihn als Faustpfand, als eine Art sichere Trumpfkarte zurückbehielt. Vielleicht sollte sein junger Herr, Mike Rander, damit unter Druck gesetzt werden.

Josuah Parker machte sich Sorgen Er kannte den bedingungslosen Einsatz seines jungen Herrn. Er würde es niemals zulassen, daß Parker als Geisel festgehalten wurde. Es bestand die Gefahr, daß auch er in eine Falle hineintappte.

Was sollte und konnte Parker dagegen tun?

Vorerst gar nichts. Er mußte abwarten, mußte seine Chancen sehr sorgfältig berechnen und auf eine günstige Gelegenheit warten.

Parker hob langsam den Kopf, als die beiden Chinesen plötzlich aufsprangen und auf eine Tür zuliefen. Sekunden später tauchte ein kleiner, gebeugt gehender Chinese auf, der einen Seidenmantel trug, auf dem ein Gelber Drache gestickt war. Dieser Mann, der sich um die beiden riesigen Wächter nicht kümmerte, schritt schnurstracks auf den Gitterkäfig zu und blieb vor Parker stehen.

»Gelbe Dlachen haben Gewalt«, sagte der Mann und rückte sich sein lackschwarzes Käppchen auf dem Kopf zurecht. »Gelbe Dlachen böse, weiden töten müssen.«

»Mit wem habe ich das seltsame Vergnügen?« fragte Parker. »Mangels Entfaltungsmöglichkeiten sehe ich mich außerstande, höflich aufzustehen.«

»Sie spotten wollen«, fistelte die Stimme des Gelben Drachen. »Sie Humol haben. Sie gutel Mann mit viel Idee und Klaft.«

»Sie machen mich verlegen«, gab Josuah Parker höflich zurück. »Ich tat, was ich konnte. Unsere Nachforschungen scheinen unangenehm aufgefallen zu sein, ja?«

»Zu neugielig, ja«, bestätigte der Gelbe Drache. »Sie unsele Geschäfte gestölt, velstehen?«

»Lebt Miss Morefield eigentlich noch?« fragte Parker rundheraus.

»Sie lebt«, gab der Gelbe Drache zurück. »Sie beinahe sie getötet haben. Zu neugielig, velstehen?«

»Und was ist aus Mr. Rander geworden?« stellte Parker seine nächste Frage.

»Lebt, abel nicht mehl in Hongkong, Sie velstehen?«

»Mr. Rander sollte Hongkong verlassen haben?« staunte Parker.

»El jetzt wegfliegen. El nicht mehl zulückkommen.«

»Gott sei Dank«, stöhnte Josuah Parker auf. »Er lebt, das ist für mich die Hauptsache.«

»Sie gegen Lösegeld fleikommen«, redete der Gelbe Drache weiter. »Sie walten müssen, velstehen?«

»Ich verstehe Sie ausgezeichnet«, antwortete Butler Parker. »Eine höfliche und meiner Meinung nach berechtigte Frage. »Warum werde ich in diesem Käfig festgehalten?«

»Sie gutes Mann, viele Tlicks und stalk. In Käfig sichel, velstehen, ja?«

»Ich werde mich wohl oder übel Ihrer Weisheit und Erkenntnis beugen müssen«, sagte Josuah Parker. »Wenngleich Sie mich auch, wie ich feststellen möchte, sehr überschätzen.«

»Gelbe Dlachen volsichtig.«

Der kleine Mann verbeugte sich höflich und trippelte davon. Die beiden riesigen Wächter folgten ihm respektvoll, rissen die Tür auf und ließen ihren Chef passieren. Dann schlossen sie wieder die Tür, riegelten sie von innen ab und widmeten sich wieder ihrem Mah-jong-Spiel.

Josuah Parker lehnte sich mit dem Rücken gegen die dicken Eisenstäbe und schloß die Augen. Natürlich dachte er nicht daran, einzuschlafen. Er überlegte sich eine Möglichkeit, die beiden Chinesen außer Gefecht setzen zu können …

*

Mike Randers Maschine wurde auf gerufen.

Alles klappte wie am Schnürchen. Li Wang hatte nicht übertrieben. Er hatte nicht nur einen Platz reservieren lassen, sondern gleich auch für ein Ticket gesorgt. Mike Rander brauchte jetzt nur noch der charmanten Stimme im Lautsprecher zu folgen und hinaus auf das Flugfeld zu gehen.

Im gleißenden Licht der Sonne stand die Boeing 707 am Rand der langen Betonpiste. Ein Zubringerbus brachte Rander und die übrigen Fluggäste an die Maschine. Sie war frisch aufgetankt worden. Die beiden Tankwagen fuhren langsam zurück zu den Hangars. Über ein Laufband wurden Postsäcke und Pakete in den Bauch der riesigen Maschine verladen.

Bis zum Start waren es noch zehn Minuten.

Mike Rander, der sich inzwischen einen Dreck darum kümmerte, ob er beobachtet wurde oder nicht, stieg die Gangway hinauf, zeigte sein Ticket und ließ sich von einer ungewöhnlich hübschen, mandeläugigen Stewardeß zu seinem Platz geleiten.

Durch das seitliche Bullauge sah er hinauf auf das Flughafengebäude. Hinter den Absperrgittern standen die Angehörigen der Fluggäste. Sie warteten auf den Start, winkten zur Maschine hinüber und schwenkten kleine Papierfähnchen.

Der junge Anwalt dachte selbstverständlich nicht daran, diesen bequemen Ausweg zu wählen und zurück in die Staaten zu fliegen. Er traute den Gelben Drachen nicht. Er fürchtete um Josuah Parkers Leben. Es kam für ihn nicht in Frage, Butler Parker allein in Hongkong zurückzulassen.

Rander schreckte aus seinen Gedanken hoch.

Wenn er die gelben Drachen düpieren wollte, mußte er sich jetzt beeilen. Es wurde höchste Zeit, die Maschine zu verlassen. Es kam darauf an, ungesehen aus der Maschine herauszukommen.

Er wußte bereits, wie er das anzustellen hatte.

Rander stand auf, ging nach vorn in Richtung Flugzeug-Cockpit. Hinter einer halb geöffneten Schiebetür befanden sich die engen Kojen mit den Sitzen für den Bordingenieur und den Funkoffizier. Der Boden war geöffnet. Ein Niedergang führte nach unten in den Stauraum für das Gepäck und die Luftfracht. Zwei Chinesen stapelten die vom Laufband hinaufbeförderten Lasten aufeinander und zurrten sie fest.

Neben der Ladeluke mit dem Laufband war eine Leichtmetallrutsche zu sehen. Auf ihr wurde die nach Hongkong eingeflogene Last hinunter in den Elektrokarren befördert.

Mike Rander stieg in den Laderaum. Er hatte riesiges Glück, denn die beiden Stauer verschwanden in der Tiefe des Laderaums und mühten sich mit einigen Kisten ab. Sie sahen nicht, daß sie Besuch erhielten.

Der junge Anwalt zögerte nicht lange. Er schwang sich auf die Rutsche, stieß sich ab und … segelte mit erstaunlichem Schwung und großer Schnelligkeit hinunter in den hochbordigen Elektrokarren. Mit angewinkelten Beinen fing er den Aufprall ab und verkroch sich sofort unter einigen Postsäcken.

Er hatte den richtigen Zeitpunkt gewählt.

Die vier Düsen begannen zu arbeiten. Die Boeing 707 wurde startklar gemacht. Laute Kommandos ertönten. Rander riskierte einen schnellen Blick nach oben.

Die Rutsche war bereits ausgehakt worden und wurde weggezogen. Das Laufband rollte zur Seite, die Luken schlossen sich. Mike Rander verschwand wieder unter dem Gepäck. Eine knappe Minute später ruckte der Elektrokarren an und nahm Kurs auf die Abfertigungsgebäude.

Mike Rander atmete auf.

Bisher hatte alles geklappt, bisher war er nicht entdeckt worden. Nun kam es darauf an, möglichst ungesehen aus dem Karren zu kommen. Er brauchte keine Augenzeugen, die ihn vielleicht an die Gelben Drachen verrieten. Das Gelingen seines Plans hing einzig und allein davon ab, daß er ungesehen und unerkannt zurück in die Stadt kam.

Ruckartig hielt der Elektrokarren an.

Rander schob seinen Kopf vorsichtig über den Rand des Laderaums. Der Elektrokarren stand unter dem Wellblechdach eines Schuppens. Zwei Chinesen verschwanden hinter einem Glasverschlag. Es mußten die beiden Männer sein, die den Wagen gelenkt hatten.

Der Anwalt sprang aus dem Wagen, lief in geduckter Haltung auf eine lange, niedrige Arbeitstheke zu, schwang sich darüber und versteckte sich hinter einigen Postwagen.

Schritte näherten sich, schrille chinesische Laute drangen an seine Ohren.

War er entdeckt worden?

Mike Rander preßte sich gegen die Wand, arbeitete sich tiefer in den Halbschatten hinein und fand zu seiner ehrlichen Überraschung einen Ausgang.

Er pirschte sich an die Tür heran und schloß geblendet die Augen. Grelles, gleißendes Licht stach in seine Pupillen. Mike Rander wischte durch die Tür, sprang hinter einen Postwagen und konnte von dort aus ungehindert an den langen Drahtzaun gelangen, der das Flughafengelände absicherte.

Von dort aus beobachtete er die Abfertigung der Postwagen. Er hatte sich vorgenommen, solch einen Postwagen zu benutzen, um zurück auf die Insel Hongkong zu gelangen. Dieser Plan erwies sich allerdings als undurchführbar. Er hätte zu leicht gesehen und entdeckt werden können. Rander wartete, bis das große Drahttor zur Durchfahrt des Postwagens geöffnet wurde.

Wie er es erwartet hatte, wurde es nicht sofort wieder geschlossen. Der Anwalt schob sich vorsichtig an diese Ausfahrt heran, wartete einige Minuten und ging dann mit der größten Selbstverständlichkeit hinaus. Innerhalb weniger Sekunden hatte er das Flughafengelände von Kaitak verlassen.

Im Kampf mit den Gelben Drachen konnte er die zweite Runde antreten. Er nahm sich vor, ein gerissener und entschlossener Gegner zu sein …

*

Josuah Parker hatte einige vollkommen nutzlose Schrauben auf der Rückseite des Gitterkäfigs wahrgenommen. Er hatte zwar einige Mühe, sie aus ihren Gewinden zu lösen und zu drehen, zumal sie stark angerostet waren. Doch er hatte ja Zeit und war froh, sich etwas beschäftigen zu können. Daß er zu seiner Arbeit eine kleine Nagelfeile benutzte, verstand sich am Rande. Wenn improvisiert werden mußte, fühlte Josuah Parker sich stets ungemein wohl.

Er kümmerte sich ausschließlich um zwei Schrauben. Sie öffneten nicht sein Gefängnis, doch darauf kam es im Moment gar nicht an. Wichtig war und blieb, daß die beiden kräftigen Chinesen nichts bemerkten. Das Klappern der Mah-jong-Steine unterstützte Parkers Arbeit. Er konnte sich ungehindert entfalten.

Die zähe Arbeit hatte Erfolg.

Bald schon wog Parker die beiden Schrauben in der Hand. Sie waren groß und schwer genug, um jede für sich als Wurfgeschoß verwenden zu können. Es galt nur noch das geeignete Katapult zum Befördern dieser beiden Geschosse zu finden.

Der Butler wußte Rat.

Er kümmerte sich angelegentlich um seine beiden Sockenhalter. Als konservativer Mann von Welt fand er keinen Gefallen an den üblichen Fesselsocken mit Gummizug. Er bevorzugte weiterhin Sockenhalter und ehrlich gewirkte Wollstrümpfe.

Die Sockenhalter sollten sich bald schon als Rettungsanker erweisen. Parker löste sie ungeniert von seinen gut entwickelten Waden und bastelte sie zu einer strammen, starken Schleuder zusammen. Sein angeborenes Geschick half ihm, diese Arbeit ebenfalls gut zu vollenden.

Nun besaß Parker nicht nur zwei handliche Wurfgeschosse, sondern darüber hinaus noch eine wahrscheinlich sehr wirkungsvolle Schleuder. Dann brauchte er nur noch den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. An Zielen mangelte es ihm nicht. Er brauchte sich nur zu entscheiden, welchen von den beiden Chinesen er zuerst außer Gefecht setzen sollte. Eine Frage, die für einen Mann wie Josuah Parker von untergeordneter Wichtigkeit und Bedeutung war.

Parker konnte, wenn es darauf ankam, ohne weiteres die Geduld eines Orientalen aufbringen. Er hockte in seinem Gitterverschlag und sah den beiden spielenden Chinesen zu.

Dann aber – Parker schreckte aus seiner Ruhe hoch, war es soweit. Es geschah ganz ohne jeden Übergang. Er selbst hatte noch nicht mal etwas gehört.

Die beiden Chinesen sprangen plötzlich von ihrer zerrissenen Strohmatte hoch und gingen zur Tür. Entweder erwarteten sie die eigentlich längst fällige Ablösung, oder der Mann mit dem aufgestickten Gelben Drachen wollte sich wieder mit dem Butler unterhalten.

Nun mußte alles sehr schnell gehen.

Parker strammte seine improvisierte Schleuder. Er war vollkommen sicher, daß die im Eigenbau angefertigte Waffe ihm keinen Streich spielte. Parker visierte einen der beiden Chinesen an, korrigierte den Schußwinkel und … ließ die rostige Schraube durch die Luft zischen.

Der Erfolg war begeisternd …

Die Schraube war von Meisterhand in Bewegung gesetzt worden. Sie sirrte durch die Luft und senkte sich genau auf den Hinterkopf des Chinesen.

Parkers Opfer vollführte einen kleinen Luftsprung. Allerdings nicht aus reiner Begeisterung. Der Chinese verlor sein Gleichgewicht, spürte gerade noch, daß es ihm die Beine unter dem massiven Leib wegriß und verlor im gleichen Moment auch schon das Bewußtsein. Dröhnend landete er auf dem Boden.

Der zweite Chinese hatte gerade die Tür entriegelt und trat erwartungsvoll einen halben Schritt zurück.

In dieser Bewegung wurde er von der zweiten Schraube erwischt. Selbstverständlich ebenfalls am Hinterkopf. Parker pflegte nämlich stets genau zu zielen und auch zu treffen.

Der zweite Chinese fiel zu seinem eigenen Pech noch zusätzlich mit der Stirn gegen die rauhe Ziegelwand, erhielt einen zweiten Schlag gegen den Kopf und sank spiralenförmig zu Boden.

Parker beeilte sich, eine äußerst verkrümmte Haltung anzunehmen. Er breitete sich auf dem Boden seines Käfigs aus und schloß die Augen. Durch den Vorhang seiner Wimpern aber beobachtete er den Eingang zum Keller.

Zwei ebenfalls muskulös aussehende Chinesen, die nur weite Arbeitshosen trugen und ihre nackten Oberkörper zeigten, betraten den niedrigen Kellerraum.

Als sie ihre beiden Kollegen ohnmächtig am Boden fanden, stießen sie schrille, kaum definierbare Sprechlaute aus und sahen automatisch zum Gitterkäfig hinüber, in dem Parker festgehalten wurde.

Es handelte sich um relativ intelligente Burschen, die sich den Luxus leisteten, Phantasie zu haben.

Beim Anblick der ohnmächtigen Männer schlossen sie messerscharf, daß sie von einem gemeinsamen Unglück betroffen worden sein mußten. Vielleicht dachten sie an eine Seuche, an Gas oder an sonst etwas. Sie dachten ganz sicher daran, daß ihrem Gefangenen nichts passieren durfte. Sie beeilten sich, den Schlüssel zum Käfig aus der Hosentasche des einen ohnmächtigen Chinesen zu zerren, zum Käfig zu rennen und ihn aufzuschließen. Sie fühlten sich verpflichtet, erst mal dem Gefangenen Hilfe zu leisten.

Genau das hatte der Butler vorausberechnet und geplant. Regungslos blieb er am Boden liegen und wartete auf seine Sekunde.

Die beiden noch tatenfrohen Chinesen hatten inzwischen den unwürdigen Käfig aufgesperrt, packten Parker an Armen und Füßen und schleiften ihn hinaus in den Keller.

Sie hätten es besser nicht getan …

Josuah Parker blieb nämlich nicht lange liegen.

Er erinnerte sich seiner Kenntnisse in Judo und Faustkampf. Er schien förmlich zu explodieren. Blitzschnell war er auf den Beinen. Er wandte einige Tricks an, die vielleicht nicht ganz stubenrein waren, dafür aber den Vorzug hatten, daß die beiden wesentlich stärkeren Chinesen nicht mehr dazu kamen, ihre Messer zu ziehen. Kurz, der Butler schoß ein Feuerwerk an Tricks ab, daß die beiden Gegner geblendet die Augen schlossen und sich ebenfalls auf dem schmutzigen Boden zur Ruhe niederlegten.

Dieser Vorgang dauerte nicht länger als knapp dreißig Sekunden. Nach getaner Arbeit griff der Butler nach seinem heißgeliebten Universal-Regenschirm, setzte sich die schwarze steife Melone auf und bemächtigte sich seines vorsintflutlichen Colts, den er auf einer umgestürzten Kiste vorfand.

In korrekter Kleidung, ohne Hast und ohne Verzicht auf seine Würde verließ er anschließend diesen ungemütlichen Keller.

Richtig, er vergaß selbstverständlich nicht, die vier Gegner in den Gitterkäfig zu transportieren und die schwere Tür aus Eisenstäben peinlich genau zu schließen …

*

Anderthalb Stunden nach seiner Fahrt hinaus zum Flugplatz Kaitak befand Mike Rander sich wieder auf der Insel Hongkong. Von Kowloon aus hatte er eine der vielen Fähren benutzt.

Während der Fahrt über den trennenden Kanal zwischen Kowloon und der Insel hatte er mit dem Gedanken gespielt, Inspektor McParish anzurufen und ihn um benötigte Hilfe zu bitten.

Er war von diesem Gedanken wieder abgekommen. Rander wußte nicht, ob die Gelben Drachen nicht auch bei der Polizei ihre Spitzel untergebracht hatten. Und sein Plan bestand in allererster Linie aus dem Überraschungsmoment. Die Gelben Drachen vermuteten ihn in der Boeing 707, hatten den Butler aus dem Verkehr gezogen und somit alle Veranlassung, sich wieder leger und normal zu bewegen.

Auf der Insel angekommen, ließ Mike Rander sich von einem Taxi nach Victoria City bringen und mietete sich in einem Hotel mittlerer Preisklasse ein. Er bezog sein Zimmer, legte sich auf das Bett und überlegte bei einem Eisdrink, welche Schritte zu Parkers Rettung zu unternehmen waren.

Inspektor McParishs Hilfe fiel aus.

Es blieb der Chinese Li Wang, dem Rander nicht über den Weg traute, es blieb der Bungalow an der Repulse-Bay, in dem Jane Morefield lebte und wahrscheinlich auch festgehalten wurde. In diesem Bungalow hart an der See liefen die Fäden zusammen. Und vielleicht auch in der Firma »Hongkong Silk und Cotton Company« in Wanchai.

Rander mußte sich entscheiden.

Entweder er kümmerte sich noch mal um die Kleiderfabrik, in die Jane Morefield angeblich als Teilhaberin eingetreten war, oder er fuhr bei untergehender Sonne zum zweitenmal hinaus nach Repulse-Bay.

Die zweite Möglichkeit war ihm wesentlich sympathischer.

Er kannte den Bungalow, wußte, wo er zu finden war. Die Kleiderfabrik hingegen mußte er erst noch suchen. Dabei konnte unter Umständen viel zuviel Zeit verlorengehen.

Blieb also die Repulse-Bay.

Damit tat Mike Rander leider genau das, was sich später als falsch und zeitraubend erweisen sollte …

*

Parker schritt ungehindert die Kellertreppe hoch.

Er war übrigens nicht mehr der Butler, der korrekt gekleidet zu sein pflegte. Aus Gründen der Tarnung hatte der Butler sich einen weiten Arbeitskittel übergestreift. Die steife schwarze Melone verlieh ihm ein festes, dickes Aussehen. Parker hatte sie unter den Kittel gesteckt und auch seinen Universal-Regenschirm verborgen. Er wollte nicht vorzeitig erkannt werden.

Sein Trick wirkte.

Als er die steile Kellertreppe hinter sich gebracht hatte, landete er in einem Raum, der augenscheinlich als Stofflager diente. Auf langen Wandregalen stapelten sich Stoffballen. Es roch nach Staub und nach frischen Druckfarben.

Parker blieb in Deckung des freistehenden Mittelregals und sondierte die Lage. An der Stirnseite des Raumes befand sich eine zweiflügelige Tür aus Stahlblech. Sie war nur angelehnt. Was sich dahinter befand, konnte der Butler von seinem Standort aus nicht genau erkennen.

Durch die Oberlichter des Magazins fiel nur noch wenig Licht. Nach Parkers Rechnung mußte die Nacht bald hereinbrechen. Er hielt das für äußerst günstig, um sich abzusetzen.

Auf Zehenspitzen pirschte er sich an die Tür heran, öffnete sie vorsichtig.

Er sah in einen langgestreckten, niedrigen Raum hinein, in dem Arbeitstisch hinter Arbeitstisch stand. Bei näherem Hinsehen erkannte der Butler Nähmaschinen, die alle durchweg einen recht angestaubten Eindruck auf ihn machten. Hier schien schon seit geraumer Zeit nicht mehr gearbeitet zu werden.

Es lag auf der Hand, daß Parker sich in den Arbeitsräumen der »Hongkong Silk an Cotton Company« befand, jener Firma also, der Miss Jane Morefield als Teilhaberin beigetreten war. Diese Firma schien darüber hinaus so etwas wie das Hauptquartier der Gelben Drachen zu sein. Beweise dafür hatte Parker allerdings noch nicht in der Hand.

Josuah Parker schlüpfte in den langen Saal hinein, trat an eines der niedrigen, dick verglasten Fenster und spähte nach draußen. Er sah in einen engen, schmutzigen Hinterhof, der mit Unrat und Kisten vollgestopft war. Menschen konnte er nicht entdecken.

Es war eine trügerische Ruhe, wie Parker empfand. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihn nur vier Chinesen bewacht hatten. In diesem Bau mußten sich noch weitere Komplicen befinden. Wo sie sich aufhielten, mußte er erst noch herausfinden.

Langsam schritt er auf die nächste Tür zu, hinter der Licht schimmerte. Im Näherkommen hörte er das typische Klappern der Mah-jong-Steine. Parker verzichtete in Anbetracht der Lage auf seine sonst übliche Diskretion und beugte seinen Kopf zum Schlüsselloch herunter.

Was er sah, wirkte nicht gerade ermunternd auf ihn. Hinter der Tür waren im schmalen Ausschnitt des Schlüssellochs etwa vier Männer zu erkennen. Sekunden später waren es sechs Chinesen, die die Plätze austauschten. Es roch nach dem Rauch billiger, strohiger Zigaretten, es roch nach warmem Reisschnaps und nach billigem Fusel.

Als nüchterner Beurteiler der Lage kam der Butler zu dem Schluß, daß ihm dieser Ausweg verschlossenblieb. Selbst er mit seinen Tricks hätte sich gegen eine Übermacht von sechs Gegnern kaum durchsetzen können. Es war schon richtig, eines der Fenster zu benutzen und hinunter in den Hinterhof zu steigen.

Parker erlebte eine grausame Enttäuschung.

Alle Fenster – er hatte vorher nicht darauf geachtet – waren fest vergittert. Um den Nähsaal zu verlassen, mußte er durch den Vorraum, eine andere Lösung bot sich ihm nicht …

Parker besaß einen Colt.

Er hätte damit einen wilden Feuerzauber veranstalten können. Er hätte mit gezielten Schüssen seine Gegner außer Gefecht setzen können. Das Überraschungsmoment befand sich auf seiner Seite. Er hätte mit einem durchschlagenden Erfolg rechnen können.

Doch Parker dachte nicht eine Sekunde lang an solch eine Lösung. Blutvergießen war ihm verhaßt, selbst wenn er es mit brutalen Gangstern zu tun hatte. Er begnügte sich stets damit, seine Gegner mit List und Tricks zur Strecke zu bringen. Das Urteil über sie war dann Sache der zuständigen Richter. Als Henker hatte Josuah Parker sich noch niemals wohl gefühlt.

Selbst in dieser Lage, in der es doch um sein Leben ging, ließ er sich etwas einfallen.

Er erinnerte sich der Modellbüsten, die am Ende der stillgelegten Fabrikationsbänder standen. Parker ging auf leisen Sohlen zurück in den Saal und besorgte sich einige Ballen Stoff. Schnell und geschickt drapierte er die Stoffbahnen und verwandelte die Modellbüsten in menschenähnliche Gebilde. Er schuf sich so eine Privatarmee von wenigstens sechs Kämpfern, die alle nur den Nachteil hatten, daß sie nicht lebten, sondern nur auf Dreibeinen standen.

Parker verteilte seine Einsatzgruppe. Er gruppierte sie an der Tür zum Stofflager und verband sie untereinander mit Zwirnsfäden, die er ja in reichlicher Menge vorfand. Diese Fäden mündeten in einen dicken Strang, den der Butler in der linken Hand festhielt.

Nach diesen erbaulichen Vorbereitungen ging er hinter einer Nähmaschine in Deckung und stieß einige gekonnte, schrille Schreie aus. Gleichzeitig feuerte er einen Lockschuß ab.

Der Erfolg war frappierend …!

Die Chinesen im Vorraum glaubten sofort an einen Überfall, an einen Ausbruchsversuch. Sie unterbrachen augenblicklich ihr Mah-Wong-Spiel und stürzten zur Tür. Als sie sie aufgedrückt hatten, feuerte der Butler den zweiten Schuß ab, der im niedrigen Raum wie die Detonation einer Granate wirkte.

Die Chinesen fühlten sich angegriffen. Sie sahen im Halbdunkel die Silhouette der von Parker eingekleideten Modellpuppen und reagierten sehr nachdrücklich.

Sie schossen zurück.

Teils von der Gewalt der Einschläge, teils von Parker niedergerissen, fielen die wehrlosen und harmlosen Gegner zur Seite. Von der Tür aus mußte es so aussehen, als hätten sie Deckung genommen.

Die Chinesen, von einem feisten Burschen kommandiert, gingen zum konzentrischen Gegenangriff über und arbeiteten sich an die Modellpuppen heran. Sie achteten nicht weiter auf die Tür.

Parker aber verlor sie nicht aus den Augen.

Er wartete, bis der Weg endgültig frei war. Dann schlüpfte er in den Aufenthaltsraum der Gelben Drachen und entledigte sich hier seiner unwürdigen Maskerade. Er fühlte sich erst dann wieder wohl, als er sich die schwarze steife Melone auf den Kopf setzen konnte. Er hängte sich den Bambusgriff seines Universal-Regenschirms über den linken Unterarm und schritt würdevoll von dannen.

Sein Weg führte ihn durch Glasverschläge, die vormals als Büros oder Ateliers gedient haben mochten. Jetzt hatte sich hier der Staub fingerdick abgelagert. Parker hielt sich an die Fußspuren auf dem Boden. Sie wiesen ihm den genauen Weg. Nach wenigen Minuten schon befand er sich auf einer schräg nach unten führenden Rampe.

Von hier aus hatte er einen wunderbaren Blick auf ein kleines Hafenbecken, das mit Dschunken und Hausbooten dicht gefüllt war. Ein atemberaubender Geruch von Schlick, Schlamm, Unrat, faulen Fischen, von menschlichen Ausdünstungen und von brackigem Salzwasser schlug ihm entgegen.

Parker hatte leider nicht genügend Zeit, um das alles richtig auf sich einwirken zu lassen. Im Haus hörte er das Lärmen und Toben der aufgebrachten Chinesen, die inzwischen wohl ihren Irrtum eingesehen hatten. Sie waren auf dem Weg, um Parker doch noch einzufangen.

Josuah Parker ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Ihn interessierte die Rampe, die hinunter zu einem Kai führte und dicht vor der steil ins Wasser abfallenden Kaimauer endete.

Sein stets wacher Geist erkannte neue Möglichkeiten, zumal neben ihm auf der Rampe einige Ölkanister standen, deren Deckel säuberlich ausgeschnitten waren. In diesen Kanistern schillerte dunkles, schlüpfriges, übel riechendes Schmieröl.

Parker stieß mit dem Fuß diese Ölkübel um.

Die zähe Flüssigkeit schwabbte auf den Zementboden und breitete sich aus. Sie folgte dem Gesetz der Schwerkraft und floß nach unten, der Kaimauer entgegen. Sie verwandelte die schräge Rampe in eine improvisierte Eisbahn, was die Gleitfähigkeit anbetraf.

Parker baute sich neben dem Ausgang auf und wartete auf seine Verfolger.

Sie brausten aufgebracht heran. Sie gierten danach, sich an Josuah Parker zu rächen.

Der erste erschien auf der Rampe.

Er hatte sich etwas zu weit vorgewagt.

Seine Füße glitten auf dem schmierigen Ölfilm aus. Verzweifelt warf der Mann die Arme in die Luft. Er verlor das Gleichgewicht, setzte sich auf seinen Hosenboden und … segelte in gekonnter Manier hinunter auf die Kaimauer zu.

Der zweite Gegner erschien.

Auch er glitt auf der schlüpfrigen Bahn aus und folgte seinem Vorgänger.

Zwei Chinesen trudelten mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die steil abfallende Kaimauer zu.

Als der dritte Gegner sich anschickte, ebenfalls hinunterzurodeln, landete der erste Sportsmann im aufklatschenden Wasser.

Parker war äußerst zufrieden.

Ohne sein Dazutun beeilten sich seine Gegner, ins Wasser zu rutschen. Parker blieb nur noch übrig, das Aufklatschen des Wassers zu registrieren. Anhand dieser Methode konnte er genau berechnen, wieviel Gegner sich unfreiwillig im schmutzigen Wasser abkühlten.

Nach dem sechsten Aufschlag trat eine kleine Kunstpause ein. Riß die Kette der Gegner damit ab? Parker wandte sich zur Seite. Im Halbdunkel, das bereits herrschte, erkannte er die Figur des kleinen Chinesen, der den bestickten Seidenmantel trug.

Es war genau der Mann, mit dem Parker sich durch die Gitterstäbe hindurch unterhalten hatte.

Erstaunt und nicht verstehend hielt dieser Oberdrache Ausschau nach den Häuptern seiner Lieben. Wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, wo sie geblieben waren.

Parker sorgte für Aufklärung und Selbststudium.

Mit dem Bambusgriff seines Regenschirms hakte er hinter den linken Fußknöchel des Oberdrachens. Dann ein kurzer Ruck … und der Chinese stieß einen verzweifelten Schrei aus.

Er warf ebenfalls die Hände in die Luft, fand natürlich keinen Halt und rutschte dann über den Ölfilm ebenfalls hinunter in das aufklatschende Wasser.

Butler Parker war äußerst zufrieden. Mehr konnte er nun wirklich nicht für seine Gegner tun. Er schritt würdevoll zurück in den langgestreckten Bau und suchte nach einem ihm genehmen Weg, um diese Räumlichkeiten zu verlassen.

Doch selbst nach diesem an sich recht amüsanten Ausgang des Treffens verzog sich keine Miene in seinem Gesicht. Er hielt ja stets auf Würde und Selbstbeherrschung …

*

Die Sonne war längst untergegangen, als Anwalt Mike Rander an der Repulse-Bay eintraf. In Victory City hatte er sich einen Wagen gemietet. Er war unabhängig, brauchte keine Rücksichten zu nehmen. Mike Rander nutzte diese Unabhängigkeit aus und fuhr an der Straßenfront des Bungalows vorbei, in dem er bereits schon einmal auf das Erscheinen von Jane Morefield gewartet hatte.

Das Haus machte einen vollkommen friedlichen Eindruck. Einige Fenster zur Straße hin waren erleuchtet.

Rander dachte natürlich an den Panther, von dem sein Butler ihm berichtet hatte. Es ging also nicht an, einfach auf dieses Grundstück überzuwechseln und sich an das Haus heranzupirschen. Er mußte mit dieser großen, lebensgefährlichen Katze rechnen, gegen die kaum ein Kraut gewachsen war.

Aber wie sollte er es anstellen, einen Blick auf die Bewohner des Bungalows zu werfen? In einer kleinen Seitenstraße hielt er den Wagen an und überlegte. Er versuchte, sich in die Gedankenwelt seines Butlers zu versetzen. Wie hätte Josuah Parker dieses Problem gelöst, das war für Mike Rander die große und entscheidende Frage.

Nach wenigen Minuten fand er eine brauchbare Lösung. Es kam darauf an, seine Feuerkraft zu verstärken. Dazu brauchte er natürlich keine Schußwaffe zusätzlich, sondern nur einige handliche Feuerwerkskörper.

Solche Dinge ließen sich gerade hier in Hongkong leicht beschaffen, zumal die Chinesen für ihre Vorliebe für Feuerwerk aller Art sattsam bekannt waren. Mike Rander steuerte seinen Wagen zurück in die Bucht, ließ sich von einem Verkehrspolizisten den richtigen Weg zeigen und stand dann in einem einschlägigen Fachgeschäft.

Ein sich immer wieder devot verbeugender Chinese bediente ihn mit Sachkenntnis und innerer Anteilnahme. Mike Rander erstand ein gutes Dutzend Kanonenschläge, deren Schwarzpulverlunten er später auf die Länge eines knappen Dezimeters verkürzte. Nach dem Anzünden solch einer Lunte mußte er sich beeilen, dieses höllische Ding schleunigst loszuwerden, wenn es nicht in seiner Hand platzten sollte.

Bewaffnet mit dieser Spezialausrüstung fühlte der Anwalt sich stark genug, den Boden des Bungalowgrundstücks zu betreten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Schußwaffe in Ordnung war, riskierte er es.

Die Nacht war wunderbar geeignet, dieses Unternehmen zu unterstützen. Von See her eilten dunkle, regengefüllte Wolken auf das Land zu. Eine frische, kühle Brise machte sich breit.

Der Anwalt kam gut voran.

Der weiche, kurzgeschorene Rasen dämpfte seine Schritte fast bis zur Lautlosigkeit. Die vielen Büsche und Sträucher deckten ihn gegen Sicht. Von einem blutgierigen Panther war vorerst weit und breit nichts zu sehen und zu hören.

Da war auch schon das erste Erdgeschoßfenster …

Mike Rander schob den Kopf hoch und warf einen Blick in die erleuchtete Halle.

Die attraktive Chinesin May Tai Hing stand vor einem kleinen Wandschrank und füllte ein Lacktablett mit Gläsern. Sie schien einige Erfrischungsdrinks zu mixen.

Sie war nicht allein in der Halle.

In der Nähe der geöffneten Verandatür waren zwei Chinesen zu erkennen, die aus dickstieligen Pfeifen rauchten. Sie sahen äußerst gelassen und zufrieden aus. Ein plärrender Lautsprecher sorgte für Musik. Für Randers Ohren waren die Tonfolgen eine einzige Beleidigung, die Chinesen aber genossen ihre Heimatmusik und sahen kaum hoch, als sie von May Tai Hing bedient wurden.

Ein einziges Glas blieb zurück auf dem Tablett.

Die Chinesin trug es zur Treppe, die von der Halle aus hinauf ins Obergeschoß führte. Nach wenigen Sekunden verschwanden ihre Beine aus Mike Randers Gesichtsfeld.

Der junge Anwalt dachte selbstverständlich an Jane Morefield. Augenscheinlich wurde sie in den oberen Räumen der Villa festgehalten.

Rander verließ das Fenster. Er suchte nach einem passenden Aufstieg.

Die schlanken Säulen eines Balkons boten sich dazu an. Mike Rander, ein durchtrainierter Sportsmann, schätzte ab. Nein, es mußte eine Kleinigkeit sein, den Balkon zu erklettern. So etwas pflegte er mit der linken Hand zu erledigen. Er brauchte nur noch zu warten, bis May Tai Hing wieder nach unten in die Halle ging.

Nach einer kurzen Wartepause machte sich Rander an den Aufstieg.

Schnell und geschmeidig benutzte er eine der dünnen Säulen als Kletterstange. Nach knapp zwei Minuten konnte er sich bereits über die Balkonbrüstung schwingen. Auf Zehenspitzen schlich er sich an das nur halb geöffnete Fenster heran.

Im Zimmer war es dunkel.

Hielt sich irgendeine Person in diesem Raum auf? Rander zog die Tür weiter auf, duckte sich und betrat das Zimmer. In der Hand hielt er seinen schußbereiten Revolver.

Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die Umrisse der spärlichen Einrichtung. Sie bestand aus einem Bett, einem kleinen Wandschrank und aus einem Tisch samt Sessel. Es roch nach kaltem Rauch. Der Raum schien demnach von einem Mann bewohnt zu werden.

Der Anwalt näherte sich der Tür, die wahrscheinlich hinaus auf einen Korridor führen mußte. Er öffnete sie vorsichtig und zuckte fast zurück. Es lag nicht am Licht, das auf sein Gesicht fiel. Es hing mit der Chinesin May Tai Hing zusammen, die dicht an dieser Tür vorbeischritt und das leere Tablett unter den Arm geklemmt hatte.

Sie hatte nichts bemerkt.

Sie ging die Treppe hinunter und verschwand unten in der Halle.

Rander riskierte einen Blick auf die Galerie.

Es gab einige Türen, die sich ihm anboten. Hinter welcher aber wurde Jane Morefield festgehalten? Aus welchem Zimmer mochte die Chinesin gekommen sein?

Rander huschte hinaus auf die Galerie. Von hier aus konnte er hinunter in die große Wohnhalle des Bungalows sehen. Er preßte sich eng gegen die Wand und hielt auf einen Vorhang zu, der die Galerie unterteilte. Hinter diesem Vorhang befand sich nur noch eine einzige Tür. Sein Gefühl sagte ihm, daß er das Ziel erreicht hatte.

Vorsichtig drückte er die Türklinke herunter. War die Tür verschlossen? Ließ sie sich sofort aufstoßen? Mike Rander schwitzte Blut und Wasser. Im Öffnen von versperrten Türen besaß er nämlich keineswegs jene Fertigkeit, die seinen Butler auszeichnete.

Erleichtert atmete er auf.

Die Tür ließ sich aufziehen.

Er roch sofort das süßliche, schwere Parfüm, das auf eine Frau hindeutete.

*

Josuah Parker wußte inzwischen, daß die Gelben Drachen ihn nicht belogen hatten. Ein Anruf im »Queens« hatte gezeigt, daß Anwalt Mike Rander das Hotel verlassen hatte und zum Flugplatz Kaitak gefahren war.

Der Butler sparte sich weitere Anrufe.

Für ihn war es klar, daß Mike Rander Hongkong verlassen hatte. Was hätte der Anwalt sonst auch tun sollen, wenn er das Leben seines Butlers hatte retten wollen? Er war schamlos erpreßt worden. Josuah Parker fand die Handlungsweise seines jungen Herrn als vollkommen richtig. Er hatte es überdies nicht besonders gern, wenn Mike Rander sich allzu heftig mit Gangstern einließ. In solchen Fällen kam er sich stets wie eine Glucke vor, die auf ihr Lieblingsküken aufpassen muß.

Ja, Parker war eigentlich recht froh, daß er nun allein handeln konnte. Er brauchte keine Rücksichten mehr zu üben, er konnte sich frei entfalten.

Es war klar, daß er den Kampf mit den Gelben Drachen nicht aufsteckte. Diese Burschen hatten ihn unnötig gereizt. Sie bestanden auf einer Kraftprobe, sie sollten sie frei Haus geliefert bekommen …

Parker verzichtete darauf, sich mit Inspektor McParish in Verbindung zu setzen. Offizielle Hilfe brauchte er nicht. Sie hätte ihm nur Beschränkungen auferlegt. Nein, Josuah Parker wollte weiterhin als Einzelgänger auftreten und wirken.

Wie Mike Rander überlegte auch er, wo er den Hebel ansetzen konnte.

Der geheimnisvolle Bungalow an der Repulse-Bay bot sich ihm freundlichst an. Dort war tatsächlich noch nicht genügend nachgeforscht worden. Dort schien Miss Jane Morefield auch festgehalten zu werden, falls sie wirklich noch lebte.

Nach den Zwischenfällen in der Kleiderfabrik war nicht mehr damit zu rechnen, daß die Gelben Drachen dort ihren Stützpunkt unterhielten. Sie mußten schließlich mit der Möglichkeit rechnen, daß Parker die Polizei alarmierte und daß dort dann eine Razzia stattfand.

Blieb als Alternative der gut informierte Chinese Li Wang.

Übrigens ein undurchschaubarer, rätselhafter Mann, der für, zwei Seiten zu arbeiten schien. Hatte es irgendeinen Sinn, sich mit ihm in Verbindung zu setzen? Konnte er echte Informationen über Miss Jane Morefield und die Gelben Drachen liefern?

Butler Parker entschied sich, nach Repulse-Bay zu fahren. Der Bungalow zog ihn magnetisch an. Dort hoffte er des Rätsels Lösung zu finden. Nachdem er sich entschieden hatte, machte er sich sofort an die Arbeit. Er brauchte einen Wagen, um die Insel schnell zu durchqueren. Er brauchte einige zusätzliche Ausrüstungsgegenstände, um den Kampf mit den Gelben Drachen aufnehmen zu können …

*

Anwalt Mike Rander trat vorsichtig in das dunkle Zimmer, wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und nutzte die Zwangspause, um sich mit seinen Ohren zu informieren. Tiefe, feste, ein wenig rasselnde Atemzüge wiesen ihm den Weg ans Bett.

Es stand seitlich am Fenster.

Rander ging darauf zu. Er war sicher, Jane Morefield anzutreffen. Er malte sich bereits aus, wie er die junge Amerikanerin retten wollte. Er lachte in sich hinein, wenn er an den Butler dachte. Es ging also auch ohne ihn, ja, jetzt hatte er es in der Hand, ihn zu erreichen. Für Mike Rander war es sicher, daß auch Josuah Parker in diesem Bungalow festgehalten wurde. Es war ein Aufwaschen, auch ihn zu befreien.

Rander hatte das Bett erreicht und beugte sich über die schlafende Person. Noch wußte er nicht, mit wem er es zu tun hatte. Daß es eine Frau sein mußte, sah er an dem langen Haar, das auf dem Kopfkissen zu sehen war.

»Miss Morefield …«, flüsterte er leise und rüttelte die Frau an der Schulter. »Miss Morefield, wachen Sie auf …«

Die Frau reagierte ungewöhnlich.

Sie schrie schrill auf, setzte sich vehement hoch und warf sich im gleichen Moment auf den reichlich verdutzten Anwalt. Sie klammerte sich an seinem Jackett fest und stieß unregelmäßige, spitze Schreie aus, die auf des Anwalts Ohren wie Alarmsirenen wirkten.

»Seien Sie doch still!« flüsterte Rander verzweifelt. »Ich bin ein Landsmann von Ihnen, Miss Morefield, ich will Sie befreien …!«

Die Frau schrie weiter.

Mike Rander tastete mit der freien Hand nach der Nachttischlampe, schaltete das Licht ein und … hätte beinahe selbst einen irren Schrei ausgestoßen.

Eine Art Mumie schien sich an ihm festgeklammert zu haben. Das zerknitterte Gesicht einer uralten Chinesin hatte sich zu einem einzigen Schrei verformt. Der zahnlose Mund war weit geöffnet. Ein fauliger Geruch entströmte diesem Gehege.

Mike Rander merkte viel zu spät, daß er sich sehr geirrt hatte. Er merkte aber auch, daß die alte Chinesin die Kräfte einer zähen, alten Katze besaß. Als sie sogar Anstalten machte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, verlor Mike Rander seinen Rest von Humor.

Er stieß das alte Weib zurück in die Kissen und wandte sich dann zur Flucht. Es wurde auch höchste Zeit, daß er sich absetzte, denn die irren, spitzen Schreie der Mumie mußten unten in der Wohnhalle gehört worden sein.

Rander rannte zur Tür.

Als er auf der Galerie war, sah er bereits die ersten beiden Chinesen, die die Treppe hinaufliefen.

Der Anwalt griff nach einem Feuerwerkskörper und zog gleichzeitig seine Schußwaffe. Er feuerte einen Warnschuß ab und zwang die beiden Chinesen in Deckung. Die kurze Verschnaufpause nutzend, zündete er die Lunte des Feuerwerkskörpers an und warf das gefährliche Ding hinunter in die Halle.

Noch in der Luft barst der Feuerwerkskörper auseinander. Es gab einen riesigen Knall. Der Hersteller dieser Ware war ein Meister seines Fachs und hatte mit Rohmaterialien bestimmt nicht gespart. Kurz, die beiden Chinesen dachten an Bomben und Granaten. Sie drehten sich um und rannten zurück in die Halle.

Mike Rander brannte noch zwei weitere Feuerwerkskörper an und warf sie in die Halle.

Die Detonation ausnutzend, rannte er zurück in das Balkonzimmer, lief durch bis zum Balkon und rutschte an der schlanken Säule hinunter in den Garten.

Er mußte schnell um sein Leben laufen.

Die Gelben Drachen waren ausgesprochen verärgert darüber, daß ihre Ruhe so jäh gestört worden war. Sie vermuteten vielleicht auch einen Angriff eines Konkurrenzunternehmens. Sie scheuchten jeden ihrer Leute hoch und wollten Rander den Weg zurück zur Straße abschneiden.

Aber sie hatten es schließlich mit einem gewissen Mike Rander zu tun, der von seinem Butler sehr gut instruiert worden war. Mike Rander ließ sich nicht verscheuchen, nicht abdrängen oder in die Enge treiben.

Seine Schußwaffe richtig einsetzend, gelang es ihm, an den Zaun zu kommen. Er schwang sich hoch, landete glücklich auf der Straßenseite und rannte auf seinen in einer Seitenstraße abgestellten Wagen zu.

Hinter sich hörte er auf dem Asphalt das Klatschen nackter Fußsohlen. Die Gelben Drachen entwickelten sportliche Talente und wollten Mike Rander um jeden Preis einholen.

Noch war er schneller.

Keuchend, mit pfeifenden Lungen nach Luft schnappend, warf er sich in den Wagen.

Im Rückspiegel sah er die Gestalten der Gelben Drachen, die den Vorsprung des Anwalts fast schon wettgemacht hatten. Rander ließ den Motor anspringen und tat das, was die Gangster bestimmt nicht erwarteten. Er schaltete den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung schleifen und gab sehr viel Gas.

Laut heulte der schwere Motor auf.

Ruckartig ließ Mike Rander die Kupplung kommen.

Der Wagen tat einen Satz nach hinten. Dann rauschte er mit schneller Fahrt und singendem Getriebe genau zwischen die geschlossen anpreschenden Gelben Drachen.

Die Chinesen spritzten auseinander. Sie behinderten sich dabei gegenseitig. Sie stießen sich um und purzelten übereinander. Sie waren einfach nicht in der Lage, ihre Schußwaffen richtig anzusetzen.

Mike Rander steuerte den Wagen in verwegenen Schlangenlinien auf eine Kreuzung zu. Er riß das Steuer herum, der Wagen schwenkte mit dem Heck zuerst in die Seitenstraße ein. Rander legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und ließ die Pneus auf dem Asphalt auf rauschen. In gekonntem Schnellstart fuhr er dann hinunter zur Repulse-Bay.

Verfolgt wurde er nicht.

Die Gelben Drachen mochten sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt haben. Sie verzichteten darauf, eine Hetzjagd zu veranstalten. Rander konnte das Tempo etwas drosseln. Als die ersten hellerleuchteten Hotels an der Bay in Sicht kamen, war Randers Laune tief unter den Nullpunkt gesunken.

Er war sich klar darüber, alles verpatzt zu haben.

Die Gelben Drachen waren gewarnt. Sie wußten wahrscheinlich inzwischen, wer der Eindringling gewesen war.

Jetzt ging es nicht mehr um Jane Morefield.

Jetzt handelte es sich ausschließlich um Butler Josuah Parker. Er war und blieb das Faustpfand in der Hand dieser Gangster.

Mike Rander hatte ja keine Ahnung, daß sein Butler bereits auf dem Weg nach Repulse-Bay war. Er konnte nicht ahnen, daß sich Josuah Parker einiges vorgenommen hatte …

*

Josuah Parker wiederum wußte nicht, was sich im Bungalow an der Repulse-Bay zugetragen hatte. Vollkommen arglos traf er gegen Mitternacht dort ein. Wie sein junger Herr, Mike Rander, sondierte auch er erst mal die Lage. Daß das Innere des Bungalows einem aufgescheuchten Ameisenhaufen glich, war von der Straße aus nicht zu sehen. Daß sich auf dem Grundstück eine wilde Hetzjagd abgespielt hatte, war dem friedlichen Rasen nicht anzusehen. Josuah Parker mußte einfach glauben, daß die Gelben Drachen im Bungalow ahnungslos waren und sich vollkommen in Sicherheit wiegten.

Die von See her kommende leichte Brise hatte sich weiter aufgefrischt. Ein bereits steifer Wind wehte über die Berghänge und zwang die Bäume zu tiefen, mehr als nur höflichen Verbeugungen. Es roch nach Sturm.

Josuah Parker mußte sich die steife schwarze Melone tief in die Stirn drücken, als er den Mietwagen verließ. Die harten, stoßweise kommenden Böen rissen an seinem Universal-Regenschirm. Parker kämpfte sich gegen den Wind an das Grundstück heran und blieb in der Nähe des Tores im Schatten eines Baumes stehen. Mondlicht hatte er kaum noch zu fürchten. Immer nur für wenige Sekunden war die silberne Scheibe hinter den dunklen regenschwarzen Wolken zu sehen.

Der Butler zog seinen Zigarrenabschneider aus der Westentasche. Einige wenige Handgriffe genügten, um aus diesem Schneidinstrument ein kleines einäugiges Fernglas zu machen. Damit beobachtete er den Eingang des Bungalows.

Er hatte sich dazu genau den richtigen Zeitpunkt gewählt.

Ein amerikanischer Kombiwagen erschien auf der Vorderseite des Hauses. Der Fahrer – er trug die landesübliche chinesische Tracht: blauer Kittel und weite, sackartige Hosen – verschwand im Haus.

Josuah Parker kam voll auf seine Kosten.

Schon nach wenigen Minuten erschien eine sehr gut aussehende Chinesin. Sie trug den kleidsamen Cheongsam und hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden. In ihrer Begleitung befand sich eine junge, blondhaarige Dame, die etwa 21 oder 22 Jahre alt sein mochte.

Sie war nicht ganz sicher auf ihren Beinen.

Diese blonde Frau wurde von der Chinesin in den Wagen gesetzt. Dann stieg der Fahrer zu und wartete, bis seine Landsmännin neben ihm Platz genommen hatte. Der Wagen schickte sich an, den Bungalow zu verlassen.

Josuah Parker schaltete augenblicklich.

Das blonde Haar hatte ihn alarmiert. Alles sah danach aus, als ob Jane Morefield ein neues Quartier beziehen wollte. Hier bot sich eine wunderbare Gelegenheit, den neuen Aufenthaltsort festzustellen.

Butler Parker hatte es eilig, um zurück zu seinem Mietwagen zu gelangen. Er verzichtete dabei sogar auf die sonst übliche Würde. Ihm kam es nur darauf an, nicht den Anschluß zu verlieren.

Er verlor ihn nicht …

Als der große, schwere Kombiwagen auf die Straße hinausfuhr, saß der Butler bereits am Steuer. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern hängte er sich an seinen Schrittmacher. Aufkommender erster Regen erschwerte zwar die Sicht, sorgte andererseits aber auch dafür, daß Parkers Wagen unentdeckt blieb. Mit traumwandlerischer Sicherheit blieb der Butler an seinem Objekt kleben. Es gehörte sehr viel fahrerisches Geschick dazu, sich nicht abschütteln zu lassen, zumal der Kombiwagen ohne Hemmungen und mit großer Schnelligkeit gefahren wurde.

Die roten Schlußlichter waren für Parker der einzige Anhaltspunkt. Nach ihnen konnte er sich richten. Da Parker sich über die Form der Insel Hongkong genau unterrichtet hatte, wußte er auch bald, wohin die Fahrt ging. Wenn ihn nicht alles täuschte, wurde der nahe Hafen Aberdeen angesteuert. Parker wußte nur vom Hörensagen, daß dort ganze Flotten von Dschunken und Hausbooten versammelt waren. Um einen Menschen verschwinden zu lassen, um alle Spuren zu beseitigen, konnte man sich keinen besseren Platz aussuchen.

Während der Fahrt überlegte der Butler, welche Möglichkeiten sich für ihn ergaben. Wurde die blonde Frau, die augenscheinlich eine Amerikanerin war, im Gewirr der Hausboote versteckt, dann fiel es ungemein schwer, sie zu finden. Die Chinesen hielten bestimmt wie Pech und Schwefel zusammen. Schon aus Angst vor den Gelben Drachen würden sie kein Wort sagen.

Warum also warten, wohin man die blonde Frau brachte? War es nicht wesentlich besser, sie schon während der Fahrt nach Aberdeen Harbour zu befreien?

Parker hatte es mit einem Chinesen zu tun. Die Chinesin selbst zählte wohl nicht. Die Chancen sahen also recht günstig aus.

Parker sah in den Rückspiegel.

Hinter ihm auf der gebirgigen Küstenstraße war alles dunkel. Er schien seinerseits also nicht beschattet zu werden. Auch das Wetter spielte mit.

Hier auf der freien Küstenstraße waren die harten Windböen besonders deutlich und stark zu spüren. Sie schüttelten den Wagen durch und brachten ihn mehr als einmal aus dem Kurs.

Parker ließ sich dadurch kaum erschüttern. Dieses Wetter paßte zu seinem Plan, den er sich innerhalb weniger Sekunden ausdachte. Wie ein Phantom wollte er auftauchen und die blonde Frau zum Umsteigen in seinen Wagen veranlassen.

Nach einer Straßenkehre schaltete er die Wagenlichter ein. Mit voll aufgedrehten Scheinwerfern und steigender Geschwindigkeit verkürzte er den Abstand zu seinem Schrittmacher. Nach wenigen Minuten konnte er ihn auf einer langen Geraden reibungslos überholen.

Parker baute seinen Vorsprung weiter aus. Als die nächste Kehre in Sicht kam, drosselte er das Tempo, bremste scharf ab und stellte den Wegen quer zur Straße. Er sorgte dafür, daß die Scheinwerfer auf ein blankes Felsstück fielen und der Lichtreflex seinen Wagen anstrahlte. Parker stieg aus dem Wagen und ging in Deckung.

Der Wind war so heftig geworden, daß das Geräusch des nachkommenden Kombis nicht zu hören war.

Dann tauchten plötzlich die Scheinwerfer auf. Sekunden später preschte der Wagen um die Straßenkehre. Der Fahrer sah das Hindernis auf der Bahn und vollführte eine Vollbremsung. Dicht vor Parkers Wagen kam der Kombi zum Stehen.

Der Fahrer hupte ungeduldig, stieg aber noch nicht aus.

*

Josuah Parker dachte natürlich nicht daran, sein Versteck im Straßengraben zu verlassen. Er schlich sich ein paar Meter hinter den Kombi und näherte sich in gebückter Haltung dem Wagen.

Der Fahrer verlor die Geduld.

Er klinkte die Wagentür auf und stieg aus. Langsam und vorsichtig schritt er auf den leeren Wagen zu, der quer zur Straße stand. Der Chinese mochte mißtrauisch sein. Wahrscheinlich hatte er sich auch bewaffnet. Parker war so einsichtig, mit solch einer Möglichkeit zu rechnen.

Wenig später hatte der Chinese sich vergewissert, daß der Wagen tatsächlich leer war. Er tat etwas, womit Josuah Parker nicht gerechnet hatte. Der Mann setzte sich ans Steuer, ließ den Motor anspringen und schickte sich an, das Hindernis an den Straßenrand zu fahren.

Parker war erfreut, daß der Chinese solchermaßen reagierte. Er kam seinen Absichten sehr entgegen.

Der Butler genierte sich nicht, sich an das Steuer des Kombi zu setzen. Er hörte hinter sich einen überrascht Aufschrei, hatte aber keine Zeit, beruhigende Worte von sich zu geben. Nun kam es erst mal darauf an, den Wagen wegzuschaffen.

Da der Motor des Kombi noch lief, ergaben sich keine Schwierigkeiten.

Sobald der ahnungslose Chinese den sperrenden Wagen etwas an die Seite gelenkt hatte, gab Josuah Parker Gas und brauste los. Gleichzeitig spürte er einen Schlag auf den Kopf. Die Chinesin hatte mit einem harten Gegenstand zugeschlagen und wollte den Butler damit außer Gefecht setzen.

Sie konnte natürlich nicht wissen, daß Parkers schwarze Melone mit solidem Stahlblech gefüttert war. Diese Kombination von Kopfbedeckung und Sturzhaube ließ sich von dem Schlag überhaupt nicht beeindrucken. Auch Parker nicht.

Er preschte durch die Lücke auf der Fahrbahn, schaltete den Kombi schnell hoch und entfernte sich vom Tatort. Parker hörte hinter sich einige Schüsse. Der Chinese hatte den Trick endlich bemerkt und wollte retten, was noch zu retten war.

Zu spät …!

Die Schüsse pfiffen wirkungslos durch die dunkle, stürmische Nacht. Josuah Parker konnte das Tempo herabmindern.

»Ich möchte mich in aller Form vorstellen«, sagte er zu seinen beiden Begleiterinnen. »Mein Name ist Josuah Parker. Ich habe den Vorzug, Mr. Mike Rander als Butler dienen zu können. Sie brauchen nichts zu befürchten, meine Damen, ich bin mit den besten Absichten gekommen. Ich möchte vorschlagen, daß Sie sich vorerst noch etwas gedulden. Sobald ich Sie aus der mittelbaren Gefahrenzone herausgebracht habe, werde ich mit näheren Erklärungen aufwarten.«

Parker wollte sich zufrieden im Fahrersitz zurechtsetzen. In diesem Augenblick schien in seinem Kopf eine Granate zu explodieren. Er fühlte noch einen schmerzhaften, harten Schlag am Hals und wurde dann augenblicklich besinnungslos …

*

Mike Rander setzte zu einem zweiten Angriff an.

In Repulse-Bay hatte er sich ein kleines Motorboot gemietet. Er wollte noch mal zum Bungalow, in dem er seinen Butler Josuah Parker vermutete. Diesmal wollte er es von der Seeseite her versuchen.

Im Wetter hatte er sich allerdings böse getäuscht.

Schon nach zehn Minuten wurde sein kleines Boot von der immer stärker werdenden auflaufenden Flut durchgeschüttelt. Der böige Wind türmte die Wogen auf. Wie eine hilflose, kleine Nußschale tanzte das Boot auf den Wellen.

Mike Rander war Sportsmann.

Angst hatte er nicht. Zu Hause, drüben in den Staaten, betätigte er sich gern auf dem Wasser. Mit einem Boot wußte er umzugehen. Doch das hier war erheblich anders. Meterhoch türmten sich die Wellen auf. Rander schwitzte, obwohl das Wasser angenehm kühl war. Wie er am Bootssteg des Bungalows anlegen sollte, war ihm unklar. Es bestand die größte Gefahr, daß ihn die Brandung gegen die Felsen schmetterte.

Er hatte riesiges Glück.

Beim Einbiegen in die kleine Bucht geriet er in den Windschatten des immer stärker aufkommenden Sturms. Hier im Schutz der vorspringenden Felsen war das Wasser erstaunlich ruhig.

Rander wischte sich das Salzwasser aus dem Gesicht. Er glaubte einen Schatten auf dem Wasser gesehen zu haben. Er riskierte es, sich aufzurichten. Blitzschnell mußte er sich wieder auf den Boden des Bootes zusammenkauern, sonst wäre er ins Wasser geschleudert worden.

Der kurze, schnelle Blick aber hatte bereits genügt.

Er hatte die Umrisse einer Dschunke erkannt, die die Bucht verließ. Jetzt tauchte sie auf einem hohen Wellenkamm auf. Eine riesige, unsichtbare Hand schien die Dschunke zum Himmel hoch tragen zu wollen. Sekunden später verschwand das Fahrzeug in einem tiefen Wellental und war nicht mehr zu sehen.

Rander war es unmöglich, sich auf den Kurs der Dschunke zu legen. Dazu war die Entfernung zu groß. Im Gegensatz zu ihr war es auch ausgeschlossen, sich hinaus auf das aufgewühlte Meer zu wagen. Mit größter Sicherheit wäre er umgeschlagen. Er mußte froh sein, als er nach einer Viertelstunde am Bootssteg festmachen konnte.

Bis auf die Haut durchnäßt, stieg er über die steile Betontreppe hinauf zum Bungalow. Seine Gestalt wurde von den harten, fast schmerzhaften Windschlägen erfaßt. Der Sturm heulte um die Klippen. Rander mußte sich am Eisengeländer festklammern, um nicht von der Treppe geweht zu werden.

Mühsam kämpfte er sich nach oben.

Mit seinen Feuerwerkskörpern konnte er nicht rechnen. Sie waren völlig durchnäßt worden. Er warf sie als unnötigen Ballast ab. Er hoffte, auch ohne sie zurecht zu kommen. Nach dem Zwischenfall im Bungalow rechneten die Gelben Drachen bestimmt nicht mehr mit seiner Rückkehr.

Rander erreichte den Garten.

Er legte eine kleine Verschnaufpause ein.

Die ersten Blitzbündel zuckten vom Himmel und erleuchteten alles taghell. Rander sprang von Deckung zu Deckung. Er näherte sich der Rückseite des Bungalows, der übrigens nicht ein einziges, erleuchtetes Fenster aufwies.

Sollten die Gelben Drachen sich bereits zur Ruhe gelegt haben?

Mike Rander wurde ein ungutes Gefühl nicht los. Er mußte an die auslaufende Dschunke denken. Hoffentlich hatten die Gelben Drachen sich nicht abgesetzt.

Plötzlich zuckte Rander zusammen.

Ein hartes, explosionsartiges Geräusch traf seine Ohren. War auf ihn geschossen worden?

Rander ging in Deckung, lauschte, wartete ab.

Pfeifend strich der Sturm um die Hausecken. Er heulte über das flache Dach des Bungalows und peitschte die Bäume und Sträuchern Der Regen begann stärker zu werden.

Da, wieder dieses knallende Geräusch …!

Doch nun war der junge Anwalt beruhigt. Ein loser Fensterladen wurde mit großer Gewalt gegen die Hauswand geschleudert. Mike Rander folgte diesem Geräusch. Bald schon stand er vor einem Fenster, dessen Flügel aufgedrückt und dessen Glas zertrümmert war.

Da sich seit einigen Minuten keiner im Haus darum gekümmert hatte, verdichtete sich sein Verdacht, daß das Haus geräumt worden war.

Der Anwalt stieg durch das zertrümmerte Fenster, ging vorsichtig durch den Raum und erreichte die Wohnhalle. Als er die Tür auf drückte, hörte er ein nervenzerfetzendes Stöhnen und Wimmern. Doch es war nur der Wind, der durch das Haus strich.

Rander schaltete das Deckenlicht ein.

Die Wohnhalle war leer. Sie war buchstäblich leer. Die Gelben Drachen hatten nicht ein einziges Möbelstück, nicht einen Wandbehang oder Teppich zurückgelassen.

Rander durchsuchte alle übrigen Räume.

Auch sie waren leer und ausgeräumt worden. Die Gelben Drachen hatten gründliche Arbeit geleistet.

Der Anwalt interessierte sich selbstverständlich für den Raum, den er erst vor knapp einer Stunde besucht hatte.

Daß auch er leer war, verstand sich am Rande.

Hinter diesem Raum aber, neben dem Bett, in dem er von der alten zahnlosen Chinesin schockiert worden war, befand sich die Tür zu einer kleinen Kammer.

Ob Jane Morefield hier festgehalten worden war? Spuren waren nicht zu finden. In der kleinen Kammer roch es jedoch nach kaltem Zigarettenrauch und nach einem schwachen Hauch Parfüm.

Als Mike Rander zurück auf die Galerie ging, hörte er unten in der Wohnung ein schauriges Brüllen.

Er beugte sich über die Brüstung der Galerie. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nun, der Panther, der unten in der Halle unruhig umherstrich, war kein Trugbild. Die Gelben Drachen hatten ihre schwarze Hauskatze zurückgelassen.

Oder befanden sich dennoch einige Gangster im Haus? Vielleicht in den Kellerräumen? Bewachten sie dort den entführten Butler?

Rander rief den Panther an.

Das Tier nahm sofort den Kopf hoch, erkannte ein mögliches Opfer und sprang mit federnden, weichen Sätzen über die breite Treppe nach oben. Rander behielt die Nerven. Auch von seiner Schußwaffe machte er keinen Gebrauch.

Er wartete, bis das Tier ihn fast erreicht hatte.

Dann aber sprang er schnell in eines der Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Der Panther, hungrig und versessen darauf, ein verspätetes Abendessen einzunehmen, folgte prompt.

Rander wischte durch die angrenzende Tür ins Nebenzimmer und schloß hinter sich ab.

Fauchend sprang der schwere Panther an der Tür hoch. Er hatte Menschenwitterung aufgenommen und wollte nicht einsehen, daß vorerst nichts zu machen war.

Mike Rander lief durch die Tür zurück auf die Galerie, ging auf Zehenspitzen zu der Tür zurück, durch die er den Panther in das erste Zimmer hineingelockt hatte.

Leise und verstohlen zog er die halb geöffnete Tür zu. Übrigens im richtigen Augenblick, denn das Tier hatte es sich anders überlegt und wollte zurück auf die Galerie.

Es kam zu spät.

Vor seiner Nase schloß sich die schwere Tür.

Mike Rander drehte den Schlüssel im Schloß herum, klopfte sich durchaus zufrieden die Hände ab und stieg nach unten. Jetzt sollten die Kellerräume an die Reihe kommen. Insgeheim hoffte er noch immer, den Butler zu finden …

*

In Aberdeen Harbour drängten sich die Dschunken und Hausboote schutzsuchend zusammen. Das Meer war auch hier aufgewühlt, trotz der vorgelagerten Insel Aplchau. Im Licht der Hafenbeleuchtung glich das Wasser flüssigem Blei. Niedrige Regenwolken strichen auf das Land zu. Selbst ein unerfahrener Tourist hätte längst gemerkt, daß einer jener berüchtigten Taifune im Anmarsch war.

Die Straßen waren längst geräumt worden. Chinesen mühten sich mit dicken Stricken ab, die Hausdächer zu sichern. Was nicht niet- und nagelfest war, würde in die niedrigen, oft strohbedeckten Häuser hineingetragen.

Oberhalb von Aberdeen Harbour stand in einer kleinen Seitenstraße ein amerikanischer Kombiwagen. Auf dem Vordersitz lag ein Mann namens Josuah Parker. Er schlief, wenn auch nicht ganz freiwillig. Ein gekonnter Handkantenschlag hatte ihn außer Gefecht gesetzt.

Um Parkers Bewegungsfreiheit zu dämpfen, war er an Händen und Füßen gefesselt worden. Doch er wußte davon nichts.

Auf dem breiten Rücksitz befand sich ein zweiter Passagier. Auch der besaß eine weiße Haut, dazu noch honigblonde Haare. Diese Frau war ebenfalls gefesselt. Auch sie wußte davon nichts. Sie stieß Laute aus ihrem weit geöffneten Mund aus, die eindeutig als Schnarchen zu bezeichnen waren.

Josuah Parker erwachte aus seinen bunten Träumen. Sein Hals schmerzte.

Als er nach der Stelle greifen wollte, merkte er erst, daß man ihn gebunden hatte. Das war das Startzeichen für ihn, sofort hellwach zu werden. Augenblicklich erinnerte er sich daran, was vorgefallen war.

Der Regen hämmerte inzwischen gegen die Wagenscheiben. Der Wind riß am Wagenaufbau. Die Chinesin hatte die Scheinwerfer gelöscht. Der schwere Kombi schien in einem dunklen Tunnel zu stehen.

Josuah Parker dachte selbstverständlich zuerst daran, sich der Fesseln zu entledigen. Er haßte es, wenn seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde.

Nach wenigen Minuten fand er natürlich einen gangbaren Weg, um die Hanfstricke loszuwerden.

Mit dem Mund drückte er den Zigarettenanzünder ein. Er wartete, bis das Zündgerät mit leichtem Klicken wieder hervorsprang. Vorsichtig, mit den Zähnen sehr geschickt hantierend, zupfte er den Zigarettenanzünder aus der Halterung und warf sich auf den Rücken. Er zog die Beine rechtwinklig an und durchbrannte die Fußstricke.

Er brauchte insgesamt drei Zündungen, bis er die Beine wieder frei bewegen konnte.

Dann kamen die Handstricke an die Reihe.

Da man ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, mußte er sich schon etwas mehr anstrengen.

Er entwickelte die Geschicklichkeit eines erfahrenen Taschenspielers. Da seine langen Finger frei und beweglich geblieben waren, ließ sich auch dieses Problem erfreulich und zufriedenstellend lösen. Ohne sich auch nur einen Quadratzentimeter Haut anzusengen, dauerte es nur wenige Minuten, bis er sich die Handgelenke reiben und das gestockte Blut wieder in Bewegung setzen konnte.

Den Colt hatte man ihm weggenommen.

Parker hielt sich nicht damit auf, nach ihm zu suchen. Er war sicher, daß er ihn bald wieder in Besitz nehmen konnte. Seiner Schätzung nach mußte die attraktive schwarzhaarige Chinesin bald wieder erscheinen.

Er kümmerte sich um die blonde junge Frau.

Sie schnarchte unbekümmert.

Josuah Parker rief sie an, versuchte es mit dem Namen Jane Morefield, doch sie reagierte einfach nicht. Parker kam zu dem treffenden Schluß, daß sie höchstwahrscheinlich unter den Nachwirkungen eines Opiats litt. Man hatte die Frau eingeschläfert, um keine Scherereien mit ihr zu haben.

Parker nutzte seine neu gewonnene Freiheit, um die blonde Frau in Sicherheit zu bringen. Daß die Wagenschlüssel nicht vorhanden waren, störte ihn nicht. Er schloß die Zünddrähte kurz und fuhr davon. Im eingeschalteten Scheinwerferlicht war der schmale, geschotterte Feldweg zu erkennen.

Nach einigen Biegungen sah Parker den Hafen tief unter sich.

Der Sturm war derart stark geworden, daß er Mühe hatte, den Wagen auf dem schmalen Feldweg zu halten. Butler Parker war froh, als er hinter schützenden Erdwällen Deckung nehmen konnte.

Lange durfte er hier aber nicht bleiben. Es war ja nicht klar, ob die Chinesin allein zurückkommen würde. Unverständlich war es auf der anderen Seite, daß sie den Wagen nicht zurück zu den Gelben Drachen gesteuert hatte. Warum verhielt diese Frau sich derart inkonsequent? Welche Pläne mochte sie haben?

Nun, eine Antwort darauf ließ sich bestimmt noch finden. Nur nicht im Moment. Jetzt ging es um die schnarchende blonde Frau, für die Parker sich verantwortlich fühlte. Er traute sich mit dem Kombi also noch mal in den peitschenden Sturm hinaus.

Es goß wie aus Eimern.

Die Sicht wurde sehr schlecht. Die starken Scheinwerfer waren nicht mehr in der Lage, den Weg auszuleuchten. Es wäre lebensgefährlich gewesen, weiterzufahren. Parker mußte notgedrungen anhalten und eine Wartepause einlegen.

Der Regen trommelte auf das Wagendach. Durch die rechten Seitenfenster sah Parker hinauf auf den langgestreckten Hang. Gelb gefärbte Schlammassen ergossen sich gurgelnd und rauschend nach unten. Sie rissen ganze Stücke aus dem schmalen Feldweg und verwandelten ihn in einen grundlosen Sturzbach.

Zuerst erkannte Butler nicht die Gefahr.

Dann aber, als der schwere Wagen sich plötzlich zur Seite neigte und hangabwärts ein Stück wegrutschte, durchfuhr es ihn siedendheiß. Wenn sie nicht weggespült werden wollten, mußten sie sofort aussteigen und zu Fuß weiterflüchten.

Der Butler rutschte vorsichtig auf die rechte Seite des Sitzes und öffnete den Wagenschlag.

Regen peitschte in das Wageninnere. Der Wind füllte den Innenraum. Parker stieg vorsichtig aus. Seine Füße versanken bis zu den Waden im gurgelnden Schlamm.

Ein grell aufleuchtendes Blitzbündel warnte ihn zusätzlich.

Die Vorderräder des schweren Kombi rutschten langsam weg. Der Wagen geriet in Bewegung. Er saß auf einer dicken Schlammwoge, die sich wie zähflüssige Lava langsam über den Berghang nach unten wegsetzte.

Der Butler riß die hintere Wagentür auf.

An den Beinen zerrte er die schnarchende, teilnahmslose Frau aus dem Rücksitz. Sie spürte nicht, was um sie herum vorging. Sie wehrte sich unwillkürlich, aber sie vermochte gegen Parker nichts auszurichten.

In diesem Augenblick passierte es.

Die Vorderräder rutschten endgültig ab. Die Schlammwoge füllte sich auf und drückte den schweren Wagen wie ein Spielzeug hoch. Parker kannte nun keine Rücksicht mehr.

Er zerrte die Frau aus dem Wagen und schleifte sie gnadenlos durch den Schlamm. Er spürte, daß der Boden nachgiebig und weich war. Das Wasser umspülte seine Knie. Parker stellte die Frau hoch, verabreichte ihr ein paar aufmunternde Ohrfeigen und brachte sie so einigermaßen wieder zu sich.

Er bedauerte es selbstverständlich ungemein, sie so behandeln zu müssen. Doch es ging schließlich um ihr Leben. Parker allein hätte sich längst in Sicherheit bringen können.

Die Ohrfeigen taten ihre Wirkung.

Die blonde Frau, deren Haar sich in Strähnen verwandelt hatte, kam zu sich, Noch begriff sie nicht, was passiert war, doch der kühle Regen erfrischte sie. Instinktiv spürte sie wohl, daß man ihr helfen wollte. Willig ließ sie sich von Parker wegzerren.

Doch die Gefahr war nicht gebannt.

Parkers Füße wateten durch den Schlamm. Er hielt auf eine dunkle Gruppe zu, die hinter den dichten Regenschleiern in Umrissen zu erkennen war. Vielleicht war es ein Haus, vielleicht eine schützende Felswand? Was es war, war vollkommen gleichgültig, Hauptsache, Parker konnte die Frau und sich erst mal von diesem Morast wegschaffen.

Ein berstendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren.

Er drehte sich um, spähte nach dem Kombi aus.

Der Wagen war verschwunden.

Von der Schlammwoge getragen, rollte er über den steilen Hang hinunter auf die Stadt zu. Er war bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Parker kämpfte gegen den Sturm und gegen den trommelnden Regen an. Immer dann, wenn die gebündelten Blitze vom Himmel stießen, konnte er sich kurz orientieren. Die dunkle Gruppe entpuppte sich als eine Felswand. Wenn Parker es schaffte, dorthin zu gelangen, konnte er sich als gerettet betrachten.

Die Frau war frischer geworden.

Sie stellte keine Fragen, sie jammerte nicht. Sie hielt sich dicht neben dem Butler und klammerte sich an seinem Arm fest. Auch sie mußte inzwischen begriffen haben, daß es um ihr Leben ging.

Als Parker die schützende Felswand erreicht hatte, rutschte die Frau in sich zusammen. Sie war total erschöpft und ausgepumpt. Parker vergewisserte sich erst mal, ob dieser Platz auch sicher war. Er wollte es nicht noch mal mit Schlamm zu tun bekommen.

Sie konnten bleiben.

Einige Felsvorsprünge leiteten über zu einer weiten Felswand, die sich zwar in einen kleinen Wasserfall verwandelt hatte, die aber wenigstens keinen zähen Schlamm durchließ. Hier hinter den schroffen Klippen konnten Parker und seine unfreiwillige Begleiterin erst mal das Toben des Taifuns abwarten.

Es wäre sinnlos gewesen, sich mit der Frau unterhalten zu wollen. Grollender Donner, der an eine Materialschlacht des letzten Weltkrieges erinnerte, was den Krach anbetraf, hätte doch nur jedes Wort erstickt. Parker spannte seinen Universal-Regenschirm auf, hielt ihn schützend hoch und bedauerte nur, daß er sich keine seiner spezialangefertigten Zigarren anzünden konnte.

Und er überlegte, ob man den Wagen wohl absichtlich auf diesem gefährlichen und unterspülten Feldweg abgestellt haben mochte. Welche Rolle mochte diese attraktive Chinesin spielen, von der er durch Mike Rander wußte, daß sie May Tai Hing hieß …?

*

Schon auf der Kellertreppe hörte Mike Rander ein Stöhnen und Wimmern.

Sofort dachte er an seinen treuen Butler.

Er steckte alle Vorsicht auf. Den entsicherten Revolver in der Hand, beeilte er sich, hinunter in den Keller zu kommen. Je tiefer er stieg, desto penetranter wurden die tierhaften Ausdünstungen, die ihn an einen Raubtierkäfig im Zoo erinnerten.

»Parker! Parker …« Rander blieb stehen und lauschte. Er erhielt keine Antwort. Zögernd tastete er sich durch die Dunkelheit, an einem Mauervorsprung suchte er nach einem Lichtschalter. Nach einigen Sekunden fand er ihn, ließ das Deckenlicht aufleuchten.

Auf dem Betonboden waren noch frische, feuchte Blutspuren zu erkennen, die aber von einem breitprankigen Tier herrühren mußten. Hatte der Panther hier unten sein Opfer geschlagen? Hieß das Opfer etwa Josuah Parker?

Mike Rander wollte daran einfach nicht glauben. Er konnte es sich nicht vorstellen, daß sein Butler so geendet haben könnte. Das paßte einfach nicht zu ihm. Auf der anderen Seite war Parker schließlich kein Übermensch. Vielleicht hatte es ihn nun wirklich böse erwischt …

Das Wimmern und Stöhnen – Rander fiel es jetzt auf – war plötzlich nicht mehr zu hören.

Der junge Anwalt folgte den blutigen Spuren. Hinter einem Mauervorsprung verschwanden sie. Rander bog vorsichtig um die Ecke, erkannte ein rötliches trübes Licht an der Wand. Es handelte sich um eine Art Notbeleuchtung.

Im Schein dieser Beleuchtung entdeckte er die Stäbe eines Käfigs, dessen Tür weit geöffnet war. Und rechts von dem Käfig an der Wand lag eine verkrümmte Gestalt auf dem Boden. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Die lose herabhängenden, zerrissenen Verbindungsstricke deuteten daraufhin, daß dieser unglückliche Mensch an Mauerhaken festgebunden gewesen sein mußte.

»Parker, Parker. Um Himmels willen, sind Sie’s?«

Die Gestalt am Boden wimmerte, sagte unverständliche Laute. An welchen Verletzungen dieser Mann litt, war im schwachen Licht nicht zu erkennen.

Rander bückte sich und wollte die Gestalt sanft aufrichten. In diesem Augenblick brüllte der Mensch grell und gequält auf. Der Schmerz hatte ihn aus der Ohnmacht erweckt.

»Nein, nicht …!« stöhnte der Mann. »Nicht, es ist bald vorbei!«

Rander machte sich Vorwürfe, daß er trotz allem erleichtert war. An der Stimme hatte er gehört, daß nicht sein Butler Josuah Parker am Boden lag. Der Mann sprach aber korrektes Englisch. Wer mochte er sein? Warum hatten die Gelben Drachen ihn in der ausgeräumten Villa zurückgelassen?

»Wollen Sie rauchen?« fragte Rander, nur um etwas zu sagen. Gleichzeitig mühte er sich ab, die Stricke des Mannes zu lösen.

»Das Biest, das Biest!« stöhnte der Mann entsetzt. »Passen Sie auf, das Biest …!«

»Es ist eingesperrt«, beruhigte Rander den Unglücklichen. »Warten Sie einen Moment, ich werde Sie verbinden.«

»Nein, nicht! Zu spät!«

»Wer sind Sie?« fragte Rander. Ohne die Antwort abzuwarten, ging er zur Tür zurück. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen hatten den Lichtschalter erspäht. Sekunden später flammte Licht auch in diesem Teil des Kellers auf.

Neugierig ging er zurück zu dem blutenden Mann.

Erst jetzt erkannte Rander, wie dieser Mann zugerichtet war. Pantherpranken hatten ihm die Kleidung vom Leibe gerissen und die Brust und den Oberschenkel erheblich verletzt. Der Mann hatte bereits viel Blut verloren. Er hatte seine Lage richtig beurteilt. Es war bereits zu spät, um ihm noch richtig helfen zu können.

»Sind Sie Miss Morefields Freund?« fragte Rander rundheraus.

»Retten Sie sie!« stöhnte der Mann.

»Ist sie von den Gelben Drachen entführt worden?«

»Nach Aberdeen Harbour«, flüsterte der Mann mit schwacher Stimme. »Schnell, helfen Sie!«

»Wo finde ich sie?«

»Hu Pei Street … Unter dem Temple-Kino.«

Der Mann wollte noch etwas sagen, doch seine Kräfte verlangten eine kurze Pause. Keuchend ging sein Atem. Er sah Mike Rander dennoch prüfend und wissend an.

»Sie sind der Anwalt, ja?« fragte er dann wieder.

»Sie kennen mich?«

Der Mann nickte schwach.

»Sie sollen ermordet werden! Auch Ihr Butler. Sie wissen zuviel!«

»Was sollten wir schon wissen?«

»Daß Miss Morefield gekidnappt worden ist.«

»Seit wann?«

»Seit ein paar Wochen.«

»War sie heute noch hier im Bungalow?«

Der Mann schüttelte mühsam den Kopf.

»Wer wurde hier gefangengehalten?«

»Liz Carrels … Eine Freundin von mir.«

»Sie hat sich als Miss Morefield ausgegeben, ja?«

»Klappte alles, bis Sie kamen.«

»Bis Miss Morefields Anwalt kam. Larry Croften wurde gleich nach der Landung ermordet.«

»Helfen Sie der kleinen Morefield«, stöhnte der Mann. »Haben Sie eine Zigarette für mich?«

Mike Rander hatte längst eingesehen, daß dem Mann eine Zigarette nicht mehr schaden konnte. Er zündete eine an und schob sie ihm zwischen die Lippen. Tief und gierig sog der Mann den Rauch ein. Er hustete gequält, schloß einen Moment die Augen und fühlte sich dann wesentlich besser.

»Ich bin an allem schuld«, redete er mit leiser Stimme weiter. »Ich habe die Morefield reingelegt.«

»Aus eigenem Antrieb?«

»Ich witterte ein tolles Geschäft. Die Gelben Drachen ebenfalls.«

»Miss Morefield wurde also entführt und versteckt. Ihre Freundin Carrels trat an ihre Stelle und täuschte die Öffentlichkeit. War es nicht so?«

»Genau! Wir mußten spuren. Die Gelben Drachen hatten uns in der Hand. Wir konnten nicht mehr zurück.«

»Lebt Miss Morefield noch?«

»Vielleicht«, sagte er mit heiserer Stimme.

»Warum ließ man Sie hier zurück?«

»Ich wollte nicht mehr mitmachen.«

»Hatten Sie Gewissensbisse bekommen?«

»Unsinn …« Der Mann grinste schwach. »Ich habe zugeschlagen, als man meine Freundin belästigte. Dafür wurde ich dem Biest zum Fraß vorgeworfen.«

»Wie heißen Sie?«

»Joe Londale. Die Cops kennen mich. Sie brauchen nur nachzufragen.«

»Und wer leitet die Gelben Drachen?«

»Keine Ahnung«, antwortete der Sterbende mit bereits schwacher Stimme.

»Kennen Sie denn einen gewissen Li Wang?« bohrte Mike Rander weiter.

»Dieser verdammte Gauner!«

»Warum? Was hat er angestellt?«

»Er … er hetzte uns … auf … die Morefield.«

»Könnte er der Oberdrache sein?«

»Weiß nicht … Retten Sie die Morefield!«

»Woher wußten die Gelben Drachen von meinem Auftauchen? Schnell, Sie müssen antworten!«

»Li Wang fragen …!«

Joe Londale wollte noch etwas sagen, doch nun verließen ihn endgültig die Kräfte. Ein krampfartiges Zucken ging durch seinen erschöpften Körper. Die noch brennende Zigarette löste sich von der Unterlippe und fiel zu Boden.

Joe Lonsdale war tot.

Mike Rander richtete sich auf.

Er sah nun klar, wußte, was sich in der jüngsten Vergangenheit abgespielt hatte. Das Geständnis des Sterbenden hatte jeden Zweifel behoben. Nun ging es darum, Jane Morefield aus den Klauen der Gelben Drachen zu befreien.

Viel Zeit dafür blieb nicht.

Der junge Anwalt verließ den Keller. Als er in der Wohnhalle stand, hörte er das Gebrüll des eingesperrten Raubtieres, das immer wieder gegen die Tür sprang und sich befreien wollte.

Mike Rander trat an das Telefon. Er rechnete nicht damit, daß die Leitung intakt war. Um so erstaunter war er, als das Freizeichen ertönte. In der Eile des Aufbruchs hatten die Gelben Drachen vergessen, die Leitungen zu zerschneiden.

Rander wählte die Nummer McParishs, wartete ungeduldig, bis die Verbindung hergestellt war und atmete auf, als sich die trockene Stimme von Sergeant Noreland meldete.

»Hier Mike Rander«, meldete der Anwalt sich. »Passen Sie genau auf, Noreland. Es gibt einiges für Ihre Dienststelle zu tun!«

*

Butler Josuah Parker befand sich auf der Aberdeen Island Road, jener breiten Straße, die sich teilweise hart am Meer an den Dockanlagen und Verladeeinrichtungen entlangzieht.

Sie war jetzt menschenleer.

Deshalb fiel der Butler auch nicht auf.

Er war schlammbespritzt und so gelb eingefärbt und erinnerte nun an einen Tropenhelm. Der Universal-Regenschirm war derart schlammverkrustet, daß er wie eine Zaunlatte aussah.

Parker hatte sich auf abenteuerlichem Weg hinunter in die kleine Hafenstadt gekämpft. Er hatte es dabei besonders schwer gehabt, denn Miss Liz Carrels besaß schließlich nicht die starken Nerven, wie Parker sie zur Verfügung hatte.

Er wußte inzwischen, wer die blonde Frau war und welche Rolle sie bisher gespielt hatte. Parker war bekannt, daß Miss Carrels Freund, ein gewisser Joe Londale, im Keller des Bungalow zurückgelassen worden war.

Was aber noch wichtiger war, er kannte die Adresse, wo die wirkliche Miss Jane Morefield festgehalten wurde.

Die weißhäutige Abenteuerin Miss Carrels hatte ein Geständnis abgelegt und nichts verschwiegen. Sie hatte zugegeben, daß sie als Jane Morefield aufgetreten war, daß sie die Bankgeschäfte in ihrem Namen getätigt hatte.

Das alles war nicht so wichtig wie das Schicksal der Jane Morefield. Ihr wollte der Butler nun aus der Patsche helfen. Er konnte nur hoffen, daß die junge Amerikanerin noch unter dem Temple-Kino festgehalten wurde.

Nach kurzem Fußmarsch bog der Butler von der Aberdeen Island Road in die Hu Pei Street ein. Heulend und pfeifend schlug ihm der Sturm entgegen und drückte ihn gegen die Häuserwände. Die Reklametafeln knarrten und wehten im Wind. Dachziegel segelten als gefährliche Wurfgeschosse durch die Dunkelheit. Die meisten Straßenlaternen waren vom Sturm längst zertrümmert worden.

Die hochgepeitschten Wogen donnerten gegen die Kaianlagen. Gischt und Salzregen drangen bis in die Hu Pei Street hinein. Von irgendwoher erklangen Warnsirenen.

Da war auch schon das bewußte Kino, von dem Miss Carrels gesprochen hatte. Die Leuchtreklame war erloschen und vom Sturm losgerissen worden. Windschief hing sie an der pompösen Fassade herunter.

Parker dachte an Liz Carrels.

Er hatte sie am Außenbezirk der Stadt in einem Gasthof zurückgelassen. Hoffentlich hatte sie ihn nicht betrogen und belogen. Von ihrer Ehrlichkeit hing jetzt viel ab.

Der Butler kämpfte sich an der langen Außenfront des Kinos vorbei, bog nach rechts in eine schmale Gasse ab und fand ein weit geöffnetes Tor, das auf den Hof des Kinos führte.

Im Licht der zuckenden Blitze suchte und fand er seinen weiteren Weg. Er blieb vor einer kleinen Pforte stehen, die in einen Anbau des Kinos führte.

Das Schloß war kein Hindernis für den Butler. Mit seinem Spezialbesteck bezwang er es innerhalb einer knappen Minute. Der Butler schlüpfte in den Anbau und schloß sofort wieder die Tür. Er blieb seitlich an der Wand stehen und lauschte.

Bis auf das Toben des Taifuns war nichts zu hören.

Er fragte sich, wo man eine Frau wie Jane Morefield wohl festhalten könnte. Doch wohl in den Kellerräumen, die still und verschwiegen waren. Wo also war der Weg, der unter das Kino führte?

Parker schritt durch einen langen Korridor.

Da es dunkel war, benutzte er seinen Kugelschreiber-Leuchtstab, der sich hier wieder mal bestens bewährte. Der feine, aber scharfe Lichtstrahl genügte vollkommen, um den Weg auszuleuchten.

Parker landete in einem Treppenhaus.

Breite Betonstufen führten hinauf in den Anbau und nach unten in den Keller. Parker unterstellte, daß die Keller des Anbaus mit denen des Kinos untereinander verbunden waren. Er zögerte nicht lange, nach unten zu steigen.

Er erreichte ein Gewirr unterirdischer Räume, die mit Waren aller Art vollgestopft waren. Vielleicht handelte es sich um Beutestücke der Gelben Drachen. Dieses Kino schien der tatsächliche Schlupfwinkel der Gangster zu sein.

Parker stieß auf einen zweiten Treppenaufgang.

Seinen Berechnungen nach befand er sich nun unter dem Zuschauerraum des Lichtspieltheaters. Hier irgendwo mußte Miss Morefield eingesperrt sein, wenn Liz Carrels ihn nicht belogen hatte.

Parker wollte gerade weitergehen, als plötzlich das Licht eingeschaltet wurde.

Oben auf der Treppe waren die hastigen Schritte einiger Menschen zu hören. Sie kamen sehr schnell nach unten.

War Parker beobachtet worden? Traten die Gangster an, um ihn nun endgültig zur Strecke zu bringen?

Der Butler ließ es darauf ankommen. Schnell verbarg er sich hinter einem Stapel Kisten und wartete ab.

Drei Chinesen erschienen im Keller.

Und hinter ihnen tauchte die attraktive May Tai Hing auf. Sie stolperte hinter den drei Männern einher. Sie kam nicht freiwillig mit. Man hatte sie an den Händen gefesselt. Eine lange, dünne Eisenkette verband sie mit einem der Chinesen.

Sie wehrte sich nicht.

Willenlos ließ sie sich abführen. Sie glich einem ängstlichen Schlachtopfer.

Parker könnte sich glücklich preisen, daß er diese Szene beobachten durfte. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Liz Carrels, das Double von Miss Morefield, hatte also doch nicht gelogen.

Parker verfolgte die drei Chinesen und ihr Opfer. Jetzt war es eine Kleinigkeit für ihn, sich führen zu lassen. Wo die Reise endete, war klar, nämlich im Gefängnis der Jane Morefield.

Vor einer Betonwand blieben die Männer stehen.

Einer von ihnen bückte sich, griff nach einem im Boden eingelassenen Eisenring und zog daran eine Falltür hoch. May Tai Hing wurde gezwungen, über eine Leiter hinabzusteigen. Anschließend folgten die drei Chinesen. Sie ließen die Falltür geöffnet, da sie sich ja unbeobachtet fühlten.

Parker gestattet sich einen schnellen Blick nach unten.

Im Licht einer gerade angezündeten Laterne sah er eine weißhäutige Frau, die auf einer einfachen Pritsche lag und teilnahmslos zusah, daß sie Besuch erhielt.

Das mußte Jane Morefield sein!

Josuah Parker ging zurück in Deckung und hob prüfend seinen Universal-Regenschirm. Er bereitete sich darauf vor, daß die drei Chinesen wieder heraufkamen.

Nach einigen Minuten erschienen sie nacheinander.

Parker war in seinem Element.

Dem ersten Gangster legte er den Regenschirm sehr nachdrücklich auf den Kopf.

Dem zweiten verabreichte er einen gekonnten Handkantenschlag.

Und dem dritten Burschen, der seinen Kopf gerade durch die Luke steckte, ließ er den schweren Lukendeckel auf den Schädel fallen.

Innerhalb einiger Sekunden hatte er die Lage bereinigt. Er konnte sich den beiden verängstigen Frauen widmen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wußten, daß sie gerettet waren …

*

Inspektor McParish teilte seine Streitmacht ein.

Er verlor kein unnötiges Wort, er wußte genau, was er wollte. Mike Rander freute sich nachträglich, daß er den Inspektor alarmiert hatte. McParish hatte sich trotz des tobenden Taifuns quer über die Insel gekämpft und setzte seine Begleiter nun zum Sturm auf das Kino an.

Alles klappte wie am Schnürchen.

Auf das Zeichen der Trillerpfeife stürmten die Beamten das große Haus. Sie schlugen die Türen ein, verteilten sich und würgten die Gegenwehr der Gelben Drachen im Handumdrehen ab.

Sie alle konnten von Glück sagen, denn die Gelben Drachen hatten es sich im Büro der Kinoleitung bequem gemacht und tranken warmen Reisschnaps. Sie waren derart betrunken, daß sie kaum Gegenwehr leisten konnten. Einige von ihnen flüchteten zwar in das Haus, es kam auch zu einigen Schießereien, doch nach insgesamt fünfzehn Minuten war McParish Herr der Lage.

»Nun runter in den Keller!« rief der Inspektor dem Anwalt zu. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«

McParish, Sergeant Noreland und Mike Rander stürmten über die Treppe hinunter in den Keller. Licht brannte. Ihr Weg war genau vorgezeichnet.

Plötzlich blieb McParish stehen.

»Was ist?« erkundigte sich der Anwalt.

»Hier brennt es irgendwo«, sagte McParish. »Riechen Sie denn nichts, Rander?« Gleichzeitig hustete er gequält auf und verdrehte die Augen, denn ihm wurde schlecht.

Sergeant Noreland fühlte eine leichte Schwäche in den Beinen.

»Giftgas!« murmelte er.

Mike Rander sog den grausamen Duft in die Nase ein. Dann grinste er plötzlich und schüttelte den Kopf.

»Kein Giftgas, kein Brand«, stellte er richtig. »Das ist eine von Parkers Zigarren.«

»Wie bitte?« McParish sah den Anwalt ungläubig an.

»Parker ist bereits vor uns eingetroffen«, redete Mike Rander weiter. »Ich ahnte es im voraus, daß er wieder mal schneller sein würde als ich …!«

*

»Viel bleibt nicht mehr zu sagen«, meinte McParish am anderen Vormittag. Der Taifun hatte sich ausgetobt, die Sonne schien wieder. Mike Rander und Josuah Parker hielten sich im Dienstzimmer des Inspektors auf. Innerhalb kurzer Zeit hatte Parker seinen Dienstanzug wieder in Ordnung gebracht. Wie aus dem Ei gepellt stand er vor McParish. An ein Schlammbad schien er sich überhaupt nicht mehr zu erinnern.

»Wie geht es Miss Morefield?« erkundigte sich Mike Rander.

»Ausgezeichnet. Sie befindet sich im Queens-Hotel. Sie ist noch jung, sie dürfte den Schock ihrer Entführung bald überwunden haben.«

»Und was ist mit Miss Carrels?«

»An einer Anklage wird sie nicht vorbeikommen«, erwiderte Inspektor McParish. »Immerhin hat sie sich an diesem Kidnapping beteiligt und anschließend Betrug begangen. Ich denke jedoch, daß man ihr mildernde Umstände zubilligen wird, schließlich hat sie im entscheidenden Moment ja geholfen.«

»Weiß sie, daß ihr Begleiter Londale tot ist?«

»Ich mußte es ihr sagen. Londale ist übrigens ein steckbrieflich gesuchter Gentlemen-Verbrecher. Sein Paktieren mit den Gelben Drachen war Selbstmord, er hätte es wissen müssen. Doch seine Geldgier war eben größer.«

»War es seine Idee, Miss Morefield kidnappen zu lassen?« fragte Mike Rander.

»An ein Kidnapping hat er wohl nicht gedacht. Er wollte Miss Morefield nur ausnehmen. Als er falsche Papiere gebrauchte, geriet er an die Gelben Drachen. Und diese Gangster witterten sofort ein viel größeres Geschäft. Einzelheiten kennen Sie ja.«

»Liz Carrels mußte also Jane Morefield spielen«, sagte Mike Rander. »Deshalb mußte Vermögensverwalter Croften sterben, als er nach Hongkong kam.«

»Nur aus diesem Grund. Er hätte den Betrug sofort durchschaut.«

»Erstaunlich, daß Miss Morefield sich nach dem Kidnapping weigerte, Schecks zu unterschreiben und Geld abzuheben.«

»Sie spielte mit ihrem Leben. Die Gelben Drachen hätten sie bestimmt gezwungen, mitzuspielen. Zu Miss Morefields Glück stand ja Liz Carrels zur Verfügung, die diese Rolle übernehmen konnte. Das war und ist der Grund, warum man Miss Morefield nicht durch die Folter gefügig machte.«

»Aber wie zum Henker erfuhren die Gelben Drachen von Croftens Ankunft und von unserer Landung?« wollte Mike Rander nun noch wissen.

»Das geht auf das Konto unseres ehrenwerten Mr. Li Wang.« Inspektor McParish schmunzelte. »Wir haben ihn uns sofort gekauft. Zuerst hat er alles abgestritten, doch seine Freunde verrieten ihn. Miss May Tai Hing gab uns den richtigen Tip. Sie war in den Plan ja eingeweiht worden.

Li Wang rief Miss Morefields Verwandte in Miami an und stellte sich als ihr chinesischer Berater vor. Miss Morefields Onkel Bannon rückte ahnungslos mit der Sprache heraus und kündigte Croftens und Ihre Ankunft an. Die Gelben Drachen waren also bestens informiert.«

»Demnach ist Li Wang also ein Gelber Drache gewesen?«

»Und ob! Und ich, ausgerechnet ich, Inspektor McParish von der Polizei, muß Ihnen raten, sich an Li Wang zu wenden. Unverzeihlich! Gut, daß daraus nichts passiert ist!«

»Was wird mit der Chinesin May Tai Hing geschehen?«

»Man wird sie anklagen und aburteilen. Sie hielt Miss Carrels unter Druck, und sie war es, die Ihren Butler und Miss Carrels durch die Schlammlawine ins Meer befördern wollte. Lassen Sie sich nicht täuschen, Rander, dieses Mädchen sieht sehr attraktiv aus, aber sie ist auch sehr gefährlich.«

»Wir werden sie nicht mehr sehen«, meinte Rander. »Unsere Maschine geht in einer guten Stunde. Wir werden Miss Morefield zurück in die Staaten bringen.«

»Und anschließend einen neuen Fall übernehmen, wie ich in aller Bescheidenheit bemerken möchte«, schaltete sich Josuah Parker ein. »Man bedarf unserer schnellen Hilfe. Es handelt sich um einen Fall von höchster Dringlichkeit.«

»Was steht denn auf dem Programm?« fragte McParish lächelnd.

»Organisierter Warenhausdiebstahl, mit Verlaub zu sagen«, antwortete Parker würdevoll, »ein Problem, dem ich schon jetzt einige Reize abgewinnen kann.«

»Ich möchte nicht in der Haut dieser Kerle stecken«, antwortete McParish und lächelte plötzlich nicht mehr. Er sah den Butler nachdenklich und auch ein wenig hochachtungsvoll an …

*

»Bedanken Sie sich bei meinem Butler«, sagte Mike Rander eine Stunde später zu Jane Morefield. »Er hat Sie schließlich aufgespürt und aus den Klauen der Gelben Drachen befreit.«

»Ich will nicht mehr daran denken«, antwortete Jane Morefield, die frisch und jugendlich aussah. »Es waren ja schreckliche Wochen, die mich an den Rand der Verzweiflung brachten.«

»Ihr Bedarf an Abenteuern dürfte gedeckt sein«, meinte der Anwalt trocken. »Auch das unterscheidet Sie von Mr. Parker. Er jagt den Abenteuern förmlich nach.«

»Kennt er keine Angst?« fragte Jane Morefield leise.

»Ich weiß es wirklich nicht. Er gibt mir immer wieder neue Rätsel auf.«

Jane Morefield näherte sich dem Butler, der sich diskret zurückgehalten hatte.

»Mr. Parker«, sagte Jane Morefield, »wie kann ich Ihnen nur danken?«

»Sie beschämen mich, Miss Morefield«, erwiderte der Butler. »Sie überschätzen meine Mitarbeit an diesem Fall. Ich tat auch nur das, was in bescheidenem Rahmen möglich war.«

»Eben dafür möchte ich Ihnen danken«, gab Miss Morefield zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und verabreichte dem Butler einen Kuß auf den Mund.

Parker fuhr ruckartig zusammen.

Er starrte Jane Morefield an. Seine Augen wurden groß. Er schluckte, warf sich in die Brust, schulterte seinen Universal-Regenschirm und ging wie beschwipst auf die wartende Maschine zu. Er schien sein Gleichgewicht verloren zu haben, denn er war weich in den Knien geworden und beschrieb eine leicht angedeutete Schlangenlinie auf dem Beton des Flughafens.

»Du lieber Himmel, was habe ich angerichtet?« fragte Jane Morefield, sich an Rander wendend.

»Sie haben den falschen Mann geküßt«, antwortete Rander. »Im übrigen sagte ich ja schon, daß Parkers Reaktionen immer überraschend sind. Er steckt halt voller Rätsel …!«

Butler Parker Jubiläumsbox 6 – Kriminalroman

Подняться наверх