Читать книгу Butler Parker Jubiläumsbox 6 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 7
ОглавлениеJosuah Parker ließ den mittelgroßen dicklichen Mann nicht aus den Augen.
Dieser etwa 40jährige Mann, gut gekleidet und recht selbstsicher, stand vor der langen Theke der Fotoabteilung und blätterte Prospekte durch. Rechts und links von ihm standen andere Käufer. Sie ließen sich Fotoapparate, Vorsatzlinsen und Ferngläser zeigen. Drei höfliche, aber bereits etwas nervös gewordene Verkäufer hatten alle Hände voll zu tun, um die Fragen der Kunden zu beantworten.
Es ging auf Mittag zu. Im ›Jackson‹, einem großen, vierstöckigen Warenhaus in San Francisco, herrschte starker Käuferandrang. Die Gänge zwischen den Verkaufstheken und Rundtischen waren dicht gefüllt. Die vielen Fahrstühle fuhren Sonderschichten, um die Kunden von einer Etage in die andere zu befördern. Die vielen Rolltreppen im ›Jackson‹ waren dicht besetzt.
Es herrschte genau jenes Gedränge, das Taschendiebe und trickreiche Gauner besonders schätzten. Sie konnten ungehindert und erfolgreich arbeiten. Und sich blitzschnell in der Menge verlieren, falls Gefahr drohte.
Es drohte ihnen Gefahr. Einmal von den fest angestellten Warenhausdetektiven. Vier an der Zahl waren es, die pro Vierstundenschicht durch das riesige Warenhaus schlenderten. Gefahr drohte den Gaunern aber auch vor allen Dingen von einem seltsam gekleideten Kunden, der an der Brüstung der zweiten Lichthofgalerie stand.
Dieser Mann trug einen schwarzen, altertümlich geschnittenen Covercoat, unter dem sich ein ebenfalls pechschwarzer Anzug befand. Dieser Mann hielt einen altväterlich gebundenen Regenschirm in der Hand und schmückte seinen Kopf mit einer schwarzen runden Melone.
Es handelte sich um den Butler Josuah Parker, der sich in die Überwachung des Warenhauses eingeschaltet hatte. Seit einigen Wochen machte eine gut und wahrscheinlich auch straff organisierte Bande von Ladendieben die Stadt unsicher. Alle Warenhäuser in Frisco, ob groß oder klein, wurden auf raffinierte Art und Weise heimgesucht und bestohlen.
Trotz der größten Wachsamkeit der Warenhaus-Detektive hatte man diesen Dieben bisher nicht beikommen können. Was in den Netzen der verstärkten Überwachung hängengeblieben war, waren nur kleine Fische, wie es im Fachjargon hieß.
Das ›Jackson‹ war von den Ladendieben besonders böse heimgesucht worden. Einmal, weil dieses Warenhaus besonders groß war, zum anderen, weil der Publikumsverkehr hier immer sehr stark war.
Um weiteren Verlusten vorzubeugen, war die Direktion des Warenhauses auf den Gedanken gekommen, einen Spezialisten zusätzlich zu engagieren. Man war auf den Butler Josuah Parker verfallen. Mundpropaganda und Tips der Polizei hatten auf Parker aufmerksam gemacht. In einschlägigen Fachkreisen galt Josuah Parker als zwar skurriler, aber auch sehr erfolgreicher Amateur-Kriminalist.
All das waren die Gründe, warum Parker an der Brüstung der Lichthofgalerie stand und den dicklichen Mann vor der Theke der Fotoabteilung beobachtete.
Parker war aufgefallen, daß dieser etwas 40jährige Mann trotz des großen Betriebs vor der Theke die Zeit und Nerven hatte, die Prospekte durchzublättern. Normaler wäre es doch wohl gewesen, er hätte sich die bewußten Prospekte eingesteckt und irgendwo abseits vom Getriebe in aller Ruhe durchgelesen.
Parker glaubte sicher zu sein, daß er einem raffinierten Ladendieb auf der Spur war. Wegen der Entfernung konnte Parker es nicht riskieren, seinen Platz an der Galerie zu verlassen. Der Mann vor der Theke hätte sich ja inzwischen entfernen können. Um diesen möglichen Ladendieb aber in jedem Fall bremsen zu können, griff der Butler in die linke Tasche seines Covercoats und holte ein seltsam geformtes Drahtgebilde hervor, an dem zwei daumendicke Gummistränge baumelten. Schnell und geschickt steckte Parker die beiden Drahtgebilde zusammen und besaß im gleichen Moment eine starke Gabelschleuder. Es handelte sich um eine kleine Gelatinekapsel, die mit roter Leuchtfarbe gefüllt war. Zerplatzte diese Gelatinekapsel im oder auf dem Ziel, trat die Flüssigkeit hervor und färbte alles rot ein.
Noch konnte und durfte der Butler nicht schießen. Noch blätterte der hartnäckige Kunde in den Prospekten herum. Er schob sich dabei allerdings langsam, kaum merklich, an die Fotoapparate heran, die links von ihm auf der Theke aufgebaut waren.
Nun sah Parker auch, daß dieser Kunde einen Regenschirm mit sich führte. Sollten darin die gestohlenen Apparate verschwinden?
Josuah Parkers Gesicht blieb unbeweglich. Nur in seinen eisgrauen Augen war Leben. Sie ließen den seltsamen Kunden nicht aus den Augen. Parker glaubte, auf der richtigen Spur zu sein. Er konnte zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht wissen, daß dieser Mittag der Beginn haarsträubender Abenteuer sein würde …
*
Der dickliche, etwa 40jährige Mann war sich seiner Sache vollkommen sicher.
Nicht umsonst stand er vor der Theke. Sein Regenschirm wartete darauf, einige Fotoapparate aufzunehmen. Er wartete nur noch auf die günstigste Gelegenheit. Er hatte erst vor einer Stunde den Auftrag erhalten, einige Leicas zu besorgen. Prompt machte er sich an die Arbeit. In seinen Augen war dieser Diebstahl nur eine Kleinigkeit.
Die günstige Gelegenheit bot sich recht bald.
Zwei jüngere Leute, wahrscheinlich gerade verheiratet, denn sie turtelten noch recht intensiv miteinander, ließen sich von einem der drei Verkäufer Fotoapparate zeigen. Sie waren sehr wählerisch und interessierten sich für immer neue Modelle.
Auf der Theke stapelten sich die Apparate.
Der dickliche, korrekt gekleidete Mann mit dem Aussehen eines seriösen Geschäftsmannes, schob sich an das Pärchen heran. Ein schneller Blick in die Runde. Weit und breit kein Detektiv zu sehen. Für solche Personen besaß er nämlich einen sicheren Instinkt. Er war kein Anfänger in der Branche.
Sein Blick glitt an den Galerien des Lichthofes hoch.
Erfahrungsgemäß konnten sich dort an den Brüstungen Hausdetektive aufgebaut haben. War die Luft rein?
Sie war sauber wie nach einer chemischen Behandlung. Das scharfe Auge des Trickdiebes konnte keinen Detektiv erspähen.
Blitzschnell machte er sich an die Arbeit.
Der scheinbar seriöse Geschäftsmann rempelte die junge, verliebte Frau ungeschickt an, entschuldigte sich wortreich und hob ihre zu Boden gefallene Tasche auf. Gleichzeitig ließ seine linke Hand einige Fotoapparate im Regenschirm verschwinden.
Das alles geschah mit solch einer Schnelligkeit, die glatt Bewunderung verdiente, hätte sie nur einem besseren Zweck gedient. Weder die Kunden vor der Verkaufstheke noch die Verkäufer dahinter merkten etwas von diesem raffinierten Diebstahl, zumal der Trickdieb die Prospekte durcheinander geworfen und über die Apparate verstreut hatte.
Der Trickdieb entschuldigte sich noch einmal und schickte sich an, in der Menge zwischen den Verkaufsständen zu verschwinden. Ihm kam es darauf an, den nun gefährlich gewordenen Regenschirm verschwinden zu lassen.
Zu diesem Zweck wartete neben einem runden Verkaufstisch ein junger Mann. Auch er trug einen Regenschirm. Doch dieser Schirm enthielt keine Beuteware. Er hätte von jedem noch so mißtrauischen Detektiv untersucht werden können.
Der Trickdieb steuerte auf diesen jungen Mann zu. Er wollte die Regenschirme austauschen. Alles schien vollkommen glattzugehen. Geduld und Vorsicht hatten sich wieder einmal gelohnt.
Dachte er …!
Plötzlich zuckte er unter dem Anprall eines kleinen Geschosses zusammen. Er spürte einen an sich harmlosen Schmerz auf der Stirn. Und erschrak. Steif, wie erstarrt, blieb er stehen. Seine Finger hatten sich rot gefärbt.
Blut …?!
Er spürte die warme Flüssigkeit auf der Nasenwurzel, auf den Wangen. Er sah erschreckte Gesichter, entsetzt aufgerissene Augen, die ihn anstarrten. Einige Kunden um ihn herum deuteten auf sein Gesicht. Eine bereits bejahrte Frau stieß einen ersten, gellenden Schrei aus.
Parkers Geschoß hatte getroffen. Der Trickdieb war gezeichnet worden. Der so seriös aussehende Geschäftsmann spürte eine bleierne Schwäche in den Beinen. Er fühlte sich tödlich getroffen und verwundet. Er taumelte gegen den Verkaufstisch und merkte gar nicht, daß sein Regenschirm schnell und geschickt ausgetauscht wurde.
»Hilfe … Hilfe …«, murmelte der Trickdieb mit versagender Stimme. »Hilfe, ich verblute.«
»Aber nicht doch«, sagte in diesem Augenblick eine beruhigende Stimme neben ihm. »Ich werde Sie in den Rettungsraum bringen. Kommen Sie …!«
Der Trickdieb spürte sofort, daß diese beruhigende Stimme Gefahr bedeutete. Ein Hausdetektiv mußte ihn angesprochen haben. Für solche Sprachschwingungen besaß er ein feines Gehör.
Und er dachte an den wohl gefüllten Regenschirm. Wurden die gerade gestohlenen Apparate gefunden, war er geliefert. Zwei einschlägige Vorstrafen hatte er bereits auf dem Buckel. Wurde er nun zum dritten Mal überführt, konnte er sich auf einen langjährigen Aufenthalt hinter stählernen Gittern gefaßt machen.
In seiner Panik beging er den Fehler, flüchten zu wollen. Er stieß die erschreckt aufschreienden, eben noch mitfühlenden Kunden zur Seite und rannte los.
Er kam nicht weit.
Er verfing sich in der Kompakt zusammengedrängten Menschenmenge. Dann spürte er eine harte Hand auf seiner Schulter.
»Stecken Sie’s auf«, sagte die Stimme, die ihm äußerst unangenehm war. »Kommen Sie mit ins Büro! Ich glaube, Sie haben mir etwas zu sagen.«
Der Trickdieb ließ resigniert den Kopf sinken. Er dachte an die Fotoapparate in seinem Schirm. Er wußte noch nicht, daß die beiden Schirme ausgewechselt worden waren. Sonst hätte er vielleicht eine Lippe riskiert, wie es in seiner Branche so treffend hieß …
*
Der junge Mann mit dem wohlgefüllten Regenschirm strebte langsam dem Ausgang zu. Er verhielt sich vollkommen normal und ging keinen Deut schneller, als es angebracht war. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Der Trick mit den vertauschten Regenschirmen war schon oft praktiziert worden. Warum sollte ausgerechnet heute eine Panne passieren?
Natürlich dachte er über seinen Mitarbeiter nach. Er konnte sich nicht erklären, was seinem älteren Partner passiert war. Auch der junge Mann hielt die rote Flüssigkeit auf dem Gesicht seines Partners für Blut. Wie es zu dieser Verwundung gekommen war, konnte er sich nicht erklären. Hauptsache aber war und blieb, daß er die Beute aus dem Warenhaus bringen konnte. Alles andere würde sich schon von allein ergeben.
Der junge Mann stand dicht vor dem Ausgang. Er hielt einen Moment inne und sah zurück. Von seinem Partner war nichts zu sehen. Das Geschiebe und Gedränge zwischen den Theken war zu stark. Die Sicht war ihm versperrt.
»Können wir Sie einen Moment sprechen?«
Der junge Mann blieb wie festgenagelt stehen. Langsam nahm er den Kopf zur Seite. Neben ihm stand ein unauffällig gekleideter Mann von etwa 45 Jahren. Er lächelte den jungen Mann an, doch seine Augen waren an diesem Lächeln nicht beteiligt.
Der junge Trickdieb wußte sofort Bescheid.
»Versuchen Sie nicht zu verschwinden«, redete der Mann mit den kalten Augen weiter. »Ich bin nicht allein hier.«
»Was wollen Sie?« regte sich der junge Trickdieb auf. Hinter seinen Worten stand keine Überzeugungskraft.
»Darüber unterhalten wir uns im Büro«, meinte der Mann mit den kalten Augen. »Kommen Sie!«
»Na schön. Aber das werden Sie bereuen.« Der Trickdieb blitzte den Hausdetektiv gereizt an, fügte sich aber in sein Schicksal. Er ließ sich in den Fahrstuhl dirigieren. Unterwegs versuchte er, seinen Regenschirm mit den Fotoapparaten loszuwerden. Er erledigte das mit großer Geschicklichkeit.
Als er und der Hausdetektiv an einer Stofftheke vorbeikamen, hängte der junge Trickdieb den Griff des Regenschirms in ein Krawattengestell. Es klappte wunderbar. Der Hausdetektiv hatte nichts gesehen und blieb ahnungslos.
»Was wollen Sie eigentlich von mir?« schnauzte der junge Trickdieb, als er zusammen mit seinem Bewacher im sonst leeren Fahrstuhl stand. »Ich werde mich beschweren, darauf können Sie Gift nehmen. Und Ihr Verein wird eine Schadenersatzklage an den Hals bekommen, die sich gewaschen hat.«
»Kein Mensch hindert Sie daran, das zu versuchen«, erwiderte der Hausdetektiv. »Fest steht, daß Sie gestohlen haben. Und zwar Fotoapparate. Warum wollen Sie das abstreiten?«
»Ich soll gestohlen haben? Sind Sie verrückt? Wo sollen diese verdammten Apparate denn sein? In meiner Rocktasche?«
»In Ihrem Regenschirm.«
»Regenschirm? Sind Sie blind? Wo habe ich einen Regenschirm?«
Der Hausdetektiv deutete mit dem Kinn hinunter auf die linke Hand des Trickdiebes. Und im gleichen Moment merkte der Hausdetektiv, daß der bewußte Regenschirm nicht mehr vorhanden war.
»Sehen Sie Gespenster?« höhnte der junge Mann. »Wo habe ich einen Regenschirm, he? Sie haben mich wahrscheinlich verwechselt. Aber dieser Irrtum wird Sie Geld, viel Geld kosten.«
»Das ist doch … Sie hatten doch …!« Der Hausdetektiv stotterte herum. Sein Gesicht färbte sich rot. Er preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Einen Dreck hatte und habe ich«, antwortete der junge Mann mit scharfer, empörter Stimme. »Sie haben den falschen Mann erwischt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie lassen mich laufen, und ich werde diesen Zwischenfall vergessen.«
»Ausgeschlossen …!«
»Mann, sind Sie stur. Sie sitzen doch in der Tinte. Begreifen Sie denn nicht, welche Chance ich Ihnen biete?«
»Sie kommen mit ins Büro.«
»Aber Sie suchen doch einen Mann mit Regenschirm, oder?«
»Wenn schon … Sie kommen mit!«
»Schön, ich komme mit. Sie sind am Drücker. Aber jetzt werde ich aufdrehen. Sie wollen ja nicht begreifen.«
Der Hausdetektiv verzichtete darauf, eine Antwort zu geben. Er schob den jungen Mann aus dem haltenden Fahrstuhl und dirigierte ihn auf eine Tür zu, hinter der sich ein langer Korridor befand. Von hier aus zweigten die einzelnen Büros der Kaufhausverwaltung ab. Sie landeten in einem sehr unpersönlich und sachlich eingerichteten Büro, dessen Mobiliar aus Aktenschränken, Karteikästen, Schreibmaschinen und einer Fotoatelier-Ecke bestand.
»Packen Sie Ihre Taschen aus«, forderte der Hausdetektiv den jungen Mann auf.
»Mit dem größten Vergnügen.« Der junge Trickdieb grinste unverhohlen. Was konnte ihm schon passieren? Er hatte den Hausdetektiv gründlich hereingelegt. Man konnte ihm nichts beweisen. Die Fotoapparate lagen schließlich in dem Regenschirm. Und dieser Regenschirm hing irgendwo an einem Gestell im Erdgeschoß des Warenhauses.
»Zufrieden?« fragte der junge Mann, als er seine Taschen geleert hatte.
»Sie arbeiten für die Wäscherei Huntington?« fragte der Detektiv, der den Inhalt der Brieftasche durchblätterte.
»Mann, Sie können ja sogar lesen«, spottete der junge Mann.
»Sie heißen Jerry Mulligan?«
»Sie werden immer besser«, meinte der junge Mann und grinste.
»Wie heißt Ihr Partner, der Ihnen den Regenschirm in die Hand gedrückt hat?« Der Hausdetektiv ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Von diesem Regenschirm hier«, antwortete der Detektiv. Er beugte sich über einen Tisch und hob einen Regenschirm vom Stuhl hoch. Er legte ihn betont langsam auf den Tisch und öffnete ihn. Dann holte er nacheinander drei Fotoapparate aus den Falten der Schirmseide.
Der junge Trickdieb schluckte. Seine Augen verengten sich. Er spürte, daß ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er faßte sich jedoch schnell.
»Wollen Sie mir was anhängen?« fragte er heiser.
»Wieso, Sie sitzen doch bereits in der Tinte«, meinte der Hausdetektiv gelassen. »Wir werden jetzt Ihre Fingerabdrücke aufnehmen und sie mit denen auf dem Schirmgriff vergleichen. Wetten, daß sie identisch sind?«
»Verdammt …!«
»Sie sind nicht gerade wortreich«, spottete nun der Hausdetektiv. »Haben Sie uns für Anfänger gehalten, Mulligan?«
»Meine Fingerabdrücke werden Sie nicht bekommen«, sagte der junge Mann heftig.
»Muß ich unbedingt die Polizei verständigen?«
»Bleibt die aus dem Spiel, wenn ich mitspiele?«
»Natürlich. Sie werden selbstverständlich Hausverbot für das ›Jackson‹ bekommen. Aber das läßt sich ja wohl verschmerzen, oder?«
»Gut, ich mache mit. Ich begreife nicht, wie Sie diesen Zauber hinbekommen haben.«
»Ihr Partner Arthur Stone ebenfalls nicht.«
»Sie haben Stone?« wunderte sich der junge Trickdieb.
»Natürlich. Was dachten denn Sie, Mulligan?«
»Ich begreife das einfach nicht. Bisher ist doch immer alles gutgegangen; ich meine, also, Sie müssen nicht glauben, daß ich schon öfter hier …«
Der junge Mann verhaspelte sich gründlich. Er hatte bereits viel zuviel gesagt. Er wußte das und ärgerte sich darüber.
»Ich kann Ihnen alles erklären, Mulligan«, gab der Hausdetektiv ernst zurück »Wir sind schon ausgekochte Fachleute. Aber unser neuer Kollege stellt uns alle in den Schatten. Sagenhaft, welche Tricks er aus seinen Taschen zaubert …«
*
Gemessen und würdevoll schlenderte Butler Parker durch das Warenhaus. Er war außerordentlich zufrieden. Schon am ersten Tag seines Wirkens hier im ›Jackson‹ war es ihm gelungen, zwei raffinierte Trickdiebe zu erwischen.
Nach seinem Schuß mit der Gabelschleuder hatte er die beiden Hausdetektive schnell und geschickt eingesetzt. Parker hatte den Trick der beiden äußerlich so ungleichen Ladendiebe sofort durchschaut und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Nun saßen die beiden Diebe im Büro und wurden verhört.
Um diese technischen Dinge kümmerte Parker sich nicht weiter. Er konnte sich voll und ganz auf Chefdetektiv Hassler verlassen, der den Einsatz der Warenhausdetektive leitete. Hassler war ein ehemaliger Kriminalsergeant, der freiwillig aus dem Behördendienst ausgeschieden war. Er wußte, wie man Verhöre leitete.
Josuah Parker glich einem pensionierten, leicht verschrobenen Collegelehrer, als er durch das Warenhaus schlenderte. Kein Mensch hätte hinter ihm einen sehr trickreichen und erfolgreichen Amateurdetektiv vermutet.
Auch nach dem Erfolg, den er gerade erst für sich hatte buchen können, blieb er wachsam und vorsichtig. In einem solch riesigen Haus wie dem ›Jackson‹ gab es zu allen Stunden Kunden, die ohne Bargeld oder Scheck einkaufen wollten. Das Angebot reizte zu sehr. Es lag ja quasi ungeschützt auf den Tischen und Theken herum. Es lud direkt zu schnellem Zugriff ein.
Josuah Parker erreichte die Herrenabteilung in der dritten Etage. Hier war es bedeutend ruhiger als auf den Etagen, wo billige Massenartikel angeboten wurden. Auf langen Rollständern hing die Herrenoberbekleidung. Die Verkäufer waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Sie waren von der Direktion angewiesen, sich im Hintergrund zu halten. Die Kunden sollten möglichst unbelästigt bleiben und in aller Ruhe aussuchen und wählen können.
Josuah Parker, den Regenschirm über den linken Unterarm gehängt, schritt an den dichtgefüllten Kleiderständern entlang. Sein Ziel war die Wäscheabteilung, die sich im Hintergrund befand. Hier herrschte schon ein etwas stärkerer Publikumsandrang.
Plötzlich entdeckte Parker ein Beinpaar.
Es ragte hinter einem Anzugständer hervor. Die tadellos gepflegten Schuhe, die dezenten Fesselsocken und die Hosenbeine deuteten an, daß der Besitzer dieser Dinge nicht gerade Durchschnitt war.
Parker fiel aber auch auf, daß die Füße in diesen Schuhen auf seltsame Art und Weise eingedreht waren. Sie schienen kein Körpergewicht tragen zu müssen.
Josuah Parker ließ sich natürlich nichts anmerken. Sein Pokergesicht veränderte sich nicht. Er ging weiter, als habe er nichts gesehen. Er schien das am Boden schleifende Beinpaar bereits wieder vergessen zu haben. Dann aber bog der Butler scharf ab, teilte die Anzüge und entdeckte den Mann, dessen Kopf an der verchromten Querstange angebunden zu sein schien.
Seine Augen verengten sich etwas. Parker vermied jedes Aufsehen. Er faßte sofort nach den Wangen des Erhängten, dessen Augen ihn selbst noch im Tode entsetzt ansahen.
Die schlaffen Wangen des etwa 50-jährigen Toten wiesen normale Körpertemperatur auf. Der Mann schien erst vor wenigen Minuten erhängt worden zu sein. Ein Selbstmord schied aus. Das zeigte schon die Schwellung an der rechten Schläfenseite. Vor dem Erhängen mußte der Mann niedergeschlagen worden sein.
Josuah Parker sah sich verstohlen um.
Eine Leiche im ›Jackson‹! Das war genau das, was nicht bekannt werden durfte. Auf eine Reklame dieser Art konnte die Direktion des Warenhauses gern verzichten. Jetzt galt es schnell zu handeln. Vielleicht hielt der Mörder sich noch im Warenhaus auf.
Doch wie ihn finden? Ein aussichtsloses Unternehmen. Selbst für einen Josuah Parker …
*
Der Mörder verhielt sich genauso ruhig wie Josuah Parker.
Er hatte die Rolltreppen benutzt und erreichte nun das Erdgeschoß. Er wollte den riesigen Bau verlassen. Der Mörder war ein dunkelgrau gekleideter Mann, der etwa 38 Jahre alt sein mochte. Freundliche Augen blitzten hinter Brillengläsern, die blau eingefärbt waren. Dieser Mann hätte hinter jedem Bankschalter Figur gemacht. Er war der Typ Mann, den man gern nach dem Weg fragt oder um Feuer bittet.
Er hatte den Südausgang des ›Jackson‹ bereits erreicht und wollte hinaus auf die Straße treten, als er plötzlich stehenblieb, sich umwandte und zurück in das Warenhaus ging.
Er schien etwas vergessen zu haben. Es mußte etwas sehr Wichtiges sein, sonst wäre er als Mörder bestimmt nicht in das Haus zurückgekehrt, in dem er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte. Nun, die Lösung für sein Verhalten war mehr als simpel. Der Mörder wollte sich Zigaretten kaufen. Es zeugte für seine Selbstsicherheit und Frechheit, daß er diesen belanglosen Kauf nicht aufschob. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher.
Vor dem Tabakstand gleich rechts vom Ausgang mußte er ein paar Sekunden warten. Er ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Er beobachtete das schlanke Zigarettenmädchen, das ihn freundlich, aber seelenlos anlächelte.
Der Mörder merkte nicht, daß er das Opfer eines raffinierten Taschendiebes wurde. Er wurde von dem Zigarettenmädchen zu sehr abgelenkt. Der Taschendieb, ein schmaler Bursche, etwa 24 Jahre alt, flink wie ein Wiesel und mit den schwarzen Knopfaugen eines Frettchens, fiel gegen den Mörder und schob ihn etwas zur Seite.
Im gleichen Moment schlitzte eine Rasierklinge den Anzugstoff über der Brieftasche auf. Mit schnellem Griff fingerte der Taschendieb nach der Brieftasche, die erstaunlich gut gefüllt war und vor Papieren und Briefen förmlich überquoll.
Das alles geschah innerhalb einer knappen Sekunde!
Der Taschendieb entschuldigte sich, ließ die Brieftasche verschwinden und wandte sich ab.
Der Mörder hatte noch nichts bemerkt. Er beantwortete das mechanische Lächeln der Zigarettenverkäuferin und sah sie verständnislos an, als sie zusammenschreckte und auf seinen Anzug deutete.
Synchron mit dieser Bewegung hörte er neben sich eine halblaute, aber harte Stimme.
»Bleiben Sie stehen, Mann, wir haben alles gesehen!«
Der Mörder wußte nicht, daß der Taschendieb entdeckt und gestellt worden war. Er glaubte, angesprochen worden zu sein. Und er wußte schließlich, daß er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte.
Der Mörder war kein Anfänger. Er glaubte zu wissen, daß ein paar Revolvermündungen auf ihn gerichtet waren. Er blieb unbeweglich stehen. Seine Gedanken schossen wie Ratten hin und her. Wie konnte er sich durchschlagen?
Neben ihm entstand ein heftiger Wortwechsel. Eine schrille, noch junge Stimme protestierte gegen eine Festnahme. Der Mörder riskierte es, den Kopf herumzunehmen.
Er schluckte, brauchte einige Zeit, bis er den Schrecken verdaut hatte.
Dann sah er seine Brieftasche. Sie befand sich in der Hand eines unauffällig gekleideten Mannes. Die Brieftasche verschwand in der Jackettasche dieses Mannes, der den Arm eines jungen Mannes mit einem Polizeigriff festhielt.
»Meine Brieftasche …!« hörte sich der Mörder sagen. Seine Stimme klang belegt, war heiser. Schließlich wußte er sehr genau, welchen Wert diese Brieftasche für ihn hatte. Dafür hatte er einen Mord begangen.
»Sie haben nichts gemerkt?« fragte ihn der Mann, der die Brieftasche nun besaß. »Ich bin Hausdetektiv Porch, Sir.«
»Mein Kompliment«, sagte der Mörder, dessen Stimme schon wieder normal klang. »Sie haben gut aufgepaßt.«
»Er schlitzte Ihr Jackett auf«, sagte Detektiv Porch.
»Verdammt …!« stieß der Mann hervor. Er holte unwillkürlich zu einem Fausthieb aus. Der junge Taschendieb mit der schrillen Stimme duckte sich ängstlich.
»Ich schlage vor, wir vermeiden jedes Aufsehen«, sagte Detektiv Porch. »Darf ich Sie höflichst bitten, mit in mein bescheidenes Büro zu kommen, Sir?«
»Ich bin in Eile«, antwortete der Mörder. »Geben Sie mir die Brieftasche zurück! Ich werde keine Anklage gegen diesen Strolch erheben.«
»Tut mir leid, die Brieftasche kann ich Ihnen erst aushändigen, wenn ich genau weiß, daß Sie der Besitzer sind.«
»Mann, das sehen Sie doch«, fuhr der Mörder den Hausdetektiv scharf an. Er deutete auf sein zerschlitztes Jackett. »Brauchen Sie noch bessere Beweise?«
»Ich brauche vor allen Dingen Ihre Unterschrift unter das Protokoll«, gab der Hausdetektiv lächelnd zurück. »In wenigen Minuten können Sie dann schon gehen.«
Der Mörder überlegte blitzschnell.
Auf einen Wortwechsel wollte er es nicht ankommen lassen. Nur kein Aufsehen erregen, war seine Devise. Auf der anderen Seite konnte er nicht an die Brieftasche heran, wenn er sich dem Wunsch des Hausdetektivs nicht beugte. Er nickte.
»Schön, bringen wir es hinter uns«, meinte er mit versöhnlicher Stimme und rang sich ein breites Lächeln ab. Dabei überlegte er, ob der Erhängte am Kleiderständer wohl schon entdeckt worden war.
Der junge Taschendieb ließ sich ohne Schwierigkeiten abführen. Er war sehr kleinlaut geworden. Hinter Hausdetektiv Porch und dem Dieb ging der Mörder. Seine rechte Hand hatte er in die Tasche gesteckt. Die Finger umspannten den kurzen Kolben einer flachen, automatischen Waffe. Er brauchte nur die Sicherung umzulegen, dann konnte er alle kommenden Schwierigkeiten mit einem Schuß beenden.
Noch war die Gelegenheit ungünstig.
Als Hausdetektiv Porch auf den Lift zusteuerte, ahnte er nicht, wie dicht sein Mörder bereits hinter ihm war …
*
Josuah Parker durchsuchte die Taschen des Toten.
Das Detektivbüro im ›Jackson‹ wußte bereits, was passiert war. Es hatte die Mordkommission verständigt. Parker war neben der Leiche des Erhängten zurückgeblieben und nutzte die Gelegenheit, aus erster Hand ein paar Privatinformationen zu sammeln.
Ihm fiel sofort auf, daß die Brieftasche des Toten fehlte. Er wußte natürlich nicht mit letzter Sicherheit, daß dieser Mann eine besessen hatte. Doch dem ganzen Typ nach zu urteilen, mußte der Tote eine Brieftasche gehabt haben.
War er umgebracht worden, um sie zu stehlen? Oder hatte der Mörder sie mitgenommen, um die Identifizierung der Leiche zu erschweren?
Parker ging schnell, aber methodisch vor.
In der linken Hosentasche des Toten fand er einen Schlüsselbund, ein Taschentuch und einige Tickets von der Cable-Car.
In der rechten Hosentasche entdeckte Parker einen einzelnen Schlüssel, an dem ein Plastikanhänger befestigt war. ›Central-Garagen‹ stand darauf. Der Schlüssel gehörte wahrscheinlich zu einer abschließbaren Autobox dieser Garage.
Die Innentasche des Jacketts, wo sich gewöhnlich die Brieftasche befindet, war leer.
In der rechten Innentasche stießen Parkers Finger auf einige Papiere. Er zog sie hervor. Sie waren eine Wäscherechnung, zwei Tage alt, und ein Telegrammformular.
Schnell überflog er den Text.
Der Absender war ein gewisser Ted Surtees. Er teilte einem Frank Carpenter mit, Treffpunkt sei das ›Jackson‹ und zwar um 12.30 Uhr in der dritten Etage. Herrenabteilung.
Parker sah zur elektrischen Uhr hoch, die an der Trennwand anmontiert war. Sie zeigte bereits 13.00 Uhr.
War Frank Carpenter, wie der Erhängte wohl hieß, von diesem Ted Surtees erhängt worden? Motiv des Mordes mußte die Brieftasche gewesen sein. Nur sie allein. Sonst hätte der Mörder alle sonstigen Hinweise auf die Identität seines Opfers verschwinden lassen.
Josuah Parker merkte sich die Adressen von Frank Carpenter und Ted Surtees. Mehr war im Moment nicht zu tun, zumal die Mitglieder der Mordkommission erschienen …
*
Die Tür des Lifts glitt ins Schloß.
Der Taschendieb, der Mörder und Hausdetektiv Lesley Porch waren allein in der engen Kabine.
Der Mörder lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kabinenwand. Er lächelte den Hausdetektiv freundlich an. Die Mordgedanken hinter seiner Stirn waren nicht zu erraten.
Der junge Taschendieb seufzte auf. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Er kam nicht auf den Gedanken, den Detektiv anzufallen. Dazu fühlte er sich viel zu schwach.
»In ein paar Minuten werden Sie Ihre Brieftasche haben«, meinte Porch zu dem Mörder.
»Kommt jetzt nicht mehr darauf an«, gab der Mörder lächelnd zurück. »Ich war eben vielleicht etwas zu nervös.«
»Verständlich, wenn einem der Anzug aufgeschlitzt worden ist«, erwiderte Porch. »Ich denke, der Schaden läßt sich mit der Direktion regeln.«
»Warten wir’s ab«, gab der Mörder zurück. Er wies auf die Druckknöpfe, die den Fahrstuhl in Bewegung setzten. »Warum fahren wir nicht?«
»Ich nehme dort den Kollegen noch mit«, meinte Lesley Porch. Er wies durch die Glasscheibe. Der Mörder sah einen Mann, der auf den Lift zueilte.
Betrat dieser Mann die Kabine, dann standen die Chancen schlecht, sofort an die Brieftasche heranzukommen. Der Mörder wußte es. Eine Sekunde lang war er versucht, den Startknopf auf der Signaltafel zu drücken und dann sofort zu schießen. Er mußte auf jeden Fall verhindern, daß die Brieftasche geöffnet und durchsucht wurde. Solch ein Risiko konnte er unmöglich eingehen.
Der Mörder beobachtete den näherkommenden Mann.
Zu seiner Überraschung und Erleichterung winkte der Mann ab. Er wollte nicht mit hinauffahren. Er schüttelte zusätzlich den Kopf und bog dann nach rechts ab. Sekunden später verschwand er hinter einer hochgetürmten Stoffauslage.
»Dann eben nicht«, meinte Lesley Porch. Er war nach wie vor ahnungslos. Der Mörder lächelte freundlich. Nun konnte sein Plan nicht mehr schiefgehen. Er blieb gelassen, sah zu, als der Hausdetektiv den Startknopf des Lifts eindrückte.
Der Lift hob sofort ab und schwebte nach oben.
Der Mörder umklammerte seine automatische Waffe. Er wollte durch den Anzugstoff schießen. Der junge Taschendieb war überhaupt kein Problem. Wahrscheinlich würde er sich vor Schreck nicht rühren, wenn der Schuß erst einmal gefallen war.
Er schob den Sicherungsbügel herum. Sein Zeigefinger krümmte sich. Er nahm Druckpunkt …
*
Josuah Parker stand vor der Glastür des Lifts im dritten Geschoß. An der außen angebrachten Signaltafel erkannte er, daß der Lift in Bewegung war und nach oben fuhr. Um sich die Treppen hinauf in die vierte Etage zu sparen, blieb der Butler stehen. Er wollte zusteigen.
Die Kabine schwebte heran. Die dicken Drahtseile zitterten, die Kabelschlange rutschte in sich zusammen.
Dann schwebte der Lift auf die Glastür zu.
In diesem Moment hörte der Butler einen peitschenartigen Knall, als sei irgendwo eine Sicherung zersprungen.
Butler Parker trat sofort zur Seite, um von der Kabine aus nicht gesehen zu werden. Er wußte aus langer Erfahrung, welches Gerät diesen eigenartigen Knall verursacht hatte. Im Lift mußte geschossen worden sein!
Die Kabine erreichte den Türausschnitt und hielt an.
Josuah Parker hakte den Universal-Regenschirm von seinem linken Unterarm los und ging in Ausfallstellung. Er war sich sicher, daß er und sein Regenschirm Arbeit bekamen.
Die Tür öffnete sich.
Ein junger Mann torkelte aus der Kabine heraus, raffte sich auf und rannte dann in langen Sprüngen davon.
Parker rührte sich nicht von der Stelle. Er haßte unnötige Bewegungen. Er nahm dafür den Universal-Regenschirm hoch und zweckentfremdete ihn in einen behelfsmäßigen Speer. Mit dem Bambusgriff voran schoß dieser Behelfsspeer durch die Luft. Er landete zwischen den Schulterblättern des jungen Mannes und riß ihn mit seinem Schwung von den Beinen. Der junge Mann stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen das Fußgestell eines Kleiderständers. Es gab einen dumpfen Laut, als sein Kopf aufprallte. Der junge Mann rollte auf die Seite und blieb dann regungslos liegen.
Parker wandte sich dem Lift zu. Verständlicherweise hatte er erst jetzt dafür Zeit. Als er in die Kabine hineinblicken wollte, peitschte ein Schuß auf.
Das Geschoß pfiff haarscharf an seinem Kopf vorbei, sirrte durch die Luft und schlug gegen eine Wasserdüse unter der Decke. Die Druckleitung brach auseinander. Ein daumendicker Wasserstrahl zwängte sich durch diese Öffnung.
Der Lift war in Bewegung gesetzt worden. Er schwebte bereits nach oben.
Parker kam zu spät, um diesen Schuß mit seiner eigenen Waffe zu beantworten. Er hielt zwar den vorsintflutlichen Colt in der Hand, doch er drückte nicht ab. Er hätte doch nicht getroffen.
Um den Fahrstuhl einzuholen, mußte Parker sich nun sehr beeilen. Auf der anderen Seite bestand die Gefahr, daß der junge Mann, der aus der Kabine geflüchtet war, erwachte und sich davonmachte.
Weit und breit war keine Hilfe zu sehen …
Der Schuß aus dem Lift hatte alle Kunden und Verkäufer in Deckung gehen lassen. Keiner traute sich hervor.
Parker konnte nicht wissen, daß sich in dem Lift eine Tragödie abgespielt hatte. Er wußte nichts von Hausdetektiv Lesley Porch. Deshalb kümmerte er sich erst mal um den jungen Mann. Von ihm erhoffte er zu erfahren, wer der Schütze im Lift war.
Der junge Mann erhob sich bereits.
Er griff sich an den schmerzenden Kopf, bewegte ihn vorsichtig und schien sich jetzt erst wieder zu erinnern, was vorgefallen war. Wie gehetzt sah er sich um, zog die Beine an und sprang auf. Er wollte seine Flucht fortsetzen.
»Gönnen Sie sich etwas Ruhe, junger Mann«, meinte Josuah Parker mit ruhiger Stimme. »Vielleicht verraten Sie mir, wer auf Sie geschossen hat.«
»Er hat … er hat ihn umgebracht«, stieß der Taschendieb hervor.
»Umgebracht? Wen, wenn ich fragen darf?«
»Den Teck in der Kabine«, stöhnte der junge Mann. »Und mich wollte dieser Hund auch noch umlegen.«
»Kommen Sie …!« Parkers Stimme hatte jeden Unterton von Gelassenheit verloren. Er umspannte das rechte Handgelenk des Taschendiebes und zog ihn zum nächsten Haustelefon. Er rief das Detektivbüro des ›Jackson‹ an. Erstaunlich knapp und präzis gab Parker seine Meldung durch. Dann löste er den Hörer etwas vom Ohr und wartete.
Der Taschendieb stotterte seinen Bericht herunter. Er verhaspelte sich immer wieder, wiederholte sich und hatte Mühe, die nackten Tatsachen zu erwähnen. Parker unterbrach ihn nicht mit einem Wort. So erfuhr er, wenn auch mit Verspätung, was sich im Erdgeschoß und dann im Lift zugetragen hatte.
Wenig später meldete sich wieder das Detektivbüro des Hauses. Chefinspektor Hassler war am Apparat. Seine Stimme klang aufgeregt.
»Porch ist schwer angeschossen worden«, meldete er. »Der Revolverheld ist verschwunden. Verdammt, heute ist der Teufel los, Parker. In unserem Bau scheinen sich die Gangster der Stadt ein Stelldichein zu geben!«
*
»Sie sind wie ein Magnet«, sagte Anwalt Mike Rander. »Sie ziehen Gauner und Verbrecher an, Parker! Ihren ersten Tag im ›Jackson‹ hatte ich mir ruhiger vorgestellt!«
»Keiner bedauert diese Entwicklung mehr als ich, Sir«, gab Parker zurück. »Es ist mir zwar gelungen, zwei Mitglieder der Warenhaus-Gang zu fassen, doch dieser rätselhafte Mord in der Herrenabteilung dürfte noch einiges Kopfzerbrechen verursachen.«
Josuah Parker und Mike Rander saßen in einem Taxi. Sie waren auf dem Weg in die Mason Street. Laut Adresse auf dem Telegrammformular mußte der erhängte Frank Carpenter dort wohnen. Falls der Tote mit dem Empfänger des Telegramms identisch war. Das Telegramm in seiner Tasche war kein Beweis dafür, daß er tatsächlich Frank Carpenter war.
»Ich sehe einen innigen Zusammenhang zwischen dem Erhängten und der Schießerei im Lift«, meinte Josuah Parker nach einer kleinen Pause des Nachdenkens. »Ich möchte mich selbstverständlich auf keinen Fall festlegen, Sir, doch scheint mir, daß die Brieftasche des Erhängten von jenem Mann geraubt wurde, der von dem jungen Taschendieb anschließend im Erdgeschoß bestohlen wurde.«
»Könnte sein, Parker«, gab Mike Rander nachdenklich zurück.
»Wenn Sie gestatten, Sir, möchte ich meinen Gedankengang fortsetzen.« Parker hatte zu seiner üblichen Ruhe zurückgefunden. »Der junge Taschendieb, den ich bei der Flucht aus dem Lift abfangen konnte, sagte deutlich aus, daß der Bestohlene aus dem Erdgeschoß sich ausschließlich um die Brieftasche kümmerte und sie dem leider angeschossenen Mr. Lesley Porch entriß.«
»Blenden wir zurück«, warf Mike Rander ein. »Im Anzug des erhängten Frank Carpenter vermißten Sie eine Brieftasche. Es könnte sich tatsächlich um dasselbe Stück handeln.«
»Ich bin dessen fast sicher, Sir.«
»Hoffen wir, daß uns die Telegramm-Adresse weiterbringen wird«, seufzte Mike Rander auf. »Verflixt, und ich hatte mit ein paar gemütlichen Ferientagen hier in Frisco gerechnet. Taschen- und Ladendiebstahl hörte sich verlockend an. Und jetzt sitzen wir mitten in einem Mordfall, Parker. Viel Vergnügen! Wer weiß, wie sich dieser Mord noch entwickeln wird.«
»Keinesfalls ruhig, Sir, wenn mir diese nüchterne Prognose gestattet ist«, gab Josuah Parker zurück. »Um eine übliche Brieftasche kann es sich meiner bescheidenen Ansicht nach bestimmt nicht handeln. Diese Brieftasche muß Sprengstoff enthalten.«
»Sprengstoff welcher Art?«
»Ich wage es nicht, den Propheten zu spielen«, wich Josuah Parker aus. »Wenn Sie erlauben, möchte ich nun aussteigen und mich zu Fuß der Mason Street nähern.«
»Klar, steigen Sie aus, Parker! Passen Sie auf sich auf! Ich werde mich um den Absender des Telegramms kümmern. Hoffentlich existiert dieser Ted Surtees wirklich.«
»Ich erlaube mir, Sir, Ihnen viel Glück zu wünschen«, erwiderte Parker. Er klopfte gegen die Scheibe zwischen Fond und Taxifahrer, ließ anhalten und stieg aus, ohne sich noch mal nach seinem jungen Herrn umzuwenden.
Mike Rander sah hingegen seinem Butler nach. Unmerklich schüttelte er den Kopf über Parker. Man sah es diesem skurrilen Mann wirklich nicht an, daß er innerhalb kurzer Zeit zu einem gefürchteten Verbrecherschreck geworden war …
Die Mason Street stieg steil an.
Bei der Planung von San Francisco hatten die derzeitigen Planer übersehen, wie gebirgig und hügelig das Gelände war. Auf dem Reißbrett waren die Straßen entstanden und tatsächlich auch gebaut worden. Das war der Grund für die vielen Steigungen in dieser Stadt, die in die Beine der Fußgänger und in die Getriebe der Autos ging.
Aus alten Zeiten waren einige der Cable-Cars übernommen worden, einfache, offene Straßenbahnen, die per Zahnrad oder Zugkabel über die steilen Steigungen geschleppt wurden.
Solch eine Straße war die Mason Street. Und an dieser Straße lag das Haus, in dem der erhängte Frank Carpenter wohnen sollte. Josuah Parker ließ sich von einer in den Gleisen kreischenden Cable-Car überholen. Er brauchte nur noch wenige Schritte zu tun, dann stand er vor einem bereits angejahrten Appartementhaus.
An den Hinweistafeln im Erdgeschoß orientierte sich der Butler. Er war fast überrascht, tatsächlich den Namen Frank Carpenter zu finden. Absender und Empfänger des bewußten Telegramms in der Brusttasche des Ermordeten schienen also zu stimmen.
Frank Carpenter wohnte in der zweiten Etage.
Es gab zwar einen Lift. Verständlicherweise verzichtete der Butler darauf, ihn zu benutzen. Seit knapp einer halben Stunde hatte er eine Abneigung gegen Fahrstühle. In ihnen konnte zuviel passieren.
Er benutzte die Treppe, die mit einem abgetretenen Kokosläufer belegt war. In der zweiten Etage blieb er vor der Tür des Mr. Frank Carpenter stehen.
Dahinter war alles ruhig.
Parker legte seinen schwarz behandschuhten Zeigefinger auf den Klingelknopf. Seine linke Augenbraue hob sich erstaunt, als er sofort nach dem Läuten Schritte hörte. Die Tür wurde geöffnet. Eine junge, sehr angenehm aussehende Dame von etwa 25 Jahren sah den Butler erstaunt an.
»Sie wünschen?« fragte sie und trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Eine Erscheinung wie die des Butlers hatte sie bisher bestimmt nur im Film gesehen, in einem englischen Film, um genau zu sein. In einem Film also, in dem ein original englischer Butler mitwirkte.
»Mein Name ist Parker«, stellte sich der Butler vor. »Genauer gesagt, Josuah Parker. Ich begrüße Sie!«
»Was wollen Sie mir verkaufen?« erkundigte sich die junge Dame. Sie sah nicht nur angenehm aus, sie war ausgesprochen attraktiv anzusehen. Mittelgroß, schlank, trug sie einen knapp sitzenden Hausanzug, der ihre Figur nachdrücklich unterstrich. Ihr blondes Haar fiel in sanften Wellen auf die Schultern herab.
»Ich würde sagen, daß ich auf Empfehlung von Mr. Frank Carpenter komme«, erklärte der Butler höflich und lüftete seine schwarze steife Melone noch mal.
»Oh, Onkel Frank! Das ist etwas anderes. Kommen Sie doch herein, Mr. Parker!«
Sie gab die Tür frei und führte ihn in einen Wohnraum mit zwei niedrigen Fenstern. Es gab hier den üblichen, imitierten Kamin, die Sitzgruppe mit tiefen Sesseln und die niedrigen Wandschränke, auf denen Leuchter standen. Auf dem Boden lag ein dicker grauer Wollteppich.
»Ich bin Helen Angus«, stellte sich nun auch die junge Dame vor. »Ich führe den Haushalt meines Onkels.«
»Ich bin ungemein erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte Josuah Parker und deutete eine knappe Verbeugung an. »Um mich präzise auszudrücken, Miss Angus, ich hoffe, hier nicht nur Ihren Onkel anzutreffen, sondern auch Mr. Ted Surtees.«
»Mr. Surtees?« Helen Angus sah den Butler fragend an.
»Sie kennen Mr. Surtees nicht?« wunderte sich der Butler.
»Nein, tut mir leid. Müßte ich ihn denn kennen?« Helen Angus sah Josuah Parker interessiert an. Bei dieser Gelegenheit stellte der Butler fest, daß die junge Dame leuchtstarke blaugraue Augen besaß, mit denen sie umzugehen verstand.
»Ich weiß es nicht«, wich Butler Parker aus. »Vielleicht handelt es sich um einen Geschäftsfreund Ihres Onkels.«
»So wird es wohl sein«, meinte sie. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Nur, wenn auch Sie etwas trinken, Miss Angus. Ich möchte überhaupt dringend empfehlen, daß Sie sich mit einem stärkenden Schluck versehen.«
»Glauben Sie, daß ich ihn nötig haben werde?«
»Ich fürchte, ja.«
»Sie sagen das mit eigenartiger Betonung, Sir. Ist … ist meinem Onkel Frank etwas passiert?«
»Leider, Miss Angus.«
»Mein Gott …! Ist er verunglückt?«
»In etwa. Etwas genauer ausgedrückt, er wurde ermordet, Miss Angus.«
»Ermordet?« Sie sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an und schluckte. Langsam ließ sie sich in einen Sessel nieder. »Ermordet, sagen Sie?«
»Es passierte im Warenhaus ›Jackson‹, in dem ich zur Aushilfe als Hausdetektiv angestellt bin.«
»Wie war denn das möglich? Onkel Frank hatte doch keine Feinde. Hat man seinen Mörder gefunden?«
»Bisher leider nicht, Miss Angus.
Aber um ihn zu finden, brauche ich einige Hinweise.«
»Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Mister Parker.« Ihre Stimme klang mutlos und leise. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß Onkel Frank tot sein soll.«
»Er wollte sich nach meinen Informationen mit einem gewissen Mr. Ted Surtees treffen.«
»Ich kenne diesen Surtees nicht.« Sie griff nach einer kleinen Lackschachtel, die auf dem Tisch stand. Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihr eine Zigarette entnahm.
Parker zeigte sich selbst in dieser Situation als Gentleman. Er holte sein Feuerzeug aus der Westentasche und reichte ihr Feuer. Helen Angus zuckte nervös zurück, als es aufflammte. Ein mittlerer Flammenwerfer hätte nicht mehr Feuer spucken können. Parkers Feuerzeug war glatt geeignet, behelfsmäßig als Schweißbrenner eingesetzt zu werden.
»Darf ich fragen, ob und wo Ihr Onkel arbeitete?« lautete Parkers nächste Frage.
»Onkel Frank ist … ich meine, war Konstrukteur. Sein Leben verlief ohne jede Aufregungen. Mein Gott, warum hat man ihn umgebracht?«
»Ich werde es im Laufe der Zeit herausfinden, Miss Angus, und mir dann die Freiheit nehmen, Ihnen Bericht zu erstatten«, versprach Josuah Parker. »Wann haben Sie Ihren Onkel zuletzt gesehen? Erhielt er heute vormittag nicht ein Telegramm?«
Sie nickte.
»Kennen Sie den Inhalt des Telegramms?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie griff in den Ärmel ihrer Bluse und zupfte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich die ersten Tränen ab und schluchzte.
»Ihr Onkel war heute nicht im Büro?« fragte Parker weiter.
»Nur für ein paar Stunden«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. »Er wollte für eine Woche Urlaub machen und sich mal richtig entspannen.«
»Tragisch, ausgesprochen tragisch«, stellte Parker fest. »Von welcher Firma, wenn mir diese letzte Frage gestattet ist, wollte Ihr Onkel sich denn entspannen?«
»Engineering Development«, schluchzte sie, »bitte, lassen Sie mich allein. Ich könnte nicht mehr antworten.«
Parker verließ still und unauffällig das Appartement. Der Vorhang zwischen Diele und Wohnraum fiel hinter ihm zu. Parker nutzte diese Gelegenheit, schnell den Briefkasten an der Tür zu öffnen. Er fand zwei Briefe, die er einsteckte. Eine Sekunde später fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.
Parker wollte keinen Diebstahl begehen. Er fand nur, daß dieses zarte, junge Mädchen nicht noch weiter strapaziert werden durfte. Dazu gehörten schließlich auch Postsachen, von denen man ja nie vorher wußte, wie angenehm oder peinlich sie waren.
*
Noch im Treppenhaus öffnete Parker die beiden Briefe.
Der erste Brief war eine Antwort auf ein Bewerbungsschreiben, das Frank Carpenter an eine Ingenieurfirma in Los Angeles gerichtet hatte. Die Bewerbungsunterlagen wurden zurückgeschickt. Man bedauerte mit wenigen dürren Worten, im Moment keine freie Stelle für Mr. Carpenter zu haben.
Parker klammerte das Foto von den Bewerbungsunterlagen ab. Hier hatte er endlich einen Beweis in der Hand, daß der Erhängte im ›Jackson‹ mit Frank Carpenter identisch war. Das Brustbild zeigte unverkennbar den Toten, den Parker am Kleiderständer entdeckt hatte.
Der zweite Brief stammte von der San Francisco State Bank. Mr. Frank Carpenter wurde mitgeteilt, daß sein Kreditantrag in Höhe von 2000 Dollar abgelehnt worden sei.
Parker überlegte einen Moment, nahm die schwarze steife Melone vom Kopf und barg die beiden Briefe darin. Er schob sie unter die Stahleinlage. Immerhin hatte er in den vergangenen Stunden ausgiebig mit Taschendieben zu tun gehabt. Er wollte sich nicht bestehlen lassen. Die beiden Briefe waren recht interessant. Sie deuteten darauf hin, daß Frank Carpenter in einigen Schwierigkeiten gesteckt haben mußte.
Parker verließ das Appartementhaus.
Er hakte den Regenschirm über den linken Unterarm, rückte sich die schwarze Melone zurecht und wollte die Mason Street in Richtung Hafen hinuntergehen.
Sah er nicht, daß sich hinter ihm ein Wagen vom Straßenrand löste? Merkte er nicht, daß ihn dieser Wagen augenscheinlich verfolgte? Parker schritt steif und würdevoll aus. Er dachte an sein Gespräch mit Helen Angus, an den erhängten Mr. Carpenter und an die beiden Briefe. Je mehr er über sie nachdachte, desto interessanter erschienen sie ihm. Er wurde sich klar darüber, daß er die Engineering Development‹ so schnell wie möglich besuchen mußte. Dort erfuhr er gewiß mehr über den Erhängten.
»Hallo, können Sie mir helfen?«
Parker fühlte sich angesprochen.
Er wandte sich zur Seite.
Etwa anderthalb Meter von ihm entfernt hielt ein dunkler Buick am Straßenrand. Der Beifahrer hatte sich aus dem Fenster gebeugt und winkte Parker zu.
Der Butler stutzte unmerklich. Selbst ein genauer und aufmerksamer Beobachter hätte es kaum bemerkt.
Parker spürte augenblicklich, daß Gefahr drohte. Sein fein ausgebildeter Instinkt warnte ihn. Situationen dieser Art kannte er schließlich mehr als genug.
Doch Parker ließ sich nichts anmerken.
»Ich hoffe sehr, Ihnen helfen zu können«, sagte er höflich, lüftete seine schwarze Melone und trat an den Wagenschlag heran. »Wenn mich nicht alles täuscht, soll ich Ihnen mit meinen, wenn auch bescheidenen Ortskenntnissen aushelfen, nicht wahr?«
Der Mann auf dem Beifahrersitz starrte ihn entgeistert an. Solch eine gewundene, barock zu nennende Antwort hatte er ganz sicher nicht erwartet.
»Wie war das?« fragte er. Er verzog sein breites, grobes Gesicht, als habe er in eine besonders saure Zitrone gebissen.
»Wohin oder was möchten Sie?« präzisierte Parker seine Frage.
»Ach so, jetzt geht mir ein Licht auf«, meinte der Beifahrer und grinste. »Sehen Sie sich das hier mal genauer an, Alterchen.«
Er ließ den Lauf einer 38er im Ausschnitt des Wagenfensters erscheinen.
»Wenn mich nicht alles täuscht, eine Schußwaffe«, stellte Parker fest.
»Mann, Sie haben Nerven, oder Sie sind ein Vollidiot«, knurrte ihn der Mann mit dem groben Gesicht an. »Wenn ich den Zeigefinger bewege, sind Sie ein toter Mann. Ist das klar?«
»Nicht unbedingt«, widersprach Parker höflich. »Es kommt darauf an, wie gut oder schlecht Sie schießen.«
»Ich schieße sogar erstklassig«, warnte ihn der Mann. »Steigen Sie ein, Alterchen. Wenn Sie parieren, passiert Ihnen nichts. Wenn Sie Ärger machen, sind Sie Dauergast im Spital!«
»Ihre Argumente überzeugen mich im Moment«, stellte Parker fest. »Aber ich möchte dennoch nicht versäumen, in aller Form gegen diese Art des Menschenraubs zu protestieren.«
»Mach’ schon, Alter.« Der Mann zischte wie eine gereizte Klapperschlange. »Deinen Unsinn werde ich dir schon schnell austreiben …!«
Parker stieg ein und hielt den Mund.
Er hätte sich selbstverständlich zur Wehr setzen können. Er verzichtete darauf. Kontakt mit Gangstern jeden Kalibers war immer wichtig. Nur so erfuhr man schließlich, wie die Figuren im tödlichen Spiel verteilt waren …
*
Der Mörder aus dem ›Jackson‹, der Frank Carpenter erhängt hatte, konnte es einfach nicht fassen. Immer wieder nahm er die Brieftasche hoch, die vor ihm auf dem Tisch lag. Und immer wieder murmelte er Flüche, die von Minute zu Minute eindeutiger und wütender wurden.
Er hatte allen Grund, sich so zu verhalten. Die Brieftasche vor ihm auf dem Tisch war nicht die, die man ihm aus der Brusttasche geschlitzt hatte. Es war die Brieftasche des jungen Taschendiebes. Und die war für den Mörder natürlich vollkommen wertlos.
Er konnte es nicht riskieren, zurück ins ›Jackson‹ zu gehen. Nach seiner Flucht, nach dem Niederschießen des Hausdetektivs, durfte er sich dort nicht mehr sehen lassen. Es war überhaupt gefährlich für ihn, sich auf den Straßen sehen zu lassen. Schließlich wußte zumindest der Taschendieb, wie er aussah.
Wie komme ich an die Brieftasche heran? fragte sich der Mörder. Umsonst habe ich Carpenter schließlich nicht umgebracht. Die Brieftasche stellt für mich ein Vermögen dar. Und abgesehen vom Geld garantiert sie sogar mein Leben. Kann ich sie nicht zurückholen, dann dürfte es mir an den Kragen gehen. Dann ist nicht nur die Polizei hinter mir her, sondern dann muß ich auch mit ein paar ausgesuchten Berufsmördern rechnen. Und die dürften gefährlicher sein als die Polizei. Sie werden mich aufspüren, ganz gleich, wo ich mich auch verstecke …
Der Mörder zuckte zusammen.
Das Telefon in seinem Hotelzimmer schrillte unangenehm laut. Allein dieses Geräusch war wie eine Mahnung. Der Mörder riß sich zusammen, gab sich einen Ruck und hob den Hörer aus der Gabel.
»Hier Hyman«, meldete er sich.
»Hier ist der Kaiser von China«, lautete die ironische Antwort. »Sie wissen, wer ich bin?«
»Natürlich.« Walt Hyman spürte, daß sein Mund trocken wurde.
»Wie sieht’s denn mit der Ware aus?« erkundigte sich der Mann am anderen Ende. »Ich soll sie doch gegen Abend bekommen, ja?«
»Das geht klar«, antwortete Walt Hyman gegen seinen Willen. Die Angst vor dem Anrufer war größer als sein Mut, die Wahrheit zu bekennen.
»Sehr schön.« Die Stimme des Anrufers klang wohlwollend. »Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Hyman. Wann sehen wir uns?«
»Gegen 22.00 Uhr. Auf den Twin Peaks.«
»Wo da genau?«
»Auf dem nördlichen Hügel, einverstanden?«
»Schön. Vergessen Sie nicht zu kommen, Hyman! Aber so dumm werden Sie ja wohl nicht sein, oder?« Der Anrufer lachte leise auf.
»Natürlich werde ich kommen«, gab Walt Hyman zurück. »Und vergessen Sie nicht, mir die Quittungen mitzubringen.«
»Keine Sorge, Hyman! Auf mich, verstehen Sie, auf mich kann man sich verlassen.«
»Ich weiß, ich weiß. Deshalb arbeite ich ja mit Ihnen zusammen.«
»Was ist aus Ihrem Lieferanten geworden? Wird er keine Schwierigkeiten machen oder Verdacht schöpfen?«
»Nein.«
»Warum so kurz angebunden, Hyman?«
»Am Telefon kann ich darüber nicht sprechen. Verlassen Sie sich darauf, er wird keine Schwierigkeiten machen.«
»Na gut, das ist schließlich Ihr Job. Bis dann …!«
Walt Hyman hörte das-Klicken in der Leitung. Er hielt den Hörer in der Hand und starrte die Zimmerwand an. Er hatte das Gefühl, als zöge sich ein dichtes Netz über seinem Kopf zusammen.
Wütend warf er den Hörer in die Gabel.
Er stand auf, zündete sich eine Zigarette an.
Ich sollte sofort abhauen, sagte er sich. Warum habe ich nicht den Mut, alle Brücken hinter mir einzureißen? Ich brauche doch nur raus zum Flugplatz zu fahren und zu verschwinden …
Aber vielleicht wird der Flugplatz überwacht. Vielleicht lassen sie mich schon seit Tagen nicht mehr aus den Augen. Vielleicht wissen sie, daß ich nur zu gern verschwinden möchte …
Walt Hyman, der Mörder mit den schwachen Nerven, trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. Der Betrieb auf der Straße und auf den Gehsteigen war normal. Schaulustige standen vor Fensterauslagen der Geschäfte, unterhielten sich am Straßenrand, saßen in parkenden Wagen und verschwanden in Geschäften.
Jedermann von diesen Leuten konnte ein Spitzel sein. Jeder konnte den Auftrag haben, ihn, Walt Hyman, zu beschatten. Gab es überhaupt noch eine Fluchtmöglichkeit? Würden ihm am Abend wirklich die Quittungen ausgehändigt werden? Fragen über Fragen! Der Mörder wischte sich über die Stirn. Nein, er mußte mitspielen. Er mußte wenigstens so tun, als sei alles in Ordnung.
Er ging zurück zum Sessel und ließ sich in die Polster fallen. Es mußte doch noch einen Ausweg geben, um den tödlichen Kreis zu durchbrechen.
Nun, solch ein Ausweg verlangte Mut und Härte. Der Mörder prüfte sich, ob er die Nerven hatte, einen ganz bestimmten Plan durchzuführen. Dieser Plan war lebensgefährlich für ihn, aber er war und blieb die eine Möglichkeit, das Beste aus dieser Situation zu machen. Er mußte doch noch einmal zurück ins ›Jackson‹. Und zwar nach Ladenschluß. Er mußte alle Schränke des Detektivbüros nach der bewußten Brieftasche durchwühlen. Er war sicher, daß sie sich noch im ›Jackson‹ befand.
Fand er sie aber nicht, dann mußte seine Waffe noch einmal sprechen …
*
»Ich möchte als sicher unterstellen, daß Sie mich nicht zu einer Spazierfahrt eingeladen haben«, sagte Josuah Parker höflich. »Um auf den Kern der Sache zu kommen, was kann oder muß ich für Sie tun?«
»Erst mal den Mund halten«, sagte der Beifahrer mit dem groben Gesicht.
»Ich beuge mich natürlich Ihren Wünschen. Aber gehe ich richtig in der Annahme, daß es sich um den leider so plötzlich verstorbenen Mr. Frank Carpenter handelt?«
»Er trifft den Nagel auf den Kopf«, wandte sich der Beifahrer an den bisher schweigsamen Mann am Steuer. »Was sagst du zu diesem klugen Burschen?«
»Laß dich auf nichts ein«, warnte der Fahrer seinen Partner. »Ich wette, dieser alte Knabe hat es faustdick hinter den Ohren.«
»Wogegen ich protestieren möchte«, schaltete sich Josuah Parker ein. »Ich pflege mich jeden Morgen zu waschen.«
»Halt jetzt endlich den Mund«, schnauzte der Beifahrer. »Sei froh, daß wir keine anderen Saiten aufziehen.«
Parker zog es vor, ab sofort den Mund zu halten.
Der Buick kreuzte die Market Street, bog in die Mission Street ein und fuhr dann in normalem Tempo hinunter zum Hafen in Richtung der Fährkais.
Parker sah jedoch nur äußerlich müde und hilflos aus. Ihm kam es jetzt darauf an, sich den Weg genau zu merken. Für später, wenn er selbst wieder aktiv wurde. Daß es hinunter zum Hafen ging, wunderte ihn nicht sonderlich. Dort gab es schließlich die meisten und besten Verstecke.
Parker dachte darüber nach, wer ihn wohl entführt haben mochte. Freunde des erhängten Frank Carpenter? Oder dessen Feinde? Ging es um die Brieftasche? Nun, die hatte der wahrscheinliche Mörder bei seiner Flucht aus dem Warenhauslift ja gerade noch mitgehen lassen können.
Es stimmte den Butler sehr nachdenklich, daß die beiden Entführer nicht darauf bestanden, ihm die Augen zu verbinden. Das Hafengebiet war bereits erreicht. Ihnen war es gleichgültig, ob Parker sah, wohin die Fahrt ging oder wo sie endete.
Sollte das bedeuten, daß sie ihm so oder so keine Gelegenheit mehr geben wollten, darüber etwas zu berichten? Mit anderen Worten: Planten sie seine Ermordung …?
*
Anwalt Mike Rander, der junge, sympathische Strafverteidiger aus Chikago, Arbeitgeber und Freund des Butlers, hatte eine Niete gezogen. Die Adresse auf dem Telegrammformular entpuppte sich als Schnellimbiß. Die beiden Männer hinter der Theke wußten weder etwas von einem Ted Surtees noch von einem Telegramm. Sie zeigten auf die beiden Telefonzellen im Hintergrund des Lokals. Von dort aus konnte schließlich jeder ein Telegramm absetzen und dann schleunigst verschwinden.
Mike Rander verlor keine Zeit damit, sich weiter nach Surtees zu erkundigen.
Er trat wieder auf die Straße und wartete auf seinen Butler.
Als insgesamt dreißig Minuten verstrichen waren, schlenderte Mike Rander ein Stück die Straße hinunter. Weit und breit war von Parker nichts zu sehen. Um das Verfahren abzukürzen, bog Rander in eine Seitenstraße ein und erreichte die Mason Street. Er hatte Glück, in eine gerade abfahrende Cable-Car einsteigen zu können. Rumpelnd, rasselnd und schwerfällig setzte dieses seltsame Gefährt sich in Bewegung. Es kroch die schwindelnde Steilstrecke mit dem Temperament einer angefeuerten Schildkröte empor.
Nach zehn Minuten erreichte Mike Rander das Haus, in dem Frank Carpenter wohnte. Auch er hielt sich an die Hinweistafeln und stieg hinauf in die zweite Etage. Nach dem Klingeln öffnete ihm Helen Angus, die Nichte Carpenters.
»Sie wünschen?« fragte Helen Angus nervös.
»Eine Frage: Wurden Sie von einem Mr. Josuah Parker besucht? Ich wollte mich hier mit ihm treffen.«
»Mr. Parker? Ein älterer Herr, recht ungewöhnlich gekleidet?«
»Das ist er.«
»Er ist vor gut einer halben Stunde bereits gegangen.«
»Sie sind eine Verwandte von Mr. Frank Carpenter?«
»Stimmt. Nähere Einzelheiten kann Ihnen Ihr Bekannter mitteilen. Ich bin in Eile. Verzeihen Sie, aber ich bin auch etwas nervös.«
»Sie wollen verreisen?«
»Ich ziehe mich nur zurück in meine Wohnung.«
»Ich werde nicht weiter stören«, entschuldigte sich Mike Rander. Er grüßte und verließ die Tür. Auf der Straße angekommen, wandte er sich nach links und ging die steile Straße hinunter.
Er war sicher, von der blonden, jungen Dame beobachtet zu werden. Deshalb bezwang er auch seinen Wunsch, sich umzuwenden und das Fenster zu beobachten. Die junge Dame sollte glauben, er warte nicht in der Nähe des Hauses, sondern gehe wirklich.
In einer Seitenstraße hielt Mike Rander Ausschau nach einem Taxi. Er unterdrückte einen Fluch. Gerade jetzt, wo er solch einen Wagen brauchte, war kein Taxi zu sehen. Und er brauchte unbedingt einen Wagen, um die junge Dame aus Carpenters Wohnung verfolgen zu können. Er wußte nicht, wer sie war, welche Rolle sie spielte. Er spürte nur, daß er sie nicht aus den Augen verlieren durfte. Alles, was mit dem Mord an Carpenter auch nur entfernt zusammenhing, mußte beobachtet werden.
Er wandte sich an einen dicklichen, gemütlich aussehenden Mann, der mit zwei großen, schweren Koffern aus einem Schuhgeschäft herauskam. Wahrscheinlich ein Vertreter, der seine Musterkoffer verstauen wollte.
»Können Sie mir helfen?« fragte Rander.
»Sagen Sie mir erst, wie diese Hilfe aussehen soll.«
»Meine Freundin zieht um. Sie will mir nicht sagen, wohin.«
»Ihr Pech.« Der Vertreter lächelte.
»Ich erstatte Ihnen alle Auslagen, wenn Sie ihr nachfahren. Zusammen mit mir.«
»Soll das ein fauler Witz sein?« fragte der Vertreter mißtrauisch.
»Hier, meine Karte«, sagte Rander und überreichte dem Vertreter seine Visitenkarte. Dazu packte er einen 20-Dollar-Schein.
»Sieht gut aus«, meinte der Vertreter.
»Sieht noch besser für Sie aus, wenn Sie sich beeilen. Es wird nur ein paar Minuten dauern, bis ich in ein Taxi umsteigen kann.«
»Schön, fahren wir los«, erwiderte der dickliche Mann und grinste vertraulich. »Man ist ja kein Unmensch.«
Es klappte wie am Schnürchen.
Der Wagen bog in die Mason Street ein. In diesem Augenblick stieg die blonde Helen Angus in einen Ford und fuhr los. Rander erkannte sie trotz der Entfernung an ihrem Haar.
»Der Ford ist es«, rief Mike Rander, der vom Jagdfieber erfaßt wurde. »Lassen Sie sich nicht abschütteln!«
»Mann, ich bin Vertreter«, sagte der Dickliche und schnaufte empört. »Wer mich abschüttelt, der muß erst noch geboren werden …«
*
»Aussteigen, Alter, Sie haben es geschafft.«
Parker ächzte, als er sich in Bewegung setzte und aus dem Wagen stieg. Er war schwach in den Beinen und mußte sich am Wagenschlag festhalten. Seine rechte Hand umklammerte den Bambusgriff des Universal-Regenschirms. Parker sah sehr mitgenommen aus.
Der Gangster mit dem groben Gesicht grinste unverhohlen. Er wies auf eine Tür, die sich am Ende einer Tiefgarage befand, in die sie hineingefahren waren.
»Werden Sie den kleinen Fußmarsch noch schaffen?« fragte er dann.
»Langsam, etwas langsamer, bitte.« Kraftlos klang die Stimme des Butlers. Immer wieder kleine Verschnaufpausen einlegend, schritt Parker auf die Tür zu.
Hinter der Eisentür, die von dem Fahrer des Wagens aufgeschlossen wurde, befand sich der eigentliche Lagerkeller. Auch hier Fässer, Kisten, Langholz und Baumwollballen. Gleich hinter dem Eingang gab es einen Lastenaufzug. Die seitliche Sicherung bestand aus grobem Maschendraht.
Parker schreckte zurück, als er diesen Lastenaufzug betreten sollte. Der Gangster hinter ihm versetzte ihm einen Stoß. Der Butler stolperte und hielt sich am Maschendraht fest. Wirklich, er sah unglücklich und hilflos aus.
Sie fuhren hinauf ins Erdgeschoß.
Durch blau gestrichene Scheiben sickerte Licht in die große Lagerhalle. Hohl klangen die Schritte der drei Männer wider. Sonst war es unheimlich still. Parker wurde durch eine Art Schlucht geführt, die von hochragenden Baumwollballen gebildet wurde.
Er blieb stehen und schnappte keuchend nach Luft.
»Einen kleinen Moment, mein Herz.«
»Der klappt uns zusammen, bevor wir beim Chef sind«, sagte der Gangster mit dem groben Gesicht.
»Laß ihn«, gab der Fahrer zurück. Er zeigte sich von Parkers Gesundheitszustand doch etwas beeindruckt.
»Es geht schon wieder«, murmelte der Butler. Es ging so lange, bis er in einem kleinen, niedrigen Büroraum auf einen Stuhl fallen konnte. Er stützte sich auf seinen Universal-Regenschirm auf.
Der Fahrer verließ den Raum. Seine Schritte waren nach wenigen Sekunden schon nicht mehr zu hören.
Parker sah durch das einzige Fenster des Raumes hinaus auf den Hafen. Barkassen schossen umher, ein paar Frachter wurden in das große Hafenbecken gelotst. Längs eines Kai waren weit ausladende Kräne in Aktion. Sie leichterten festgemachte Frachter. Rechts im Hintergrund war die erregend geschwungene Linie der San Francisco-Oakland-Brücke zu sehen. Die Fahrzeuge darauf waren nicht größer als Miniaturspielzeug.
Der Gangster mit dem grob geschnittenen Gesicht zündete sich eine Zigarette an. Er lehnte an der Wand und langweilte sich. Auf Parker achtete er kaum. Er dachte wohl, daß ein müder, matter Mann keine Gefahr bedeutete.
»Werde ich lange bleiben müssen?« fragte Parker ihn.
»Kommt darauf an, wie schnell Sie reden, Alter.«
»Worüber soll ich sprechen?« erkundigte sich der Butler. »Wer interessiert sich für mich?«
»Der Chef.«
»Kenne ich ihn?«
»Bestimmt nicht, Alterchen. Aber Sie werden ihn gleich kennenlernen. Und ich rate Ihnen, schnell und offen zu reden. Der Chef ist verdammt ungeduldig.« Die Stimme kam von der Tür her.
»Und ob er das ist!«
Sie hatte sich unhörbar geöffnet. Halb verdeckt von dem Fahrer war ein schlanker, mittelgroßer Mann von etwa 48 bis 50 Jahren zu sehen. Er trug einen grauen Hut, einen grauen, sehr gut geschnittenen und wahrscheinlich auch teuren Anzug und eine Sonnenbrille, die hier in dem düsteren Raum bestimmt nicht angebracht war.
»Parker mein Name«, stellte sich der Butler vor. »Josuah Parker. Ich hoffe, Ihnen helfen zu können.«
»Wo ist die Brieftasche?«
Rund heraus und direkter hätte die Frage gar nicht ausfallen können. Der Mann mit der Sonnenbrille wußte, worauf es ankam. Er wußte auch, was er wollte. Seine Stimme klang hart und drohend.
»Die Brieftasche?« wiederholte Parker in einem Ton, als müsse er sich mühsam erinnern.
»Spielen Sie mir kein Theater vor«, herrschte ihn der Mann an. »Sie wissen genau, daß ich die Brieftasche von Carpenter meine. Ich weiß, daß Sie Hausdetektiv im ›Jackson‹ sind. Sie sehen«, er lächelte dünn und schneidend, »ich bin erstklassig informiert. Sie haben Carpenter gefunden. Sie müssen wissen, wer die Brieftasche hat. Vielleicht haben Sie sie sogar eingesteckt, oder?«
»Ein Mißverständnis, ein grenzenloses Mißverständnis«, antwortete Parker höflich. »Gewiß, ich bin Hausdetektiv im ›Jackson‹. Das wage ich nicht abzustreiten, Sir. Ich habe auch jenen Mann gefunden, den man erhängt hat. Carpenter ist wohl sein Name. Aber von einer Brieftasche weiß ich nichts.«
»Soll ich die Wahrheit aus Ihnen herausprügeln lassen? Kostet mich nur ein Fingerschnipsen, Parker! Wer weiß, vielleicht geht Carpenters Ermordung sogar auf Ihr Konto.«
»Sie überschätzen meine Fähigkeiten«, verwahrte Parker sich gegen diese Unterstellung. »Ich habe den Toten gefunden. Aber eine Brieftasche fand ich nicht in seinen Taschen.«
»Was denn sonst, he?«
»Nichts, würde ich sagen.«
»Und wie haben Sie erfahren, wo Carpenter wohnt, he?« Die Stimme des Sonnenbrillenträgers troff von Hohn. »Wie kamen Sie an die Adresse? Was wollten Sie von Carpenters Nichte?«
»Ich wollte ihr, ob Sie es nun glauben oder nicht, Sir, mein Beileid und Mitgefühl ausdrücken.«
»Dreht ihn durch den Wolf, bis er die Wahrheit sagt«, kommandierte der Mann gereizt. »Wollen doch mal sehen, wer den längeren Arm hat.«
Parker seufzte, als die beiden Gangster langsam auf ihn zukamen. Er übersah nicht die Gummischläuche, die sie plötzlich in ihren Händen hatten. Wozu sie dienen sollten, war ihm ebenfalls klar. Kurz, Josuah Parker war wieder einmal in Schwierigkeiten geraten …
*
In der Langton Street endete die kurze Verfolgungsjagd, von der die blonde junge Dame in ihrem Ford bestimmt nichts geahnt hatte. Sie hielt vor einem großen Gebäudekomplex, in dessen Erdgeschoß Geschäfte untergebracht waren.
Da sich in der Nähe ein Taxistand befand, konnte Mike Rander ohne Besorgnis aussteigen. Der dickliche Vertreter bedauerte das fast.
»Schade, daß wir uns schon trennen«, meinte er. »Die Sache wurde richtig spannend. Ich habe mich wie ein Privatdetektiv gefühlt.«
»So ähnlich komme auch ich mir vor«, erwiderte der junge Anwalt. »Obwohl die es vielleicht raffinierter angestellt hätten als wir.«
»Muß ich Ihnen auf den Schein was ’rausgeben?« wollte der Vertreter wissen.
»Nicht einen Cent.« Mike Rander winkte ab. »Sie ahnen nicht, wie sehr Sie mir aus der Patsche geholfen haben.«
Er wartete, bis der Vertreter samt seinen Musterkoffern im Straßenverkehr verschwunden war. Dann schlenderte Rander auf den Taxistand zu und stellte sich hier in der Nähe vor ein Schaufenster. Von seinem Platz aus konnte er den Ford gut beobachten. Fuhr die junge Dame weiter, brauchte er sich nur in ein Taxi zu setzen. Jetzt hatte sie keine Chance mehr, ihn loszuwerden.