Читать книгу Soll und Haben, Bd. 1 (2) - Gustav Freytag - Страница 8
Erstes Buch
VII
ОглавлениеAnton stand unter der gemeinsamen Oberhoheit der Herren Jordan und Pix und entdeckte bald, daß er die Ehre hatte, kleiner Vasall eines großen Staatskörpers zu sein. Was die unerfahrene Außenwelt höchst oberflächlich unter dem Namen Commis zusammenfaßt, das waren für ihn, den Eingeweihten, sehr verschiedene, zum Theil Ehrfurcht gebietende Aemter und Würden. Der Buchhalter, Herr Liebold, thronte als geheimer Minister des Hauses an einem Fenster des zweiten Comtoirs in einsamer Majestät und geheimnißvoller Thätigkeit. Unaufhörlich schrieb er Zahlen in ein ungeheures Buch, und sah nur selten von seinen Ziffern auf, wenn sich ein Sperling auf die Gitterstäbe des Fensters setzte, oder wenn ein Sonnenstrahl die eine Fensterecke mit gelbem Glanze überzog. Herr Liebold wußte, daß der Sonnenstrahl nach den alterthümlichen Gesetzen des Universums in keiner Jahreszeit weiter dringen durfte, als bis zur Spitze des Fensterbrets, aber er konnte sich doch nicht enthalten, ihm plötzliche Ueberfälle auf das Hauptbuch zuzutrauen, und beobachtete ihn deßhalb mit argwöhnischen Blicken.
Mit der Ruhe seiner Ecke contrastirte die ewige Rührigkeit in der entgegengesetzten. Dort waltete in besonderem Verschlage der zweite Würdenträger, der Cassirer Purzel, umgeben von eisernen Geldkasten, schweren Geldschränken und einem großen Tisch mit einer Steinplatte. Auf diesem Tisch klangen die Thaler, klirrte das goldene Blech der Ducaten, flatterte geräuschlos das graue Papiergeld vom Morgen bis zum Abend. Wer die Pünktlichkeit als allegorische Figur in Oel malen wollte, der mußte ohne Widerrede Herrn Purzel abmalen und durfte höchstens das antike Costüm dadurch andeuten, daß er mit künstlerischer Licenz Herrn Purzel die Strümpfe über die Stiefeln und das weiße Oberhemd über den Comtoirrock herüber malte. Alles hatte in der Seele des Herrn Purzel eine eisenfeste unveränderliche Stellung, unser Herrgott, die Firma, der große Geldkasten, der Wachsstock, das Petschaft. Jeden Morgen, wenn der Cassirer in seinen Verschlag getreten war, begann er seine Amtsthätigkeit damit, daß er die Kreide ergriff und einen weißen Punkt auf den Tisch malte, um der Kreide selbst die Stelle zu bezeichnen, wo sie sich den Tag über aufzuhalten hatte. Er stand nicht allein in seiner wichtigen Amtsthätigkeit. Ein alter Hausdiener war seine Ordonnanz, die als Ausläufer mit Geldsäcken und Papiergeld den Tag über nach allen Richtungen der Stadt trabte. Es ist wahr, daß die Ordonnanz an der Eigenthümlichkeit litt, gegen Abend sehr feurig auszusehen und in einer persönlichen Abhängigkeit von starkem Getränk zu stehen. Aber diese Eigenschaft vermochte nicht ihre Treue und Besonnenheit zu erschüttern, ja sie schärfte die Erfindungskraft der Ordonnanz, denn nie hat eines Menschen Gewand so viele geheime Taschen mit Knöpfen und Schnallen gehabt, als der Rock des Ausläufers, und nach jedem Glase, das er getrunken, steckte er die Banknoten in einen noch geheimeren Verschluß.
In dem vordern Comtoir war Herr Jordan die erste Person, der Generalstatthalter seiner kaiserlichen Firma. Er war der Aristo der Correspondenten, erster Commis des Hauses, hatte die Procura und wurde von dem Prinzipal zuweilen um seine Ansicht befragt. Er blieb für Anton, was er ihm schon am ersten Tage gewesen war, ein treuer Rathgeber, ein Muster von Thätigkeit, der gesunde Menschenverstand in Person.
Von den Correspondenten des Comtoirs, welche unter Anführung des Herrn Jordan Briefe schrieben und Bücher führten, war für Anton neben Herrn Specht, dem Sanguiniker, am interessantesten Herr Baumann, der künftige Apostel der Heiden. Der Missionär war nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein sehr guter Rechner. Er war untrüglich in allen Reductionen von Maß und Gewicht, warf die Preise der Waaren aus und besorgte die Calculatur des Geschäftes. Er wußte mit Bestimmtheit anzugeben, nach welchem Münzfuß die Mohrenfürsten an der Goldküste rechneten, und wie hoch der Curs eines preußischen Thalers auf den Sandwichinseln war. Herr Baumann war Antons Stubennachbar und fühlte sich durch die gute Art unseres Helden so angezogen, daß er ihm in kurzer Zeit seine Neigung zuwandte und in den Abendstunden zuweilen seinen Besuch gönnte. Den Uebrigen stand er fern und ertrug mit christlicher Geduld ihre Spöttereien über seine Pläne.
Auch außerhalb des Hauses hatte die Firma noch einige Würdenträger. Da war Herr Birnbaum, der Zollcommis, welcher nur selten im Comtoir sichtbar wurde und nur des Sonntags am Tische des Prinzipals erschien, ein exacter Mann, der draußen auf dem Packhof herrschte. Er hatte die Zoll-Procura für die Geschäfte nach dem Auslande, das gewichtige Recht, den Namen T. O. Schröter unter die Begleitscheine des Hauses zu setzen. Wenn einer von den Herren der Handlung den Namen eines Beamten verdiente, so war es dieser Herr, er trug auch seinen Rock stets zugeknöpft, wie seine Freunde die Steuerofficianten. Ferner war da der Magazinier des Geschäftes, der die Controlle über die verschiedenen Magazine in der Stadt hatte, die Assecuranzen besorgte und auf dem Markte die großen Einkäufe in Landesproducten machte. Herr Balbus war durchaus kein feiner Mann, er war von Haus aus sehr arm, und seine Schulbildung war mangelhaft, aber der Prinzipal behandelte ihn mit großer Achtung. Anton erfuhr, daß er seine Mutter und eine kranke Schwester durch seinen Gehalt erhielt.
Aber die größte Thätigkeit unter Allen, eine kriegerische, wahrhaft absolute Feldherrnthätigkeit entwickelte Herr Pix, erster Disponent des Provinzialgeschäfts. An der Thür des vordern Comtoirs begann seine Herrschaft und erstreckte sich durch das ganze Haus, bis weit hinaus auf die Straße. Er war der Gott aller Kleinkrämer aus der Provinz, die ihre laufenden Rechnungen hatten, galt bei ihnen für den Chef des Hauses und erwies ihnen dafür die Ehre, sich um ihre Frauen und Kinder zu bekümmern. Er hatte die ganze Spedition der Handlung unter sich, regierte ein halbes Dutzend Hausknechte und eben so viele Auflader, schalt die Fuhrleute, kannte und wußte Alles, war immer auf dem Platz und verstand es, in demselben Augenblick einer Krämersfrau zur Entbindung ihrer Tochter zu gratuliren, einen Bettler gröblich anzufahren, einem Hausknecht Ordre zu geben und das Zünglein an der großen Waage zu beobachten. Wie alle hohen Herren, konnte auch er keinen Widerspruch vertragen und verfocht seine Ansicht selbst gegen den Prinzipal mit einer Hartnäckigkeit, welche unserm Anton einige Male Entsetzen erregte. Außerdem besaß Herr Pix als Geschäftsmann zwei Eigenschaften von wahrhaft wissenschaftlicher Bedeutung: er konnte von jedem Häufchen Kaffebohnen angeben, in welchem Lande dasselbe gewachsen war, und vermochte leere Räume im Hause und dessen Umgegend eben so wenig zu vertragen, wie die Luft und die Philosophie einen leeren Raum vertragen wollen. Wo ein Winkel, eine kleine Kammer, ein Treppenverschlag, ein Kellerloch aufzuspüren war, da siedelte sich Herr Pix mit Tonnen, Leiterbäumen, Stricken und allen erdenklichen Stoffen an, und wo er und seine Bande, die Riesen, sich einmal festgesetzt hatten, vermochte sie keine Gewalt der Erde zu vertreiben, selbst der Prinzipal nicht.
»Wo ist Wohlfart?« rief Herr Schröter aus der Thür des vordern Comtoirs in den Hausflur.
»Auf dem Boden,« antwortete Herr Pix kaltblütig.
»Was thut er dort?« frug der Prinzipal verwundert. – In demselben Augenblick hörte man oben im Hause lebhafte Stimmen, und Anton polterte die Treppe herunter, gefolgt von einem Hausknecht, beide beladen mit Cigarrenkisten, hinter ihnen die Tante, ein wenig erhitzt und sehr ärgerlich.
»Sie wollen uns oben nicht leiden,« sagte Anton eifrig zu Herrn Pix.
»Jetzt kommen sie uns schon auf den Wäschboden,« sagte die Tante eben so eifrig zum Prinzipal.
»Die Cigarren dürfen hier unten nicht stehn bleiben,« erklärte Herr Pix dem Prinzipal und der Tante.
»Unter den Wäschleinen dulde ich keine Cigarren!« rief die Tante; »kein Ort im Hause ist mehr sicher vor Herrn Pix. Auch in die Kammern der Dienstmädchen hat er Cigarren räumen lassen; die Mädchen klagen, daß sie es vor Tabakgeruch nicht mehr aushalten.«
»Es ist trocken dort oben,« sagte Herr Pix zum Prinzipal.
»Können Sie die Cigarren nicht irgend anderswo unterbringen?« frug der Prinzipal Herrn Pix rücksichtsvoll.
»Es ist unmöglich,« antwortete Herr Pix bestimmt.
»Haben Sie den ganzen Bodenraum zur Wäsche nöthig, liebe Tante?« frug der Prinzipal die Dame.
»Ich glaube, die Hälfte wäre genug,« warf Herr Pix dazwischen.
»Ich hoffe, Sie werden sich mit einer Ecke begnügen,« entschied der Prinzipal lächelnd. »Lassen Sie sogleich den Tischler einen Verschlag machen.«
»Wenn Herr Pix erst einmal auf dem Boden ist, so wird er unsere Wäsche ganz verdrängen,« klagte die erfahrene Tante.
»Es soll die letzte Bewilligung sein, die wir ihm machen,« beruhigte sie der Prinzipal.
Herr Pix lachte still, wie die Tante später behauptete, mit einem rebellischen Grinsen, und gab unserm Helden, sobald sich die beiden Autoritäten entfernt hatten, sofort den Befehl, mit den Kisten wieder hinauf zu ziehen.
Am größten aber war Herr Pix, so oft seine Vertrauten, die reisenden Commis des Geschäftes, auf kurze Zeit in die Handlung zurückkehrten. Dann setzte sich das Provinzialgeschäft im Hinterhause zusammen und verarbeitete die Neuigkeiten des Landes. Dann entfaltete Herr Pix seine genaue Bekanntschaft mit allen Geschäftsleuten der Provinz, mit ihren Vermögensverhältnissen und ihrer Gemüthsart und verfügte in kurzen, aber gewichtigen Worten, wie viel an Vertrauen und Credit den kleinen Handlungen zu schenken sei. Dann wurde Punsch getrunken und Solo gespielt, welches Spiel seines monarchischen Charakters wegen von Herrn Pix am meisten geschätzt wurde, doch behandelte er auch hier alle Compagniegeschäfte mit Verachtung.
Was aber Herrn Pix in dem Auge der Mitwelt das größte Ansehen gab, das waren die Riesen, welche um die große Waage herum nach seinem Befehle schalteten, hohe breitschultrige Männer mit herkulischer Kraft. Wenn sie die großen Tonnen zuschlugen und rollten und mit Centnern umgingen, wie gewöhnliche Menschen mit Pfunden, so erschienen sie dem neuen Lehrling wie die Ueberreste eines alten Volkes, von dem die Mährchen erzählen, daß es einst auf deutschem Boden gehaust und mit thurmhohen Felsblöcken Märmel gespielt habe. Bald merkte Anton, daß sie selbst nicht einem Stamme angehörten. Da waren zuerst sechs Hausknechte, alle von der Natur aus zähem Holz über Lebensgröße ausgeführt. Sie gehörten ganz der Handlung an, waren die regelmäßigen Untergebenen des schwarzen Pinsels, ja mehrere von ihnen wohnten im Hause selbst und hatten allnächtlich der Reihe nach die Wache. Von neun Uhr ab saß dann Pluto, der Newfoundländer des Fräulein, neben einer riesigen Gestalt schweigend im Schatten eines großen Fasses. Diese Hausknechte, wie groß sie auch waren und wie stark, sahen doch den Söhnen sterblicher Menschen noch in manchen Stücken ähnlich. Daneben aber bildeten die Auflader der Kaufmannschaft eine besondere Corporation, welche auf dem Packhof vor dem Thore ihr Hauptquartier hatte und von dort aus die Ladungen nach den großen Waarenhandlungen der Stadt schaffte oder abholte. Diese waren die mächtigsten unter den Riesen, und Einzelne unter ihnen von einer Körperkraft, wie sie in anderm Berufe nicht mehr gefunden wird. Sie hatten mit vielen Handlungen der Stadt zu thun, aber das alte angesehene Haus von T. O. Schröter war die irdische Stätte, auf der sie sich am liebsten herabließen, mit der kleinen Gegenwart zu verkehren. Seit mehr als einem Menschenalter war der Chef dieses Hauses der erste Vorstand ihrer Corporation gewesen. So hatte sich ein Clientenverhältniß zu der Firma gebildet. Herr Schröter empfing am Neujahr als Erster ihren Glückwunsch und wurde Pathe sämmtlicher Riesenkinder, welche im Lauf des Jahres bei ihrer Taufe die Arme der dienstthuenden Hebamme auf das Taufbecken hinunterdrückten und den Geistlichen durch ihre ungeheuren Köpfe so beunruhigten, daß er seine Stimme zur Stärke des Donners erhob, um den Teufel aus ihnen herauszutreiben.
Unter diesen Lederschürzen war Sturm, ihr Oberster, wieder der größte und stärkste, ein Mann, der enge Hintergassen vermied, um seine Kleider nicht auf beiden Mauerseiten zu reiben. Er wurde gerufen, wenn eine Last so schwer war, daß seine Kameraden sie nicht bewältigen konnten, dann stemmte er seine Schulter an und schob die größten Fässer weg, wie Holzklötzchen. Es ging von ihm die Sage, daß er einmal ein polnisches Pferd mit allen vier Beinen in die Höhe gehoben hätte, und Herr Specht behauptete, es gebe für ihn nichts Schweres auf der Erde. Ueber seinem großen Körper glänzte ein breites Gesicht von natürlicher Gutherzigkeit, welche nur durch die Würde gebändigt wurde, die ein Mann von seiner Stellung besitzen mußte.
Er stand zur Firma in einem besonders freundschaftlichen Verhältniß und besaß ein einziges Kind, an dem er mit großer Zärtlichkeit hing. Der Knabe hatte seine Mutter früh verloren, und der Vater hatte ihn als funfzehnjährigen Burschen in der Handlung von T. O. Schröter untergebracht in einer eigenthümlichen Stellung, die er selbst für ihn ausgedacht. Karl Sturm war unter den Hausknechten ungefähr dasselbe, was Fink im Comtoir war, ein Volontair, er trug seine Lederschürze und seinen kleinen Haken, wie der Vater, und war durch eignes Verdienst zu einem ausgedehnten Wirkungskreis gekommen. Er genoß das Vertrauen aller Mitglieder der Handlung, wußte in jedem Winkel des Hauses Bescheid, sammelte alle Bindfaden und Schnüre, alle Nägel und alle Faßdauben, hob alles Packpapier auf, fütterte den Pluto und unterstützte den Bedienten beim Stiefelputzen. Er konnte genau angeben, wo irgend eine Tonne, ein Bret, ein alter Waarenrest lag. Wenn ein Nagel einzuschlagen war, so wurde Karl gerufen; so oft ein Stemmeisen verlegt war, Karl wußte es zu schaffen; wenn die Tante den Wintervorrath von Schinken und Würsten aufhob, so verstand Karl am besten, diese Schätze einzupacken, und wenn Herr Schröter eine schnelle Bestellung auszurichten hatte, so war Karl der zuverlässigste Bote. Zu Allem anstellig, immer guter Laune und nie um Auskunft verlegen, war er ein Günstling aller Parteien, die Auflader nannten ihn »unser Karl,« und der Vater wandte sich oft von seiner Arbeit ab, um einen heimlichen Blick voll Stolz auf den Knaben zu werfen.
Nur in einem Punkt war er nicht mit ihm zufrieden: Karl gab keine Hoffnung, seinem Vater in Größe und Stärke gleich zu werden. Er war ein hübscher Bursch mit rothen Wangen und blondem Kraushaar, aber nach dem Gutachten aller Riesen war für seine Zukunft keine andere als eine mäßige Mittelgröße zu erwarten. So kam es, daß der Vater ihn als eine Art Zwerg behandelte, mit unaufhörlicher Schonung und nicht ohne Wehmuth. Er verbot seinem Sohne, beim Aufladen schwerer Frachtgüter anzugreifen, und wenn er plötzlich von einem Vatergefühl ergriffen wurde, so legte er die Hand vorsichtig auf den Kopf seines Karls in der unbestimmten Furcht, daß die Köpfe von Zwergen nur die Dicke einer Eierschale hätten und bei einem kräftigen Druck zerbrechen müßten.
»Es ist einerlei, was das Ding lernt,« sagte er zu Herrn Pix, als er den Knaben nach der Confirmation im Geschäft einführte, »wenn er nur Zweierlei lernt: ehrlich sein und praktisch sein.« Diese Rede war ganz nach dem Herzen des Herrn Pix. Und der Vater fing seine Lehre auf der Stelle damit an, daß er den Sohn in das große Gewölbe unter die offenen Vorräthe führte und zu ihm sagte: »Hier sind die Mandeln, und hier die Rosinen; diese in dem kleinen Faß schmecken am besten, koste einmal.«
»Sie schmecken gut, Vater,« rief Karl vergnügt.
»Ich denk's, Liliputer,« nickte der Vater. »Sieh, aus allen diesen Fässern kannst du essen, so viel du willst, kein Mensch wird dir's wehren; Herr Schröter erlaubt dir's, Herr Pix erlaubt dir's, ich erlaube dir's. Jetzt merke auf, mein Kleiner. Jetzt sollst du probiren, wie lange du vor diesen Tonnen stehen kannst, ohne hineinzugreifen. Je länger du's aushältst, desto besser für dich; wenn du's nicht mehr aushalten kannst, kommst du zu mir und sagst: es ist genug. Das ist gar kein Befehl für dich, es ist nur wegen dir selber und wegen der Ehre.« So ließ der Alte den Knaben allein, nachdem er seine große dreischalige Uhr herausgezogen und auf eine Kiste neben ihn gelegt hatte. »Versuch's zuerst mit einer Stunde,« sagte er im Weggehen, »geht's nicht, so schadet's auch nicht. Es wird schon werden.« Der Junge steckte trotzig die Hände in die Hosentaschen und ging zwischen den Fässern auf und ab. Nach Verlauf von mehr als zwei Stunden kam er die Uhr in der Hand zum Vater heraus und rief: »Es ist genug.«
»Zwei und eine halbe Stunde,« sagte der alte Sturm und winkte vergnügt Herrn Pix zu. »Jetzt ist's gut, Kleiner, jetzt brauchst du den übrigen Tag nicht mehr in das Gewölbe zu gehen. Komm her, du sollst diese Kiste zusammenschlagen; hier ist ein neuer Hammer für dich, er kostet zehn Groschen.«
»Er ist nur acht werth,« sagte Karl den Hammer betrachtend, »du kaufst immer zu theuer.«
So wurde Karl eingeführt. Am ersten Morgen, nachdem Anton gekommen war, sagte Karl zu seinem Vater im Hausflur: »Es ist ein neuer Lehrling da.«
»Was ist's für einer?« frug der Alte.
»Er hat einen grünen Rock und graue Hosen, es ist Mitteltuch; er ist nur wenig größer als ich. Er hat schon mit mir gesprochen, es scheint ein guter Kerl. Gieb mir dein Taschenmesser, ich muß ihm einen neuen Holznagel in seinen Kleiderschrank schneiden.«
»Mein Messer, du Knirps?« rief Sturm auf seinen Sohn heruntersehend mit tadelnder Stimme, »du hast ja dein eigenes.«
»Zerbrochen,« sagte Karl unwillig.
»Wer hat's gekauft?« frug Sturm.
»Du hast's gekauft, Vater Goliath; es war ein erbärmliches Ding, wie für ein Wickelkind.«
»Ich konnte dir doch kein schweres kaufen für deine kleine Hand?« frug der Vater gekränkt.
»Da haben wir's,« sagte Karl, sich vor den Vater hinstellend, »wenn man dich hört, muß man glauben, ich wäre eine Kaulquabbe von Gassenjungen, die ihre Hosen noch an die Jacke knöpft und hinten ein weißes Schwänzchen trägt.«
Die Auflader lachten. »Sei nicht aufsätzig gegen deinen Vater,« sagte Sturm und legte seine Hand behutsam auf den Kopf seines Sohnes.
»Sieh, Vater, da ist der Lehrling,« rief Karl und betrachtete Anton, der jetzt für ihn zum Inventarium des Hauses gehörte, mit prüfenden Blicken.
Herr Pix stellte Anton dem Riesen vor, und Anton sagte wieder mit Achtung zu dem Riesen aufsehend: »Ich war noch nie in einem Geschäft, ich bitte auch Sie, mir zu helfen, wo ich nicht Bescheid weiß.«
»Alles Ding will gelernt sein,« erwiederte der Riese mit Würde. »Da ist mein Kleiner hier, der hat in einem Jahre schon hübsch etwas losgekriegt. Also Ihr Vater ist nicht Kaufmann?«
»Mein Vater war Beamter, er ist gestorben,« erwiederte Anton.
»Oh, das thut mir leid,« sagte der Auflader mit betrübtem Gesicht. »Aber Ihre Frau Mutter kann sich doch über Sie freuen.«
»Sie ist auch gestorben,« sagte Anton wieder.
»Oh, oh, oh!« rief der Riese bedauernd und sann erstaunt über das Schicksal Antons nach. Er schüttelte lange den Kopf und sagte endlich mit leiser Stimme zu seinem Karl: »Er hat keine Mutter mehr.«
»Und keinen Vater,« erwiederte Karl ebenso.
»Behandle ihn gut, Liliputer,« sagte der Alte, »du bist gewissermaßen auch eine Waise.«
»Na,« rief Karl, auf die Schürze des Aufladers schlagend, »wer einen so großen Vater hat, der hat Sorge genug.«
»Weißt du, was du bist? Du bist ein kleines Ungethüm,« sagte der Vater und schlug lustig mit dem Schlägel auf die Reifen eines Fasses.
Seit der Zeit schenkte Karl dem neuen Lehrling seine Gunst. Wenn er am Morgen auf die Stiefelsohlen desselben Nr. 14 geschrieben hatte, so stellte er die Stiefeln mit besonderer Sorgfalt zur Seite; er nähete ihm abgerissene Knöpfe an die Kleider und war, so oft Anton an der Waage zu thun hatte, dienstbeflissen an seiner Seite, ihm etwas zuzureichen und die kleineren Gewichte auf die Waage zu heben. Anton vergalt diese Dienste durch freundliches Wesen gegen Vater und Sohn, er unterhielt sich gern mit dem aufgeweckten Burschen und wurde der Vertraute von manchen kleinen Liebhabereien des Praktikers. Und als die nächste Weihnacht herankam, veranstaltete er bei den Herren vom Comtoir eine Geldsammlung, kaufte einen großen Kasten mit gutem Handwerkszeug und machte dadurch Karl zu dem glücklichsten aller Sterblichen.
Aber auch mit allen gebietenden Herren der Handlung stand Anton auf gutem Fuß. Er hörte die verständigen Urtheile des Herrn Jordan mit großer Achtung an, bewies Herrn Pix einen aufrichtigen und unbedingten Diensteifer, ließ sich von Herrn Specht in politischen Combinationen unterrichten, las die Missionsberichte, welche ihm Herr Baumann anvertraute, erbat sich von Herrn Purzel niemals Vorschüsse, sondern wußte mit dem Wenigen auszukommen, was ihm sein Vormund senden konnte, und ermunterte oft durch seine lebhafte Beistimmung Herrn Liebold, irgend eine unzweifelhafte Wahrheit auszusprechen und dieselbe nicht durch sofortigen Widerruf zu vernichten. Mit sämmtlichen Herren der Handlung stand er auf gutem Fuß, nur mit einem einzigen wollte es ihm nicht glücken, und dieser eine war der Volontair des Geschäfts.
An einem Nachmittage sah das Comtoir in der Dämmerung grau und unheimlich aus, melancholisch tickte die alte Wanduhr und jeder Eintretende brachte eine Wolke feuchter Nebelluft in das Zimmer, welche den Raum nicht anmuthiger machte. Da gab Herr Jordan unserm Helden den Auftrag, in einer andern Handlung eine schleunige Besorgung auszurichten. Als Anton an das Pult des Procuristen trat, um den Brief in Empfang zu nehmen, sah Fink von seinem Platz auf und sagte zu Jordan: »Schicken Sie ihn doch gleich einmal zum Büchsenmacher, der Taugenichts soll ihm mein Gewehr mitgeben.«
Unserm Helden schoß das Blut in's Gesicht, er sagte eifrig zu Jordan: »Geben Sie mir den Auftrag nicht, ich werde ihn nicht ausrichten.«
»So?« frug Fink und sah verwundert auf: »und warum nicht, mein Hähnchen?«
»Ich bin nicht Ihr Diener,« antwortete Anton erbittert. »Hätten Sie mich gebeten, den Gang für Sie zu thun, so würde ich ihn vielleicht gemacht haben, aber einem Auftrage, der mit solcher Anmaßung gegeben ist, folge ich nicht.«
»Einfältiger Junge,« brummte Fink und schrieb weiter.
Das ganze Comtoir hatte die schmähenden Worte gehört, alle Federn hielten still, und alle Herren sahen auf Anton. Dieser war in der größten Aufregung, er rief mit etwas bebender Stimme, aber mit blitzenden Augen: »Sie haben mich beleidigt, ich dulde von Niemandem eine Beleidigung, am wenigsten von Ihnen. Sie werden mir heut Abend darüber eine Erklärung geben.«
»Ich prügele Niemanden gern,« sagte Fink friedfertig, »ich bin kein Schulmeister und führe keine Ruthe.«
»Es ist genug,« rief Anton todtenbleich, »Sie sollen mir Rede stehen,« ergriff seinen Hut und stürzte mit dem Briefe des Herrn Jordan hinaus.
Draußen rieselte ein kalter Regen herunter, Anton merkte es nicht. Er fühlte sich vernichtet, gehöhnt von einem Stärkeren, tödtlich gekränkt in seinem jungen, harmlosen Selbstgefühl. Sein ganzes Leben schien ihm zerstört, er kam sich hülflos vor auf seinen Wegen, allein in einer fremden Welt. Gegen Fink empfand er etwas, was halb glühender Haß war, und halb Bewunderung; der freche Mensch erschien ihm auch nach dieser Beleidigung so sicher und überlegen. Es wurde ihm schwer um's Herz, und seine Augen füllten sich mit Thränen. So kam er an das Haus, wo er seinen Auftrag auszurichten hatte. Vor der Thür hielt der Wagen seines Prinzipals, er huschte mit niedergeschlagenen Augen vorbei und hatte kaum Fassung genug, in dem fremden Comtoir sein Unglück zu verbergen. Als er wieder herauskam, traf er im Hausflur mit der Schwester seines Prinzipals zusammen, welche im Begriff war, in den Wagen zu steigen. Er grüßte und wollte neben ihr vorbeistürzen, Sabine blieb an dem Hausflur stehen und sah ihn an. Der Bediente war nicht zur Stelle, der Kutscher sprach vom Bock nach der andern Seite herab laut mit einem Bekannten. Anton trat herzu, rief den Kutscher an, öffnete den Schlag und hob das Fräulein in den Wagen. Sabine hielt den Schlag zurück, den er zuwerfen wollte, und blickte ihm fragend in das verstörte Gesicht. »Was fehlt Ihnen, Herr Wohlfart?« frug sie leise.
»Es wird vorübergehen,« erwiederte Anton mit zuckender Lippe und einer Verbeugung und schloß die Wagenthür. Sabine sah ihn noch einen Augenblick schweigend an, dann neigte sie sich gegen ihn und zog sich zurück, der Wagen fuhr davon.
So unbedeutend der Vorfall war, er gab doch den Gedanken Antons eine andere Richtung. Sabinens Frage und ihr Gruß waren in diesem Augenblick eine Beschwörung seiner Muthlosigkeit. In ihrer dankenden Verbeugung lag Achtung, und ein menschlicher Antheil in ihren Worten. Die Frage, der Gruß, der kleine Ritterdienst, den er der jungen Herrin des Hauses geleistet hatte, erinnerten ihn, daß er kein Kind sei, nicht hülflos, nicht schwach und nicht allein. Ja auch in seiner bescheidenen Stellung genoß er die Achtung Anderer, und er hatte ein Recht darauf, und er hatte die Pflicht, sich diese Achtung zu bewahren. Er erhob sein Haupt, und sein Entschluß stand fest, lieber das Aeußerste zu thun, als den Schimpf zu ertragen. Er hielt die Hand in die Höhe, wie zum Schwur.
Als er in das Comtoir zurückkam, richtete er mit entschiedenem Wesen seine Besorgung aus, ging schweigend und unbekümmert um die neugierigen Blicke der Herren an seinen Platz und arbeitete weiter.
Nach dem Schluß des Comtoirs eilte er auf Jordans Zimmer. Er fand bereits die Herren Pix und Specht daselbst vor, in dem gemüthlichen Eifer, welchen jede solche Scene bei Unbetheiligten zu erzeugen pflegt. Die drei Herren sahen ihn zweifelhaft an, wie man einen armen Teufel ansieht, der vom Schicksal mit Fäusten geschlagen ist, etwas verlegen, etwas mitleidig, ein wenig verächtlich. Anton sagte mit einer Haltung, die in Betracht seiner geringen Erfahrung in Ehrensachen anerkennenswerth war: »Ich bin von Herrn von Fink beleidigt worden und habe die Absicht, mir diese Beleidigung nicht gefallen zu lassen. Sie Beide, Herr Jordan und Herr Pix, sind im Geschäft meine Vorgesetzten, und ich habe große Achtung vor Ihrer Erfahrung. Von Ihnen wünsche ich vor Allem zu wissen, ob Sie in dem Streite selbst mir vollkommen Recht geben.«
Herr Jordan schwieg vorsichtig, aber Herr Pix zündete entschlossen eine Cigarre an, setzte sich auf den Holzkorb am Ofen und erklärte: »Sie sind ein guter Kerl, Wohlfart, und Fink hat Unrecht, das ist meine Meinung.«
»Meine Meinung ist es auch,« stimmte Herr Specht bei.
»Es ist gut, daß Sie sich an uns gewandt haben,« sagte Herr Jordan; »ich hoffe, der Streit wird sich beilegen lassen; Fink ist oft rauh und kurz angebunden, aber er ist nicht malitiös.«
»Ich sehe nicht ein, wie die Beleidigung ausgeglichen werden kann, wenn ich nicht die nöthigen Schritte thue,« rief Anton finster.
»Sie wollen den Streit doch nicht vor den Prinzipal bringen?« frug Herr Jordan mißbilligend, »das würde allen Herren unangenehm sein.«
»Mir am meisten,« erwiederte Anton; »ich weiß, was ich zu thun habe, und wünsche nur vorher noch von Ihnen die Erklärung, daß Fink mich unwürdig behandelt hat.«
»Er ist Volontair,« sagte Herr Jordan, »und hat kein Recht, Ihnen Aufträge zu geben, am wenigsten in seinen Privatgeschäften mit Hasen und Rebhühnern.«
»Das genügt mir,« sagte Anton, »und jetzt bitte ich Sie, Herr Jordan, mich einen Augenblick unter vier Augen anzuhören.« Er sagte das mit so viel Ernst, daß Herr Jordan stillschweigend die Thür seiner Schlafkammer aufmachte und mit ihm eintrat. Hier ergriff Anton die Hand des Procuristen, drückte sie kräftig und sprach: »Ich bitte Sie um einen großen Dienst, gehen Sie hinab zu Herrn von Fink und fordern Sie von ihm, daß er mir morgen, in Gegenwart der Herren vom Comtoir, das abbittet, was er von beschimpfenden Ausdrücken gegen mich gebraucht hat.«
»Das wird er schwerlich thun,« sagte Herr Jordan kopfschüttelnd.
»Wenn er es nicht thut,« sagte Anton heftig, »so fordern Sie ihn von mir auf Degen oder Pistolen.«
Wenn vor Herrn Jordan plötzlich aus seiner Tintenflasche ein schwarzer Rauch gestiegen wäre, wenn dieser Rauch sich zu einem fürchterlichen Geiste zusammengeballt hätte, wie in jenem alten Märchen, und wenn dieser Geist die Absicht ausgesprochen hätte, Herrn Jordan sofort zu erdrosseln, so hätte dieser Herr nicht bestürzter dastehen können, als er jetzt unserm Helden gegenüberstand. »Sie sind des Teufels, Wohlfart,« rief er endlich, »Sie wollen sich mit Herrn von Fink duelliren, und er ist ein toller Pistolenschütz, und Sie sind Lehrling und erst seit einem halben Jahr im Geschäft, das ist ja unmöglich!«
»Ich bin Primaner gewesen, und habe mein Abiturientenexamen gemacht, und wäre jetzt Student, wenn ich nicht vorgezogen hätte, Kaufmann zu werden! – Verwünscht sei das Geschäft, wenn es mich so erniedrigt, daß ich meinen Feind nicht mehr fordern darf. Ich gehe dann noch heut zu Herrn Schröter und erkläre ihm meinen Austritt,« rief Anton mit flammenden Augen.
Herr Jordan sah mit größtem Erstaunen auf seinen gutmüthigen Schüler, der auf einmal als phantastischer Riese vor ihm umher flackerte. »Seien Sie nur nicht so heftig, lieber Wohlfart,« bat er begütigend, »ich werde zu Fink hinuntergehen, vielleicht läßt sich Alles im Guten ausgleichen.«
»Ich verlange Abbitte vor dem Comtoir,« rief Anton wieder, »Abbitte oder Satisfaction.«
Es war wohlthuend, unterdeß die beiden Herren in der Nebenstube zu beobachten. Pix hatte als kluger Feldherr mit einem Ruck seinen Holzkorb in die Nähe der Kammerthür geschoben und saß scheinbar gleichgültig da, nur mit seiner Cigarre beschäftigt, während Herr Specht sich nicht enthalten konnte, das Ohr an die Thüre zu legen. »Sie schießen sich,« flüsterte Herr Specht, entzückt über die großen Empfindungen, welche dieser Streit hervorzurufen versprach. »Passen Sie auf, Pix, es wird ein furchtbares Unglück; wir Alle müssen zum Begräbniß gehen, Keiner darf fehlen. Ich wirke die Erlaubniß aus, daß wir Junggesellen die Leiche tragen dürfen.«
»Wessen Leiche?« frug Herr Pix verwundert.
»Wohlfart muß daran glauben,« rief Herr Specht wieder in dumpfem Flüsterton.
»Unsinn,« sagte Herr Pix, »Sie sind ein Narr!«
»Ich bin kein Narr, und ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten,« rief Herr Specht wieder flüsternd und nach dem Beispiel Antons entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen.
»Schreien Sie mir nicht so in's Ohr,« sagte Herr Pix unbewegt, »man kann nichts verstehen.« In dem Augenblick öffnete sich die Thür, Herr Specht sprang an ein Fenster und starrte angelegentlich in die finstere Regennacht, während Pix unserm Anton die Hand schüttelte und ihm erklärte, er sei ein tüchtiger Mann und das Provinzialgeschäft sei ganz auf seiner Seite. – Herr Jordan ging zu Fink hinab und kam bald wieder herauf; Herr von Fink war nicht zu Hause. Wahrscheinlich saß der Jokei ahnungslos in irgend einer Weinstube. Anton sagte darauf: »Ich lasse die Sache nicht bis morgen ruhen, ich werde ihm schreiben und den Brief durch den Bedienten auf seinen Tisch legen lassen.«
»Thun Sie das nicht,« bat Herr Jordan, »Sie sind jetzt zu zornig.«
»Ich bin sehr ruhig,« erwiederte Anton mit heißen Wangen; »ich werde ihm nur das Nöthige schreiben. Sie, meine Herren, bitte ich, daß Sie über Alles, was Sie hier gehört haben, gegen die Andern schweigen.«
Das versprachen die Herren. Darauf ging er auf sein Zimmer und schrieb einen Brief, in dem er Herrn von Fink sein Unrecht vorhielt und ihm schließlich die Wahl ließ, ob er durch Schläger oder Pistolen das verletzte Selbstgefühl Antons ausbessern wollte. Der Brief war für einen jungen Gentleman gut genug geschrieben und wurde neben den Wachsstock des Herrn von Fink in dessen Stube niedergelegt, nachdem Herr Specht dem Bedienten noch auf der Treppe eingeschärft hatte, mit Kreide drei große Ausrufungszeichen auf den Tisch zu malen; wahrscheinlich sollten sie die Stelle der Späne vertreten, welche die Boten der heiligen Vehme aus dem Burgthor der Angeklagten zu hauen pflegten. Anton blieb den Rest des Abends auf seinem Zimmer, wo er unruhig auf und ab schritt, bald die Scene der Beleidigung, bald die zu erwartende Scene dramatisch auseinander legte und jede Art von Gefühlen durcharbeitete, welche bei einem armen Jungen vor dem ersten Duell unvermeidlich sind.
Unterdeß wurde im Zimmer des Herrn Jordan große Sitzung des gesammten Geschäfts gehalten. Da Herr Pix und Herr Specht versprochen hatten, zu schweigen, beschränkten sie sich auf so mysteriöse und finstere Andeutungen, daß bei einem Theil der Herren die Ansicht entstand, ein Mord sei entweder schon vollbracht, oder doch jeden Augenblick zu fürchten, bis endlich Herr Jordan das Wort ergriff: »Da die Differenz doch kein Geheimniß ist, und die Sache uns Alle angeht, so ist es am besten, wenn wir sie unter einander besprechen und uns sämmtlich Mühe geben, die nachtheiligen Folgen zu verhüten. Ich werde aufbleiben, bis Fink zurückkommt, und sogleich mit ihm reden. Unterdeß muß ich Wohlfart das Zeugniß geben, daß er sich so gewandt benommen hat, wie bei einem jungen Mann ohne Erfahrung nur möglich ist.« Alle stimmten eifrig bei. Darauf geriethen der Zollcommis Herr Birnbaum und Herr Specht in eine lebhafte Erörterung über die verschiedenen Arten der Duelle, und Herr Specht behauptete, beim Schießen über das Schnupftuch würden den Duellanten mit einem seidenen Taschentuch die Augen verbunden, und dieselben auf ihren Standorten so lange im Kreise herumgedreht, bis der Kampfrichter mit seinem Stock aufklopfe, worauf ihnen frei stehe, hinzuschießen, wohin sie wollten. Herr Baumann stahl sich zuerst aus der Gesellschaft fort und ging zu Anton, drückte diesem herzlich die Hand und bat ihn dringend, nicht um rauher Worte willen zwei Menschenleben auf das Spiel zu setzen. Nachdem er Abschied genommen hatte, fand Anton auf seinem Tisch ein kleines Exemplar des Neuen Testaments aufgeschlagen und darin durch ein großes Ohr den heiligen Spruch bezeichnet: »Segnet, die euch fluchen.« Anton war gerade nicht in der Stimmung, den Sinn dieser Worte zu befolgen. Aber er setzte sich doch vor das Buch und las darin die Sprüche, welche er als Kind seiner guten Mutter so oft aufgesagt hatte. Er wurde weicher und ruhiger und ging in dieser Stimmung zu Bette.
Unterdeß drang das Gerücht von einem furchtbaren Ereigniß durch alle Schlüssellöcher, Ritze und Kammern des alten Hauses.
Sabine war in ihrer Schatzkammer. Dies war ein Raum, unwohnlich für einen Gast, aber für jede Hausfrau ein heimliches, herzerhebendes Zimmer. An den Wänden standen mächtige Schränke von Eichen- und Nußbaumholz mit schöner eingelegter Arbeit, in der Mitte ein großer Tisch mit geschnörkelten Beinen, darum einige alte Lehnstühle. Aus den geöffneten Schränken glänzten im Lampenlicht unzählige Gedecke von Damast, hohe Terrassen von Wäsche, Linnen und bunten Stoffen, Krystallgläser, silberne Pocale, Porcellan und Fayence im Geschmack von mehr als drei Generationen. Die Luft war mit einem kräftigen Duft erfüllt, der aus uraltem Lavendel, Eau de Cologne und frischer Wäsche aufstieg. Hier herrschte Sabine allein. Nur ungern sah sie einen fremden Fuß eintreten; was aus den Schränken genommen wurde und wieder hineinkam, hob sie mit eigenen Händen; nur der treue Diener hatte das Vorrecht, ihr an schweren Tagen zu helfen, und zuweilen Karl Sturm, sein Adjutant, der gewisse rosafarbene Pappkarten zum Zeichnen der Wäsche anfertigte und prachtvolle Zahlen darauf schrieb.
Heute stand Sabine noch spät vor dem Tisch, der mit weißer Wäsche belastet war; sie suchte die Nummern des feinen Damasts zusammen, zählte und sortirte Tischdecken und Servietten, band große Bündel mit rosa Bändern zusammen und hing die Nummerkarten daran. Zuweilen hielt sie ein Stück näher an das Licht und sah mit Behagen auf die weißen Arabesken, welche die Kunst des Webers hineingewirkt hatte. Da flog ein dunkler Schatten über ihr Antlitz und traurig sah sie auf einige wunderfeine Servietten, in welche zahlreiche kleine Löcher gestochen waren, je drei oder vier in einer Reihe. Endlich rief sie den Bedienten. »Es ist nicht mehr auszuhalten, Franz, auch in No. 24 sind wieder drei Servietten mit der Gabel durchstochen. Einer der Herren sticht in das Tischzeug! Das ist bei uns doch nicht nöthig.«
»Nein,« sagte der Vertraute kummervoll; »ich selbst habe ja das Silberzeug unter mir, ich weiß am besten, daß es nicht nöthig ist.«
»Wer von den Herren ist so rücksichtslos?« frug Sabine streng. »Es muß einer der Neuen sein.«
»Herr von Fink ist es,« klagte der Diener, »er sticht vor jedem Essen zweimal mit der Gabel durch die Serviette; es giebt mir jedesmal einen Stich durch's Herz, Fräulein Sabine. Aber Herrn von Fink kann ich doch nichts sagen.«
Sabine hing den Kopf über die zerstochenen Servietten. »Ich wußte, daß er es war,« seufzte sie. – »Aber das darf nicht so fortgehen. Ich werde Ihnen für Herrn von Fink eine besondere Nummer herausgeben, die müssen wir opfern, bis sich eine Gelegenheit findet, ihn zu bitten, daß er von seinen Angriffen abläßt.« Sie trat zu dem Schrank und suchte lange. Es war eine schwere Wahl. Zwar von den groben konnte sie ohne Schmerz einige Dutzend missen, von den feinen aber war ihr jedes Gedeck an's Herz gewachsen. Eines freilich mehr als das andere. – »Dieses mag hingehen,« sagte sie endlich betrübt, »hier fehlt ohnedies eine Serviette.« Sie sah noch einmal auf das Muster, kleine Pfauen, welche kunstvoll durch Blumengewinde schritten, und legte die Nummer auf den Arm des Dieners. »Herr von Fink bekommt keine andern Servietten, als diese,« befahl sie.
Franz zögerte zu gehen. »Er hat auch in seiner Schlafstube eine Gardine angebrannt,« sagte er unruhig. »Der Flügel wird nicht mehr zu brauchen sein.«
»Und sie war ganz neu,« klagte Sabine. »Morgen früh nehmen Sie die Gardine ab. – Was haben Sie noch, Franz? Ist etwas vorgefallen?« —
»Ach, Fräulein,« erwiederte der Diener geheimnißvoll, »drüben bei den Herren geht Alles durcheinander. Herr von Fink hat Herrn Wohlfart sehr beleidigt, Herr Wohlfart ist wüthend, es wird ein Duell geben, sagt Herr Specht, die Herren fürchten ein großes Unglück.«
»Ein Duell,« rief Sabine, »zwischen Fink und Wohlfart?« – Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben wohl Herrn Specht mißverstanden,« fügte sie lächelnd hinzu.
»Nein, Fräulein Sabine, diesmal ist es ernsthaft. – Es wird ein Unglück geben, Herr Wohlfart ging im größten Zorn an mir vorüber, und er hat seinen Thee nicht angerührt.«
»Ist mein Bruder noch nicht zurück?«
»Er kommt heut spät nach Hause, er ist im Comité.«
»Es ist gut,« schloß Sabine. »Sie schweigen gegen Jedermann, Franz, hören Sie?«
Sabine setzte sich wieder an den Tisch, aber ihr Damast war vergessen. Sie blickte starr hinaus in den dunkeln Hof nach den Fenstern des Volontairs. »Er sticht durch die Servietten,« klagte sie leise, »er wird sich auch kein Gewissen daraus machen, eine Menschenbrust zu durchbohren! Das also war der Schmerz des armen Wohlfart! – Er kam zu uns, der wilde Gast, wie ein Wirbelwind über den blühenden Busch; wo er anschlägt, fallen die Blüthen zur Erde. Sein Leben ist Wirrwarr, Aufregung, Getöse. Was ihm nahe kommt, zieht er in seinen tollen Tanz. Auch mich! auch mich! Du stolzer und verwegener Geist, auch mir hast du die Seele aufgeregt. Ich mühe mich, ich ringe Tag für Tag, aber immer wieder erfaßt mich sein Zauber. So schön, so glänzend, so seltsam ist er! Er ärgert mich täglich und alle Tage muß ich an ihn denken, um ihn sorgen, über ihn trauern. O meine Mutter, hier war's, wo ich zum letzten Mal zu deinen Füßen saß, hier übergabst du mir die Schlüssel des Hauses! Du hieltest die Hände segnend auf mein Herz. »Der Himmel behüte dir jeden Schlag,« sagtest du unter Thränen und Küssen. Jetzt schütze die Tochter, Geliebte, du mein Vorbild für alle Ueberlegung, für die Ordnung deines Hauses, für sicheres Pflichtgefühl, behüte mir das laut pochende Herz. Mache mich fest gegen ihn, gegen sein verführerisches Lachen, gegen seinen übermüthigen Spott.«
So betete Sabine. Lange saß sie in feierlicher Berathung mit den guten Geistern des Hauses, dann fuhr sie mit dem Tuch über die Augen, trat entschlossen an den Tisch und fuhr fort, den Damast zu zählen und aufzuheben.
Anton war bereits ausgekleidet und im Begriff, sein Licht auszulöschen, als kräftig an die Thür geklopft wurde und der Mann eintrat, den er in diesem Augenblick am wenigsten von allen Sterblichen erwartete. Es war Herr von Fink mit seiner Reitpeitsche und seinem nachlässigen Wesen.
»Ah, Sie sind schon zu Bett,« sagte der Jokei und setzte sich rittlings auf einen Stuhl in der Nähe, »lassen Sie sich nicht stören! Sie haben mir einen gefühlvollen Brief geschrieben, und Jordan hat mir das Uebrige erzählt; ich komme, Ihnen mündlich zu antworten.« Anton schwieg und sah von seinem Kopfkissen finster auf den Gegner. »Ihr seid hier alle sehr tugendhafte und sehr empfindliche Leute,« fuhr Fink fort und schlug mit seiner Peitsche an das Stuhlbein. »Es thut mir leid, daß Sie sich meine Reden so zu Herzen genommen haben. Es freut mich aber, daß sie so entschlossen sind. Sie haben den ehrlichen Jordan in einen wahren Wärwolf verwandelt,« fügte er lächelnd hinzu.
»Bevor ich Sie weiter anhöre,« sagte Anton grollend, »muß ich wissen, ob Sie die Absicht haben, mir für Ihre Beleidigung eine Erklärung vor den übrigen Herren zu geben. Ich weiß nicht, ob nach der schweren Kränkung, die Sie mir zugefügt haben, ein Anderer, der mehr Erfahrung in Ehrensachen hat, sich mit einer solchen Erklärung begnügen würde. Ich habe das Gefühl, daß ich damit zufrieden sein müßte.«
»Da fühlen Sie richtig,« sagte Fink kopfnickend; »Sie können damit zufrieden sein.«
»Wollen Sie mir morgen diese Erklärung geben?« frug Anton.
»Warum denn nicht?« sagte Fink gleichgültig; »ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu schießen, ich will Ihnen gern vor sämmtlichen Correspondenten und Procuristen der Firma die Erklärung ausstellen, daß Sie ein verständiger und hoffnungsvoller junger Mann sind, und daß ich Unrecht gethan habe, Jemanden zu kränken, der jünger, und verzeihen Sie den Ausdruck, um Vieles grüner ist, als ich.«
Unser Held hörte diese Worte mit gemischten Empfindungen; es wurde ihm doch leichter um's Herz; aber die Manier Finks ärgerte ihn wieder sehr und er sagte sich im Bette aufrichtend entschlossen: »Ich bin mit dieser Erklärung noch nicht zufrieden, Herr von Fink.«
»Ei,« sagte Fink, »was verlangen Sie noch?«
»Sie gefallen mir auch in diesem Augenblick nicht,« sprach Anton, »Sie sind wieder rücksichtsloser gegen mich, als gegen einen Fremden schicklich ist. Ich weiß, daß ich noch jung bin und wenig von der Welt kenne, und ich glaube, daß Sie mich in vielen Dingen übersehen, aber eben deshalb wäre es hübscher von Ihnen, wenn Sie freundlich und gütig gegen mich wären.« Anton sagte dies mit einer Bewegung, welche seinem Gegner nicht entging. Fink streckte seine geöffnete Hand gutmüthig über das Bett und sprach: »Seien Sie nur nicht wieder böse und geben Sie mir Ihre Hand.«
»Ich möchte gern,« rief Anton mit hervorbrechender Rührung, »aber ich kann noch nicht; sagen Sie mir zuvor, daß Sie den Streit mit mir nicht deswegen so leicht behandeln, weil Sie mich für zu jung und zu gering halten, oder weil Sie von Adel sind und ich nicht.«
»Hört, Master Wohlfart,« sagte Fink, »Ihr setzet mir das Messer verzweifelt an die Kehle. Weil Ihr aber in Eurem reinen weißen Hemdchen so unschuldig vor mir liegt, so will ich ein Uebriges thun und wegen dieser Punkte mit Euch capituliren. Was meinen deutschen Adel betrifft, so viel darauf!« – hier schnalzte er mit den Fingern, – »er hat für mich ungefähr denselben Werth, wie ein Paar gute Glanzstiefeln und neue Glacéhandschuhe. Was aber meine Scheu vor Ihrer Jugend und der hoffnungsvollen Würde eines Lehrlings betrifft, so will ich mich wenigstens zu dem Bekenntniß verstehen, daß ich nach dem, was ich heut Abend an Ihnen kennen gelernt habe, Ihnen fortan bei jedem neuen Zank, in den wir gerathen werden, mit jedem Mordwerkzeug, das Sie vorschlagen, jede mögliche Genugthuung geben will. Damit können Sie sich begnügen.« – Nach diesem Trost hielt ihm Fink zum zweiten Mal die Hand hin und sagte: »Jetzt schlagen Sie ein, es ist jetzt Alles in Ordnung.«
Anton legte seine Hand in die dargebotene, und der Jokei schüttelte sie ihm kräftig und sagte: »Wir sind heut so offenherzig gegen einander gewesen, daß es gut sein wird, wenn wir eine Pause machen, sonst haben wir einander gar nichts mehr zu erzählen. Schlafen Sie wohl, morgen mehr davon.« Dabei ergriff er seine Mütze, nickte mit dem Kopf und schritt klirrend zur Thür hinaus.
Anton war, die Wahrheit zu gestehen, über diesen unerwartet friedlichen Ausgang so vergnügt, daß er lange nicht einschlafen konnte. Herr Baumann, der in seiner Schlafkammer das Bett an derselben Wand hatte, konnte sich nicht enthalten, nach Finks Abgang seinen Glückwunsch durch Klopfen an der Wand auszudrücken, und Anton beantwortete das Signal sofort durch ein ähnliches Klopfen, welches seinen Dank für die Theilnahme anzeigen sollte.
Am andern Morgen war das Comtoir eine Viertelstunde vor der Ankunft des Prinzipals vollzählig versammelt. Fink erschien als Letzter und sagte mit lauter Stimme: »Mylords und Gentlemen aus dem Export- und Provinzialgeschäft, ich habe gestern Herrn Wohlfart von hier in einer Weise behandelt, die mir jetzt, nach dem, was ich von ihm kennen gelernt habe, aufrichtig leid thut. Ich habe ihm gestern bereits meine Erklärung gemacht und bitte ihn heute in Ihrer Gegenwart freiwillig nochmals um Verzeihung. Zu gleicher Zeit bemerke ich, daß unser Wohlfart sich bei diesem Streit durchaus respectabel benommen hat, und daß ich mich freue, mit ihm in Geschäftsverbindung getreten zu sein.« Das Comtoir lächelte, Anton ging auf Fink zu und schüttelte ihm wieder die Hand, Herr Jordan that mit beiden Parteien dasselbe, und die Sache war abgemacht.
Doch blieb sie nicht ohne Folgen. Auch die Kunde von der ehrlichen Sühne, welche Fink dem Lehrling gab, und von der freundlichen Ausgleichung gelangte in das Vorderhaus. Und als Anton zusammen mit Fink beim Mittagtisch erschien, ruhten die Blicke der Damen mit Theilnahme und Neugier auf ihm, und der Prinzipal verbarg nicht ein freundliches Lächeln. Aber auch auf Fink fiel Sabinens Auge mit freudigem Glanz, und so oft sie zu ihm aufsah, war ihr, als hätte sie ihm etwas Großes abzubitten.
Bei den Herren vom Comtoir war die Stellung Wohlfarts auf einmal eine ganz andere geworden, er wurde von Allen mit einer Achtung behandelt, welche ein Lehrling sonst nicht durchzusetzen pflegt; Herr Specht erklärte ihn bei sämmtlichen Commis seiner Bekanntschaft – und seine Bekanntschaft war groß – für einen modernen Bayard, für den letzten Ritter Europa's, für einen furchtbaren Haudegen im Reiche der Conticurrenten; Herr Liebold wurde wahrhaft kühn in seinen Behauptungen, wenn er merkte, daß Anton auf seiner Seite stand, und sogar Herr Pix gönnte seinem Zögling von diesem Tage an augenscheinliche Hochachtung, er vertraute den Beobachtungen, welche Anton am Zünglein der großen Waage machte, eben so fest, wie seinen eigenen, und überließ ihm zuweilen sogar den schwarzen Pinsel, seinen geliebten Scepter, das Zeichen seiner Herrschermacht.
Die größte Veränderung aber trat in Antons Verhältniß zu Fink ein. Denn einige Tage nach dem Streit, als Anton hinter dem Jokei die Treppe des Hinterhauses hinaufstieg, blieb Fink an seiner Thür stehen und frug: »Wollen Sie nicht bei mir eintreten? Sie sollen mir heut Ihren Besuch machen und meine Cigarren probiren.«
Zum ersten Mal überschritt Anton die Schwelle des Volontairs und blieb verwundert an der Thür stehen, denn das Zimmer sah sehr fremdartig aus. Elegante Möbel standen unordentlich umher, ein dicker Teppich, weich wie Moos, bedeckte den Fußboden, und der ordentliche Anton sah mit Betrübniß, wie rücksichtslos die Cigarrenasche auf die prächtigen Blumen desselben geworfen war. An der einen Wand stand ein großer Gewehrschrank, darüber hing ein ausländischer Sattel und pfundschwere silberne Sporen; die andere Wand verdeckte ein eben so großer Bücherschrank aus kostbarem Holz, voll von Büchern in braunem Lederband, und über dem Schrank reichten riesige Flederwische, die schwarzen Flügel eines ungeheuren Vogels, von einer Stubenwand bis zur andern.
»Welche Menge von Büchern Sie haben!« rief Anton erfreut.
»Es sind Erinnerungen an eine Welt, in der ich nicht mehr lebe,« sagte Fink.
»Und diese Flügel, gehören sie auch zu Ihren Erinnerungen?«
»Ja, Herr, es sind die Fittige eines Condors; Sie sehen, ich bin stolz auf diese Jagdbeute,« antwortete Fink und hielt unserm Anton ein Packet mit Cigarren hin. »Setzen Sie sich, Wohlfart, lassen Sie uns plaudern, und zeigen Sie, ob Herr Specht Recht hat, wenn er Sie als liebenswürdigen Gesellschafter rühmt.« Er schob unserm Helden mit dem Fuße einen großen Fauteuil zu. Anton sank behaglich in die weichen Kissen und blies blaue Wolken nach der Decke, während Fink die Lampe des silbernen Theekessels anzündete. »Sie haben mir neulich gefallen, Wohlfart,« sagte Fink, sich der Länge nach auf dem Sopha ausstreckend, »verstehen Sie sich auf Pferde?«
»Nein,« sagte Anton.
»Sind Sie Jäger?«
»Auch nicht.«
»Treiben Sie Musik?«
»Nur wenig,« sagte Anton.
»Nun also, in Teufels Namen, welche menschliche Eigenschaft haben Sie denn?«
»In Ihrem Sinne wenig,« antwortete Anton ärgerlich. »Ich kann die Leute lieben, welche mir gefallen, und ich glaube ich kann ein treuer Freund sein; wenn mich aber Jemand übermüthig behandelt, so empöre ich mich.«
»Schon gut,« sagte Fink, »von der Seite kenne ich Sie. Für einen Anfänger war Ihr Debut gar nicht übel. Ich sehe, es ist Race in Ihnen. Lassen Sie hören, wer Sie sind. Von welchem Volke der sterblichen Menschen stammen Sie, und welches Schicksal hat Sie hierher geschleudert in dieses traurige Mühlwerk, wo Jeder zuletzt voll Staub und Resignation wird, wie Liebold, oder im besten Fall wie der pünktliche Jordan?«
»Es war doch ein gutmüthiges Schicksal,« antwortete Anton und begann von seiner Heimath und seinen Eltern zu erzählen. Mit Wärme schilderte er den kleinen Kreis, in dem er aufgewachsen war, die Abenteuer seiner Schulzeit und einige närrische Leute aus Ostrau, mit denen er verkehrt hatte. »Und so ist für mich ein großes Glück, was Sie für ein Unglück halten,« schloß er, »daß ich hierher gekommen bin.«
Fink nickte beistimmend und sagte: »Zuletzt ist der größte Unterschied zwischen uns Beiden, daß Sie Ihre Mutter gekannt haben und ich die meine nicht. Uebrigens ist es ziemlich gleichgültig, in welchem Nest Einer aufwächst, man kann fast unter allen Umständen ein tüchtiger Gesell werden. – Ich habe Leute gekannt, die weniger Liebe in ihrem Vaterhause gefunden haben, als Sie.«
»Sie haben so viel von der Welt gesehen,« sagte Anton rücksichtsvoll, »ich bitte Sie, mir zu sagen, wie Sie dazu gekommen sind.«
»Sehr einfach,« begann Fink. »Ich besitze einen Onkel in Newyork, der dort einer von den Aristokraten der Börse ist. Dieser schrieb meinem Vater, als ich vierzehn Jahr war, ich solle eingepackt und herübergeschickt werden, er habe die Absicht, mich zu seinem Erben zu machen. Mein Vater ist sehr Kaufmann, ich wurde emballirt und abgeschickt. In Newyork wurde ich bald ein gottverdammter kleiner Schuft und Taugenichts, ich trieb jede Art von Unsinn, hielt einen Stall von Racepferden in einem Alter, wo bei uns ehrliche Jungen noch auf offener Straße ihre Buttersemmel verzehren und mit einem Papierdrachen spielen. Ich bezahlte Sängerinnen und Tänzerinnen und mißhandelte meine weißen und schwarzen Domestiken so sehr durch Fußtritte und Haarraufen, daß mein Oheim genug zu thun hatte, um Entschädigungsgelder an diese freien Bürger zu bezahlen. Sie hatten mich aus meiner Heimath fortgerissen, ohne sich um meine Gefühle zu bekümmern; ich bekümmerte mich jetzt den Teufel um die ihren. Uebrigens je toller ich's trieb, desto mehr Geld bekam ich in die Hände. Ich war bald der verrufenste unter den jungen Bengeln, welche die vornehmen Unarten jenseit des Wassers cultiviren. Einst an meinem Geburtstage kam ich um sechs Uhr früh aus einem kleinen Souper nach Hause, bei dem ich aus Caprice den Spröden gegen einige zuvorkommende Damen gespielt hatte, und unterwegs fiel mir ein, daß diese Wirthschaft ein Ende nehmen müsse oder ich selbst würde ein Ende nehmen. Ich ging nach dem Hafen statt nach Hause, steckte mich in grobe Matrosenkleider, die ich unterwegs kaufte, und bevor es Mittag war, fuhr ich als Schiffsjunge auf einem dickbäuchigen Engländer zum Hafen hinaus. Wir segelten einige tausend Meilen um Cap Horn herum und auf der andern Seite des Festlandes wieder hinauf. Als wir in Valparaiso ankamen, erklärte ich dem Capitain, daß ich ihm für die Ueberfahrt dankbar sei, tractirte die ganze Mannschaft und sprang an's Land, um mit den zwanzig Dublonen, die ich noch in der Tasche hatte, auf eigene Faust mein Glück zu machen. Ich traf bald einen verständigen Mann, der mich auf seine Hazienda brachte, wo ich als Ochsenhirt und Reitkünstler nicht geringe Lorbeeren erndtete. Ich war etwa anderthalb Jahr dort oben und befand mich sehr wohl, ich wurde als eine Art dienstthuender Gastfreund behandelt, ich war verliebt, ich war bewundert als Jäger und tummelte mich tüchtig im Sattel, was fehlte mir? – Doch alle Freude ist vergänglich. Wir hatten gerade großes Rinderschlachten, und ich war fleißig beschäftigt, von meinem Pferd die Kühe in den Schlachthof zu escortiren, als plötzlich zwei Regierungsbeamte in unser Fest hineinritten. Diese behandelten mich selber mit vieler Artigkeit wie ein junges Rind, nahmen mich sammt meinem Pferd in die Mitte und führten mich zwischen ihren Steigbügeln Trott und Galopp nach der Hauptstadt. Dort wurde ich beim amerikanischen Consul abgeliefert, und da mein Oheim Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, mich auszuspüren, und ich aus einem langen Briefe meines Vaters erkannte, daß dieser Herr sich wirklich über mein Verschwinden ängstigte, so beschloß ich, ihm den Gefallen zu thun und zurückzukehren. Ich unterhandelte mit dem Consul und reiste mit dem nächsten Schiff nach Europa ab. Als ich auf diesem bejahrten Erdhaufen ankam, erklärte ich meinem Vater, daß ich nicht Kaufmann werden wolle, sondern Landwirth. Darüber gerieth die Firma Fink und Becker außer sich, aber ich blieb fest. Endlich kam ein Vertrag zu Stande. Ich ging zunächst auf zwei Jahr in eine norddeutsche Wirthschaft, dann sollte ich einige Jahr in einem Comtoir arbeiten, dadurch hoffte man meine Capricen zu bändigen. So bin ich jetzt hier in Clausur. Aber alle Mühe ist umsonst. Ich thue meinem Vater den Gefallen, hier zu sitzen, weil ich merke, daß sich der Mann viel unnützen Kummer um mich macht, aber ich bleibe nur so lange hier, bis er sich überzeugt, daß ich Recht habe. Dann werde ich Landmann.«
»Wollen Sie bei uns ein Gut kaufen?« frug Anton neugierig.
»Nein, Herr,« antwortete Fink, »das will ich nicht. Ich würde es vorziehen, vom frühen Morgen bis gegen Mittag zu reiten, ohne an einen Grenzstein meines Landes zu stoßen.«
»Sie wollen also wieder nach Amerika zurück?«
»Oder anderswohin, ich bin in Erdtheilen nicht wählerisch. Unterdeß lebe ich in diesem Kloster als Mönch, wie Sie sehen,« sagte Fink lachend und goß aus einer großen Flasche eine Menge Rum unter ein geringeres Maß anderer Substanzen, rührte das Getränk um und trank zum geheimen Schreck Antons die feurige Mischung behaglich hinunter. »Frisch, Mann,« rief er, Anton die Flasche zuschiebend, »macht Euren Trank zurecht, und jetzt laßt uns lustig plaudern, wie sich für gute Gesellen und versöhnte Feinde schickt.«
Seit diesem Abend behandelte Fink unsern Helden mit einer Freundlichkeit, welche sehr verschieden war von dem nachlässigen Wesen, das er den übrigen Herren vom Geschäft gönnte. In Kurzem wurde Anton der Liebling des Mönchs in der Clausur, oft rief ihn Fink in sein Zimmer, ja er verschmähte sogar nicht, drei Treppen hoch in das Heiligthum der lederfarbenen Katze hinauf zu steigen, wenn er gerade gelaunt war, einen Abend im Hause zu verleben. Allerdings war das nicht oft der Fall. Anton merkte bald, daß sein neuer Freund eine in der Stadt sehr bekannte und vielbesprochene Person war, daß er unter der eleganten Jugend mit einem wahren Despotismus herrschte, und bei Herrenreiten, Jagdpartien und anderen nützlichen Thätigkeiten Anführer und vielbegehrte Autorität war. Er war jung, gewandt, von Adel, galt für unermeßlich reich und besaß eine Meisterschaft in allen Dingen, die mit einem Pferdehuf, einem Gewehrlauf und einem vergoldeten Theelöffel irgend in Verbindung gedacht werden können, und was über Allem stand, er behandelte Jeden, der in seine Nähe kam, mit der leichten Suffisance, welche von je bei dem großen Haufen unselbstständiger Menschen als Zeichen von überlegener Kraft gegolten hat. Fink war deßhalb viel in Gesellschaft und kam oft erst gegen Morgen nach Hause. Anton hörte ihn zuweilen ankommen, wenn er bereits vor seinem Buche saß; er bewunderte die Lebenskraft seines Freundes, der dann nach einer oder zwei Stunden Ruhe seinen Platz im Comtoir einnahm und während des ganzen Vormittags keine Spur von Mattigkeit zeigte. Gegen die strenge Ordnung des Hauses stach Fink auch dadurch ab, daß er sich die unerhörte Freiheit herausnahm, zuweilen eine Stunde nach Eröffnung des Comtoirs zu erscheinen und sich vor dem Schluß zu entfernen. Anton konnte nicht errathen, ob sein Prinzipal diese gelegentliche Selbstständigkeit für ein großes oder für ein kleines Verbrechen hielt. Jedenfalls schwieg er dazu.
So verging der Winter, und Anton merkte an untrüglichen Zeichen, daß der Frühling und der Sommer über das Land daherzogen. Die Fuhrleute brachten nicht mehr Schneeflocken in's Comtoir, sondern Regentropfen und braune Fußtapfen, zuweilen wagte sich ein Mädchen mit Veilchensträußen in die Nähe der unermüdlichen Wanduhr, dann schien die Sonne Herrn Liebold kriegslustig auf seine Fensterecke, dann kamen die Mäkler und erzählten von der gelben Blüthe der Oelfrucht draußen im Freien, und endlich erschien Herr Braun und trug die erste Rose in der Hand. Ein Jahr war vergangen, seit Anton mit den Schwänen über den See gefahren war. Er hatte das ganze Jahr hindurch an die Fahrt gedacht.