Читать книгу Der Golem - Gustav Meyrink - Страница 13
NACHT
ОглавлениеWillenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.
Ich spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus drang, deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen, und man hörte, wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
»Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum Teufelholen.«
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bückte und die Marionette suchte.
»Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst«, brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt, und sein Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen – wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog. Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
»Still doch! Hört ihr denn nichts?«
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab. – Nichts.
»Was war’s denn?« flüsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick – kaum einen Herzschlag lang – hatte es mir geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte – fast unhörbar. Als ich eine Sekunde später darüber nachdachte, war alles vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck. »Gehen wir; was stehen wir da herum!« mahnte Vrieslander.
Wir schritten die Häuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
»Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in Todesangst.«
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.
SALON LOISITSCHEK
Heinte großes Konzehr
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete sich die Eingangstür nach innen, und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem schwarzem Haar, ohne Kragen – eine grünseidene Krawatte um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt –, empfing uns mit Bücklingen.
»Jä, jä, das sin mir Gästäh. – Pane Schaffranek, rasch einen Tusch!« setzte er, über die Schulter in das von Menschen überfüllte Lokal gewendet, hastig seinem Willkommensgruß hinzu.
Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe, war die Antwort.
»Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man«, murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während er uns aus den Mänteln half.
»Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir versammelt«, beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
»Ich stell ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön ungestört sein«, krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen, und eine Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer verlöschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hörte man plötzlich, wie die eisernen Gasstäbe fauchend die flachen, herzförmigen Flammen aus ihren Mündern in die Luft bliesen – dann fiel die Musik über das Geräusch her und verschlang es. Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weißen Prophetenbart, ein schwarzseidenes Käppchen – wie es die alten jüdischen Familienväter tragen – auf dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern – starr zur Decke gerichtet –, saß dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in speckglänzendem schwarzem Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen – ein Sinnbild erheuchelter Bürgermoral –, ein schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.
Ein wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instrumenten, dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten begleitet, ein wilder Baß:
»Roo – n – te, blau – we Stern – –«
»Rititit« (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt).
»Roonte, blaue Steern,
Hörndlach ess i’ ach geern.«
»Rititit.«
»Rotboart, Grienboart,
allerlaj Stern – –«
»Rititit, rititit.«
Die Paare traten zum Tanze an.
»Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹«, erklärte uns lächelnd der Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der sonderbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. »Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckergesellen, Rotbart und Grünbart, am Abend des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot – Sterne und Hörnchen – vergiftet, um ein ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ – der Gemeindediener – war infolge göttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei überliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hören.«
»Rititit – Rititit.«
»Roote, blaue Steern – – –«, immer hohler und fanatischer erscholl das Gebell des Greises.
Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den Rhythmus des böhmischen »Schlapak« – eines schleifenden Schiebetanzes – über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinanderpreßten.
»So recht. Bravo. Äh da! fang, hep, hep!« rief von der Estrade ein schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück in der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: Ich sah noch, wie es über das Tanzgewühl hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch – sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben Charousek gestanden – hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervorgezogen – ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Münze war geschnappt. Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise.
»Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu schließen«, sagte Zwakh lachend. »Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehört«, fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. – Ich verstand gar wohl: Es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine Worte einleitete – ich weiß nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als ich als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig umfing – einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch. Zwakh begann:
»Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
– – – No, was soll ich sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jüngling kannte er nichts als Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch Stundengeben mühsam erwarb, mußte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie grüne Wiesen aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und Wälder, erfuhr er, glaube ich, nur aus Büchern. Wie wenig von Sonnenschein in Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst! Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich selbstverständlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. So berühmt, daß alle Leute – Richter und alte Advokaten – zu ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. Dabei lebte er ärmlich wie ein Bettler in einer Dunkelkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre, und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. Daß ein Mann wie er weichen Herzensempfindungen zugänglich sein könnte, zumal sein Haar schon anfing weiß zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz sprechen gehört zu haben, hätte wohl keiner geglaubt. Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glüht die Sehnsucht am heißesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: als nämlich Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer Universität ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschönen Fräulein aus zwar armer, aber adeliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Glück bei Dr. Hulbert eingezogen zu sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen, den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war seine höchste Freude.
In seinem Glück vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher andere getan hätte, seine leidenden Mitmenschen. ›Mir hat Gott meine Sehnsucht gestillt‹, soll er einmal gesagt haben, – ›er hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an: Er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde trägt. Und so will ich, daß ein Schimmer von diesem Glück, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fällt.‹ Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hätte, wäre es ihm am eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich einer fluchwürdigen, weil wir wohl doch nicht richtig unterscheiden können zwischen dem, was giftigen Samen in sich trägt und was heilsamen, so begab es sich hier, daß aus Dr. Hulberts mitleidsvollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst sproß.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte es, daß sie der Rektor gerade in dem Augenblick, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum Zeichen seiner Liebe mit einem Strauß Rosen als Geburtstagspräsent zu überraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat über Wohltat gehäuft hatte.
Man sagt, daß die blaue Muttergottesblume für immer ihre Farbe verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt; gewiß ist, daß die Seele des alten Mannes für immer erblindete an dem Tage, wo sein Glück in Scherben ging. Am selben Abend noch saß er, er, der bis dahin nicht gewußt, was Unmäßigkeit ist, hier beim ›Loisitschek‹ – fast bewußtlos vom Fusel – bis zum Morgengrauen. Und der ›Loisitschek‹ wurde seine Heimstätte für den Rest seines zerstörten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus, im Winter hier auf den hölzernen Bänken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte beließ man ihm stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berühmten Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an seinem Wandel.
Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigentags ›das Bataillon‹ nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk für alle die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein entlassener Sträfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert splitternackt hinaus auf den Altstädter Ring – und das Amt auf der sogenannten ›Fischbanka‹ sah sich genötigt, einen Anzug beizustellen. Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszuständig war, und wurde dadurch ansässig.
Hundert solcher Auswege wußte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenüber stand die Polizei machtlos da. –
Was diese Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft ›verdienten‹, übergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der der nötige Lebensunterhalt bestritten wurde. Niemals ließ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden kommen. Mag sein, daß angesichts dieser eisernen Disziplin der Name ›das Bataillon‹ entstand.
Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks jährte, das den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim ›Loisitschek‹ eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrängt standen sie hier: Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. – Und dann erzählte ihnen Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen, gerade unter dem Krönungsbilde Seiner Majestät des Kaisers, seine Lebensgeschichte: wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und später Rector magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat – zur Feier ihres Geburtstages und zugleich zum Gedächtnis jener Stunde, da er dereinst um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war –, da versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen. Dann geschah es wohl zuweilen, daß irgendein liederliches Frauenzimmer ihm verschämt und heimlich, damit es keiner sehen konnte, eine halbwelke Blume in die Hand legte.
Von den Zuhörern rührte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein. Sein Leichenbegängnis sehe ich noch heute vor mir. Das ›Bataillon‹ hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie möglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universität in vollem Ornat: in den Händen das purpurne Kissenpolster mit der güldenen Kette darauf, und hinter dem Leichenwagen in unabsehbarer Reihe – das ›Bataillon‹, barfuß, schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, draußen im Friedhof, steht ein weißer Stein, darein sind drei Figuren gemeißelt: der Heiland, gekreuzigt zwischen zwei Räubern. Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das Denkmal errichtet.
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen, danach bekommt jeder vom ›Bataillon‹ mittags ›beim Loisitschek‹ umsonst eine Suppe; zu diesem Zwecke hängen hier am Tisch die Löffel an den Ketten, und die ausgehöhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um zwölf Uhr kommt die Kellnerin und spritzt mit einer großen, blechernen Spritze die Brühe hinein, und wenn sich einer nicht ausweisen kann als ›vom Bataillon‹, so zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch die ganze Welt.«
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie. Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über mein Bewußtsein hinweg. Ich sah noch, wie er seine Hände bewegte, um das Vor- und Zurückschieben eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß ich in Momenten ganz mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewühl geworden. Oben auf der Estrade: dutzende Herren in schwarzen Fräcken. Weiße Manschetten, blitzende Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnüren. Im Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Straußenfedern. Durch die Stäbe des Geländers stierte das verzerrte Gesicht Loisas hinauf. Ich sah: Er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken dicht, ganz dicht an der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plötzlich im Tanzen inne: Der Wirt mußte ihnen etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch, aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fühlte es deutlich. Und doch lag der Ausdruck hämischer wilder Freude in dem Gesicht des Wirtes.
In der Eingangstür steht mit einem Mal der Polizeikommissär in Uniform. Er hat die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter ihm ein Kriminalschutzmann.
»Wird also doch hier getanzt? Trotz des Verbotes? Ich sperre die Spelunke. Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!«
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen bleibt in seinen Zügen.
Bloß starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch. Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plötzlich alle im Profil zu sehen: Sie glotzen erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen herab und geht langsam auf den Kommissär zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hängen gebannt an den heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben und läßt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich über das Geländer gebeugt und verbeißen das Lachen hinter ihren grauseidenen Taschentüchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt einem Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommissär hat sich verfärbt und starrt in der Verlegenheit immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgültigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten, unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.
»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf den Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen«, flüstert der Maler Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Äh – Hm.« Er kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir Gästäh – da schaut man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daß die Gläser klirren; die Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vierschrötige Wirt meckert uns erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine Durchlaucht Exzellenz Fürst Ferri Athenstädt.«
Der Fürst hat dem Beamten eine Visitenkarte hingehalten. Der Ärmste nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen – äh – sind meine lieben Gäste.« Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlässigen Armbewegung auf das Gesindel. »Wünschen Sie, Herr Kommissär – äh – vielleicht vorgestellt zu werden?«
Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert verlegen etwas von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu den Worten auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.«
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: Er eilt in den Hintergrund auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im nächsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen – Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. Der große, kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strümpfe und – einen Herrenfrack auf dem bloßen Körper.
Ein Zeichen: Die Musik fällt ein wie rasend – – –
»Rititit – Rititit« – – – und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als er Rosina gesehen, an der Wand drüben ausgestoßen hat.
Wir wollen gehen. Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisitschek«, die Hälse werden lang, und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites, noch seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung – hängt schmachtend an der Brust des Fürsten Athenstädt.
Ein süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Türe: Der Kommissär steht dort abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spähen hinüber auf den blatternarbigen Loisa, der einen Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt – das Gesicht kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen – stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: das Bild, wie Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen – über das Kanalgitter gebeugt –, und ein Todesgeschrei gellt aus der Erde empor.
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzähne, daß es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiß, daß sie unsichtbar sind, und doch empfinde ich sie wie etwas Körperliches. Und klar steht es in meinem Bewußtsein: Sie gehören zu der gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse das Buch »Ibbur« gegeben hat. »Wasser, Wasser!« schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
»In seine Wohnung schaffen, Arzt holen – der Archivar Hillel kennt sich aus in solchen Dingen – zu ihm bringen!« beraten sie murmelnd. Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre, und Prokop und Vrieslander tragen mich hinaus.