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Der Schauspieler Zrcadlo
ОглавлениеEin Hund schlug an.
Einmal. Ein zweites Mal.
Dann lautlose Stille, als ob das Tier in die Nacht hineinhorche, was
geschehen werde.
"Mir scheint, der Brock hat gebellt", sagte der alte Baron Konstantin
Elsenwanger, "wahrscheinlich kommt der Herr Hofrat."
"Das ist doch, meiner Seel', kein Grund nicht zum Bellen", warf die Gräfin
Zahradka, eine Greisin mit schneeweißen Ringellocken, scharfer Adlernase
und buschigen Brauen über den großen, schwarzen, irrblickenden Augen,
streng hin, als ärgere sie sich über eine solche Ungebührlichkeit, und mischte
einen Stoß Whistkarten noch schneller, als sie es ohnehin bereits eine halbe
Stunde hindurch getan hatte.
"Was macht er eigentlich so den ganzen lieben Tag lang?" fragte der
kaiserliche Leibarzt Thaddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten,
faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher
Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich
langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.
Den "Pinguin" nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin und lachten
immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12 Uhr mittags vor dem Schloßhof in
eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und
wieder zugeklappt werden mußte, bevor seine fast zwei Meter hohe Gestalt
darin Platz gefunden hatte. – Genauso kompliziert war der Vorgang des
Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritte weiter vor dem
Gasthaus "Zum Schnell" haltmachte, wo der Herr kaiserliche Leibarzt mit
ruckweisen, vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte.
–
"Wen meinst du", fragte der Baron Elsenwanger zurück, "den Brock oder
den Herrn Hofrat?"
"Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?"
"No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks-Anlagen."
"Mit 'die' Kinder", verbesserte der Pinguin.
"Er – spielt – sich – mit – denen – Kindern", fiel die Gräfin verweisend ein
und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herren schwiegen
beschämt.
Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf, fast heulend.
Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene
bemalte Mahagonitür, und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat
ein – wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam,
mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in
einen Biedermeiergehrock von hellem Braun aus wunderbar weichem Tuch
gehüllt. Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen
Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich
und küßte sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.
"Warum er jetzt noch immer bellt?" brummte der Pinguin nachdenklich.
"Diesmal meint er den Brock", erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem
zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.
"Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Daß Sie sich nur nicht
verkühlen!" rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in
arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin
wie durch Zauberschlag erhellte:
"Božena, Božena, Bo–schenaah, bitt' Sie, bring Sie, prosim, das Supperläh!"
Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen
Eßtisch herum Platz.
Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete
bewundernd, als sähe er sie heute zum erstenmal, die Kampfszenen zwischen
David und Goliath auf den Gobelins und betastete die prachtvollen,
geschweiften Maria-Theresia-Möbel mit Kennerhänden.
"Ich war unten! In der Welt!" platzte der Hofrat von Schirnding heraus und
betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rot-gelb-gefleckten Taschentuch. "Und
bei der Gelegenheit hab' ich mir die Haare schneiden lassen." – er fuhr sich mit
dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.
Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs
abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn,
man wisse nicht, daß er Perücken trage – einmal langlockige, dann wieder
kurzgeschorene –, und immer bekam er auch in solchen Fällen staunenerfülltes
Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: Die Herrschaften waren zu
verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.
"Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?" Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil
war erstaunt herumgefahren. "Sie?"
Den beiden anderen blieb der Mund offen. "In der Welt! Unten! In Prag!"
"Da – da haben Sie ja ieber die Brücke missen!" brachte die Gräfin endlich
stockend heraus. "Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!"
"Eingestirzt!! No servus!" krächzte Baron Elsenwanger und wurde blaß.
"Unberufen" – er ging zittrig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit
her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den
kalten Kamin – "Unberufen."
Božena, das Dienstmädchen, in zerlumpten Kittel, ein Kopftuch um und
barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine
prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.
"Aha! Wurstsuppe!" brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette
fallen. – Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen
Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten.
–
"Ich bin mit – der Elektrischen gefahren", stieß der Herr Hofrat gepreßt
hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.
Die anderen wechselten einen Blick: Sie fingen an, seine Worte zu
bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.
"Ich war vor dreißig Jahren das letztemal unten – in Prag!" stöhnte der Baron
Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel
standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines
furchtsamen, großen, weißen Hasen. "Damals, als mein Bruder selig in der
Teinkirche beigesetzt wurde."
"Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag", erklärte Gräfin
Zahradka schaudernd. "Das könnt' mich so haben! – Wo sie meine Vorfahren
auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!"
"Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste", suchte sie der
Pinguin zu beruhigen. "Das ist schon lange her."
"Ach was – ich denk' es noch wie heite. Ieberhaupt die verfluchten Preißen!"
– Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, daß
keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch ihre Lorgnette über den
Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.
Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor
sich hin: "Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den
Kopf abhaut. – – – Daß Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was,
wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?" fuhr sie
laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.
"Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!"
"So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat's ihnen
halt wieder amal gegeben."
"Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen" – meldete sich der Pinguin –
"will sagen: mit 'denen' Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen
verbündet und –" ("Ver–bin–dät!" – bekräftigte der Baron Elsenwanger. –) "–
und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – – –" Er brach höflich
ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.
Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das
Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn
Božena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen
auftrug. – – –
Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: "Herrschaften! Wollen wir jetzt
zum Whist – –?"
Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem
Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – – –:
"Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!" –
"Brock! Mistvieh, verflucht's. Kusch dich!" hörte man die halblaute Stimme
eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren
Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die
Veranda führte, geöffnet hatte. –
Eine Flut von Mondlicht ergoß sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll
Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern
flackern und schwelen.
Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein
Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag
rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht
ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch
halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, daß es
schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell
beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.
Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: Eine Sekunde
lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen
des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt
auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht,
verschwinden.
Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, daß der
Mann in den Garten gefallen war. –
"Mörder, Einbrecher! – Man muß die Wache holen!" zeterte der Edle von
Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür
geeilt war.
Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das
Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den
gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.
Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger
nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung
hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem
Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild
durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling
gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen
Intervallen.
"No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?" zürnte
die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst
gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.
"Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!" hörte man das
Dienstmädchen Božena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den
leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den
Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.
"Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet", befahl die Gräfin kalt und
ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen
protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang
hinunterwerfen – – ehe er wieder lebendig werden könne.
"Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer", flehte Elsenwanger,
drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter
ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloß die Tür hinter ihnen.
Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und
einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen
Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden
verrieten, daß er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten
worden war.
Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der
Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen
gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und
Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine
aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und
Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit
wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und
feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichen Augen – eine Nonne
im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen,
mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So
standen sie in ihren Nischen, daß es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen
herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des
flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie
sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, daß nicht ein Rascheln der
Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu
schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um
sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz
stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.
"Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil", sagte die Gräfin und sah
wartend unverwandt zur Tür. "Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch
im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede
menschliche Kunst am Ende."
Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte.
Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die
Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.
Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich
auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloß auf
dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher
ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie
jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen
und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen
flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, daß er nicht mehr
wußte, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, daß es ihm gar nicht
wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte
und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes
für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewußt wurde, daß es
doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und daß statt ihrer jugendlichen
Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand.
–
Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als daß er sie
richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch
verdämmernde Gefühl in ihm zurück, daß die "Zeit" nichts als eine diabolische
Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen
Gehirn vorgaukelt.
Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: daß er blitzartig mit dem inneren
Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig
zu verstehen fähig gewesen war –, nämlich die seltsamen befremdlichen
Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der
Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben
unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.
Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, daß er sagen mußte:
Wasser bringen! Verbandzeug! – daß er sich wieder, wie damals, herabbeugte
und nach den Aderlaßschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter,
längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.
Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden
Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Boženas
fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien
Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um
besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der
Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze
zwischen blühendem jungen Leben, der Totenstarre des Bewußtlosen, den
schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten
Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.
Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den
Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des
Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluß der Ohnmacht aschfarben
und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher
der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.
"Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!" rief das Dienstmädchen und zog – wie
unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge
des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig
ihren Rock über die Knie.
"Wer ist's?" fragte die Gräfin erstaunt.
"Der Zrcadlo – der 'Spiegel'", erklärte der Kammerdiener, den Namen
Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, "mir nennt ihn so
hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. –
Er ise sich Aftermeister bei der – –" er stockte verlegen, "bei der – no, halt bei
der 'böhmischen Liesel'."
"Bei wem?"
Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige
Gesinde verbiß mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:
"Bei wem, will ich wissen!"
"Die 'böhmische Liesel' war in früheren Jahren eine berühmte – – Hetäre",
nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der
bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte.
"Ich wußte gar nicht, daß sie noch lebt und sich auf dem Hradschin
herumtreibt; sie muß ja uralt sein. Sie wohnt wohl – –" – – "in der Totengasse,
da, wo die schlechten Madeln alle beisamm' sind", bekräftigte Božena eifrig.
"So geh sie das Frauenzimmer holen!" befahl die Gräfin. Dienstbeflissen
eilte das Mädchen hinaus.
Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine
Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste
Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.
"Glaubt ihr, daß er hat einbrechen wollen?" fragte die Gräfin halblaut das
Gesinde.
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die
Stirn, um anzudeuten, daß er ihn für wahnsinnig halte.
"Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln",
erklärte der Pinguin. "Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem
unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich
dessen bewußt zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume,
Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in
schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit
einherzuschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären. –
– Holla, Sie, Pane Zrcadlo", wandte er sich an den Patienten, "glauben Sie,
sind Sie jetzt so weit bei sich, daß Sie nach Hause gehen können?"
Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört,
wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach
dem kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen
ins Gesicht.
Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich
über die Stirn, als stöberte er in seinen Erinnerungen, und murmelte: "Zrcadlo?
Nein. Der Name ist mir fremd. – Aber ich kenne diesen Menschen doch! – Wo
hab' ich ihn nur gesehen?!"
Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes,
trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose
Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den
eingesunkenen Schläfen und dem verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf
den Wangen und der schwarze, abgetragene Samtmantel – alles das wirkte
durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das
Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.
"Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines
Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, daß seine Mumie unter der Maske
steckt", schoß dem kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf.
"Unbegreiflich, daß ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so
auffallenden Zügen begegnet bin?"
"Der Kerl ist tot", brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin
gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die
Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das
Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes – "solche verschrumpelte
Augäpfel kann nur eine Leiche haben. – Mir scheint, er kann sie ieberhaupt
nicht bewegen, Flugbeil! – – – So fircht Er sich doch nicht, Konstantin, wie ein
altes Weib!" rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender
Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des
Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, "kommen Sie doch beide herein, Sie
sehen ja: Er beißt nicht."
Der Name Konstantin wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den
Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis Fuß, und der
Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in
unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen
schneidet. – Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut
plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus
der soeben hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen
Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in
eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.
Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein
bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, daß
die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig
anderen vor sich zu haben.
Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer
Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien,
emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knien, die Unterlippe
vorstreckend, unschlüssig auf dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper
nach Taschen und wühlte scheinbar darin.
Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor
Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte
ihm zu und meckerte: "Konstantindl, gut, daß du kommst, den ganzen Abend
hab' ich dich schon gesucht."
"Jezis, Maria und Josef", heulte der Baron und floh zur Tür, "der Tod ist im
Haus. Hilfe, Hilfe, da ist ja mein seliger Bruder Bogumil!"
Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den
verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt
hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt,
so überaus ähnlich klang sie der des Verbliebenen.
Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig
im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die
offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige
Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine
Bewegungen, mit denen er sie anfaßte, hob und wegstellte.
Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte
und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig –
aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und
ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des
Eindrucks, daß sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die
Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier
gehaust hatte.
Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein
trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für
einen Augenblick zerstörte, faßte sie das Grauen an, und sie warteten stumm
und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.
Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer
unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in
die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann,
vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er
vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte
– wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, daß
man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem
Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf
einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen –; nur von
Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von
seinem "toten Bruder" den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.
Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich
einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel –
offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl
zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich
einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung,
sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloß auf, zog ein Fach heraus, legte
seinen "Brief" hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.
Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, daß niemand die
Stimme Boženas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: "Milostpane!
Gnä' Herr! Dirfen wir herein?"
"Haben – haben Sie's gesehen? Flugbeil, haben Sie's auch gesehen? War das
nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?"
brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das
Schweigen; "ich hab' doch gar nicht geahnt, daß da eine Schublad ist."
Jammernd und die Hände ringend, brach er los: "Bogumil, um Gottes willen,
ich hab' dir doch nichts getan! Heiliger Václav, vielleicht hat er mich enterbt,
weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!"
Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein
lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.
Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im
Zimmer, die von Božena als die "böhmische Liesel" vorgestellt wurde.
Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch
immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte,
welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur
Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und
Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.
Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch
wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die
Spuren einstiger großer Schönheit auf.
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische
Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie
überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, daß ihr die Umgebung in
keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar
aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen
wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem
kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der
höflichen Frage zuvor:
"Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es
sich handelt?"
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende,
wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und
musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der
Herren schloß sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre
Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher,
scharfer Gegenfragen:
"Dieser Mann dort" – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand
gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist
vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här' ich, bei Ihnen? –
Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – –?" – sie brachte das Wort
nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen,
packte sie wieder das Grausen. – "Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – – –
Ist er vielleicht krank?" milderte sie den Ausdruck.
Die "böhmische Liesel" zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der
Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu
schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren,
überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, daß der
Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
"Er ist von dem Gartentor heruntergefallen", mischte sich der kaiserliche
Leibarzt schnell ein. "Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach
Ihnen geschickt. – – Wer und was er ist" – fuhr er krampfhaft fort, um zu
verhindern, daß sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, "tut ja nichts
zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch,
was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab' mir gleich gedacht, daß Sie wissen, was
das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel
achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn
jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Božena kann Ihnen dabei
behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?"
"Jaja. Nur hinaus mit ihm!" wimmerte Elsenwanger. "O Gott, nur fort, nur
fort."
"Ich weiß bloß, daß er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler
ist", sagte die "böhmische Liesel" ruhig. "Er geht des Nachts in den
Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er" – sie
schüttelte den Kopf – "ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner
herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine
Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So
kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, daß hier keine Gastwirtschaft ist?"
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und faßte ihn an der Hand. –
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus
seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein
Gang sicher und das normale Selbstbewußtsein halb und halb zurückkehrend –
trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle
seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.
Aber auch der hochfahrende Ausdruck des ägyptischen Königs war aus
seinem Gesicht ausgelöscht. Nur noch ein Schauspieler! – Eine Maske aus
Fleisch und Haut, jeden Augenblick zu einer neuen, unbegreiflichen
Veränderung gespannt – eine Maske, wie der Tod selbst sie tragen würde,
wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen – "das Antlitz eines
Wesens" – fühlte der kaiserliche Leibarzt, den wiederum eine dumpfe Furcht,
er müsse diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen haben, befallen
hatte, "eines Wesens, das heute der und morgen ein völlig anderer sein kann –
ein anderer, nicht nur für die Mitwelt, nein, auch für sich selbst – eine Leiche,
die nicht verwest und der Träger ist für unsichtbare, im Weltraum
umherirrende Einflüsse – ein Geschöpf, das nicht nur 'Spiegel' heißt, sondern
vielleicht wirklich – einer ist."
Die "böhmische Liesel" hatte den Mondsüchtigen aus dem Zimmer gedrängt,
und der kaiserliche Leibarzt benützte die Gelegenheit, ihr zuzuflüstern:
"Geh Sie jetzt, Lisinka; ich werd' Sie morgen aufsuchen. – Aber sprech sie
mit niemand drüber! – Ich muß Näheres über diesen Zrcadlo erfahren."
Dann blieb er noch eine Weile zwischen Tür und Angel stehen und horchte
die Treppe hinab, ob die beiden wohl miteinander sprechen würden, aber das
einzige, das er hören konnte, waren immer die gleichen beruhigenden Worte
des Frauenzimmers: "Kommen Sie, kommen Sie, Pane Zrcadlo! Sie sehen
doch, es ist kein Gasthaus hier!" –
Als er sich umdrehte, bemerkte er, daß die Herrschaften bereits ins
Nebenzimmer gegangen waren, sich am Spieltisch niedergesetzt hatten und auf
ihn warteten.
An den blassen, aufgeregten Gesichtern seiner Freunde sah er, daß ihre
Gedanken wahrlich nicht bei den Karten weilten und daß es wohl nur ein
herrischer Befehl der willensstarken alten Dame gewesen war, der sie
gezwungen hatte, ihre gewohnheitsmäßige abendliche Zerstreuung
aufzunehmen, als sei nicht das geringste geschehen.
"Das wird heute ein konfuser Whist werden", dachte er bei sich, ließ sich
aber nichts merken und nahm nach einer leichten, vogelartigen Verbeugung
der Gräfin gegenüber Platz, die mit nervös zuckenden Händen die Blätter
verteilte.