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Einleitendes Essay
ОглавлениеWoher kommt es, dass Menschen seit Jahrhunderten mit Begeisterung in den Krieg ziehen, ohne zu wissen, wofür eigentlich? Wie lässt es sich erklären, dass sich die Menschheit mit Euphorie, von der Antike bis in die Gegenwart, politischen Demagogen zu Füßen wirft? Warum werden an Stammtischen politische Ideen vertreten, ohne dass diese dort auch nur im Ansatz verstanden werden? Mit genau diesen Fragen beschäftigte sich Gustave Le Bon (1842-1931) bereits im 19. Jahrhundert, einer Phase, als erkennbar wurde, was dann immer wieder als Zeitalter der Massen bezeichnet worden ist. Die Antworten in seinem Hauptwerk „Psychologie der Massen“ (1895) sind teilweise veraltet, teilweise jedoch so aktuell wie eh und je.
In „Psychologie der Massen“ stellt Le Bon die These auf, dass die Macht der Massen für die kulturelle Entwicklung einer Gemeinschaft zerstörerisch ist. Einem Individuum gleich, durchlebt eine Kultur in ihrer Geschichte verschiedene Entwicklungsstadien, an deren Ende unweigerlich der zivilisatorische Untergang steht, sobald die Macht in die Hände der Massen gerät. Grund ist die blinde, bisweilen fanatische Gefolgschaftstreue, die Le Bon der Masse unterstellt und somit allzu schnell von einzelnen Personen (bei Le Bon „Führern“) zu ihren Gunsten ausgeschlachtet wird. Als Beispiele führt Le Bon die Schreckensherrschaft von Robespierre nach der Französischen Revolution sowie die Diktatur Napoleons an, die ohne die brennende Unterstützung vom einfachen Volk nicht möglich gewesen wäre. In der Masse gibt der Mensch seine Individualität auf. Das Handeln der Massen ist weder von rationalen noch idealistischen Prämissen geleitet, sondern, so der Autor, beruht ausschließlich auf Impulsivität und Intoleranz.
Aus heutiger Sicht muss „Psychologie der Massen“ differenziert betrachtet werden. Zwar sind die Aussagen über die Manipulierbarkeit der Massen bis in die Gegenwart gültig, deren Ursachen hingegen aus sozialwissenschaftlicher und psychologischer Sicht nicht mehr haltbar. Darüber hinaus fällt auf, dass Le Bon bei der Artikulation seiner Thesen ironischerweise auf Techniken zurückgreift, die er selbst in seinem Werk zu entlarven versucht: „Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen“, schreibt Le Bon. So stützen sich viele seiner Aussagen auf ein nicht vorhandenes empirisches Fundament, wobei das durchaus der Wissenschaftskultur der damaligen Zeit entsprach. In expertokratischem Duktus formulierte man seine wohldurchdachten Ideen. Dabei muss man Le Bon zugutegehalten, dass es im 19. Jahrhundert noch keine methodischen Techniken der Massenpsychologie gab. Weiterhin wird sich der Leser daran stoßen, dass gesellschaftliche Umbrüche mit Begriffen wie „Rassenseele“ und „Nationalcharakter“ erklärt werden.
Auf der anderen Seite trifft Le Bon Aussagen – und allein dafür lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Le Bons Werk –, die universellen Charakter haben. In der Masse verliert der Mensch seinen kritischen Verstand und schwimmt nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes im gesellschaftlichen Strom mit. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Um Le Bons Gedankengänge zu verstehen, muss der Entstehungskontext des Buches berücksichtigt werden. Le Bon verarbeitet in seinem Werk „Psychologie der Massen“ persönliche Erfahrungen, die er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Universalgelehrter sammelte. Als 28-jähriger Arzt diente er 1870 in einem Lazarett und beobachtete den fanatischen Eifer, den die französischen Soldaten im deutsch-französischen Krieg an den Tag legten. Fasziniert und alarmiert über die Manipulation der „Volksseele“ setzte sich Le Bon in den folgenden 20 Jahren ausgiebig mit der Psychologie der Massen auseinander und legte somit den Grundstein der modernen Sozialpsychologie. In soziopolitischer Hinsicht bereitete ihm eine Entwicklung besondere Kopfschmerzen: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren in Europa sozialistische Ideen auf dem Vormarsch. Le Bon, geprägt durch seine Abneigung gegenüber der Pariser Kommune 1870/71, sah in der sozialistischen Revolution den Untergang der westlichen Zivilisation. Exemplarisch stand der Sozialismus steht für Le Bon für die Gleichmacherei der Menschheit und den damit verbundenen Gefahren. Somit verband er mit seinen Forschungen zur Massenseele gleichzeitig auch einen politischen Nutzen: „Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen […] aber wenigstens nicht allzu sehr von ihnen beherrscht werden will“.
In diesem Zitat spiegelt sich aber auch, was aus dem Buch unmittelbar emporsteigt: Die Ablehnung und kulturkritische Deutung der modernen Gesellschaft, die durch Partizipation aller statt durch feudale Strukturen geprägt war. Was andere also als Durchbruch zu mehr Repräsentation und Mitsprache sahen, deutete Le Bon, als Bildungsbürger durch und durch, kritisch. Entsprechend distanziert klingt dann auch, wenn er von den „Massen“ spricht. Was darunter im Übrigen genau zu verstehen ist, welche Bevölkerungsgruppen damit gemeint sind, wird nicht genau deutlich. Massen sind in manchen Kontexten, eben wenn es um den Sozialismus geht, als die politisch aufbegehrenden Unterschichten zu verstehen. Jedoch bietet Le Bon auch Beispiele, in denen deutlich wird, dass die Teilhabe an einer Masse durchaus situativ ist und die Masse eine Kraft ist, die das Individuum mitreißt. Unverkennbar sind hier die bildungsbürgerlich, individualistischen und expertokratischen Gedanken eines Vertreters der Elite. Aber Le Bon gelang es, ein Phänomen zu beschreiben, was die modernen Gesellschaften im Übergang zum 20. Jahrhundert offensichtlich brennend beschäftigte. Nicht zuletzt aus diesem Grund fand „Die Psychologie der Massen“ bereits zu Lebzeiten des Autors große internationale Anerkennung. Das Werk wurde in zehn Sprachen übersetzt und prägte die Sozialwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Max Weber und Sigmund Freud bauten ihre Forschungen auf Le Bons Arbeiten aus. Le Bon kann somit zu Recht als Urvater der modernen Massenpsychologie bezeichnet werden. Seine Thesen über die Manipulierbarkeit der Massen wurden auch von Adolf Hitler und den Nationalsozialisten rezipiert – mit bekanntem Ergebnis. Le Bons negative Sicht prägt denn auch bis heute das Bild der Massen als politische Gefahr und als Kraft, die gesteuert werden muss.
Frank Petrasch