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II.

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»Bitte, wo wohnt hier Herr Forestier?«

»Im dritten Stock links.«

Der Concierge gab diese Auskunft mit freundlichem Ton, aus dem Hochachtung vor dem Mieter zu entnehmen war.

George Duroy stieg die Treppe hinauf. Er war ein wenig verlegen, etwas schüchtern und fühlte sich nicht sehr behaglich. Zum ersten Mal in seinem Leben trug er einen Frack, und das ganze Zubehör dieser Kleidung störte ihn. Er fühlte, dass Vieles an ihm nicht perfekt war. Seine Stiefel sahen ziemlich elegant aus, denn er hielt auf gute Fußbekleidung, waren aber keine Lackschuhe. Das Hemd hatte er sich erst vormittags für vier Francs fünfzig im Louvre gekauft, und der schmale, gestickte Brusteinsatz sah schon jetzt zerknittert aus. Übrigens waren die anderen Oberhemden, die er sonst trug, alle mehr oder weniger beschädigt und konnten überhaupt nicht in Frage kommen. Die Hosen waren ihm viel zu breit, sie passten sich schlecht der Beinform an und schlugen über der Wade hässliche Falten. Man sah es ihnen an, dass sie abgenutzt und für einen anderen zugeschnitten waren. Nur der Frack saß gut, denn er hatte einen gefunden, der richtig zu seiner Figur passte.

Langsam stieg er die Treppe hinauf. Vor Angst pochte ihm sein Herz. Vor allem quälte ihn die Furcht, lächerlich zu erscheinen. Plötzlich sah er gerade vor sich einen Herrn in großer Toilette, der ihn betrachtete. Sie standen so dicht beieinander, dass Duroy unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Dann blieb er verblüfft stehen: es war sein eigenes Spiegelbild in einem hohen Wandspiegel, der im Flur des ersten Stockes eine lange Perspektive vortäuschte. Er zitterte vor lauter Freude, nie hätte er gedacht, dass er so vornehm und elegant aussehen könnte. Zu Hause, in seinem kleinen Rasierspiegel, dem einzigen, den er besaß, hatte er sich nicht richtig betrachten können und war nach einem flüchtigen Blick über die Mängel seiner improvisierten Gesellschaftstoilette außer sich geraten. Der Gedanke, lächerlich zu erscheinen, machte ihn verrückt. Als er sich aber plötzlich in dem Spiegel erblickte, hatte er sich nicht einmal erkannt, er hatte sich für einen anderen gehalten, für einen Herrn aus bester Gesellschaft, den er beim ersten Anblick für sehr elegant und schick hielt. Und jetzt, wo er sich sorgfältig betrachtete, fand er, dass die Gesamtwirkung tatsächlich zufriedenstellend war.

Darauf studierte er seine Haltung, wie ein Schauspieler, der seine Rolle lernt. Er lächelte sich zu, reichte sich selber die Hand, machte verschiedene Gebärden, versuchte sich einzelne Gemütsbewegungen vorzuspielen: Erstaunen, Freude, Beifall; er beobachtete die Nuancen des Lächelns und studierte die stumme Sprache der Blicke, um sich bei Damen beliebt zu machen und ihnen anzudeuten, dass er sie liebt und bewundert.

Eine Tür ging im Treppenflur auf. Er fürchtete, überrascht zu werden, und lief hastig hinauf, aus Angst, dass ihn ein Gast seines Freundes so gesehen hätte, wie er sich selbst Faxen vormachte. Er erreichte den zweiten Stock, bemerkte einen anderen Spiegel und mäßigte seine Schritte, um sich im Vorbeigehen wieder genau beobachten zu können. Seine Erscheinung kam ihm jetzt wirklich elegant vor. Sein Auftreten und seine Haltung waren gut. Und ein maßloses Selbstvertrauen und Übermut erfüllten seine Seele. Ja, mit diesem Äußeren und mit dem festen Willen, vorwärts zu kommen, mit seiner rücksichtslosen Energie und seinem unabhängigen Verstand musste er Glück haben. Die Treppe zum dritten Stock wäre er am liebsten hinaufgesprungen. Vor dem dritten Spiegel blieb er nochmals stehen, drehte gewohnheitsmäßig den Schnurrbart, nahm seinen Zylinderhut ab, um seine Frisur glatt zu streichen und murmelte mit halblauter Stimme: »Ein glänzender Einfall.« Dann streckte er die Hand aus und klingelte.

Die Tür ging fast im selben Moment auf und er befand sich vor einem ernsthaften, glattrasierten Diener in schwarzem Frack, der eine so tadellose Haltung zeigte, dass Duroy, ohne zu begreifen weshalb, von Neuem dieselbe unerklärliche Unsicherheit und Verlegenheit fühlte; vielleicht durch den unbewussten Vergleich der Schnitte ihrer Anzüge hervorgerufen. Dieser Diener, der Lackschuhe trug, nahm Duroy den Überzieher ab, den dieser auf dem Arm getragen hatte, damit die Flecke nicht allzu sichtbar waren, und fragte ihn:

»Wen darf ich melden?«

Dann hob er den Türvorhang und rief den Namen in den Salon hinein.

Aber Duroy verließ plötzlich alle seine Würde. Er fühlte sich vor Furcht gelähmt und atmete schwer. Er stand jetzt an der Schwelle eines neuen Lebens, von dem er geträumt und auf das er gehofft hatte.

Trotzdem ging er weiter. Eine junge, blonde Dame stand ganz allein in einem großen hellerleuchteten Zimmer, das voller Topfpflanzen war, wie ein Treibhaus.

Ganz außer Fassung gebracht, blieb er plötzlich stehen. Wer war diese Dame, die ihn lächelnd erwartete? Dann fiel ihm ein, dass Forestier verheiratet war, und der Gedanke, dass diese hübsche, elegante Blondine die Frau seines Freundes war, verblüffte ihn vollends.

Er murmelte:

»Madame, ich bin ...«

Sie reichte ihm die Hand.

»Ich weiß es, mein Herr. Charles hat mir erzählt, wie er Sie gestern getroffen hat, und ich bin sehr froh, dass er den guten Einfall hatte, Sie heute zum Diner einzuladen.«

Er errötete bis an die Ohren und wusste absolut nicht, was er erwidern sollte. Er fühlte sich beobachtet, von Kopf bis zu den Füßen gemustert, abgeschätzt, gewogen. Er hatte Lust, sich zu entschuldigen, einen Grund zu erfinden, um die Nachlässigkeit seiner Kleidung zu erklären, aber er fand keinen, und wagte es nicht, diesen heiklen Punkt zu berühren. Er setzte sich in einen Armsessel, den sie ihm anbot, und als er unter sich den weichen und elastischen Samt des Polsters fühlte, als dessen Seitenlehnen ihn wie ein Paar zärtlicher Arme umfingen, da war es ihm, als sei er jetzt endlich in ein neues, reizvolles Leben getreten, als hätte er was Kostbares erobert, als sei er nun endlich etwas geworden; und er betrachtete Frau Forestier, deren Blicke unverwandt auf ihm ruhten. Sie trug ein hellblaues Kaschmirkleid, das ihre biegsame Figur und ihre volle Brust zur Geltung brachte. Durch die weißen Spitzen, mit denen der Kragen und die kurzen Ärmel besetzt waren, schimmerte das Fleisch ihrer Arme und ihres Busens, und die Haare, die auf dem Scheitel zusammengenommen waren und sich im Nacken leicht kräuselten, bildeten eine leichte Flaumwolke über dem Hals.

Ihre Blicke beruhigten Duroy, sie erinnerten ihn, ohne dass er wusste warum, an den Blick des Mädchens, das er gestern in den Folies Bergère getroffen hatte. Madame Forestier hatte blaugraue Augen, von einem seltsamen Ausdruck, eine schmale Nase, starke Lippen, ein etwas fleischiges Kinn und unregelmäßige, verführerische Gesichtszüge voll Anmut, Liebenswürdigkeit und List. Es war eins von diesen Gesichtern, die mit jeder Linie einen besonderen Reiz und Schönheit ausdrücken und die mit jeder Bewegung etwas zu sagen oder zu verbergen scheinen. Nach einer kurzen Pause fragte sie ihn:

»Sind Sie schon lange in Paris?«

Er gewann allmählich seine Selbstbeherrschung wieder:

»Seit einigen Monaten erst, Madame. Ich bin bei der Eisenbahn angestellt, aber Ihr Gatte hatte mir die Hoffnung gemacht, ich könnte mit seiner Hilfe Journalist werden.«

Sie hatte ein noch ausdrucksvolleres und wohlwollenderes Lächeln und murmelte mit leiser Stimme:

»Ich weiß.«

Es klingelte von Neuem und der Diener meldete: »Madame de Marelle.«

Es war eine kleine Brünette, die mit flinken Bewegungen eintrat. Ihre Gestalt schien von Kopf bis zu den Füßen in ihrem ganz einfachen dunklen Kleide hervorzutreten. Nur eine rote Rose, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, zog gewaltsam das Auge an. Sie unterstrich den Charakter ihres Aussehens, sie betonte ihr eigenartiges Wesen und gab ihr den lebhaften, schnellen Ausdruck, der zu ihr passte. Ein kleines Mädchen in kurzem Kleid folgte ihr. Madame Forestier eilte ihr entgegen:

»Guten Tag, Clotilde.«

»Guten Tag, Madeleine.«

Sie umarmten sich. Dann hielt das Kind seine Stirn zum Kusse hin, mit der Sicherheit einer Erwachsenen und sagte:

»Guten Tag, Kusine.«

Madame Forestier gab ihr einen Kuss und stellte dann vor:

»Monsieur Georges Duroy, ein guter Freund von Charles, — Madame de Marelle, meine Freundin und Verwandte.«

Sie fügte hinzu:

»Sie wissen, wir sind hier ganz einfach unter uns, ohne Feierlichkeit und Zwang. Das ist selbstverständlich, nicht wahr?«

Der junge Mann verbeugte sich.

Doch die Tür ging von Neuem auf und ein ganz kleiner, runder, dicker Herr erschien. Er führte am Arm eine große, schöne Frau, größer als er selbst, viel jünger, mit vornehmem Benehmen und ernstem Wesen. Das war Herr Walter, Deputierter, Finanzier, Geld- und Geschäftsmann, ein südfranzösischer Jude, Direktor der ›Vie Française‹, und seine Frau, geborene Basile-Ravalau, die Tochter des Bankiers gleichen Namens. Dann kamen gleich nacheinander der elegante Jaques Rival und Norbert de Varenne, dessen Rockkragen unter der steten Berührung der langen Dichtermähne glänzte, die bis an die Schulter reichte und diese mit kleinen weißen Schuppen bedeckte.

Seine schlecht gebundene Krawatte schien er nicht das erste Mal zu tragen. Mit der Grazie eines galanten alten Herrn küsste er Frau Forestier auf das Handgelenk und sein langes Haar fiel dabei wie ein Wasserfall auf den nackten Arm der jungen Dame. Nun erschien auch der Hausherr und entschuldigte sich für sein spätes Erscheinen. Er sei jedoch in der Redaktion durch den Fall Morel zurückgehalten worden. Der radikale Abgeordnete Morel hatte soeben den Minister wegen einer Kreditforderung für die Kolonisierung Algiers interpelliert.

Der Diener meldete: »Es ist angerichtet!«

Man ging in das Speisezimmer.

Duroy saß bei Tisch zwischen Madame de Marelle und ihrer Tochter. Er fühlte sich von Neuem verlegen, weil er fürchtete, irgendeinen Irrtum in der richtigen Handhabung von Gabel, Löffel oder Gläsern zu begehen. Vier Gläser standen vor ihm, von denen eins etwas matt bläulich war. Was mochte man wohl aus diesem trinken? Während der Suppe herrschte Schweigen, dann fragte Norbert de Varenne:

»Haben Sie den Prozess Gauthier gelesen?«

Und nun redete man hin und her über diesen Ehebruchsskandal, der durch eine Erpressung besonders verwickelt war. Man sprach nicht darüber, wie man im Familienkreis über Ereignisse spricht, die in den Zeitungen stehen, sondern wie man unter Ärzten über Krankheiten, unter Obsthändlern über Früchte spricht. Man war nicht entrüstet oder erstaunt über die Tatsachen, man forschte nur mit einer beruflichen Sorgfalt und mit vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber dem Verbrechen selbst, nach dessen tieferen, verborgenen Ursachen. Man suchte einfach die Motive der Handlung zu erklären, all die psychischen Vorgänge, die dieses Drama veranlasst hatten; es war sozusagen das wissenschaftliche Resultat einer besonderen Geistesverfassung. Auch die Damen nahmen an dieser Untersuchung regsten Anteil.

Es wurden dann noch andere Ereignisse diskutiert, besprochen, von allen Seiten beleuchtet und nach ihrer Wichtigkeit beurteilt mit dem scharfen, praktischen Sinn der Zeitungsmenschen, der Nachrichtenhändler, des zeilenweisen Verschacherns der menschlichen Komödie, genau, wie man unter Kaufleuten die Gegenstände prüft und dreht und abschätzt, bevor man sie dem Publikum zum Verkauf anbietet. Dann kam das Gespräch auf ein Duell, und Jaques Rival ergriff das Wort. Das war sein Fach: niemand anders durfte diese Frage behandeln.

Duroy traute sich nicht, an der Unterhaltung teilzunehmen. Er betrachtete ein paarmal seine Nachbarin, deren üppiger Busen ihn erregte. An ihrem Ohr hing ein Diamant, der durch einen dünnen Goldfaden gehalten wurde, wie ein Wassertropfen, der über das Fleisch geglitten war. Von Zeit zu Zeit machte sie eine Bemerkung, die stets ein Lächeln auf ihren Lippen hervorrief. Sie hatte einen witzigen, liebenswürdigen, schnell auffallenden Esprit, den Esprit eines alles wissenden Gassenjungen, der die Dinge mit Gleichmut betrachtet und mit leichtem, lustigem Spott über sie hinweggeht.

Duroy versuchte vergeblich, ihr irgendein Kompliment zu sagen, und da er nichts fand, beschäftigte er sich mit ihrer Tochter; er goss ihr Wein ein, hielt ihr die Schüssel, bediente sie und erwies sich als aufmerksamer Nachbar. Das Kind war viel ernster als seine Mutter, dankte mit ruhiger Würde, nickte mit dem Kopf und sagte:

»Sie sind sehr liebenswürdig...«, und dann lauschte sie wieder mit nachdenklichem Gesichtsausdruck der Unterhaltung der Erwachsenen.

Das Essen war vortrefflich und fand allgemeinen Beifall. Herr Walter aß wie ein hungriger Wolf, sprach fast gar nichts und betrachtete unter seinem Kneifer mit schrägen Blicken die Speisen, die ihm serviert wurden. Norbert de Varenne wetteiferte mit ihm und ließ Sauce auf den Hemdeinsatz fallen.

Forestier überwachte das Ganze mit lächelnder Aufmerksamkeit, er wechselte von Zeit zu Zeit mit seiner Frau Blicke des Einverständnisses, als wollte er sagen: »Siehst du, unser schwieriges, gemeinsames Werk klappt ausgezeichnet.«

Die Gesichter wurden rot, die Stimmen laut. Alle Augenblicke flüsterte der Diener den Gästen ins Ohr: »Corton — Château Larose.«

Duroy fand den Corton nach seinem Geschmack und ließ jedesmal sein Glas füllen. Eine angenehme, erwärmende Fröhlichkeit erfüllte ihn, eine heiße Freude, die ihm vom Magen in den Kopf stieg, durch seine Adern rann und ihn ganz durchdrang. Er fühlte sich von vollkommenem Behagen erfüllt, von einem Behagen des Lebens und Denkens, des Körpers und der Seele.

Und es überkam ihn ein Verlangen, zu sprechen, sich hervorzutun, gehört und geschätzt zu werden, wie diese Männer, deren geringste Bemerkungen lauten Beifall fanden.

Die Unterhaltung ging unaufhörlich, sprang von einer Ansicht zur anderen, hatte nun alle Ereignisse des Tages erschöpft und dabei tausend Fragen gestreift. Dann kehrte sie zu der großen Interpellation des Herrn Morel über die Kolonisation in Algier zurück.

Herr Walter machte zwischen zwei Gängen ein paar scherzhafte Bemerkungen, denn er war geistreich und für Witze veranlagt. Forestier erzählte über seinen Artikel vom nächsten Tag. Jaques Rival verlangte eine militärische Verwaltung mit Überlassung von Ländereien an alle Offiziere, die zwanzig Jahre im Kolonialdienst verbracht hatten.

»Auf diese Weise«, sagte er, »werden sie eine energische Bevölkerung schaffen, die das Land seit längerer Zeit kennt und liebt, seine Sprache beherrscht und über alle Schwierigkeiten in kolonialen Fragen Bescheid weiß, an denen die Neulinge unfehlbar stolpern müssen.«

Norbert de Varenne unterbrach ihn.

»Ja ... sie werden über alles Bescheid wissen, nur nicht über die Landwirtschaft. Sie werden Arabisch verstehen, aber keine Ahnung davon haben, wie man Rüben pflanzt oder Getreide sät. Sie werden stark im Fechten sein und schwach im Düngen. Nein, dieses neue Land muss für jedermann offen sein. Die Tüchtigen werden dann dort ihren Weg machen, die anderen gehen eben zugrunde. Das ist ein soziales Gesetz.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Man lächelte.

George Duroy öffnete den Mund, und erstaunt über den Klang seiner Stimme, als ob er sich selbst noch nie hatte reden hören, sagte er:

»Woran es da unten am meisten fehlt, das ist der gute Boden. Die wirklich fruchtbaren Ländereien kosten da gerade soviel wie in Frankreich und werden als Kapitalanlage von reichen Parisern aufgekauft. Die wirklich armen Kolonisten, die auswandern, um Brot zu gewinnen, sind auf die Wüste angewiesen, wo aus Mangel an Wasser gar nichts gedeiht.«

Alle blickten ihn an; er fühlte, wie er rot wurde.

Herr Walter fragte: »Kennen Sie Algier, mein Herr?«

Er antwortete: »Jawohl, mein Herr, ich war dort achtundzwanzig Monate und habe mich in allen drei Provinzen aufgehalten.«

Nun fragte ihn plötzlich Norbert de Varenne, der den Fall Morel vergaß, über die Einzelheiten in den Sitten der Eingeborenen, die er von einem Offizier erfahren hatte. Es handelte sich um Mzab, eine seltsame, kleine, arabische Republik inmitten der Sahara, im trockensten Teile jenes heißen Erdteiles.

Duroy war zweimal in Mzab gewesen und erzählte nun von den Sitten dieses eigenartigen Landes, wo Wassertropfen Goldwert haben und jeder Bewohner zu allen öffentlichen Arbeiten verpflichtet ist und im Handel und Gewerbe eine Ehrlichkeit herrscht, wie man sie bei zivilisierten Völkern in Europa kaum kennt.

Er sprach mit einem gewissen Schwung; der Wein und der Wunsch zu gefallen, trieben ihn an. Er erzählte Anekdoten aus dem Soldatenleben, Kriegsgeschichten und allerlei kleine Züge aus dem Leben der Araber. Er fand sogar ein paar farbige Ausdrücke zur Schilderung der weiten, gelben Wüstenebene, die unter der verzehrenden Sonnenglut in ewiger Öde liegt. Alle Damen hielten die Augen auf ihn gerichtet.

Frau Walter murmelte mit ihrer langsamen Stimme:

»Sie könnten aus ihren Erinnerungen eine Reihe reizender Artikel machen.«

Daraufhin betrachtete auch Herr Walter über seinen Kneifer den jungen Mann, wie er es immer tat, wenn er ein Gesicht wirklich genau sehen wollte. Die Speisen sah er sich unter dem Kneifer hinweg an.

Forestier ergriff die Gelegenheit:

»Verehrter Chef, ich erzählte Ihnen bereits von Herrn George Duroy, und bat Sie, ihn für die politischen Informationen bei uns anzustellen. Seitdem Marambot uns verlassen hat, habe ich niemanden für dringende und vertrauliche Erkundigungen zur Verfügung und für die Zeitung ist dieser Mangel recht bedeutend.«

Papa Walter wurde plötzlich ganz ernst und nahm seine Brille ab, um Duroy noch genauer betrachten zu können. Dann sagte er:

»Sicherlich hat Herr Duroy einen originellen Verstand. Wenn er mich morgen Nachmittag um drei Uhr besuchen will, werden wir das besprechen.«

Nach einer kurzen Pause wandte er sich direkt an den jungen Mann:

»Aber schreiben Sie uns sofort eine kleine Reihe von Erinnerungen über Algier. Erzählen Sie über Ihre Eindrücke und bringen Sie damit die Kolonialfrage in Verbindung, so wie Sie es eben taten. Es ist aktuell, höchst aktuell, und es wird unseren Lesern ohne Zweifel zusagen.

Aber beeilen Sie sich. Ich brauche den ersten Artikel schon morgen oder übermorgen, damit wir das Publikum bearbeiten können, solange man darüber in der Kammer debattiert.«

Frau Walter fügte mit jener ernsthaften Liebenswürdigkeit, die sie immer zeigte, noch hinzu:

»Und Sie hätten einen reizenden Titel: ›Erinnerungen eines afrikanischen Jägers‹, nicht wahr, Herr Norbert?«

Der alte Dichter, der erst spät zu Ansehen und Ruhm gekommen war, verabscheute Neulinge und misstraute ihnen. Er antwortete trocken:

»Ja, ausgezeichnet, vorausgesetzt, dass die Artikel auch die entsprechende Stimmung haben werden, was sehr schwer sein wird. Es kommt nämlich auf die richtige Stimmung an, oder musikalisch ausgedrückt, auf den Ton.«

Madame Forestier warf Duroy einen wohlwollenden, lächelnden Blick zu, wie ein erfahrener Kenner, der sagen will: »Du, du wirst schon deinen Weg machen.«

Madame de Marelle hatte sich mehrmals zu ihm hingedreht, und der Diamant in ihrem Ohr zitterte unaufhörlich, als wollte der dünne Wassertropfen sich ablösen und fallen. Nur die Kleine blieb unbeweglich und ernst und hielt den Kopf über ihren Teller gebeugt.

Der Diener ging rings um den Tisch und schenkte Johannisberger in die mattblauen Gläser, und dann wendete sich Forestier zu Herrn Walter und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf langes Gedeihen der Vie Française!«

Alle verbeugten sich vor dem Chef, der lächelte, und Duroy, durch seinen Erfolg berauscht, leerte sein Glas in einem Zug. Er hätte, so war ihm zumute, ein ganzes Fass austrinken können, er hätte einen Ochsen aufessen, einen Löwen erwürgen können. Er fühlte übermenschliche Kraft in sich, unbesiegbare Energie und unbegrenzte Hoffnungen. Jetzt war er inmitten dieser Menschen zu Hause, er hatte sich hier eine Stellung verschafft, seinen Platz erobert. Jetzt blickte er jedem Einzelnen zuversichtlich ins Auge, und zum ersten Mal wagte er auch seine Nachbarin anzusprechen.

»Sie haben die schönsten Ohrringe, Madame, die ich je gesehen habe.«

Lächelnd wandte sie sich zu ihm hin.

»Es war ein guter Einfall von mir, die Diamanten so einfach am Ende eines Goldfadens aufzuhängen. Nicht wahr, sie sehen aus wie Tautropfen?«

Verwirrt durch seine eigene Kühnheit und voller Angst, ob er auch nicht eine Albernheit sage, murmelte er:

»Ganz reizend ... Aber an Ihren Ohren sehen sie besonders schön aus.«

Sie dankte ihm mit einem Blick, mit einem jener offenen Frauenblicke, die bis ins Herz dringen.

Als er den Kopf herumwandte, begegnete er wieder den Augen der Frau Forestier, die ihn noch immer wohlwollend ansahen, doch glaubte er in ihnen jetzt eine lebhaftere Heiterkeit, eine leise Hinterlist und eine Ermutigung zu lesen.

Die Herren redeten jetzt alle durcheinander, mit lebhaften Gebärden und schallender Stimme. Man besprach den Riesenplan der Untergrundbahn. Der Gegenstand war auch beim Dessert noch nicht erschöpft und jeder hatte einige Dinge zu sagen über die zu langsamen Verbindungen in Paris, über die Unbequemlichkeiten der Straßenbahn und der Omnibusse und über die grobe Unverschämtheit der Droschkenkutscher.

Dann verließ man den Speisesaal, um Kaffee zu trinken. Duroy bot aus Scherz dem kleinen Mädchen seinen Arm an, das ihm mit ernster Miene dankte und sich auf die Fußspitzen stellte, um ihre Hand auf den Arm des Nachbars legen zu können.

Als er in den Salon eintrat, hatte er von Neuem das Gefühl, in ein Treibhaus zu kommen. Hohe Palmen öffneten ihre anmutigen Fächer in allen vier Ecken, stiegen bis zur Decke empor und verbreiteten sich dann wie Wasserstrahlen. Zu beiden Seiten des Kamins standen zwei runde Gummibäume mit ihren langen, dunkelgrünen, übereinander wachsenden Blättern, und auf dem Flügel prangten zwei ganz originelle, runde Sträucher, mit Blüten bedeckt, die einen dunkelrosa, die anderen schneeweiß. Sie sahen aus, als ob sie künstlich wären und zu schön, um echt zu sein.

Die Luft war angenehm frisch, von einem diskreten, zarten Parfüm erfüllt, das man nicht näher bestimmen konnte.

Duroy fühlte sich jetzt bedeutend sicherer und sah sich das Zimmer aufmerksam an. Es war nicht groß, und außer den Sträuchern war nichts darin, was den Blick besonders auf sich lenkte, keine lebhaften Farben traten hervor; man fühlte sich ruhig und gemütlich darin; es umfing den Körper sanft wie eine zärtliche Liebkosung. Die Wände waren mit einem alten, violetten Stoff bespannt, mit kleinen gelblichen Pünktchen, die kleine Blümchen darstellten und so groß waren wie eine Fliege. Blaugraue Tuchportieren mit leichten Stickereien aus roter Seide bedeckten die Türen und Fenster, und durch das ganze Zimmer standen, wahllos verstreut, Sitzmöbel in allen Formen und Größen, Chaiselongues, große und kleine Fauteuils, Puffs und Taburetts mit Louis-XVI.-Seide oder schönem Utrechter Samt bezogen, mit granatfarbenem Muster auf cremefarbenem Grund.

»Nehmen Sie eine Tasse Kaffee, Herr Duroy?«

Frau Forestier reichte ihm die volle Tasse mit einem freundlichen Lächeln, das ihre Lippen nicht verließ.

»Ja, gnädige Frau, ich danke Ihnen.«

Er nahm ihr die Tasse aus der Hand, und während er sich ängstlich vorbeugte, um mit der silbernen Zange ein Stück Zucker aus der Schale zu nehmen, die das kleine Mädchen hielt, sagte die junge Dame halblaut:

»Sie müssen jetzt Frau Walter den Hof machen.«

Dann entfernte sie sich, bevor er ein Wort hatte antworten können.

Zunächst trank er seinen Kaffee aus, weil er fürchtete, denselben womöglich noch auf den Teppich zu gießen. Dann fühlte er sich etwas freier und suchte nach einer Möglichkeit, sich der Frau seines zukünftigen Direktors zu nähern und eine Unterhaltung anzuknüpfen.

Plötzlich bemerkte er, dass sie eine leere Tasse in der Hand hielt. Sie befand sich ziemlich weit von einem Tisch und wusste nicht recht, wo sie die Tasse hinstellen sollte. Er eilte auf sie zu.

»Gestatten Sie, Madame.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr.«

Er trug die Tasse fort und kam wieder zurück:

»Wenn Sie wüssten, gnädige Frau, welch glückliche Stunden mir die ›Vie Française‹ da unten in der Wüste bereitet hat. Sie ist wirklich die einzige Zeitung, die man außerhalb Frankreichs lesen kann, denn sie ist geistvoller, literarischer und lange nicht so monoton und banal wie die übrigen. Man findet alles, was man will.«

Sie lächelte mit liebenswürdiger Gleichgültigkeit und sagte dann ernst:

»Herr Walter hat sich viel Mühe gegeben, eine solche Zeitung zu schaffen. Sie entspricht dem jetzigen modernen Bedürfnis.«

Sie begannen zu plaudern. Er sprach leicht und oberflächlich mit einer reizvollen Stimme. Auch hatte er viel Anmut im Blick und einen unwiderstehlich bestechenden Schnurrbart. Er wirbelte sich kraus und allerliebst auf der Lippe, dunkelblond, mit einem Stich ins Rötliche, während die Haarspitzen etwas heller schimmerten.

Sie unterhielten sich über Paris und seine Umgebung, über die Ufer der Seine, über die Badeorte, Sommerfrischen und alle diese Dinge, über die man ohne jegliche geistige Anstrengung endlos plaudern kann.

Dann trat Norbert de Varenne mit einem Likörglas in der Hand heran, und Duroy zog sich diskret zurück.

Madame de Marelle, die sich eben mit Madame Forestier unterhielt, rief ihn heran: »Also, Sie wollen es mit dem Journalismus versuchen?« fragte sie etwas schroff.

Da sprach er mit unbestimmten Worten über seine Pläne und begann dann mit ihr genau dieselbe Unterhaltung, die er vorher mit Frau Walter geführt hatte. Jetzt, wo er den Gegenstand besser beherrschte, zeigte er sich etwas gewandter und wiederholte, wie aus sich heraus, das, was er gerade gehört hatte. Dabei blickte er seiner Dame fortwährend in die Augen, wie um seinen Worten einen tieferen Sinn zu geben.

Sie erzählte ihm ihrerseits Geschichten mit dem lebhaften Ton einer Frau, die weiß, dass sie geistreich und witzig ist, und die immer lustig wirken kann. Dann wurde sie vertraulich, legte die Hand auf seinen Arm, senkte die Stimme, um Nichtigkeiten zu sagen, die dadurch das Gepräge einer Vertraulichkeit erhielten.

Er war innerlich entzückt, der jungen Frau, die sich ihm so eifrig widmete, auch körperlich nahe zu sein. Am liebsten hätte er um ihretwillen sofort irgendeine große Tat vollführt und ihr gestanden, dass er sie schätze und nur deswegen manchmal verstumme, weil er ganz von ihr eingenommen sei.

Aber plötzlich rief Madame de Marelle ohne jede Veranlassung: »Laurine!« Das kleine Mädchen kam. »Setz' dich hierher, mein Kind, du erkältest dich am Fenster!«

Und Duroy empfand ein tolles Verlangen, das Kind zu küssen, als sollte auch die Mutter von diesem Kusse etwas verspüren. Er fragte in einem galanten, väterlichen Ton:

»Darf ich Sie küssen, kleines Fräulein?«

Das Kind sah ihn erstaunt an. Madame de Marelle sagte lachend: »Antworte: heute möchte ich es schon, denn immer geht das nicht.«

Duroy setzte sich sofort hin, zog Laurine auf sein Knie und streifte die zarten, wolligen Haare des Kindes mit den Lippen.

Die Mutter war erstaunt: »Wie, sie ist nicht davongelaufen? Das ist ja sonderbar. Sonst lässt sie sich nur von Frauen küssen. Sie müssen unwiderstehlich sein, Herr Duroy.«

Er wurde rot, antwortete nichts und schaukelte mit einer leichten Bewegung das kleine Mädchen auf den Knien.

Madame Forestier trat zu ihm und stieß einen Ruf des Erstaunens aus: »Schau, ein Wunder, Laurine ist gezähmt.«

Jaques Rival trat mit der Zigarre im Mund heran und Duroy verabschiedete sich, um durch irgendein ungeschicktes Wort den guten Eindruck, den er gemacht hatte, nicht wieder zu zerstören und das begonnene Eroberungswerk in Frage zu stellen.

Er verbeugte sich, drückte leicht die kleinen Frauenhände, die sich ihm entgegenstreckten, und schüttelte kräftig den Herren die Hand. Es fiel ihm dabei auf, dass Jaques Rivals Hand heiß und trocken war und seinen Druck herzlich erwiderte, während die Hand Norbert de Varennes feucht und kalt war und sich kaum fassen ließ. Vater Walters Hand war kühl und weich, ohne Energie und Ausdruck, die Forestiers fett und warm. Sein Freund flüsterte ihm zu:

»Morgen um drei. Vergiss nicht!«

»O nein, sei unbesorgt!«

Als er sich wieder auf der Treppe befand, war seine Freude so groß, dass er am liebsten hinabgelaufen wäre. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal.

Plötzlich erblickte er in dem großen Spiegel des zweiten Stockes einen übereiligen Herrn, der auf ihn zugesprungen kam. Beschämt blieb er stehen, als hätte man ihn auf einer Dummheit ertappt. Dann betrachtete er sich lange Zeit aufs Höchste verwundert, dass er wirklich ein so hübscher Kerl war. Freundlich lächelte er sich zu und verabschiedete sich dann von seinem Ebenbild mit einem tiefen, feierlichen Gruß, wie man eine hochgestellte Persönlichkeit grüßt.

Guy de Maupassant: Bel Ami (Deutsche Ausgabe)

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