Читать книгу Caromera - H. G Götz - Страница 4
Spätes Treffen
ОглавлениеLampert und Bogwin trafen spätabends im Haus von Hauptman ein.
Dieser hatte sie gleich an der Haustür empfangen und führte sie nach oben in sein Arbeitszimmer.
Dass die beiden sich nicht wohlfühlten, hätte Hauptman auch dann bemerkt, wenn deren zurückhaltende Stimmung nicht so augenfällig gewesen wäre. Zu offensichtlich war deren Nervosität und der gesenkte Blick ließ ihn, den geschickten Manipulator, den Zustand der beiden nach wenigen Sekunden erkennen.
In seinem Arbeitszimmer knisterte ein Feuer im offenen
Kamin und auf einem kleinen Seitentisch standen drei Gläser und eine Flasche Brandy. Der Raum, den sie betraten, wirkte einladend und unter anderen Umständen, hätten sie dessen Atmosphäre zu schätzen gewusst.
Verwundert sahen die beiden, wie Hauptman zum
Beistelltisch ging, sie nebenbei bat sich zu setzen. Hauptman ging zu dem kleinen Tisch, schraubte langsam den Verschluss von der Brandyflasche, und begann drei Gläser einzuschenken.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas wie Brandy in diesem Land noch gibt“, sagte Lampert noch immer verblüfft, als ihm ein Glas gereicht wurde.
Hauptman lachte auf, zeigte ein selbstsicheres Lächeln und sagte: „Alles nur eine Frage der Einteilung. Alles nur eine Frage der Einteilung.“
Nachdem er auch Bogwin ein Glas gereicht hatte, ging er mit langsamen, selbstsicheren Schritten hinter den
Schreibtisch, um sich auf seinen Stuhl zu setzen.
„Nun werte Kollegen, was verschafft mir die Ehre?“ Bogwin wäre am liebsten gleich wieder aufgestanden. Das selbstgefällige Lächeln dieses Mannes war ihm schon immer zutiefst zuwider gewesen. Dieser Hauptman wusste genau, warum sie sich dazu entschlossen hatten, mit ihm zusammen zu treffen. Bogwin verkniff sich den in ihm aufkommenden Ärger und nahm einen Schluck vom Brandy, der ihm genüsslich in die Nase stieg.
Lampert bemerkte die Gemütsregung seines neben ihm sitzenden Kollegen und ergriff das Wort.
„Nun“, begann er zögerlich.
„Wir alle wissen nur zu gut, in welcher Lage wir uns befinden!“ Er hielt kurz inne. Der Anfang war getan, doch wie sollte er weitermachen?
Hauptman fiel ihm ins Wort.
„Aber meine Herren“, preschte Hauptman vor. „Lassen sie uns doch gleich auf den Punkt kommen. Sie wollen wissen, wie ich mir die praktische Umsetzung meines Vorschlages vorstelle.“
„So könnte man es ausdrücken“, erwiderte Lampert, der sich mit jeder Sekunde unwohler fühlte.
Hauptman setzte sich auf, stellte sein Glas auf den Tisch und sah die beiden abwechselnd an.
„Wir wissen alle, dass unser Land Gefahr läuft, von der Landkarte zu verschwinden“, setzte er an. „Wir wissen auch, dass es nur deswegen soweit hat kommen können, weil wir auf Werte gesetzt haben die, ich möchte es mal so ausdrücken, falsch interpretiert und gehandhabt worden sind.“
Er sah mit bedeutungsvollen Blicken auf Lampert und Bogwin.
„Wir waren schwach und Gott allein weiß, wie oft ich dagegen protestiert habe, dass unser Land zu einem Hafen für alle wird, die ihre Hände in den Schoß gelegt hatten und mit offenem Mund dagestanden sind.“ Hauptmanns Stimme war lauter geworden.
„Und wo sind sie nun, all jene denen wir hilfreich unsere Hand hingehalten haben, die wir durchgefüttert haben? Weg! Bei den ersten Anzeichen, dass es mit unserem schönen Land bergab ging, haben sie sich aus dem Staub gemacht.“ Bogwin reichte es.
Gerade noch rechtzeitig fiel er Hauptman ins Wort, bevor dieser mit seiner Litanei fortfahren konnte. „Worin die Gründe liegen, wissen wir alle zur Genüge“, sagte er.
„Was wir wissen wollen ist, wie wir das wieder ins Lot bekommen sollen.“
Das bedeutungsvolle Herumgerede Hauptmans war ihm mit jeder Sekunde widerlicher geworden.
Hauptman lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und faltete seine Finger.
„Das genau ist die Frage“, erwiderte der nur kurz. „Um diese beantwortet zu bekommen sind wir hergekommen“, sagte Bogwin, der sich einen leicht sarkastischen Unterton nicht verkneifen konnte. „Dies stellt tatsächlich eine Herausforderung dar“, erwiderte Hauptman ihm.
„Aber, um sie nicht auf die Folter zu spannen, möchte ich ihnen gerne meinen Plan vorstellen!“
Bogwin und Lampert sahen, wie die Augen seines Gegenübers plötzlich zu leuchten begannen. Unbehagen erfüllte sie bei dem Anblick dieses grinsenden Hauptmans.
„Mein Vorschlag ist dieser. Ab sofort werden nur mehr jene mit den vollen Lebensmittelrationen versorgt, die gewillt sind, am Wiederaufbau unseres geliebten Landes mitzuwirken. Alle anderen, vor allem jene die nicht gewillt oder in der Lage sind, werden nur soweit versorgt, wie es unbedingt notwendig ist.“ Stille erfüllte den Raum.
Schließlich war es Bogwin, der das Schweigen beendete. „Und was ist mit den Älteren, den Kranken? Viele von ihnen haben dazu beigetragen, das Land mit aufzubauen. Viele ihrer Vorfahren waren mit am Aufbau dieses Landes beteiligt, haben hart gearbeitet. Was geschieht mit diesen?“
Hauptman sah ihm direkt in die Augen. Bildete er, Bogwin es sich nur ein, oder sah er ein eiskaltes Glitzern in den Augen seines Gegenübers?
„Wie gesagt“, begann Hauptman von Neuem.
„Wenn wir verhindern wollen das unser einst so gesundes
Land zugrunde geht, wenn wir verhindern wollen das sich
Menschen in den Straßen wegen eines Stück Brot an die Kehle gehen, müssen wir dafür Sorge tragen, dass genug für all jene vorhanden ist die ihren Teil dazu beitragen können, dass unser Land wieder zu dem wird, dass es einst war.“
„Sie reden um den heißen Brei herum Hauptman!“ In Bogwins Stimme hatte sich unmissverständlich Ungeduld gemischt.
„Wir müssen die Anzahl jener vermindern, die nicht dazu in der Lage sind dazu beizutragen, dass unser Land nicht vor die Hunde geht.“
Der Satz stand im Raum, hatte Gestalt angenommen.
Endlich war er gesagt worden, dieser Satz, den trotzdem er niemals zuvor ausgesprochen worden war, nun Wirklichkeit geworden war.
Bogwin und Lampert hatten, kaum dass der Satz zu Ende gesagt geworden war, die Luft angehalten.
Nach einer schier endlos langen Zeit war es wieder
Bogwin, der die Frage stellte. Jene Frage, die wie der Satz, der zum Ausdruck gekommen war, nun beantwortet werden musste.
Das Knistern des brennenden Holzes war der einzige Laut im Raum, der zu hören war. Ein Holzspalt der Feuer gefangen hatte, hatte sich mit einem Knall entzündet. Der unerwartete Laut ließ Bogwin und Lampert zusammenzucken.
Von dem kurzen lauten Knall erholt, fielen Bogwin, die winzig kleine Staubpartikel auf, die durch die Luft wirbelten. Unschuldig, im Vergleich zu dem was gerade hier vor sich ging, kamen sie ihm vor. Wie sehr er sich wünschte eines dieser unschuldigen ruhig dahinschwebenden Dinger zu sein. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen.
Mühsam rang er sich dazu durch, sich von diesem Gedanken zu lösen.
„Und wie sollte das ihrer Meinung nach …, bewirkt werden können?“
Schon jetzt fürchtete er sich vor der Antwort, von der er wusste, dass er sie bekommen würde.
Hauptman setzte sich ruhig, sehr ruhig, fast wie in Zeitlupe auf.
„Das ist der heikle Teil“, setzte Hauptman an.
„Ich nehme nicht an, dass sie marodierende Horden durch das Land schicken wollen, die auf alles schießt, dass alt und gebrechlich ist.“
Das plötzliche Auflachen Hauptmans erschreckte ihn.
„Aber nein, nicht doch“, sagte Hauptman.
„Da gibt es eine viel elegantere Methode, um das
Problem zu lösen.“
Bogwin sah diesen Mann, der keine drei Meter von ihm entfernt saß mit starrem Blick an. Es war ihm unmöglich, auch nur zu zwinkern.
„Er hat es tatsächlich gesagt“, ging es ihm durch den
Kopf. Er hat das Undenkbare gesagt!“
Bogwin war kaum in der Lage Luft zu holen. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, der ihm weismachen wollte, das Recht auf Atmen verwirkt zu haben, wenn er weiterhin hier sitzen und dem zuhören würde. Schon jetzt kam er sich wie ein Mörder vor.
„Reden sie Mann“, forderte er schließlich Hauptman auf, der keine Anstalten weiterzureden.
„Es befindet sich eine Substanz in diesem Land, welche dazu verwendet werden könnte die, ich möchte es mal so ausdrücken, die Anzahl jener zu vermindern die keinen Anteil mehr am Aufbau unseres Landes beisteuern können!“
„Eine Substanz“, sagte Bogwin verwundert.
„Welche Substanz sollte das Sein und woher hätten wir die Mittel, dieses zu besorgen“, fragte ihn Bogwin, dessen Unglaube in seiner Stimme unüberhörbar war.
„Es ist eine Art Serum“, hörten sie Hauptman sagen.
„Ja, ich möchte es gerne als Serum bezeichnen. Ein
Serum, der sich als sehr effizient erwiesen hat.“
„Ein Serum!“
Die Stimme Bogwins verriet seine Überraschung.
„Und woher wollen sie dieses Serum haben“, fragte Bogwin diesen Mann, der ihm von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wurde.
„Werter Ratskollege“, begann Hauptmann. „Sie wären überrascht, was es alles zu kaufen gibt. Es mag ihnen entgangen sein, aber da draußen außerhalb unserer einst so heilen Welt, gibt es eine Welt, die unendliche
Möglichkeiten bietet.“
Bogwin fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. Das was ihm dieser Mann hier erzählte, kam ihm zu fantastisch vor.
„Werter Ratskollege“, setzte Bogwin an, der sich nicht verkneifen konnte, den Titel in leicht spöttischer Manie auszudrücken.
„Ich bin ja kein Mediziner oder Chemiker. Aber selbst ich, der ich ein medizinisch ungebildeter Mensch bin, weiß, dass ein Serum die Angewohnheit hat, keine Unterschiede zu machen. Wie also in alle Welt, wollen sie verhindern, dass dieses Serum nicht jene in Mitleidenschaft zieht, die sie, angeblich, dazu benutzen wollen, um das Land wiederaufzubauen?“ Der Blick, mit dem er sein Gegenüber ansah, ließ keinen Zweifel offen, dass er an dessen Worten zweifelte.
Er legte seine Hände, mit den Innenflächen nach oben. Es schien ihnen als würde er diese betrachten, während er nach Worten suchte.
„Wie jede chemische Verbindung, so hat auch diese die Eigenschaft, dass sie so abgewandelt werden kann, dass sie entweder harmlos oder eben …, weniger harmlos ist.“ „Oder wie heißt es doch so schön, jedem das Seine.“ Die Ungeheuerlichkeit dessen, was ihnen in diesem Raum zu Ohren kam, war beinahe unerträglich.
Langsam sahen die beiden, wie Hauptman sich aus seinem Stuhl erhob und um den Schreibtisch herumging, um sich an eines der hohen Fenster zu stellen. Mit zu ihnen gewandten Rücken sagte er in ruhigem, wohl überlegten Ton: „Ich habe die Schritte vorausgesehen, die notwendig sein würden, um uns zu retten. Aus diesem Grund habe ich …, bereits vor geraumer Zeit damit begonnen Ausschau nach einem, nun nennen wir es mal, Mittel zu halten das in Frage kommen würde unsere
Probleme zu lösen.“
„Sie haben sich ein Serum besorgt, das in der Lage ist
Menschen zu töten“, sagte Bogwin, dessen Maß an Erstaunen sprengte.
„Und er ist hier in unserem Land“, wiederholte er, noch erstaunter als zuvor.
„Hauptman drehte sich mit einem Ruck um, sah Bogwin scharf an.
„Ja, das ist es!“
„Ich habe wie jeder andere auch im obersten Rat, gesehen, auf welche Katastrophe wir zusteuern. Dass es Tausende und Abertausende von Toten geben würde. Und genauso wie alle anderen habe ich gewusst, dass das Problem nicht damit aus der Welt zu schaffen sein wird, indem wir hergehen und Sparmaßnahmen setzen.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Hauptman hatte sich in einen Eifer geredet, der die beiden in seiner Vehemenz überraschte.
„Wir müssen das tun was notwendig, das unausweichlich ist. Wir müssen, dass tun, was uns als letzter Ausweg geblieben ist“, sagte er weiter.
„Das wäre Mord!“
Lampert, der die ganze Zeit damit zu kämpfen hatte,
dass Gehörte zu verdauen hatte sich zur Überraschung der beiden wieder zu Wort gemeldet.
„Mord wäre es auch, wenn man all jenen Menschen das Recht zu leben nimmt, die noch ein Leben haben“, schrie Hauptman ihn an.
Mit drei schnellen Schritten war Hauptman bei Lampert, beugte sich zu ihm hinunter, stemmte sich dabei auf beide Armlehnen und sah ihn mit einem Blick an, der keinen Zweifel offenließ, dass er es ernst meinte. „Was bleibt denn jenen noch, die heute schon mehr dahinvegetieren als das sie leben? Außer der Gewissheit, dass sie in absehbarer Zeit entweder an Hunger, an Krankheit oder Verzweiflung sterben werden!“
„Ist es denn da nicht rechtens wenigstens ihren Nachkommen ein Leben zu garantieren, dass es wert ist gelebt zu werden?
Lampert sah erschrocken zu Hauptman hoch.
„Wir sprechen hier von Tausenden von Menschen“, hörten beide Bogwin sagen.
Hauptman und Lampert drehten sich zu ihm um. Hauptman stieß sich von den Armlehnen des Stuhls ab, auf dem Lampert saß und sagte zu Bogwin: „Mag sein, aber diese werden der Garant dafür sein, dass viele andere überleben.“
Der Satz stand im Raum wie eine Hiobsbotschaft, wie eine Nachricht, von der alle wussten, dass sie eintreffen würde.
Dennoch, die Unfassbarkeit der Idee, mit der sich Lampert und Bogwin konfrontiert sahen, raubte ihnen den Atem.
Bogwin sah auf sein Glas mit dem Brandy darin. Nur zu gerne hätte er einen Schluck davon genommen aber er sich außerstande, das Glas auch nur zum Mund zu führen.
Hier saßen sie nun. Sprachen von Mord an Tausenden von
Menschen mit einem Glas Brandy in der Hand. Fast wäre Bogwin versucht, des Wahnsinns wegen die diese Idee ausströmte, aufzustehen um aus dem Raum, dem Haus zu stürmen.
Irgendetwas hinderte ihn daran. Etwas, dass er nicht benennen konnte, wollte. Es hatte Macht. Macht ihn hier und jetzt, in diesem Raum festzuhalten.
Schließlich war Lampert es, der wieder seine Stimme fand.
„Und wie stellen sie sich vor, wollen sie diese Idee dem Rat beibringen?“
Hauptmann langsam einen Fuß vor den anderen setzend, ging wieder hinter seinen Schreibtisch. Hinter diesem stehend, legte er seine rechte Hand auf den Tisch und sagte: „Es dürfte uns klar sein, dass der oberste Rat dieser Idee niemals zustimmen würde.“
Er atmete tief durch, sah dann auf und sagte, in einem Ton der den beiden anderen, wie ein Flüstern vorkam: „Der oberste Rat darf von dieser ..., Maßnahme nichts erfahren.
„Was wollen sie dann tun“, fragte ihn Bogwin.
„Menschen still und heimlich ermorden?“
„Sie gehen recht in der Annahme, dass der Rat, sollte er davon erfahren, dem niemals zustimmen wird. Einer solchen ..., Ungeheuerlichkeit!“
Für eine Sekunde lang, hatte er gezögert, diesen Satz auszusprechen.
„Eine Ungeheuerlichkeit wäre es, wenn man unzählige Menschen sterben lassen würde, wenn man die Möglichkeit hat, dies zu verhindern“, gab Hauptman zurück.
Nun nahm Bogwin doch einen großen Schluck seines Brandys. Er sah in sein Glas, schwenkte den Inhalt hin und her, betrachtete die Schlieren, die die Flüssigkeit an den Seiten des Glases hinterließ.
„Mit wem haben sie sonst noch darüber gesprochen“, wollte Bogwin von Hauptman wissen.
„Nur mit ihnen beiden“, erwiderte Hauptman darauf.
Bogwin nickte.
„Warum haben sie gerade uns in diesen Plan eingeweiht? Wer sagt ihnen, dass wir nicht schnurstracks den Rat einberufen und sie festnehmen lassen?“
Hauptman lehnte sich leger mit einer Hand an einen
Stuhl und sagte: „Erstens würde ihnen niemand diese Geschichte abkaufen. Und zweitens, was hätten sie davon?“
Er brachte es tatsächlich fertig, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu zeigen.
„Abgesehen davon müssten sie mit der Tatsache leben, ein ganzes Land, das sie genauso lieben wie ich es tue, dem Untergang übergeben haben.“
„Ist ihnen klar, dass wir, wenn wir diesem …, Plan tatsächlich zustimmen würden und es herauskäme, wir nirgendwo auf der Welt mehr Unterschlupf finden würden“, gab Bogwin zu bedenken.
Bogwin sah Hauptman fragend an.
„Dann müssen wir dafür sorgen, dass es niemand herausfindet. Denn sollte es jemandem gelingen herauszufinden, brauchen wir uns um Unterschlupf wie sie es nennen, nicht mehr zu kümmern.“
Das Lachen, das Hauptmann daraufhin ausstieß, ließ die beiden erschaudern.
Bogwin nahm den letzten Schluck seines Brandys und stellte das Glas auf den Schreibtisch Hauptmans.
Ruckartig stand er auf.
„Ich muss das erst verdauen“, sagte er mit gesenktem Kopf.
„Tun sie das, aber bedenken sie, dass wir nicht allzu viel Zeit haben, um das richtige zu tun. Und denken sie daran, dass es für niemanden gut wäre, wenn jemand von dieser Unterredung erfahren würde“, sagte Hauptman. Bogwin blieb vor seinem Stuhl stehen, hielt in der Bewegung, die er gerade noch tun wollte, inne. Hatte er sich getäuscht oder lag ein drohender Ton in dem, was Hauptman gesagt hatte? Doch er war zu müde, zu mitgenommen, um weiter darauf eingehen zu können. Langsam stand auch Lampert auf. Er hatte bisher nur an seinem Brandy genippt. Jetzt wünschte er, er hätte das Glas auf einen Zug leer getrunken. Mit einer langsamen Bewegung stellte er das Glas auf den Schreibtisch. „Ich brauche etwas Zeit“, ließ er Hauptman wissen, ohne ihn anzusehen.
„Ich muss darüber nachdenken, kann jetzt und hier einer solchen Maßnahme nicht zustimmen.“ Er schüttelte den Kopf und begann, um den Stuhl, auf dem er noch kurz zuvor gesessen hatte, herum zu gehen.
„Natürlich verstehe ich sie, werter Ratskollege. Doch sie wissen ...“, sagte Hauptman
„Jaja, ich weiß“, antwortet Bogwin in scharfem Ton.
„Die Zeit drängt!“
„Ich schlage vor, wir sollten über dieses Thema nachdenken. Reiflich nachdenken“, schlug Bogwin vor, ohne sich zu Hauptman umzudrehen.
„Natürlich“, erwiderte Hauptman.
„Wir sollten alle noch einmal darüber nachdenken“, sagte Bogwin, der sich nun doch wieder zu Hauptman umdrehte und diesen mit einem warnenden Blick bedachte. „Wir treffen uns dann, sagen wir, in einer Woche wieder“, schlug Bogwin vor.
„Wenn es ihnen nichts ausmacht treffen wir uns hier in drei Tagen wieder, um die gleiche Zeit.“
Bogwin ging zur Tür, Lampert schlich hinter ihm her.
„Einen guten Abend noch.“
Lampert schloss sich dem Abschiedsgruß seines Kollegen an.
„Auch ihnen einen guten Abend meine Herren“, erwiderte
Hauptman den Gruß.
Hauptman stand allein in seinem Büro.
Wenige Sekunden später, öffnete sich eine Tür an der Wand die, niemand hätte vermuten können. Herein kamen zwei Männer, die sich vor Hautpman hinstellten. Hauptman beachtete die beiden nicht, sondern ging hinter seinen Schreibtisch. Mit beiden Händen stützte er sich auf seinen Tisch und sagte: „Behaltet die beiden im Auge. Ich möchte über alles unterrichtet werden, was sie tun. Wohin sie gehen. Mit wem sie sich unterhalten.“
„Ja Herr“, antwortete einer der beiden.
Schon machten sie sich daran den Raum zu verlassen.
„Noch etwas“, begann Hauptman wieder.
„Wenn sie Anstalten machen sollten in das
Polizeihauptquartier zu gehen, dann fangt ihr sie ab und bringt sie nach unten.“
Die beiden Männer sahen sich vielsagend an. Sie wussten, was dieses unten bedeutete.
Nicht erst einmal waren sie beide selbst es gewesen, die jemanden nach unten gebracht hatten. Doch noch nie, hatten sie jemanden von dort wieder nach oben gebracht.
Zumindest nicht lebend.
Bogwin ging mit langsamen Schritten durch die dunklen Straßen von Prudencia.
Er, eines der Ratsmitglieder und sich seiner Stellung bewusst, sah man normalerweise nur mit wohl gemessenen selbstbewussten Schritten durch diese, seine Stadt zu gehen. Doch wie die Stadt, in der er aufgewachsen war, wie dieser, wenn auch kleiner Staat, sich verändert hatte, so hatte auch er sich verändert. Seine einst so selbstbewussten Schritte, waren zögerlich geworden.
Wie auf Scherben ging er nun dahin. Vorsichtig einen Schritt nach dem andern setzend, so als gelte es, sich nicht die Füße an den imaginären Scherben zu verletzen.
So vieles war in den letzten Jahren passiert.
Zu viel!
Nur manchmal hob er seinen Kopf. Sah auf den Unrat, der in den Straßen lag.
Niemand kümmerte sich mehr um diesen. In manchen Ecken lungerten Menschen in kleinen Gruppen herum, die sich leise unterhielten. Diese warfen, als er an ihnen vorbei ging verstohlene Blicke zu.
Selbst jetzt im Dunkel, konnte er den Schmutz sehen, der sich auf dem Gehsteig festgesetzt hatte. An manchen Stellen standen übelriechende Pfützen, die nur darauf zu warten schienen, dass jemand in sie tappte. Eingetrocknetes, welcher Art es war, konnte er nicht ausmachen, verunzierte den Gehweg.
„Eine Schande“, dachte er bei sich selbst.
„Was ist nur aus dir geworden!“
Er hatte noch ein gutes Stück zu gehen, doch schon jetzt war ihm der Weg leid.
Wo war sie nur hin? Die Freude am Gehen, am sich bewegen, am Schlendern durch die Straßen jenes Ortes, den er einst so geliebt hatte. An dem er aufgewachsen und zur Schule gegangen war, in der er seine politische Laufbahn begonnen hatte. Sie war ihm fremd geworden, diese Stadt, für die er viele Jahre seines Lebens geopfert hatte.
Doch irgendwann, er wusste noch nicht mal, wann genau es begonnen hatte, war ein Wandel eingetreten. Schleichend zuerst. Kaum merklich hatte dieser stattgefunden. Hatte begonnen diese Stadt, dieses Land zu verändern.
Ja, zu sorglos waren sie gewesen. Zu bequem waren sie geworden. Hatten die Zeichen nicht erkannt.
Mit jedem Schritt wurde seine Stimmung düsterer. Niedergeschlagenheit schaffte sich Raum in ihm, die es ihm schwermachte einen Schritt vor den anderen zu setzen.
Er versuchte, seine Gedanken mit irgendetwas zu beschäftigen, dass ihn von dem ablenken sollte, was erst vor Kurzem vorgefallen war. Wie konnte es nur geschehen, dass er sich in einem Raum mit diesem Menschen wiederfand, um sich dessen monströse Ideen anzuhören? Wie war es möglich gewesen, sich mit diesem darüber zu unterhalten, Menschenleben zu vernichten?
Gott zu spielen!
Es schien ihm, als würde er über und über mit Schmutz behaftet sein.
Doch was ihn am meisten schockierte war die Tatsache, dass er selbst darüber nachdachte, ob er Teil dieses Plans sein sollte!
Fast wäre er versucht, einen schnelleren Schritt anzuschlagen, doch mangelte es ihm dafür an Energie. Es war ihm, als würde er in einer zähen Flüssigkeit dahin waten, die ihn davon abhalten wollte, schneller nach Hause zu kommen.
Er musste runter von der Straße. Es war ihm, als könnte jeder ihm ansehen, was er soeben noch getan hatte. Nur noch wenige Meter würde er zu gehen haben. Nur noch wenige Meter bis er …!
Sein Blick fiel in die kleine Gasse die neben seinem Haus verlief und die in einen Hinterhof führte, an dessen hinterem Ende sich in früheren Zeiten eine Rutsche zum Keller befand, die dazu benutzt worden war, um Kohle hinein zu schütten.
Dort, keine zwei Meter in diese Gasse hinein, wo sich die Mülltonnen befanden, sah er etwas liegen, dass er im ersten Moment für einen Müllsack gehalten hatte. Ein
Hund mit zotteligem Fell machte sich daran zu schaffen. Das abgemagerte Tier zerrte an dem was er anfangs für einen Müllsack gehalten hatte. Erstaunt stellte er fest, dass das Bündel, das er vermeintlich für einen Müllsack gehalten hatte, sich bewegte. Die Bewegung wurde nicht von dem zotteligen Tier verursacht. So viel stand fest.
Bogwin machte einen schnellen energischen Schritt auf den Hund zu, um ihn zu verscheuchen.
Das Tier knurrte ihn an, begann die Zähne zu fletschen. Im ersten Moment erschrocken bemerkte Bogwin einen kleinen Stein, der zu seinen Füssen lag. Schnell hob er ihn auf und schmiss ihn auf das Tier. Er traf ihn am
Kopf, woraufhin dieser ein erschrockenes und heiseres Aufheulen hören ließ. Der Hund drehte sich blitzschnell um und verschwand in die dunkle Gasse.
Wieder bewegte sich das Bündel.
„Da ist noch einer von diesen Kötern“, dachte er sich überrascht und sah sich nach einem weiteren Stein um. Er hörte einen Ton, der sich in seinen Ohren wie ein leises Stöhnen anhörte. Mit zwei, drei raschen
Schritten war er an das Bündel herangetreten. Ein Mädchen, eingehüllt in einer Jacke, die ihm viel zu groß war, kauerte hinter den Mülltonnen. „Mein Gott, Kind“, sagte er erschrocken.
Es reagierte kaum. Aus halb geschlossenen Augen sah es ihn an. Erst jetzt sah er die tiefliegenden Augen und die eingefallenen Wangen des Mädchens. Das Gesicht des Kindes war über und über mit Dreck beschmiert und beim Hinunterbeugen bemerkte Bogwin das von dem Kind ein säuerlicher Gestank ausging, der ihm bewusst machte, dass das Mädchen schon seit Längerem kein Badezimmer mehr gesehen hatte.
„Gott Kind“, sagte er entsetzt zu dem Mädchen. „Was machst du denn hier?“
„Bin so müde“, antwortete das kleine Mädchen in kaum verständlichem Ton.
Bogwin ging in die Hocke, streckte beide Arme aus, um dem Mädchen aufzuhelfen.
„Komm, steh auf“, forderte er das Mädchen auf. „Hier ist es doch viel zu schmutzig und zu kalt!“
Er nahm das Mädchen bei den Armen und zog es vorsichtig an diesen hoch. Durch die ohnehin zu dünne Jacke konnte er die dürren Arme des Kinds spüren.
„Wie bist du denn hierhergekommen? Wo sind denn deine
Eltern?“
Er hatte es soweit aus der Ecke herausgezogen, dass es auf den Knien aufkam. Schon wollte er sie loslassen, da er dachte, dass sie es nun allein schaffen würde. Kaum hatte er seine Hände von ihr gelassen, begann sie wieder zurückzufallen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sie abzufangen.
Er bekam sie an der Jacke zu fassen und zog sie hoch. Mit schnellem entschlossenem Griff nahm er das Mädchen auf. Es schien fast nichts zu wiegen. Jetzt, da ein wenig Licht von der Straße auf das Gesicht des Mädchens schien, konnte er sie genauer betrachten. Er hatte noch nie ein solch abgemagertes Gesicht gesehen. Die Haut des Mädchens schien durchscheinend zu sein. Blaue Adern zeichneten sich unter der blassen Haut ab. Das Haar wild zerzaust und verklebt hing ihr ins Gesicht. Der säuerliche Geruch, der von dem Kind ausging, ließ Bogwin unweigerlich die Luft anhalten.
Kaum hatte er das Mädchen hochgehoben, fielen ihm die Augen zu und es begann am ganzen Körper zu zittern.
Bogwin nannte sich selbst einen Narren, weil er mit dem Kind am Arm so unschlüssig dastand.
Mit dem Mädchen auf dem Arm trat er schnell aus der
Gasse, ging die kurze Distanz zur Eingangstür seines Hauses und stieß energisch mit seinem Fuß dagegen.
Es dauerte ihm zu lange, bis die Tür geöffnet hatte.
Wieder stieß er mit dem Fuß dagegen.
Endlich wurde diese geöffnet.
Seine Frau Rosalie stand in der Tür und sah, im ersten Moment erzürnt auf denjenigen der um diese Zeit einen solchen Lärm verursachte.
Bevor sie laut zu protestieren begann, erkannte sie ihren Mann im Halbdunkel.
„Was …“; sagte sie erstaunt.
„Um Gottes Willen“, rief sie erschrocken aus, als sie das Mädchen sah.
„Schnell komm herein!“
Bogwin betrat das Haus, während seine Frau hinter ihm die Tür schloss.
„Was ist denn mit dem Kind los“, fragte sie ihn erstaunt.
„Und woher hast du sie?“
Bogwin war in der Zwischenzeit in das Wohnzimmer vorausgegangen, wo er das Mädchen auf das Sofa legte. „Schnell, bring mir ein paar Decken, und etwas Warmes zu trinken“, forderte er seine Frau auf.
Diese verschwand in der Küche, wo sie Milch in einen
Topf füllte, um sie zu erwärmen. Dann lief sie in das Schlafzimmer, griff sich aus einer Truhe eine Decke und kam zurück in das Wohnzimmer, wo sie die Decke ihrem
Mann reichte.
„Willst du mir jetzt wohl sagen, wo du das Kind gefunden hast und was mit ihm los ist!“
Bogwin schlug die Decke um das Kind, bettete den Kopf des Mädchens auf ein Kissen, dass das Ganze stumm und mit großen Augen über sich ergehen ließ. „Ich habe sie in der Gasse zum Keller gefunden“, antwortete er auf die Frage seiner Frau. „Ein Straßenköter hat sich gerade an sie herangemacht!“ „Herr im Himmel“, stieß sie erschrocken aus. Bogwin hüllte das Mädchen mit der Decke ein bis nur mehr der Kopf daraus hervorschaute.
„Hast du an die Milch gedacht“, fragte er sie.
„Herr …ja!“
Schnell eilte sie zurück in die Küche. Gerade noch rechtzeitig bevor die Milch überzukochen begann. Mit der Milch, in der sie vorsorglich etwas Honig gerührt hatte, kam sie in das Wohnzimmer zurück.
„Hier“, sagte sie und hielt ihm die Tasse hin.
Bogwin nahm die Tasse in eine Hand, streichelte das Kind mit der anderen sanft über die Wange und sagte:
„Hier kleines Mädchen. Du musst etwas Warmes trinken!“ Mit einem plötzlichen Ruck den Bogwin ihr nicht zugetraut hätte, setzte sie sich auf, dabei versuchend die Decke von ihrem Oberkörper zu streifen. „Langsam. Immer mit der Ruhe“, sagte Bogwin in beschwichtigendem Ton zu ihr.
„Trink das in kleinen vorsichtigen Schlucken!“ Das Mädchen hatte beide Arme von unter der Decke hervorgestreckt und griff gierig nach der Tasse. Kaum, dass sie ihren Mund darangesetzt hatte, nahm sie einen großen Schluck und begann augenblicklich die Milch wieder auszuspucken.
„Ich sagte doch, langsam“, ermahnte Bogwin sie. „Die gehört ganz allein dir. Niemand nimmt sie dir weg.“
Das Mädchen sah mit großen erstaunten und plötzlich hellwachen Augen auf Bogwin. Langsam setzte sie wieder ihren Mund an die Tasse. Nahm kleine Schlucke. Wohlig schloss es die Augen.
Sie trank so lange, wie es ihr Atem erlaubte. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Mundwinkel ab, achtete darauf, dass kein Tropfen verloren ging.
Leben kehrte in ihre Augen zurück. Sie sah zuerst ihn, dann seine hinter ihm stehende Frau an. „Danke“, sagte sie.
Bogwin strich ihr vorsichtig über die Wange.
„Sag, wo sind denn deine Eltern?“
Ein Nebel schien sich über die Augen des Mädchens zu legen, kaum dass sie die Frage gehört hatte.
„Tot“, sagte sie. „Sie sind schon vor langer Zeit verhungert!“
Er wollte es nicht. Doch die Worte des Mädchens ließen ihn erstarren. Erst als er die Hand seiner Frau auf seiner Schulter spürte, erwachte er wieder daraus.
„Trink weiter deine Milch.“
„Heute Nacht bleibst du auf jeden Fall hier. Ist das in
Ordnung für dich?“
Das Mädchen sah ihn mit zweifelndem Blick an. Sie schien nicht glauben zu können, was sie aus seinem Mund gehört hatte. Noch einmal nahm sie einen Schluck von der warmen Milch.
Dann endlich nickte sie.
Das Lächeln in ihren Augen würde Bogwin für lange Zeit im Gedächtnis bleiben.
Rosalie hatte für das Kind, ein wenig Rindersuppe heiß gemacht, zu der sie das Kind überreden konnte. Mit Mühe war es ihr gelungen, das Kind aus einem Schlaf zu wecken, in das es gefallen war, kaum dass sie die Milch ausgetrunken hatte.
Der Versuch, das Kind in die Badewanne zu bekommen gelang ihr jedoch nicht. Kaum hatte das Mädchen, das auf den Namen Edna hörte, die Suppe aufgegessen, fiel es auch schon wieder in das Kissen zurück, wo es augenblicklich eingeschlafen war.
Rosalie gelang es, ihr die Jacke auszuziehen, um sie dann wieder in die wohlig warme Decke einzuwickeln. Es bestand kein Zweifel, dass Edna bis zum nächsten Morgen durchschlafen würde.
Bogwin hatte sich in der Zwischenzeit in die Küche begeben, wo Rosalie ihn vor einer Tasse Tee sitzend vorfand. Er hatte sich eine seiner selten gewordenen Pfeifen angezündet und saß mit nachdenklichem Gesicht am Küchentisch.
Rosalie sagte beim Betreten der Küche: „Was für ein Glück, dass du die Kleine gefunden hast. Mein Gott, sie ist ja vollkommen fertig. Ich hab noch nie ein so abgemagertes Kind gesehen!“
Bogwin stieß den Rauch seiner Pfeife aus, hob seinen Kopf und sah seine Frau an. Sein Gesicht zeigte tiefe Furchen.
Ohne auf die Worte seiner Frau einzugehen, sagte er: „Ich hätte niemals gedacht …, es auch nur für möglich gehalten, dass es in Prudencia einmal so etwas geben würde. Ein Kind, das auf der Straße leben muss. Halb verhungert!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, wie sie es geschafft hat so lange, ohne Eltern zu überleben.“
Rosalie sah Tränen in den Augen ihres Mannes.
Wann hatte sie ihren Mann das letzte Mal weinen sehen?
Sie konnte sich nicht daran erinnern.
Mit langsamen leisen Schritten ging sie auf ihn zu, legte ihre Hände auf seine Schultern und küsste ihn auf die Stirn.
Sie wusste nur zu gut, was in diesem Moment in ihm vorging.
„Ja, es ist furchtbar“, erwiderte sie. „Wer hätte gedacht, dass es in unserem Land einmal so etwas geben könnte?“ Sie schüttelte verwundert den Kopf. Rosalie kniete sich neben ihren Mann hin, umfing ihn mit ihren Armen und legte ihren Kopf auf seine Beine. Bogwin sah stumm vor sich hin, während er eine Hand auf den Kopf seiner Frau gelegt hatte. Noch einmal nahm er einen Zug von seiner Pfeife. Diese Pfeife noch. Er wusste nicht, wann er wieder einmal in den Genuss kommen würde.
Schließlich sagte er: „Ich muss eine sehr delikate
Entscheidung treffen.“
Sie wartete einen Moment lang ab. Als er schließlich nicht weiterredete, fragte sie ihn: „Willst du darüber sprechen?“
Sie hörte, wie er einen tiefen Zug von seiner Pfeife nahm.
„Wie gerne würde ich mit dir darüber reden meine Liebe.
Aber ich kann es nicht, darf es nicht.
Rosalies Stirn legte sich in Falten.
„Ist es denn so schlimm“, fragte sie ihren Mann.
Bogwin antwortet nicht, nickte nur bejahend mit dem
Kopf.
Nachdem er seine Pfeife zu Ende geraucht und seinen Tee getrunken hatte, schlug er vor, dass sie noch einmal nach dem Mädchen sehen sollten. Vorsichtig öffneten sie einen Spaltbreit die angelehnte Tür und sahen das
Mädchen schlafend vor.
„Morgen früh müssen wir sie von Dr. Campbell untersuchen lassen. Ja, nachdem sie etwas gefrühstückt hat und sie ein Bad genommen hat“, meinte Rosalie. „Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee“, musste
Bogwin mit einem Lächeln zugeben.
Er lag in dieser Nacht noch lange wach. Immer wieder ging er in Gedanken das Gespräch mit Hauptman durch. Immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen, auf die er, auch nachdem er sich diese zum hundertsten Mal gestellt hatte, keine Antwort fand.
Erst gegen Morgen, als der Himmel sich allmählich von einem dunklen Schwarz, in ein heller werdendes Grau verwandelte, fiel er in tiefen Schlaf.