Читать книгу Quallen, Bimm und Alemannia - Ha-Jo Gorny - Страница 4

2. Wahn kann Realität sein

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Hinten im Wald, in der gewachsenen Struktur eines Dorfes, hatte er es schöner gefunden, auch wenn die Arbeit anstrengender gewesen war. Aber am nächsten Morgen arbeitete Hal wieder auf seinem gewohnten Platz, wo es nur moderne Kunststoff-Baracken gab, die sehr spartanisch ausgestattet waren. Deren unzerstörbare Fenster verfügten zwar über Lüftungsschlitze, ihnen fehlte aber eine Verdunkelung. Die Sklaven waren nicht anspruchsvoll, legten auch nicht viel Wert auf Intimsphäre, was man nicht kannte vermisste man nicht. Die Räume zwischen den Fertigwänden waren sehr klein, die Sklaven hatten ja kaum Besitz. Ersatzklamotten, Teller, Tassen, Krüge, Kanister, Waschmittel und Seife lagen oder standen auf einem Bord. Den Sklaven wurden auch keine Betten gegönnt. Eine dünne, abwaschbare Kunststoffmatratze mit einer Kunststoffdecke, die aber sehr gut wärmte, musste reichen. Die Toiletten befanden sich außerhalb und wurden von mehreren Familien genutzt, das Werkzeug stand in einer Gemeinschaftshalle.

Hinten im Dorf hausten sie mehrheitlich in alter Bausubstanz, Kunststoffbaracken standen dort nur im Außenbereich. Egal ob alt oder neu, alle Behausungen verfügten über Licht und einen beheizbaren Raum. Die Wärme kam tief aus der Erde und war praktisch immer verfügbar und genauso unendlich, wie der Strom den Wind und Sonne lieferten. Wenn sie noch so viel Fett auf den Rippen hatten und deshalb wenig froren und die Winter noch so mild waren, konnten Nachts die Temperaturen doch in Frostnähe kommen. Dem Syndikat war es ein ernstes Anliegen die Sklaven gesund zu halten und auch vor Kälteschäden zu schützen. Krankheiten verursachten nur Kosten. Deshalb stand jedem Sklave ein warmer, wasserdichter Kapuzenmantel und ein paar wasserdichte, gefütterte Winterstiefel zur verfügen, die praktisch unkaputtbar waren.

Halmschor schien es, als ob die Sklaven dort hinten irgendwie lebendiger seien. Nicht nur weil sie Feuer machen konnten, es war ein ständiges Kommen und Gehen gewesen. Permanent wurden in Kanistern Süßgetränke und in Eimern Lebensmittelpäckchen abtransportiert, der eingesammelte Müll zum Lastzug gebracht, die Ernteerträge eingeladen und gingen und kamen sie von den Ärzten und vom Blutspenden. Aber alles ganz gemächlich ohne Eile, Hektik war ihnen fremd. Man konnte sie anschreien, dann glotzten sie nur verwundert und befremdet wie Kühe auf der Weide, aber nicht antreiben. Halmschor fragte sich ein ums andere Mal, ob die Sklaven ihre Situation tatsächlich so ungerührt hinnahmen und mit ihr vielleicht sogar zufrieden waren, oder ob unterschwellig nicht doch der eine oder andere versteckte Hass grummelte.

Nach längerem Sinnieren gewann er die Überzeugung, dass es an den vielen hohen Bäumen mit ihren sich bewegenden Ästen gelegen haben muss, dass ihm die Hintern aktiver vorkamen. Im Prinzip waren sie alle gleich, übergewichtiges, schmutziges, stupides ungebildetes Herdenvieh. Halmschor empfand für die Quallen nichts als Verachtung und fragte sich, wie viele Jahre er das wohl aushielt. Doch dann musste er an Bimm denken und lächelte in sich hinein. Wie konnte ein Kind nur so aus der Art schlagen? Bimm. Wie der Ton eines zarten Glöckchens.

Die Sklaven gaben sich ja die Fantasielosesten Namen und riefen sich Kah, Mah, Mäh, Tu, To, Fo, Fu usw. Auch Blume, Baum, Blatt, Stein, Kiesel, Apfel oder Beere nannten sich viele. Wobei sie aber nicht wussten wie die Blumen, Bäume und Früchte im Einzelnen hießen, weil man sie absichtlich unwissend hielt. Äpfel kannten sie nur, weil es einige Bäume mit wilden Äpfeln gab und sich ein Neuling verplappert hatte. Man bildete sie nicht, erklärte ihnen nichts, beantwortete keine Fragen und wenn das Versorgungspersonal etwas wissen musste, fragte es in einfachen Sätzen. Das alles war seit Generationen so eingespielt und wurde von Seiten der Primitiven wiederspruchlos hingenommen. Fragen waren nur bei den Veranstaltungen zugelassen und auch nur Fragen zum jeweiligen Thema.

Bimm, deren Namen eigentlich gut zu den anderen Bezeichnungen passte, hatte er aber eine Frage beantwortet. Das machte wohl ihr Aussehen, sie war ein richtig süßes Mädchen, sah eigentlich viel schöner aus als sein Sohn, auch schöner als die Klassenkameradinnen seines Sohnes. Weil sie schmäler als andere war, schien sie auch hilfsbedürftig, man wollte ihr automatisch etwas Gutes tun. Irgendwie war sie inmitten des allgemeinen Stumpfsinns ein Lichtblick. Aber auch ein Rätsel. Halmschor hatte die Oberschule besucht und sein Lieblingsfach war Geschichte gewesen. Unter anderem wurde im Unterricht kurz tangiert, an was für unsinnige Sachen die Menschen früher geglaubt hatten. An Religionen zum Beispiel. Er meinte sich an eine Religion zu erinnern, die etwas mit einem armen Kind zu tun hatte. Allerdings konnte er sich auch daran erinnern, wie er bemerkte, dass ihnen vieles vorenthalten wurde. Der Geschichtsunterricht war oft unzusammenhängend und wies unerklärliche Lücken auf. Halmschor lebte mit dem Verdacht, dass den Bürgern des Landes nur das gelehrt wurde, was das Syndikat für ungefährlich hielt. Waren die Bürger von Alemannia eigentlich auch so blöde und ungebildet wie ihre Sklaven, nur eine Stufe weniger?

Die Quallen kannten keine Musik, wenn auch ab und an mit Knüppeln auf Bäumen herumgetrommelt wurde. Das Personal durfte während der Arbeit auch keine Musik hören und spielen, denn Musik könnte die Sklaven aufputschen und Unruhe bringen. Deshalb kannten sie auch keine Lieder und Texte, Gesang war bei ihnen nie zu hören, auch die Überwachungsaugen hatten nachts nie etwas Derartiges aufgezeichnet. Aber sie kannten Film und wussten was Hygiene war. Alle zwei Monate war in den Dörfern Festtag, denn dann erhielten sie ihren einzigen Unterricht, der gleichermaßen auch ihre einzige Abwechslung darstellte. In den großen Hallen prangte jeweils ein riesiges Fenster, das als Bildschirm genutzt wurde. Das bedeutete für die Versorgungsbeamten eine Überstunde. Nach dem Verteilen der Lebensmittel und dem Einladen der Ernte und des Mülls, der immerhin Wertstoff war, betätigte einer der Arbeiter das Horn des Lastzugs. Kurz darauf wackelten, wabbelten und walzten die Sklaven der jeweiligen Dörfer in die Hallen, setzten sich vor den großen Fenstern auf die Böden, denn Bänke, Stühle und Tische gönnte man ihnen auch nicht, wo sie mit etwas das Freude nahekam, auf den Beginn des Filmes warteten.

Über viele Jahre wurde immer derselbe Film gezeigt, mit dem den Sklaven Sauberkeit und Hygiene eingebläut werden sollte. Zunächst forderte ein autoritärer Mann in Befehlsform absolute Reinlichkeit. Der Mann auf dem Fenster war weißhaarig, was die Sklaven nicht kannten, war doch keiner von ihnen älter als zwanzig Jahre. Der Alte weißhaarige war auch hager und trug zudem eine fremde Kleidung, welche ihn außerhalb der Mauer als reich kennzeichnete. Der Mann machte so einen befremdlichen und wichtigen Eindruck, dass ihn die Sklaven, wenn sie wissen würden dass es so etwas gab, für einen Gott gehalten hätten.

Der Film zeigte wie die Toiletten sauber gehalten werden sollten und wie die Räume, Matratzen, Krüge, Geschirr und Kleidung zu reinigen sind. Der autoritäre Mann schrieb den Sklaven vor, wie oft sie ihre Hände waschen mussten, wann sie zu Duschen hatten, wobei das Wasser auch im Winter höchstens 30 Grad warm war und log ihnen vor, wie wichtig eine jährliche Rasur von Kopf und Bart seien. Auch Haare waren ein wichtiger Rohstoff. Immerhin wussten sie was ein Jahr war, das fing immer an wenn die Tage wieder länger wurden.

Gegen Ende des Films, Halmschor sah da immer weg, weil ihm das zu peinlich war, handelte der Film von der Hygiene im Geschlechtsbereich. Ungerührt konsumierten die Sklaven die Reinigungsvorschriften. Ob sie überhaupt Liebe empfinden konnten? Geschlechtstrieb war auf jeden Fall vorhanden, welcher oft ungeniert auch tagsüber hinter den Fenstern praktiziert wurde. Sicher spürten sie Sympathien und Antipathien, aber so richtige Liebe wie bei richtigen Menschen? Wer die Vorschriften nicht einhielt, schloss der Mann im Film, konnte übel Krank werden, sogar daran sterben und würde nie in ein Dorf für Ältere dürfen. Das Dorf für Ältere wurde vor den Sklaven in etwa als Himmel aufgebaut, wo sie jede Woche zum Frisör durften, das Duschwasser doppelt so warm, die Matratzen dreimal so dick und das Essen und Trinken viermal so gut sei. Halmschor bezweifelte ob alle auf vier zählen konnten.

Die Sklaven zogen sich jedes Mal bereitwillig und andächtig den Film rein, auch wenn es immer der Selbe war, blieb er das Hauptereignis in ihrem Leben. Das Ereignis bekam allerdings aber jedes Mal einen anderen Anhang. Einzelne Arbeiter hatten den Auftrag die Sklaven bei ihren Arbeiten zu filmen. Deshalb lief im Anschluss noch ein Film auf dem sie sich und andere erkennen konnten. Wenn es gelungen war jemand bei einem Missgeschick zu filmen, zeigte sich auch, dass die Sklaven Humor hatten, oder Schadenfreude. Wenn jemanden der Karren umfiel, sich zwei bei der Arbeit rempelten oder jemand bei nassem Wetter auf dem Feld ausrutschte, freuten sich die Sklaven ausgiebig und hatten für Wochen Gesprächsstoff.

Für werdende Mütter wurden im Geburtshaus noch Lehrfilme gezeigt, damit die Geburten möglichst reibungslos verliefen. Das Syndikat wollte jegliche Kindersterblichkeit vermeiden. Über Landwirtschaft gab er keine Lehrfilme, das Wissenswerte wurde den Jüngern während der Arbeit auf den Feldern vermittelt. Da auch immer Kinder dabei waren, wuchsen sie sozusagen unmerklich in die Landwirtschaft hinein.

In jedem Dorf befand sich also eine große Halle für Lebensmittel und Vorräte, eine kleinere für Werkzeuge und Handkarren, ein Geburtshaus, aber kein Versammlungshaus, kein Rathaus, die Selbstverwaltung entfiel, jedoch gab es einen Friedhof. Ab und zu, wenn auch selten, starb doch einmal ein Kind, erlitt doch ein Erwachsener trotz seiner jungen Jahre einen Herzinfarkt, wurde doch jemand in jungen Jahren unheilbar krank und lag dann dahinsiechend in seiner Baracke, bis ihn das Zeitliche segnete. Das war dann weniger ein harter Verlust als vielmehr harte Arbeit, weil in den steinigen Boden eine Grube gegraben, die schwere Leiche herangekarrt und darin versenkt werden musste. Die Beerdigung verlief ganz ohne Brimborium und Trauer, Anwesende waren eher neugierig ob die Leiche tatsächlich tot war, oder ob sie sich noch einmal regte, wenn die ersten Schollen auf Brust und Gesicht geworfen wurden. Damit die Leichen nicht ausversehen wieder ausgegraben wurden, mussten die Gräber mit Steinen gekennzeichnet werden. Inschriften, Blumen, Kreuze oder sonst was, waren unbekannt.


Die Beamten für Sklavenbetreuung waren Geheimnisträger und somit von den anderen Beamten im Land isoliert, denn was hinter der Mauer getrieben wurde, durfte auf gar keinen Fall an die Öffentlichkeit. Und die ausländischen Nachbarn durften erst recht nicht erfahren, was genau innerhalb abging. Natürlich kannten alle Europäischen Regierungen die ummauerten Täler anhand von Luftaufnahmen, was ihnen aber als Umerziehungs-Straf-und Arbeitslager verkauft wurde. Die Beamten der anderen beiden Sklaventäler, falls es die tatsächlich gab, lernten sie aber nie kennen. Die Beamten aus Halmschors und Albritz‘ Tal trafen sich aber immer zu einem Sommerfest und zu einer Jahresabschlussfeier. Auf einer dieser Feiern traf Halmschor wieder auf den alten Arzt der ihn zur Mitthilfe im hinteren Dorf rekrutiert hatte.

„Ah, Herr Doktor Albritz, mit ihnen verbinde ich angenehme Erinnerungen“ begrüßte Halmschor Drohsdal den Alten. „Wenn sie mal wieder jemanden brauchen, können sie gerne auf mich zurückgreifen.“

Der Arzt lächelte. „Hatte es ihnen dahinten so gut gefallen?“

„Ich glaube, ich habe etwas für große Bäume übrig. Meine Freizeit verbringe ich fast nur noch im Nationalpark Schwarzwald.“

„Auch das ummauerte Tal gehört zum Nationalpark. Jenseits der Mauer ist Bannwald“ wusste der Mediziner.

„Wissen sie wie alt diese Mauer ist? Muss man sich über ihre Standfestigkeit Gedanken machen?“ tat Halmschor besorgt.

Der Alte sah zu Boden, blickte auf, sah um sich und meinte schließlich in gesenkter Lautstärke: „Die hat, so glaube ich, an die hundert Jahre auf dem Buckel. Aber das Material ist sehr gut, das hält“, grinste er dann.

„Hundert Jahre?“ presste Halmschor ungläubig hervor. „Da hat bestimmt kein Lebender den Anfang mitbekommen.“

„Am Anfang genügte ein Zaun, habe ich erfahren“. Dr. Albritz hob die Augenbrauen. „Sie erzählen es aber nicht weiter?“ fragt er dann.

„Um Himmels willen, nein“ raunte Halmschor leise. „Aber es hat sich doch bestimmt schon jeder gefragt wie das anfing, mit der Sklavenhaltung. Wo bekommt man nur eine Menschenmasse her, die das mit sich machen lässt?“

Man sah Dr. Albritz an, dass er es wusste und man sah ihm an, dass er mit sich rang, ob er sein Wissen Preis geben oder es doch lieber mit ins Grab nehmen sollte. Sein Mitteilungsbedürfnis war größer.

„Damals, in der anarchistischsten Phase Alemannias, gingen Reihenweise die menschlichen Werte verlustig. Zugegeben, die Menschen waren früher schon sehr zimperlich und Gefühlsduselei war groß angesagt. Als das Konsortium die Macht in Baden an sich gerissen hatte, ging es richtig zur Sache und für Soziales hatten die kein Geld, oder wollten dafür keines ausgeben.“ Der Alte dachte nach, wie deutlich er werden konnte. „Nachdem den Regierungen die Gefolgschaft verweigert wurde, blieben allerlei zivilisatorische Errungenschaften auf der Strecke. Zum Beispiel gab es damals drei Weißenhäuser oder Kinderheime oder sowas ähnliches im Land. Mangels Geld und Zuneigung gammelten und hungerten die Kinder Jahrelang vor sich hin, bis jemand die rettende Idee hatte, wie mit ihnen Geld zu verdienen sei. Die Kinder konnten Blut und Organe liefern. Sie wurden natürlich immer älter und bekamen Nachwuchs und in dieser Phase müssen sie dann irgendwann hinter den Zaun gekommen sein.“

„Und weshalb gibt es keine Schwarzhaarigen?“

Der Arzt dachte dasselbe wie Halmschor: Die Kleine lockige. „Die sind vielleicht aus irgendeinem Grund aussortiert worden, leben vermutlich irgendwo anders“.

Halmschor gruselte es Widerwillen. Er bemerkte dann: „Das ist nun schon einige Generationen her. Am Überliefern scheinen die Sklaven kein Interesse zu haben. Die jetzigen wissen nichts von Kinderheimen, Schulen, Büchern, kennen weder Straßen, Straßenbeleuchtung noch Autos, haben noch nie etwas von Sport und Krieg gehört. Echt seltsam.“

„Das braucht sie nicht zu verwundern“ meinte der Arzt. „Die wurden mit Absicht über Generationen verblödet. Sie wissen doch sicherlich, dass auch wir und die Menschen allgemein den Weg der Verblödung gehen?“ Ja, das wusste Halmschor und er litt insgeheim darunter. Für Albritz war das Gespräch beendet, er nahm sein Glas und setzte seine Runde fort.

So wurde Halmschor zum ersten Mal bestätigt was bisher nicht ganz offensichtlich war, nämlich eine rundum geschlossene Mauer. Zu gerne würde er noch wissen, ob es in dem kleinen Alemannia tatsächlich drei davon gab.


Erst nach zwei langweiligen, ereignislosen Jahren wurde Halmschor wieder als Krankenvertretung angefordert. Dazu musste er morgens früher aus dem Haus, denn die andere Mannschaft traf sich an einem entfernteren Platz. Freudig passierte er seine, von vielen Äckern und Plastikbaracken gestaltete alte Wirkungsstätte, winkte dem einen oder anderen zu und kam in das Dorf im Wald. Während er seiner Arbeit nachging, schielte er die Umgebung nach schwarzhaarigen Kindern ab. Im Nachhinein waren ihm Bimms überdurchschnittlich lange Haare aufgefallen, jetzt war er sehr gespannt, ob sie zwischenzeitlich geschoren war.

An seinem ersten Tag hinten im Wald sah er sie nicht. Am zweiten Tag sah er sie zufällig am Fuß einer mächtigen Buche auf einer Wurzel sitzen. Ihre üppigen Locken formten ihren Kopf zu einer riesigen Kugel, sie wurde also nicht geschoren. Sie beobachtete ihn eine längere Zeit, schließlich ging sie auf ihn zu. Sie war gewachsen aber eher noch schmaler geworden. Einen Sicherheitsabstand von drei, vier Metern einhaltend sprach sie ihn an.

„Du warst schon einmal hier, stimmt’s?“

„Klar erkannt“ lobte Halmschor, „immer wenn jemand von den Arbeitern krank wird, darf ich hierher in den schönen Wald kommen. Was macht das Zählen?“

Bimm betrachtete ihn unschlüssig, gab dann doch Antwort: „Ich kann jetzt bis hundert.“

„Ist nicht war“ war er ehrlich überrascht, „woher weißt du dass es hundert heißt?“

„Da hat sich jemand verplappert.“ Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an. „Wie geht es nach hundert weiter?“

„Was meinst du wie es weiter geht?“ zögerte Halmschor, weil er Sklaven ja nichts aus seiner Welt verraten soll.

„Vielleicht ein-und-hundert, zwei-und-hundert, drei-und-hundert. Elf und zwölf finde ich total doof. Kann es denn nicht ein-zehn, zwei-zehn, drei-zehn heißen?“ beschwerte sich das Mädchen.

„Ach, da gibt es noch viel dooferes, aber du bist auf dem richtigen Weg“, log er sie an. „Weshalb sind denn deine Haare so lang? Niemand hier hat so eine unpraktische Frisur wie du.“

„Ich finde sie schön so, keiner hat so Haare wie ich“ und kratzte mit zehn Fingern in ihrem Mopp herum, Kämme kannten sie ja auch nicht.

„Und was meinen Mama und Papa?“

„Einen Papa habe ich nicht und Mama ist es egal“.

„Haben deine Geschwister auch so dunkle Haare?“ Dass sie Geschwister hatte war klar, denn die Mütter bekamen in der Regel jedes Jahr mindestens ein weiteres Kind, entweder auf natürliche Weise oder sie wurden befruchtet.

„Die sind wie alle, aber die ziehen mich oft an meinen Haaren.“

„Wenn ich sie dir schneiden soll, kommst du zu mir“. Doch diese Wortwahl war anscheinend ungeschickt, denn sie lief davon.


In den nächsten Tagen sah er sie selten und wenn, dann immer in der Nähe einer jungen Arzthelferin, die als einzige der Mannschaft, außer Dr. Albritz, nicht übergewichtig war. Diese Arzthelferin die Dolora hieß, so sein Verdacht, hatte Bimm bestimmt verraten was hundert war und vermutlich noch einiges mehr. Erst in seiner zweiten Woche traute er sich die junge Frau anzusprechen.

„Sie scheinen sich mit Bimm gut zu verstehen?“

Dolora lachte. „Sie ist ja auch das einzige Lebendige hier in der Gegend.“

Halmschor konnte seine Neugier nicht verbergen. „Weiß man woher das kommt, weshalb Bimm so anders ist?“.

„Wir würden sie ja liebend gerne untersuchen, aber sie lässt sich nicht anfassen, sie kratzt und beißt, für einen stupiden Sklaven eine ganz und gar ungewohnte Reaktion.“

„Dann müssen sie sie eben betäuben, um ihrem Anderssein auf die Schliche zu kommen“, sagte er leichthin.

„Wir lassen sie wie sie ist“ kam plötzlich die Stimme des Chefs aus dem Fahrzeug. „Inzwischen ist sie unser Maskottchen geworden, dem wir nicht wehtun wollen“, meinte Dr. Albritz zu Halmschor.

„Sie bekommt ja nicht einmal ihre Haare geschnitten“ bemerkte Hal.

„Die Kleine gefällt ihnen wohl?“ stellte der Chef Albritz fest.

„Sie hat einen gewissen Unterhaltungswert. Kann ich sie mir mal ausleihen, für einen Kindergeburtstag vielleicht?“ Da mussten alle Beamten die das hörten herzhaft lachen, die Sklaven kannten ja keinen Kindergeburtstag.

Am Ende der dritten und seiner letzten Woche der Krankenvertretung, bekam Bimm doch noch die Haare geschnitten und zwar von Hal. Er hatte sie aus der Ferne einige Male am Lagerfeuer gesehen, das immer gut besucht war. Während einer Pause wollte er doch einmal ergründen was dort so abging. Um das Feuer saßen hauptsächlich Kinder jeglichen Alters und nur ein oder zwei Erwachsene die aufpassen mussten, dass kein Unfug getrieben wurde. Am Lagerfeuer wurde gequatscht, gerempelt, gegessen und getrunken. Als Halmschor sich näherte, sprang Bimm auch schon auf und stand fluchtbereit hinter den Sitzenden. Sie kaute energisch und in einer Hand hielt sie zwei Karotten.

Halmschor blieb stehen. „Du futterst rohe Karotten?“ fragte er verwundert.

„Die sind gut“ war alles was Bimm sagte.

„Die futtert sogar Krabbler und Würmer“ verriet ein Junge aus der Runde. Bimm sagte nichts, vermutlich überlegte sie, ob es ihr verboten werden konnte. Erst jetzt sah Halmschor die dünnen Stecken die aus dem Feuer herausstaken.

„Für was braucht ihr die Stöcke“ fragte er misstrauisch in die Runde. Einige holten sie aus dem Feuer und siehe da, an jedem Stock hing eine Knolle oder eine Rübe.

„Wir sollen alles was wir finden in der Glut brutzeln“, erklärte ein großer Junge, der bestimmt um einiges schwerer war als Halmschor.

„Wer sagt das“ fragte der. „Bimm“ war die Antwort des Schwergewichts. Doch die war verschwunden.

Am Freitag kam Halmschor Drohsdal in den besonderen Genuss Bimm die Haare schneiden zu dürfen. Beim Hantieren mit glühenden Stöcken am Lagerfeuer, hatte ein Kind Bimms üppige Frisur einseitig angesengt. Minutenlang stand sie vor einem Fenster und betrachtete die Bescherung. Es ließ sich nicht vertuschen, ihr linkes Ohr war jetzt sichtbar.

„Habt ihr einen Rasierer dabei?“ fragte sie Dolora.

Die Arzthelferin nickte. „Soll dir jemand die Haare schneiden?“

„Der da“. Überraschender Weise zeigte Bimm auf Halmschor, dem es heiß wurde.

„Ich habe das noch nie gemacht“ wehrte er sich gleich. „Egal“ sagte sie und stellte sich vor ihn hin. Das war ein absoluter Vertrauensbeweis, so nah war er ihr noch nie gekommen. Zaghaft begann er von unten nach oben Haare abzumähen, zuerst auf der vollen Seite, dann hinten, vorne an der Stirn, mehrmals rings herum, bis er der Meinung war, eine gleichmäßige Frisur hinbekommen zu haben. Dabei passte er auf, dass er nicht zu viel absäbelte.

„Du scheinst nicht der Hellste zu sein“ sagte sie plötzlich zu ihrem Frisör.

„Weil ich keine Haare schneiden kann?“ Fragte Hal verwundert.

„Weil du nicht weißt wie es nach hundert weitergeht.“

„Ich wollte nur schauen ob du selber drauf kommst“ verteidigte er sich.

„Hunderteins, hundertzwei, hundertdrei.“

„Nah also, wusste ich es doch.“ Danach blieb es ruhig.

Als er fertig war, standen schon sämtliche Kollegen und auch viele Sklaven um ihn und Bimm herum. Das war wohl das Großereignis der Woche. Jetzt könnte man sie noch schnappen und ihr zur Untersuchung Blut abzapfen um herauszufinden, weshalb sie so aufgeweckt, lebendig und so anders war. Bimm stand auf, stellte sich vor ein Fenster des Buses und betrachtete sich darin. Dann ging sie kommentarlos weg. Alle staunten, was Halmschor für ein schönes Mädchen aus den Locken geschält hatte.


Kurz darauf war Sommerfest. Alle waren schon leicht angeheitert, als sich die Arzthelferin Dolora mit einem Glas in der Hand aufreizend Halmschor näherte.

„Na Hal, wie läuft es so am Tor?“ sprach sie ihn an und schob ihren, mit einem eng anliegenden Hemd bekleidenden Brustkorb voraus.

„Hallo Dol, reine Routine, wenig Unterhaltung“ antwortete er. „Man sollte dem einen oder anderen Sklaven das Jonglieren oder Zaubern beibringen.“

„Deine Bimm wird immer unterhaltsamer“ meinte sie und hob vielversprechend die Augenbrauen. „Die hat sich die Hosenbeine oberhalb der Knie abgetrennt und geht jetzt rennen.“

„Wie rennen?“ Hal verstand nicht.

„Sie macht Sport, Leichtathletik. Wenn sie irgendwo hin will, macht sie das im Dauerlauf. Sie hat Freude an der Bewegung. Würde dir auch gut tun“ und sie tätschelte seinen Bauch.

„Bringt das keine Unruhe ins Dorf?“ fragte er verwundert.

„Den Sklaven scheint es genauso spaß zu machen wie uns. Übrigens, ich habe anhand ihrer Haare herausbekommen wer ihre Mutter ist.“ Dolora machte eine Kunstpause, Halmschor wartete wortlos. „Die hat erst noch ein niedliches Gesicht, ist aber genauso schwer wie alle.“

„Ist sie schwarzhaarig?“ war das erste was Halmschor wissen wollte.

„Nein, aber ich habe etwas seltsames herausgefunden“ sprach Dolora. „Du wirst es nicht glauben, was die Datei ausgespukt hat. Dieses kleine Ding wurde schon vor zwölf Jahren geboren und ihr Vater kann unmöglich ein Sklave sein.“

„Ist nicht möglich“ entfuhr es ihm. Durch Hormonzugaben in der Nahrung waren zwölfjährige Mädchen in der Regel schon so schwer wie Erwachsene und das erste oder zweite Mal Mutter. Die Sklavenweibchen waren mit zehn oder elf Jahren geschlechtsreif, und gleich danach schwanger, weil es die Quallen beneidenswert oft und überall miteinander trieben. Aber Bimm zwölf Jahre, sie war eindeutig unterentwickelt, körperlich. Selbst sechsjährige Mädchen waren schon schwerer als sie.

„Wenn sie so viel rennt, wird sie ja noch dünner“, bemerkte er schließlich.

„Tja, als Blutspender kommt sie wohl nicht in Frage“.

„Aber dass ihr Vater kein Sklave sein soll, kann ja wohl nur ein Versehen sein?“ zweifelte Hal.

„In meinen Daten passt auf jeden Fall kein Mann als Vater“, beteuerte Dolora. „Das ist total spannend, denn irgendwoher müssen die schwarzen Haare ja kommen.“

Halmschor wiegte seinen Kopf. „Der Grund kann auch eine natürliche Mutation sein, sowas gibt’s. Vielleicht ist Bimms Mutter auch mit falschem Samen befruchtet worden.“

„Wer weiß. Übrigens, bei uns wird bald eine Stelle frei, wir brauchen dringend einen tüchtigen Arbeiter“ verriet sie ihm mit einem vielversprechenden Augenaufschlag.


Quallen, Bimm und Alemannia

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