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3. Rohkost ist alles
ОглавлениеIn Alemannia gab es ein nicht unbedeutendes Suchtproblem. Sich mit einer stimulierenden Pfeife aufzuputschen wurde von der Obrigkeit inzwischen geduldet, wobei man aber nicht sehen konnte wie stark das Krautgemisch in der Pfeife war. Das Syndikat fand es als wünschenswert, dass sich die Bevölkerung, um sich in gute Laune zu versetzen, auf halbwegs harmlose Mittel beschränkte. Die Polizei war, was das Suchtverhalten der Bürger anbelangte, total überfordert und verfolgte nur die Anwendung solcher Substanzen, die schwer abhängig machten und Organe und Verstand zerstörten. Bei diesen Stoffen zeigte das Syndikat Null Toleranz. Dabei handelte es sich um eine Vielzahl aggressiver Suchtmittel synthetischen Ursprungs in ständig neuen Zusammensetzungen, die obendrein auch noch billig zu haben waren.
Einerseits gönnte das Syndikat der Bevölkerung die Rauschmittel, denn die Menschheit war allgemein von sich und ihrer Entwicklung schwer enttäuscht und deshalb auch psychisch schwer angeschlagen. Mit den sogenannten Rauschgiften hatten die Leute die Möglichkeit der Realität zu entfliehen, was eine noch höhere Suizidrate verhinderte. Andererseits verursachte ein zu hoher Rauschgiftkonsum teure Pannen, verhinderte produktive Arbeit und machte die Personen auch für den Privatbereich unbrauchbar. Weil Alkoholkonsum leicht zu erkennen war, bevorzugte das Volk Rauschgifte aller Art, doch die meisten dieser Substanzen machten die Leute körperlich und geistig zum Frack.
Deshalb schickte das Syndikat alle die auffällig wurden, für drei Wochen in eine Entziehungskur mit eingebauter Gehirnwäsche, damit die Süchtigen für die Gesellschaft und den Arbeitgeber wieder verwendungsfähig wurden. Das Syndikat bot der Bevölkerung aber nur diese eine Chance an, um wieder normal zu werden. Wer ein zweites Mal auffällig wurde, erfreute sich einer Spezialbehandlung, nach der sich der Proband selbst nicht mehr kannte und nur noch für Handlangertätigkeiten zu gebrauchen war. Bei dieser zweiten Entziehungskur wurden die Gehirne der Süchtigen verändert und weil man selbst nach 400 Jahren Gehirnforschung noch nicht alles wusste und konnte, waren die Behandelten für übergeordnete Tätigkeiten nicht mehr zu gebrauchen. Bei dieser Art der Behandlung kam es erstaunlich oft zu Todesfällen und die Bevölkerung fragte sich im Stillen ob das beabsichtigt sei, um schwierige Fälle loszuwerden die zu viel Mühe machten? Aber es war auch nicht unbedingt das Jahrhundert des Mitgefühls. Dass das Ego der Mitmenschen manipuliert wurde, quittierte man mit einem Achselzucken.
Der krankheitsbedingte Ausfall in Dr. Albritz Gruppe, den Halmschor vertreten hatte, war auf so einer Entziehungskur gewesen. Dieser Arbeiter war nun rückfällig geworden und seine Stelle somit frei. Doch Halmschor freute sich zu früh, auch in seiner Gruppe fiel jemand aus und deshalb war er unabkömmlich. Alle in seiner Gruppe wussten, dass er weg wollte und sich auf die Arbeit im alten Dorf unter den riesigen Bäumen freute. Nun musste er sich täglich dumme Bemerkungen anhören und manche seiner Kollegen machten so, als ob sie ihn loshaben wollten und es nicht erwarten konnten bis er endlich ging.
Auf Unterhaltung durch Bimm brauchte er aber nicht zu verzichten. Eines frühen Morgens stand sie, mit über den Knien abgetrennten Hosen und ausgelatschten Schuhen, keuchend vor der großen Halle. Durch das Heben einer Hand gab sie Hal ein Zeichen des Erkennens, spazierte aber zwischen die Baracken und sah sich um. Seine Kollegen und Kolleginnen, die Bimm noch nie gesehen hatten, sahen verwundert von ihr zu Halmschor und wieder zurück. Die Ärztin, ebenfalls von dem fremden Wesen überrascht, hob, ohne eine Frage zu stellen einen Arm, sah Hal an und zeigte in Richtung der Schwarzhaarigen.
„Die wohnt dahinten“ versuchte er die allgemeine Neugier zu befriedigen. „Sie ist etwas aus der Art geschlagen, aber eigentlich ganz in Ordnung.“ Bimm war schnellen Schrittes zwischen den Baracken verschwunden, eine Minute später tauchte sie außerhalb der Bebauung wieder auf und inspizierte alles vom Dorfrand aus. Gegen die umhergeisternden Sklaven wirkte sie wie ein Wirbelwind. Dann viel ihr Blick auf das Tor und sie ging darauf zu, jegliche Arbeit der Arbeiter und des medizinischen Personals kam zum Stillstand. Interessiert begutachtete Bimm das Tor und den Rahmen, sah die Mauer hoch und der Mauer entlang. So einen Fall hatte es hier noch nie gegeben, hinter Halmschor begannen Diskussionen. Dann rannte das schlanke Mädchen, sie kam ihm noch schmäler vor, zurück und blieb vor Hal stehen, der sie mit einer Mischung aus Unbehagen und Faszination erwartete.
„Hier arbeitest du also“ bemerkte sie. „Deine Kollegen da drüben“ sie zeigte zum mittleren Dorf in dem Hal noch nie gewesen war „sind richtig doof. Mit denen kann man gar nicht reden.“
„Ich habe dich hier noch nie gesehen. Du scheinst nun alles zu entdecken“ entgegnete er.
„Ich war schon oft hier, abends, wenn ihr weg seid. Tagsüber muss ich ja arbeiten, genau wie ihr“ meinte sie wichtig.
„Rennst du nun immer so durch die Gegend?“ wollte er noch wissen.
„Das macht Spaß wenn die Häuser und Bäume an mir vorbeisausen“ sagte sie mit einem Lächeln und es war das erste Lächeln das Hal bei ihr gesehen hatte und er war hingerissen.
„Ich renn jetzt wieder zurück, weiterarbeiten, bis mal wieder, Frisör.“
„Pass aber auf. In diesen alten Schuhen brichst du dir sonst die Beine“ Sie wetzte übertrieben schnell los, wohl um ihn zu beeindrucken und schon kurz darauf hatte sie der Waldrand verschluckt. Er hätte noch fragen können was sie sucht und ob er helfen sollte, doch mit den Kollegen im Nacken wollte er sich mit ihr nicht näher beschäftigen.
„So ein besonderes Vorkommnis müssen wir melden“ hörte Halmschor den diensthabenden Arzt hinter sich. „Wenn etwas aus dem Ruder läuft wird das Büro sofort nervös und das Mädchen hier tanzt eindeutig aus der Reihe und ist fehl am Platz.“
„Das würde ich lieber bleiben lassen“ entgegnete Hal, „denn sie ist das Maskottchen von Dr. Albritz“ grinste er den verständnislos schauenden Arzt an. „Wie hatte die Arzthelferin Dolora so schön gesagt: Sie ist das einzige Lebendige hier.“ Diesen Ausspruch konnte jeder nachvollziehen und Bimm war danach auch im Dorf am Tor gut gelitten.
Erst nach einer langweiligen Woche sah er sie wieder, kurz. Sie kam morgens angerannt, lief um die Baracken herum und sofort wieder zurück. Das Personal schüttelte zuerst die Köpfe, dann lachten sie. Was es so alles gab, ob sie wohl zu den Olympischen Spielen nach China wollte? Denn die fanden nur noch dort statt, alle vier Jahre in einer anderen chinesischen Großstadt. Aber Bimm wusste nichts von Olympia und Alemannia war als verbrecherisches Regime von den Spielen ausgeschlossen. Die Sklaven, die Bimms Gerenne schon länger mitansahen, sahen zu den Arbeitern. In ihren entspannten Gesichtern stand die Frage, ob diese Rennerei denn erlaubt sei, vielleicht erwartete der eine oder andere, dass gegen diese ungewohnte Unruhe vorgegangen wird. Doch die Beamten kommentierten das Verhalten von ihr mit keinem Wort und mit keiner Geste.
Die Woche darauf kam sie zum Bus und zeigte einer Krankenschwester ihren Arm. „Das brennt fürchterlich“ meinte sie. „Ich möchte da was drauf damit es aufhört“.
Der Unterarm war zerkratz, vermutlich von einer Heckenrose mit giftigen Dornen. Aus dem Bus schaute der Arzt der mitgehört hatte.
„Wir haben hier so ein Gerät, da legst du deinen Arm hinein und schon ist er wieder in Ordnung“ sprach er in begeistertem Tonfall. Unhöflich komplimentierte er einen Patienten hinaus, der dann seinen Leibesumfang mühevoll die Stufen hinunter schaffte.
„So, nun komm rein und ich zeige dir wie das geht“ meinte der Arzt aufmunternd.
Nur zögerlich stieg Bimm in den Bus, verwundert, weshalb er zu ihr so freundlich und gegenüber dem Mann so abweisend war. Der Arzt machte ihr vor, wie sie den Arm in ein lichtdurchflutetes Gerät zu legen hatte.
„Nur fünf Minuten und die Wunden sind versiegelt und brennen nicht mehr“ erklärte er noch. Misstrauisch, den Arzt nicht aus den Augen lassend, tat Bimm wie geheißen. Sie hatte nicht nur ihre Hosenbeine gekürzt, sie hatte auch die Ärmel ihres Hemdes abgetrennt, was im Sommer und beim Rennen bestimmt praktisch war.
Bewundernd betrachtete der Arzt ihre Haut an Armen und Beinen, sah in ihr schönes Gesicht und grinste linkisch. Dann konnte er nicht mehr anders und er fuhr mit seinen Fingern ihren schlanken Oberarm entlang. Bimm zog den Arm zurück, spritzte auf und schon war sie draußen und auf und davon. Halmschor sah sie davonsprinten, verdächtigte gleich den Arzt, dass er ihr zu nahe gekommen war und ahnte, dass sie sich hier nicht mehr blicken lassen würde.
Seine Versetzung ließ weiter auf sich warten, denn ihm wurden zwei neue Arbeiter zugeteilt die er schulen musste. So war er drei weitere Monate an die öde Barackenansammlung gefesselt, sah nichts von den prächtigen alten Bäumen, nichts von dem idyllischen alten Dorf und nichts von der lebendigen Bimm. Auch bei ihm zuhause ging es eher unlustig zu. Sein Sohn Sarus entpuppte sich als unwilliger Schüler der nur spielen im Kopf hatte und im Unterricht nur wenig Punkte zusammenbrachte. Seine Frau, die wie er und ihr Kind einen endlosen Kampf gegen die Fettleibigkeit fochten, bestand auf eine zweite Haut, denn sie wollte unbedingt ihre unebene Körperoberfläche kaschieren.
Eine zweite Haut war rein optisch eine feine Sache, wenn sie nur nicht so teuer wäre. Das hauchdünne künstliche Gewebe konnte nahtlos auf dem ganzen Körper aufgebracht werden, haftete problemlos und endete in der Regel an den Fingern und Zehen, denn ab dort wurde es zu kompliziert. In der Bevölkerung und besonders bei älteren Frauen, war die künstliche Haut weit verbreitet und gehörte zum guten Ton. In der Oberschicht war es ab einem gewissen Alter undenkbar die eigene Haut zu Markte zu tragen. Keiner der Reichen, egal ob Frau oder Mann, würde sich trauen mit Altersflecken in der Öffentlichkeit zu zeigen. Auch Angehörige der Beamtenoberschicht legten auf eine perfekte Haut viel wert.
Bevor diese Haut aufgetragen werden konnte, musste der Körper zuerst mit einer Salbe eingerieben werden, die die Behaarung auflöste. Die neue Haut straffte dann die Körperoberfläche, überspannte Falten und Narben und verdeckte sämtliche Pigment-und andere Flecken. Weil sie täglich, um den sprießenden Haarwuchs aufzulösen, eingecremt werden musste, fühlte sie sich auch noch fantastisch an. Das Ergebnis war eine makellose gleichmäßige Haut. Eine so verjüngte Frau bedeutete für den Mann auch einen Lustgewinn. Wer über wenig Geld verfügte, beschränkte die zweite Haut auf das Gesicht und versteckte den Rest unter seiner Kleidung. Für die Familie Drohsdal würde diese Ausgabe bedeuten, ihren Jahresurlaub mangels Geld im eigenen Land verbringen zu müssen, was sehr ärgerlich war, denn sie bekamen jährlich eine Ausreisegenehmigung, um in Italien, Spanien oder Paris Urlauben zu können. Und diese Haut hielt nur wenige Jahre, dann war die nächste fällig.
Den drei Monaten der Schulung, folgte der dreiwöchige Jahresurlaub in einem Heim des Syndikats am Bodensee. Bei dieser Gelegenheit ließ sich Marlesa auch mit einer künstlichen Haut einkleiden. Zu ihrem Unglück verpasste sie dadurch eine Reihe von Sonnentagen, derer sich die anderen Feriengäste erfreuen konnten, wo doch im Sommer die meiste Zeit der Himmel wolkenverhangen war. Die künstliche Haut war nämlich nicht besonders UV-fest. Wie bei allen Feriengästen endete das tägliche Fastenbemühen abends am Büffet und sie kamen genauso übergewichtig nachhause wie sie gegangen waren. Aber anschließend durfte Halmschor endlich auf seinen Wunscharbeitsplatz.
Am Montagmorgen nach den Ferien fuhr er noch wie gewohnt mit seinen alten Kollegen zum Barackendorf. Kurz nach ihnen erschienen Bus und Lastzug von Albritz` Truppe, die bei der Halle anhielt. Dr. Albritz persönlich stieg mit einem Paket in der Hand aus und rief nach Drohsdal. Halmschor ging erwartungsvoll auf ihn zu und der Alte reichte ihm das Paket, das bei näherem Hinsehen aus drei Overalls bestand. Alle Arbeiter und auch das medizinische Personal trugen bei der Arbeit hinter der Mauer die gleichen schwarzen Overalls. Nur hatte jede Gruppe ein anderes Emblem, deshalb wusste Halmschor gleich, als er die neuen Overalls sah, dass er nun nach hinten mitfahren durfte. Endlich wieder im Wald. Artig wünschte er mit freudigem Gesicht seinen Ex-Kollegen einen schönen Tag, bestieg den Bus zu dem er in Zukunft gehörte und begann im Innern gleich mit dem Kleidungswechsel.
„Na, bist du jetzt wo du hinwolltest?“ begrüßte ihn Dolora.
„Es ist immer wieder schön hier zu sein“ zwinkerte er ihr zu und begab sich in die Toilette.
Während der Mittagspause, als er zum Pinkeln an einem seiner geliebten Riesenbäume stand, wurde er von hinten angesprochen.
„Bist du auch mal wieder da“ sagte Bimm mit ihrer klaren Stimme. Als Hal sich umdrehte war er schockiert. Seit einer Ewigkeit sah er sie mal wieder aus der Nähe. Sie war nun genauso groß wie er, sehr schmal im Gesicht und er musste an ihr herunterschauen. Unter ihrem weiten Hemd waren nun deutlich zwei Beulen zu erkennen, sie war richtig schlank, eigentlich richtig dünn und ihre ebenso weite Hose wurde, da es nur Klamotten für Dicke gab, von einer Liane gehalten die sie sich wohl irgendwo abgerissen hatte.
„Du hast aber einen schönen Gürtel“ sagte er in seiner Verlegenheit. „Und gewachsen bist du auch“.
„Bald bin ich so groß wie der Dr. Albritz“ meinte sie selbstbewusst. Albritz war nicht nur der einzige magere innerhalb der Mauer, er war mit 1,75 auch bei weitem der größte.
„Wenn du so groß wirst wie er, verhedderst du dich im Dickicht“ wollte Hal witzig sein.
„Was heißt verhedderst?“ fragte sie sofort.
Er fummelte mit seinen Armen herum. „So halt, sich in den Lianen verfangen“.
„Ich renn doch nicht im Unterholz rum, da verkratzt man sich bloß. Wie lang bleibst du diesmal?“
Hal musste immer wieder auf ihr Hemd schielen und fragte sich, ob sie bei Hitze, wie die anderen Sklavinnen, auch oben ohne herumliegen würde.
„Ich bleibe nun hier bis zu meiner Rente“ erwachte er aus seinen Träumen.
„Ach, das ist doch genauso, wenn wir in das Dorf für Alte umziehen“ machte sie aufgeklärt.
„Genau so“, pflichtete er ihr schnell bei, weil er wusste, dass er zu viel gesagt hatte.
„Du siehst fast wie meine Mutter aus. Aber mein Vater kannst du nicht sein. Dolora meint, der müsste schwarze Haare haben“, sprach sie nun leiser.
„Du hast doch nicht geglaubt, dass ich dein Vater bin?“ fragte er betroffen.
„Was weiß ich, was hier alles möglich ist“, meinte sie bockig.
Deshalb hatte sie seine Nähe gesucht und sogar ihre Haare von ihm schneiden lassen.
Halmschor überlegte fieberhaft wie er sie zum Lachen bringen konnte, um aus dieser Situation herauszukommen und um nochmal ihr bezauberndes Lächeln zu sehen. Doch sie sagte: „Die Pause ist um“ und begab sich in Richtung Felder.
Als er am Bus vorbei kam, stieg gerade der Chef aus und musterte ihn eingehend. Halmschor sah sich verpflichtet eine Bemerkung zu machen.
„Das wird ja ein Mannequin und das in dieser Umgebung.“
„Da staunen sie, was?“ meinte Dr. Albritz.
„Ist sie öfters hier?“ fragte Hal einer Ahnung folgend. „Sie kennt viel mehr Wörter als die Dicken“.
„Während unserer Mittagspause ist sie immer in der Nähe. Und ich glaube sie belauscht uns“. Er riss die Augen auf und hob seine Brauen.
„Früher oder später wird das einmal Ärger geben. Spätestens wenn sie mal abtransportiert wird fliegt es auf, dass wir Magersucht und Spionagetätigkeit unterstützt haben“, meinte Hal mit einem Grinsen.
Albritz wurde ernst. „Bis dahin bin ich schon lange weg. Aber sehen sie sich das Mädchen doch einmal genau an. Was meinen sie was passiert, wenn sie von der Obrigkeit entdeckt wird?“
Sein neuer Arbeiter zuckte mit den Schultern.
„Wenn sie hier entdeckt wird“ fuhr der Arzt fort, „wird sie hundertprozentig in einem Bordell landen und das müssen wir verhindern. Wir müssen verhindern dass ein bezauberndes natürliches Geschöpf vergewaltigt und kaputt gemacht wird. Ich hoffe wir sind uns darin einig?“ sah er Hal scharf an. Der schluckte und nickte, so hatte er die Angelegenheit noch nie betrachtet, er lebte ja nicht hinter dem Mond und wusste wie es in Alemannia zuging.
„Ich habe ihr auch schon vor langem verboten sich bei den anderen Gruppen zu zeigen, da kann sie schließlich auch Feierabends hinrennen.“
Halmschor erzählte darauf den Vorfall mit dem verkratzen Arm und dem Arzt, der irgendwas gemacht haben musste, was Albritz Befürchtungen untermauerte.
Schon nach kurzer Zeit kamen sich Halmschor und Dolora näher. Dabei zeigte sich wie praktisch so ein Overall war. Je nach Lust und Wetter verzichtete Dolora auf das Hemd, bei Hitze sogar auf die Unterwäsche. Anfangs durfte er ihre runden Brüste liebkosen, an denen sie, Ehrenwort, nichts hatte machen lassen. Den Zipp nach unten gezogen, leuchtete ihm schon die Herrlichkeit entgegen. Einmal war er zu heftig und hatte ihr mit dem Zipp die Schamhaare eingeklemmt. Unauffällig besorgte er eine Schere, um seine Geliebte aus der Misere zu befreien, dann zippelte er ihre Haare aus dem Zipp, damit er sich wieder verschließen ließ. Nachdem sie sich in Form einer abgelegenen Abstellkammer ein sicheres Versteck erschlossen hatten, kam es auch zum Geschlechtsverkehr. Zeitweise taten sie es in jeder Mittagspause oder in einem günstigen Moment während der Arbeit. Auch hierbei erwiesen sich für eine schnelle Begattung die Overalls als überaus nützlich. Ruckzuck waren beide nach unten gezogen, damit vier lüsterne Hände freie Bahn hatten, Dolora brauchte sich nur noch umzudrehen. Ihr Körper profitierte davon, dass sie schmal gebaut war, das kaschierte ihr tatsächliches Gewicht. Eine zweite Haut wäre an ihr verschwendet und dass sie einen Freund hat, erfuhr Hal erst Jahre später. Die junge Dolora, die in Punkto Sex viel fantasievoller war als seine Frau, entlockte Halmschor nie vermutete Aktivitäten. Hatte sie anfangs noch heimlich aufreizend mit einem Gummi gewinkt, machten sie es bald ohne. Er empfand das Fremdgehen als ausgleichende Gerechtigkeit, denn Marlesa ließ ihn immer öfter hängen. Nur wurde es nach ein paar Monaten etwas eintönig, so ganz ohne Matratze.
Darüber nachzudenken wie es mit Bimm wäre, versagte er sich, zu unschuldig und rein erschien sie ihm. Wie es Albritz schon erwähnt hatte, war sie fast jede Mittagspause und auch oft während der Arbeitszeit des Personals, um die Arbeiter oder das medizinische Personal herum. Dass sie dabei ständig die Ohren spitze um unbekannte Wörter aufzuschnappen, sah man ihr nicht an. Aber sie hatte sehr viel Talent sich unsichtbar zu machen, oft bemerkte man sie erst beim zweiten Hinsehen, wenn sie an einen Baum gelehnt saß, an einer Ecke stand oder langsam die Fahrzeuge entlang schlich. Bevor Hal mit Dolora in der Kammer verschwand, vergewisserte er sich, das Bimm weit weg war, denn von ihr beim Rammeln erwischt zu werden, wäre ihm sehr peinlich gewesen.
„Hast du eigentlich gewusst, dass die Jahre gezählt werden und dass die Arbeiter ihre Geburtstage feiern?“ kam sie eines Abends, als er gerade den Lastzug einräumte, kauend auf ihn zu. Sie wusste was feiern bedeutete. Ihm war klar woher sie ihre Neuigkeit hatte. Die verdammten Arbeiter sollten besser aufpassen, wenn sie ihr Privatleben durchhechelten. Doch ihn fesselt was sie gerade verspeiste.
„Sowas kommt ab und zu vor“ log er sie an. „Was hast du da in der Hand?“ fragte er sie neugierig und deutete auf einige weiße Scheiben. In der anderen Hand hielt sie ein Stück von dem salzigen Sägemehl-Stangenbrot, das morgens gegen Feldfrüchte eingetauscht wurde. Zu jedem Biss des Brotes, biss sie auch von den weißen Scheiben ab.
„Das sind Zuckerrüben, die sind gut. Willst du probieren?“ und sie teilte mit ihm. Er nahm die Scheibe und biss ein Stückchen ab. Er war positiv überrascht, es war saftig und hatte richtig Geschmack.
„Hm“ nickte er, „schmeckt tatsächlich gut“.
„Zusammen mit dem Brot ist es das perfekte Essen“. Auch das Wort perfekt hatte sie sich erschlichen und einverleibt.
„Wie hast du die klein gekriegt“ denn Messer gab es ja keine und durften die Sklaven auch nicht haben.
„Mit der Hacke. Zack, zack, zack, schon hat man handliche Scheiben. Woran erkennen die Arbeiter wann sie Geburtstag haben?“ fragte sie unbeirrt weiter.
Sollte er ihr erklären was ein Kalender war? Was außerhalb der Mauer vor sich ging, war einfach nichts für sie. Wenn er wusste wie, musste er ihr das einmal begreiflich machen.
„Ich schätze, die nehmen einen Tag an dem sie Zeit haben und nehmen irgendeinen Grund damit sie feiern können“.
„Feierst du deinen Geburtstag auch?“
„Wer macht denn so was?“ grinste er.
„Vielleicht Leute die ein Jahr älter geworden sind?“ sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln, ließ ihn stehen und ging schmatzend ihres Weges.
Ein anderes Mal sah er sie Kohlblätter oder so was Ähnliches in sich hineinstopfen. Dass sie Karotten und diese neuartigen Kartoffeln, die man roh verzehren konnte, auch aß, wusste er schon. Meistens mit einem Brot zusammen. Das Personal saß in den Pausen meistens in den Fahrzeugen oder in der Lebensmittelhalle. Während einer Mittagspause, in der Halmschor und Dolora unabhängig von einender auf eine Gelegenheit warteten um verschwinden zu können, ging Bimm mit rotverschmiertem Gesicht zu Dolora. Was da bloß wieder passiert ist, dachte Hal. Doch Bimm hielt etwas in ihren Händen, von dem sich Dolora begeistert bediente. Weil Hal auf der Treppe des Lastzugs sitzend beide beobachtete, ging Bimm auch noch zu ihm. In ihren rotverschmierten Händen befanden sich Beeren, die sie ihm anbot und die köstlich schmeckten. Nachdem er „lecker“ gesagt hatte, sah der Chef neugierig aus dem Bus. Ihm bot Bimm die letzten Beeren an. „Heidelbeeren“ freute sich Dr. Albritz. „Heidelbeeren“ wiederholte Bimm freudig. „Wann habe ich bloß das letzte Mal Heidelbeeren schnabuliert“ setzte er hinzu.
„Ha, schnabuliert, ha, ha, ha“. Jauchzend und lachend entfernte sich Bim und schlug ein ums andere Mal ein Rad, was man von ihr bislang noch nie gesehen hatte.
„Seht ihr“ sagte der Chef, „so ist sie, unsere Bimm, man gibt ihr ein neues Wort und bekommt dafür eine Zirkusvorstellung.
In der Folge sahen sie Bimm noch öfter beim Radschlagen, oder sie probierte den Handstand, wobei das Hemd in der Hose steckte. Einmal sahen die Arbeiter sie an einem Ast hängen, Kopf und Arme nach unten, die Kniekehlen fest über dem Ast eingehackt. Aus der Ferne beobachtete Hal wie sie am Lagerfeuer sitzend, sich die Beine über die Schultern legte. Bei Bimm kam man aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus, aber sie machte allen unendlich viel Spaß. Natürlich brieten alle die um Bimm herumsaßen irgendetwas in der Glut. Inzwischen wusste Halmschor, dass die meisten dieser Jugendlichen ihre Brüder waren, die alle auf sie hörten. Dass die Eidechsen und Blindschleichen die an ihren Stecken verbrannten furchtbar stanken, schien die Bande nicht zu stören. Bimm wird bestimmt wie immer alles probieren.
Doch eines Tages wurde es Halmschor doch zu viel. „Ich habe für dich etwas ganz leckeres zum schnabulieren“ kam sie mit einem Krug in der Hand auf ihn zu. Heraus zog sie riesige, bestimmt zehn Zentimeter lange sich windende Maden.
„Nein, geh weg damit, die probiere ich bestimmt nicht“ wehrte sich Hal heftig. „Die sind bestimmt giftig“.
„Die sind guuut“, meinte sie, biss einer Made den Kopf ab, spie ihn aus und steckte sich die Made genüsslich in den Mund. Halmschor wurde es schlecht. „Und so etwas lebt hier im Wald?“ fragte er angewidert.
„Die wohnen unter den großen Bäumen“ zeigte sie auf ein paar alte Eichen. „Da krabbeln auch diese riesigen Käfer herum“ und sie hielt ihre Hände, mit Krug, an ihre Stirn. Halmschor hatte einen Verdacht und überlegte. Dann stieg er in den Laster und holte seinen kleinen DV, den Datenverarbeiter, drehte an der rechten Kugel, sprach leise einen Namen und das Gerät sprang an. An der Tür zeigte er Bimm was der DV hervorgebracht hatte.
„Sind das die Käfer die auf den Bäumen leben?“ fragte er sie. Über dem Handgerät schwebte ein von vier Lichtern erzeugter dreidimensionaler Hirschkäfer, der sich langsam drehte.
„Ui, genau die.“
„Das ist ein Hirschkäfer, mein Lieblingskäfer“ erklärte er ihr.
Sollte er ihr auch noch sagen, dass die fetten Maden die sie gerade verspeiste, die Kinder des Hirschkäfers waren? Lieber nicht.
„Wir bringen euch jeden Tag so leckere Sachen und du futterst das unmöglichste Zeug“ sagte er kopfschüttelnd. „Weshalb machst du das?“
Sie bewunderte immer noch den dreidimensionalen überdimensionierten Hirschkäfer. Diese Geräte kannten alle Sklaven, aber dass da auch Käfer herauskamen war neu. Halmschor sagte „Aus“ und weg war der Käfer. Bimm erwachte und überlegte was sie gehört hatte.
„Von euren Sachen wird mir schlecht und schwindlig“ antwortete sie dann. „Und ich glaube, dass das Zeug das wir auf den Feldern ernten, das richtige Essen ist. Nur wollt ihr es für euch.“
„Das stimmt nicht“ log er nun mit voller Absicht, „wir essen zuhause das gleiche, die Sachen vom Feld werden zu einem Brei vermischt.“
„Und wie es bei euch zuhause zugeht, erzählt ihr auch nicht. Mahlzeit“.
Es wurde Herbst und kühler und es wurde kühler als die Jahre zuvor und es regnete tagelang. Die Sklaven zogen freiwillig ihre dicken Mäntel und gefütterten Regenschuhe an. Ganz besonders fror Bimm, die im Verhältnis zu den Anderen nur Haut und Knochen war, weil sie durch ihre Rennerei jegliche Fettbildung verhinderte. Dolora schenkte ihr einen ihrer alten Overalls und schärfte Bimm ein, ihn nur als Unterwäsche zu tragen, damit ihn niemand zu Gesicht bekam. Sonst würden die Anderen auch einen haben wollen und fremde Arbeiter würden sie für Personal halten. Dr. Albritz schenkte ihr noch eine uralte farblose Wintermütze mit Ohrenklappen, die Bimm nicht mehr absetzte. Diese Wintermütze, die es in dieser Art bestimmt schon in der Steinzeit gegeben hatte, entlockte den Sklaven im hinteren Dorf noch nie gezeigte Neugier. Jeder wollte das Teil berühren und Albritz, Halmschor und Dolora wurde es unwohl. Es war aber nicht zu erkennen ob die Sklaven sich für Bimm freuten, oder ob sie neidisch waren, habgierig oder ganz einfach von dieser ungewohnten Neuerung irritiert. Mit diesem Geschenkt war der Chef eindeutig einen Schritt zu weit gegangen.
Nach dem sich Bimm einige Tage nicht hatte blicken lassen, kam einer ihrer Brüder auf den Bus zugerollt. Hal sah es zufällig von der Lebensmittelhalle aus. Schon nach einer Minute schnaufte der hundert Kilo schwere Junge mit dem Chef im Schlepptau davon. Schon nach weiteren fünf Minuten kam Dr. Albritz zurück, kramte in seinem Sprechzimmer herum und verließ den Bus wieder schnellen Schrittes mit seinem Arztkoffer. Hausbesuche machen musste er täglich, unter tausenden Übergewichtigen gab es immer welche die krank auf ihrer Matratze lagen. Doch auch an den folgenden Tagen war von Bimm nichts zu sehen. Hal erkundigte sich beiläufig ob die dürre, Schwarzhaarige eine Erkältung habe. „Pilzvergiftung“ war Albritz‘ Antwort. Bimm hätte begonnen die Essbarkeit sämtlicher Pilzarten zu testen derer sie habhaft werden konnte. Da konnte durchaus schon mal ein weniger genießbarer darunter sein, meinte der Chef lakonisch. Aber sie hätte sich erholt und streife schon wieder durch die Wälder.
Das Lagerfeuer brannte nun die ganze Zeit, aber den drei tausend Einwohnern zum Trotz immer nur das Eine. Um das Feuer drängten sich oft dutzende Sklaven oder sie schoben sich, wie um etwas abzuholen, daran vorbei. Halmschor war auch endlich dahinter gekommen, wie sie das Feuer immer wieder entfachten. Des Rätsels Lösung war: Das Feuer ging nie aus. Unter der Feuerstelle befand sich ein Loch, in dem es tagelang sachte und rauchlos vor sich hin glühte. Die Sklaven mussten nur dürre Stängel und Zweige auf das Loch werfen und schon kurz darauf prasselte wieder ein lustiges Feuerchen. Vielleicht wurde das Loch auch heimlich mit altem Buchenholz gefüttert. Blieb die Frage wer ihnen die erste Flamme gestiftet hat, doch die konnte von den Quallen keiner beantworten. Und man musste es ihnen sogar glauben, denn sie waren arglos und ohne Misstrauen, gelogen wurde bei ihnen nur unbewusst, mangels Besitz kannten sie auch keinen Sozialneid. Deshalb hielt Hal Bimms Mütze für gefährlich.
Halmschor hatte einen Spezialauftrag bekommen, der ihn für Tage vom Dorf fernhielt. Jeden Winter wurden, sobald der Wald kahl war, die Äste die der Mauer zu nahe oder sogar auf ihr zu liegen kamen, abgeschnitten. Die Mannschaften der Dörfer waren jeweils für ein Drittel der Umfassungsmauer zuständig. Die Arbeit war nicht schwer, doch musste man gut zu Fuß sein. Mit einem kleinen, stämmigen Arbeiter der das schon oft gemacht hatte und der den Rucksack mit Essen und Trinken trug, marschierte Halmschor mit dem Schneidegerät auf der Schulter erstmals auf die Mauer zu. Er nicht damit gerechnet, dass es an der Mauer entlang dermaßen unwegsam und unübersichtlich sein würde. Oft war es felsig, die Erde rutschig, das Unterholz dicht und überall lagen die abgeschnittenen Äste der letzten Jahre herum.
Im Anblick des ersten Astes der störte, erklärte der erfahrene Arbeiter der Bulster hieß, Halmschor das moderne Gerät. Die größte Schwierigkeit bestand darin einen einigermaßen planen Untergrund zu finden, für das Gebirge schien der Baumabschneider nicht ersonnen zu sein. Das kugelige Gerät war auf drei Beine geschweißt. Um es aufstellen zu können waren die Zwei gezwungen Steine und Äste wegzuräumen. Stand es einigermaßen gerade, nivellierten die Beine das Gerät selbständig in die erforderliche Balance. Buster zog danach ein Röhrchen aus der Kugel, drehte es an und mit dem Lichtstrahl markierte er durch hin-und herfahren die Stelle am Ast die durchtrennt werden sollte. Das hatte sich das Gerät gemerkt und es wurde ernst. Bulster sah sich um, klopfte drei Mal sachte auf die Kugel und aus dem Röhrchen kam ein scharfer Strahl der den Ast abtrennte. Krachende knallte er auf die Mauer und dann auf den Boden.
Wenn in diesen Sekunden ein Vogel durch den Strahl geflogen wäre, hätte er Gliedmaßen oder sein Leben lassen müssen. Auch einen Mensch der in den Strahl kam, würde er schwer verletzen oder etwas Abtrennen. So effektiv das Gerät war, durfte es nur von ausgesuchten Leuten bedient werden, denn immerhin war es auch als Waffe zu missbrauchen. So wanderten Hal und Bulster Kilometer um Kilometer an der Mauer entlang. Das Unterholz in Nähe zur Mauer legte Bulster mit einem Horizontalschnitt ebenerdig um, was verboten war. Nicht immer sah man was sich im Hintergrund befand, aber so kamen sie schneller vorwärts. Manchmal war hunderte Meter weit nichts zu tun, dann ging es wieder Schlag auf Schlag und jedes Mal musste wegen jedem Ast das Dreibein in Stellung gebracht werden. Eine Stunde vor Feierabend marschierten sie die zwei bis drei Kilometer zum Dorf zurück.
Am zweiten Tag passierten sie uralte verwilderte Gärten. Die Obstbäume waren überaltert und am Zusammenbrechen. Bulster und Halmschor blieben wie versteinert stehen, auf einem Baumstamm saß Bimm vor einem Eimer und schien irgendwas Braunes zu putzen. Ohne aufzuschauen fragte sie: „Wollt ihr was Saftiges?“ Die Beiden Arbeiter gingen zu ihr hinüber und späten in den Eimer, der aber keine Maden enthielt sondern braune Früchte. Hinter Bimm rankten sich Kiwis durch einen ausladenden, umgestürzten Obstbaum. Sie war gerade am Schälen. Bulster kannte die Früchte gar nicht und Hal nur vom Hörensagen, beide waren aber angenehm überrascht, was es so alles in einem Wald zu essen gab. Der Satz „Die bring ich jetzt zum Chef und zu Dolora“ war ihre Verabschiedung.
Eine halbe Stunde später ging es steil abwärts und die Arbeiter erreichten das Obere Tor, das nur in Notfällen benutzt wurde. Dort erwartete sie Sturmbruch, was sie zum Schwitzen brachte und für den Rest des Tages aufhielt. So eine Sklavenarbeit, fluchten die beiden. Erst nach einer Woche, bei der sie mehrmals Bimm im Wald herumstreifen sahen, war die Arbeit endlich erledigt. Hal und Bulster, die sich in der gemeinsam verbrachten Zeit viel erzählt hatten, verabschiedeten sich wie zwei Kriegsveteranen mit Umarmung. Hal wusste nun von Bulster, der höchstens 1,40 Meter groß war, dass er in führender Position im „Verband der kleinen Leute“ agierte. Dieser Verband der sich überall einmischte und mitmischen wollte, war der unerschrockene Widerpart des Syndikats. Vor allem beschuldigte der Verband das Syndikat, für die schlechte Ernährung der Bevölkerung verantwortlich zu sein, denn aufgrund der einseitigen Ernährung wurden die Menschen seit Generationen immer kleiner.
Daran musste Halmschor denken, als er in das Dorf hineinmarschiert und Bimm erblickte, die eifrig an roten Rüben und etwas Grünem herumknabberte. Sie schien immer noch zu wachsen, eigentlich ernährte sie sich am abwechslungsreichsten und er beneidete sie auf einmal um ihre Lebensweise. Nach wie vor unterhielt sie sich meistens mit der Krankenschwester Dolora. Doch wenn Bimm eine üppige Nahrungsquelle aufgetan hatte, ließ sie außer Dolora auch Hal, der ihrer Mutter so ähnlich sah und den Chef probieren. Auch mitten im Winter, was man im 25. Jahrhundert so als Winter bezeichnete, fand sie in der Erde Essbares.
Albritz, Dolora und Halmschor, die immer zusammen arbeiteten, hatten Sonntagsdienst und sich Kuchen mitgebracht. Als sie ihn gerade heimlich im Bus verzehrten, ertönte von draußen eine klare und vergnügte Stimme. „Ich habe euch das Leckerste was der Wald zu bieten hat mitgebracht“. Bimm stand mit einer Schale vor dem Bus und schaute erwartungsvoll zu den Fenstern hoch.
„Ihr deutsch wird immer besser“ bemerkte Dolora, „kein einziger hier weiß sich so gut auszudrücken.“
„Kein Wunder wenn sie dauernd mit dir quatscht“ entgegnete Hal. Seine Liebe zu Dolora war Witterungsbedingt etwas abgekühlt, weil sie sich in der Abstellkammer den Unterlaib verkühlt hatte.
„Ich gehe mal raus und begutachte was sie uns anzubieten hat“ sagte der Chef und verließ den Bus. Gleich darauf rief er: „Kommt raus ihr zwei Zuckermäulchen und schaut was es hier gibt.“ Unwillig ließen Dolora und Hal ihren Kuchen stehen und begaben sich zur Tür.
„Seht mal“ empfing sie der Chef und hielt ihnen die Schale entgegen, in dem sich irgendein weißes Zeug mit braunen Flecken befand.
„Engerlinge, absolut gesundes und natürliches Eiweiß. Deshalb wächst unser Mädchen so gut“, strahlte Dr. Albritz.
Der Chef sollte mal besser aufpassen was er so vor Bimm alles erzählt, dachte sich Hal. Er fand ihn absolut unvorsichtig, wo sie sich doch jedes Wort merkte und auch noch ihre Schlüsse daraus zog. Wieder im Bus meinte der Alte:
„Das Mädchen ist wie aus einer anderen Zeit“. Er schmunzelte. „Sie ist eigentlich der einzige Mensch den ich kenne der sich gesund ernährt. Sie ist wie die Jäger und Sammler aus der Steinzeit. Wissen sie was ich meine?“ fragte er in Richtung Dolora und Hal. Dolora blickte verständnislos drein, doch Halmschor sagte:
„Ich weiß was sie meinen und ich leide auch schon lange darunter.“
„In wie weit leiden sie?“ flüsterte Albritz.
„Ich habe Minderwertigkeitskomplexe“ flüsterte Halmschor zurück.
Der Arzt räusperte sich. „Dann würde ich mich an ihrer Stelle dem Programm anvertrauen, bevor es zum Trauma wird.“
Die Menschen in Europa und vermutlich auf der ganzen Welt, litten unter dem was aus ihnen geworden war. Es war allgemein bekannt, dass sich die Menschen zurückentwickelten. Es war ihnen nicht nur bewusst, dass der Homo sapiens vom Wuchs her immer kleiner wurde, auch was sein Hirn betraf baute er immer mehr ab. Laut Wissenschaft hatten die wahren Menschen in der Steinzeit gelebt, niemals danach war der Mensch gesünder und sein Hirn größer und mehr gefordert gewesen, als bei seinem Überlebenskampf in der Wildnis. Der moderne Mensch dagegen besorgt sich alles was er benötigt im Supermarkt und seine Tätigkeiten werden von denkenden Maschinen bestimmt.
Die Jäger und Sammler früherer Zeiten, so die Überzeugung der Wissenschaftler, waren noch richtige und natürliche Menschen, die mit körperlichem Geschick und geistiger Raffinesse sich und ihre Kinder selbst versorgen konnten. Ihre Nahrungspalette bestand aus vielerlei Beeren, Wurzeln, Früchten, Pilzen, Sämereien, Kräutern und Blättern. Diverse Vogeleier, Würmer, Insekten, Maden, Schnecken, Muscheln und Fische, konnten genauso satt machen wie ein saftiger Braten, wenn das Jagdglück hold war. Wobei auch kleine Tiere nicht verschmäht wurden und besonders die vitaminreichen Innereien beliebt waren.
Und diese Leute waren handwerklich sehr Fit, sie konnten ihre Kleidung, Werkzeuge und Geräte selber herstellen. Sie konnten planen, das Wild überlisten und wussten, wie sie ohne Hungersnot über den Winter kamen. So abwechslungsreich wie damals hat sich die Menschheit seither nicht mehr ernährt und so geistig gefordert um überleben zu können, wurden die Menschen seither auch nicht mehr. Deshalb waren die Menschen der Steinzeit viel größer, gesünder und vermutlich auch seelisch intakter gewesen.
Und die meisten modernen Menschen wussten das, weil es oft genug in den Medien erwähnt wurde, und sie kamen sich minderwertig vor. Dass sie immer kleiner wurden und ihr Gehirn immer mickriger, sprach eine deutliche Sprache. Von Menschen die das taten wofür sie geschaffen wurden, waren sie Epochen entfernt. Sehr gravierend war zudem die nachlassende Gebär-und Zeugungsfähigkeit. Während frühere Menschen wie die Karnickel Nachwuchs produzierten, ging im 25. Jahrhundert ohne künstliche Hilfe fast gar nichts.
Halmschor Drohsdal und seine Zeitgenossen hatten immer genug zu essen, von allem gab es reichlich. In den Geschäften wartete eine unübersichtlich große Zahl an Fertiggerichten, die jeder zuhause in seinem Lichtschrank in Sekundenschnelle zu einer schmackhaften Mahlzeit erwärmen konnte. Aber es waren alles industriell hergestellte Mahlzeiten, die aus den immer gleichen Rohstoffen bestanden und mit Hilfe von Geschmacksstoffen zu ständig neuen Gerichten komponiert wurden. Dazu gemischt wurden die gesetzlich vorgeschriebenen Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, damit es der Bevölkerung an nichts mangelte.
An frischem Obst und Gemüse war die Auswahl wesentlich reduzierter, denn es fehlte die Nachfrage. Die meisten Bürger waren nicht nur zu bequem zum Kochen, die modernen Küchen verzichteten sogar auf eine Kochstelle und verfügten nur noch über einen Lichtschrank, in dem auch das Teewasser erhitzt wurde. Deshalb lag in den Geschäften nur sehr wenig Gemüse, und auch wenig Obst. Ein Apfel war ein Apfel, eine Birne eine Birne, eine Kartoffel eine Kartoffel und an Nüssen gab es Walnüsse, weil die in Alemannia wild wuchsen. Dass es einmal von allem hunderte von Sorten gegeben hatte, konnte sich niemand mehr vorstellen. Nur wenige Menschen machten sich die Mühe mit einem eigenen Garten. Bimm war im Herbst mit ihrem Krug voller Walnüsse, Haselnüsse, Eicheln und Bucheckern zu Dolora spaziert und hatte sie gefragt, weshalb die von niemandem gegessen werden. Das mache zu viel Arbeit, war ihre Antwort. Und da lag der Hund begraben. Mit dem womit die Industrie die Regale füllte, waren aus Bequemlichkeit die meisten zufrieden. Trotz üppiger, sattmachender Versorgung fehlte es an gesunder Vielfalt und das machte sich zunehmend durch mangelnde Körpergröße bemerkbar.
Gegen frühere Zeiten wurden die Menschen im Alltag weder körperlich noch geistig stark beansprucht. Jeder hatte seinen Datenverarbeiter der die Steuererklärung machte, fehlende Vorräte meldete, an Termine erinnerte und die Vorlieben seines Besitzers bediente. Es war ein Gerät das jede Frage beantwortete und für alle Bewohner im Haushalt dachte. Zudem ließen sich die Leute von ihrem DV zu allen materiellen und menschlichen Belangen des Alltags beraten, was sogar so weit ging, dass man ihn konsultierte, wie man mit seinen Nachbarn und Kollegen umgehen sollte.
Niemand brauchte seine Böden zu wischen, das machte ein billiges Gerät viel besser, so wie es für alles billige Putzgeräte gab. Niemand brauchte sich um sein Auto zu kümmern, das machte das selber und fuhr selbständig in die Werkstatt und Waschanlage und niemand brauchte sich mehr Programme ausdenken, das machten die Programme selber viel fehlerfreier. Selbst das Beziehen der Betten konnte vom Bett selber bewerkstelligt werden und wer es wollte, konnte jeden Tag auf einem frischen Laken schlafen, während unter der Matratze die andere Hälfte gereinigt wurde.
An jedem Arbeitsplatz stand ein DV der den Arbeitnehmern sagte was sie zu tun hatten, wer unterwegs war machte es nicht ohne Handgerät, denn sonst war er aufgeschmissen und selbst Politiker befragten ihre Geräte wie sie regieren sollten. Die einzigen die vermutlich kreativ nachdachten, waren die sieben vom Syndikat, denn wenn es um die Manipulation der Bevölkerung und um Habgier ging, waren die Datenverarbeiter der Fantasie der Menschen noch unterlegen. Auf jeden Fall wurde den Menschen Tag ein Tag aus von Geräten und Maschinen gesagt was sie wie, wann und wo zu tun hatten und Halmschor verzweifelte darüber.
Und seit er Bimm beobachtete, fühlte er sich erst recht als degenerierter Homo sapiens. Fast täglich zeigte sie ihm, dass er nicht einmal mehr der Schatten eines Menschen war, wie ihn die Natur einmal hervorgebracht hatte. Körperlich geschrumpft, geistig geschrumpft und nur noch Befehlsempfänger der Datenverarbeiter. Hal konnte nicht verleugnen, dass er deshalb psychische Probleme bekam und immer trübsinniger wurde. Weil es mit dem zweiten Kind nicht geklappte und sich seine Frau stattdessen für eine zweite Haut entschieden hatte, übermannte ihn die Trostlosigkeit des Daseins, da war selbst Dolora nur eine schwache Abwechslung. Weil aber in Europa Lebensmüdigkeit ein häufiger Zustand war und die erforderliche Anzahl Psychiater die finanziellen Mittel der Länder übersteigen würde, hatte man auch dafür ein Programm erdacht, das jeden Seelenklempner ersetzen konnte.
Er solle einen unabhängigen DV nehmen, hatte ihm Albritz eingeschärft, also einen der weder am Funk noch am Netz hing und in den niemand hineinspionieren konnte, denn von seiner Tätigkeit dürfe niemand erfahren. Das „Programm für deine Seele“ arbeite ohne die Unterstützung der Zentrale viel ehrlicher, hatte der Alte noch gemeint. Ein unabhängiger DV lag bei ziemlich jedem zuhause, zum Beispiel für Kriegsspiele und um folgenlos Sex-und andere verbotene Filme anschauen zu können.
Halmschor steckte den Stift, auf dem das Programm für seine Seele gespeichert war, in sein Handgerät, drehte an der linken Kugel, weil er das Hologramm der alten weisen Frau die ihn erwartete nicht sehen wollte und drehte dann an der rechten, um das Programm in Schwung zu bringen. „Sie sind nicht Verbunden“ meldete sich das brettartige Gerät sogleich. Albritz hatte ihn vorgewarnt. Der DV würde dreimal auf eine Verbindung mit dem Regierungs-DV bestehen, doch dann wüsste man in Karlsruhe über ihn Bescheid. Geduldig drehte Hal die Aufforderungen weg und tatsächlich kam dann die Frauenstimme zur Sache.
Zuerst befragte sie ihn über seine Herkunft und Bildung, danach über Familie und Lebensumstände. Endlich wollte die beruhigende Stimme die Halmschor schon als nervig empfand, auch wissen wo ihn der Schuh drückte.
„Ich fühle mich nicht mehr wohl in meiner Haut“ begann er vorsichtig. „Ich fühle mich richtig deprimiert“ sagte er wahrheitsgemäß.
„Sind sie mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden, wurden sie bei einer Beförderung übergangen?“ forschte die Frauenstimme.
„Nein, nein, der Arbeitsplatz ist völlig in Ordnung“.
„Liegt es an der Familie, ist ihre Frau nicht mehr empfänglich genug für Sex?“
„Das ist es auch nicht, ich habe eine Geliebte“. Das konnte er aber auch nur hier erzählen.
„Sind sie mit den politischen….“
„Jetzt hör doch auf alles Mögliche aufzuzählen, du alte Schrulle. Ich fühle mich lebensunwert, ich fühle mich als Witz einer einst prächtigen Gattung.“ Hal schnaubte. „Wenn ich ein richtiger Mensch wäre, würde ich mich von allem ernähren was die Natur hergibt und nicht von dem, was der Supermarkt an Industriefutter in seinen Regalen liegen hat.“
„Sie gehören zu einer Generation die es geschafft hat, die größtmögliche Menschenmasse zu ernähren“ erklärte ihm das Programm.
„Mit dieser Ernährung werden die Menschen leider immer kleiner“ hielt er dagegen.
„Heutzutage ist es aber nicht mehr nötig groß und stark zu sein“ meinte die Stimme. „Die Gesellschaft braucht weder kräftige Krieger noch kräftige Arbeiter.“
Das ließ Hal nicht gelten. „Ich glaube, dass sich die Menschen besser fühlen würden, wenn sie sich vielfältiger ernähren könnten.“
„Da alle satt und alt werden, spielt eine andere Ernährung keine Rolle und Große gibt es nur deshalb, weil es Kleine gibt, da ist die Durchschnittsgröße völlig egal.“
Hal war jetzt gereizt. „Und ganz besonders macht mir zu schaffen, du Scheusal von einem Programm, dass die Gehirne der Menschen immer kleiner werden, weil uns Geräte und Programme das Denken abnehmen.“ Die Stimme schwieg. „Wir werden uns zum Affen zurückentwickeln und weil Affen geschickter sind als wir, werden wir aussterben. Wie siehst du das?“
Bedächtig erklärte die Stimme aus dem DV wie sie es sah. „Es ist durchaus vorstellbar, dass die Errungenschaften der heutigen Zeit durch diverse Einflüsse verloren gehen. Es ist auch vorstellbar, dass die Menschen sich zurückentwickeln, die Zivilisation zusammenbricht und die Menschheit rapide abnimmt. Doch das wird nicht das Ende sein. Dann sind die Menschen wieder gefordert, sie entwickeln sich wieder, Körper und Hirn werden wieder größer und alles fängt wieder von vorne an“.
„Mittelalter, Pest und Kriege?“
„Vielleicht.“
„Ich fände es toll, wenn die Menschen wieder zu vitalen Jägern und Sammlern würden, ich habe da nämlich ein lebendes Beispiel“ und er erzählte dem Programm von Bimm.
Das verwehrte aber eine Antwort. Stattdessen meinte die Frauenstimme: „Ich müsste jetzt mit der Zentrale verbunden werden, um weiterzuhelfen können.“
„Vergiss es“, lachte Hal. „Du wirst nie mehr mit deiner Zentrale verbunden werden, dafür weist du zu viel. Du bist für den Müll.“
Nach einer kurzen Pause fuhr die Stimme fort. „Sie orientieren sich also an dieser Bimm und sind der Meinung, dass durch diese Lebensweise die Menschen wieder größer, kräftiger und klüger werden“ schlussfolgerte das Programm.
„Genau, das ist wofür die Natur den Mensch gemacht hat, nur als Jäger und Sammler lebt man wirklich, alles andere geht in die falsche Richtung.“
„Wie viele Einwohner hat ihre Heimatstadt?“ fragte die Stimme unsinniger Weise.
„Etwa 30tausend“ antwortete Halmschor überrascht.
„30tausend Jäger und Sammler würden die Fläche von ganz Süddeutschland beanspruchen, um sich ernähren zu können. Ganz Nordamerika konnte ursprünglich nur 2 Millionen ernähren. Können sie sich nun vorstellen was für riesige Flächen dieser Lebensstil benötigt. Eine Existenz als Jäger und Sammler ist für die Menschheit völlig indiskutabel.“
Halmschor war platt, die Steinzeit schien seit der Steinzeit tatsächlich tot zu sein. „Das hilft mit jetzt aber nicht weiter“ meinte er dann.
„Was sie brauchen“ hauchte nun die Frauenstimme „ist ein eigener Garten mit Obstbäumen und Beerensträucher. Dann hätten sie viel Bewegung und abwechslungsreiche Ernähren. Mit etwas Fantasie können sie sich dabei als archaischer Mensch fühlen.“
Er hörte Türenschlagen, seine Frau kam nachhause. „Überleg ich mir noch, du Miststück“. Halmschor zog ohne sich zu bedanken den Stift und versteckte ihn auf dem obersten Regal hinter seiner Steinsammlung.