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Siegen
ОглавлениеIch weiß noch genau, wie ich von der Autobahn abfuhr und in dem ersten Dorf nach der Hochschule fragte. Als der Befragte zu reden anfing, glaubte ich, mich in Texas zu befinden. Das Siegerländerisch hatte ich noch nie vernommen, man sprach wirklich ein amerikanisches Englisch auf Deutsch. Die Hochschule lag auf einem Berg, der eine schöne Aussicht bot. Neue Gebäude, lichtdurchflutet. Ich immatrikulierte mich.
Ich war von da an Student in den Fächern Mathematik und Kunst für das Lehramt an Gymnasien. Mitte Oktober fing das Wintersemester an. Bis dahin musste ich eine Wohnung suchen. Ich fand eigentlich sehr schnell eine Wohnung, ich glaube, ich hatte die Adresse vom schwarzen Brett. Meine Freundin, mit der ich in Bremen gewohnt hatte, zog mit mir zusammen. Als der Studienbetrieb losging, musste man sich zunächst an die unterschiedlichen Anfangszeiten der Seminare gewöhnen. Die Anfangszeit s.t. hieß, dass pünktlich zur angegebenen Zeit begonnen wurde, die Anfangszeit c.t. hieß, Anfangszeit plus fünfzehn Minuten. Nichts fing sine tempore an, alles startete cum tempore. Also kam man eigentlich nie zu spät. Mit der Mathematik tat ich mich von Anfang an schwer. Nach zwei Wochen wechselte ich das Fach und studierte von da ab Geschichte und Kunst. Vorausgegangen war in Erlebnis, das ich nie vergessen hatte. Ich besuchte eine Vorlesung in Mathematik, die dazu diente, im Seminar Gelerntes zu vertiefen und zu festigen. Der Assistent, den wir wegen seiner Nase „Feuermelder“ nannten, schrieb alle Tafelflügel voll. Man wagte kaum, Verständnisfragen zu stellen, tat man es doch, wurde man mit strengem Blick gestraft. Als er die komplette Tafel vollgeschrieben hatte, wischte er nicht etwa das Geschriebene aus, sondern nahm rote Kreide, und schrieb an der weißen Wand weiter. Das war für mich der Moment, wo es mir angeraten erschien, das Studienfach zu wechseln. Kunst erwies sich als sehr arbeitsaufwendig. Oft fanden Abendveranstaltungen statt. Wenn andere schon in der Kneipe saßen und Bier tranken, machten wir uns auf und begaben uns an die Hochschule. Ich studierte Kunst genau vier Semester, dann wechselte ich auch dieses Fach. Ich studierte von da an Geschichte und Sozialwissenschaften. Diese Fächerkombination führte ich zu Ende und schloss mit dem ersten Staatsexamen ab. Ich schaffte es auch, in der Regelstudienzeit fertig zu werden.
Im folgenden Sommer endete meine Beziehung zu meiner Freundin. Ich war ziemlich fertig. Mein Vater sagte: „Paulo, Frauen gibt es wie Sand am Meer!“, womit er natürlich recht hatte, wie ich aber erst später feststellte. Ich lebte sehr kurze Zeit allein, bis ein Bekannter aus Bremen nach Siegen kam, um dort zu studieren. Er zog bei mir ein. Wir machten Deckel in der Kneipe, zum ersten Mal in meinem Leben zahlte ich einen Deckel in Höhe von dreihundert Mark, allerdings mit meinem Bekannten zusammen und für drei Monate. Wir lernten Mädchen kennen und machten allerhand Unsinn. Aber wir studierten!
Gegen Ende des Jahres wollte uns unsere Vermieterin nicht mehr haben und kündigte uns. Wir fanden sehr schnell etwas anderes, einen Altbau mit leer stehender erster und zweiter Etage. Wir nahmen die zweite. Wir hatten jeder zwei Zimmer und eine Küche. In der Küche stand ein alter Ofen, so wie wir ihn zu Hause hatten, mit Kohle geheizt. In den Zimmern gab es Ölöfen. Wir hatten im Keller ein Ölfass, von dem wir uns eine Kanne abzapfen mussten. Beim Einschütten in den Ofentank ging immer ein Tropfen daneben, das ließ sich gar nicht verhindern. Also stank es im Zimmer nach Öl. Die Öfen brannten aber gut.
Eine Zeit lang holten wir im Sägewerk säckeweise Holzabfälle, mit denen wir unseren Küchenofen befeuerten. Dann organisierte ich zu Hause eine Tonne Kohlen. Die musste natürlich nach Siegen gebracht werden. Also liehen wir uns einen Ford Transit und fuhren schaukelnd mit einer Tonne Kohlen über die Autobahn. Als wir einmal das lange Ofenrohr säuberten, zog der Ofen noch mal so gut, und wir hatten immer eine angenehme Wärme.
In diesem Winter reisten wir nach Österreich in das Haus von Mädchen, die wir kennengelernt hatten. Eine ganze Menge Leute versammelte sich da. Das war eine Weingegend in der Nähe von Spielfeld. Wir lernten Uwe und seine Familie kennen und erzählten von der leer stehenden Etage unter uns. Sofort war er Feuer und Flamme und zog im Frühjahr ein. So begann die Zeit der legendären Wohngemeinschaft. Lutz zog noch dazu und für eine Zeit auch noch Ulli Müller, der Hauptschullehrer war.
Die endgültige Zusammensetzung der Wohngemeinschaft war: oben wir zusammen mit Henni, der aus Bremen nach Siegen gekommen war und in unserer Küche lebte, unter uns Uwe mit Frau und Kind, Lutz mit Freundin und später Alice mit zwei Kindern.
Wir kauften für alle ein und kochten für alle. Wir hatten auf Uwes Etage einen Gemeinschaftsraum, in dem wir abends immer saßen und wo so manche Fete gefeiert wurde. Türmeweise stand das Bier im Flur. Die Leute gingen bei uns ein und aus und fühlten sich wohl. Ich glaube, dass die Kinder eine gute Zeit bei uns hatten. Einmal besuchten mich meine Eltern mit meinem ältesten Bruder. Ich denke, sie waren ganz angetan. Oben auf dem Speicher hatten wir eine Tischtennisplatte aufgebaut. Wenn zum Essen gerufen wurde, kamen die Leute aus allen Löchern herbeigeströmt. Das war die intensivste Zeit meines Lebens.
Siegen war Universitätsstadt geworden, das hatte sie Ministerpräsident Rau zu verdanken. Das Bild der Stadt wurde eigentlich durch den Stahl geprägt. Es gab eine Stahlhütte im Ortsteil Geisweid, es gab viele Maschinenbaufabriken oder überhaupt Metallbetriebe. Es fehlten also nur die Menschen für die Kopfarbeit. Die Zahl der Studenten war am Anfang natürlich sehr klein, ich glaube etwas über 10000. Das entwickelte sich aber. Ich fühlte mich von Anfang an sehr wohl. Nachdem ich eine Zeit lang mit meiner Freundin Carola zusammengelebt hatte, wohnte ich jetzt in einer Wohngemeinschaft zusammen mit Dieter, Henni, Uwe, Bärbel, Matthija, Lutz, Annette, Alice, Claudia und Markus.
Diese Wohngemeinschaft formte alle Beteiligten, sie war für viele Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens, und tatsächlich liefen da auch Dinge, wie sie sonst wohl nirgendwo passierten. Dieter und ich hatten in dem alten Haus im Stadtteil Weidenau die oberste Etage. Jeder hatte zwei Zimmer, dazu gab es eine Küche mit altem Herd, in der später Henni lebte und einen Tischtennisraum auf dem Dachboden, wo sich noch so manche Schätzchen der Vermieter verbargen. Der Rest der Wohngemeinschaft lebte eine Etage tiefer. Der Hund der Wohngemeinschaft hieß Pollux. Eigentlich war er Uwes Hund, es kümmerte sich aber jeder um ihn. Pollux war eine wuschelige Promenadenmischung mit hoher Auffassungsgabe. Alle mochten ihn. Die Mitglieder der Wohngemeinschaft gingen unterschiedlichsten Beschäftigungen nach: Dieter, Lutz, Henni und ich studierten, Uwe manchmal auch. Bärbel arbeitete in der Krankenhauswäscherei, Annette verdiente ihr Geld in einer Parfümerie, Alice hatte anfangs einen Job in einer Schraubenfabrik, Matthija, Claudia und Markus waren Kinder und wurden von uns abwechselnd in den Kindergarten gefahren. Der Kindergarten lag etwas entfernt, man musste mit dem Auto am Einkaufszentrum vorbei und dann rechts den Giersberg hoch. Niemand fuhr die Kinder gern dahin, denn das hieß: früh aufstehen, anziehen und los. Die Kinder weckten denjenigen, der dran war, und wenn man eine Frühveranstaltung an der Hochschule hatte, machte das ja auch nichts, aber in den Semesterferien!
Auf der unteren Etage lagen das Badezimmer und die Küche. Noch eine halbe Treppe tiefer war das Klo für Dieter, Henni und mich. Wir organisierten einen gemeinsamen Einkaufs- und Kochdienst, damit wir alle zusammen abends essen konnten. Eingekauft wurde im „Globus“ und im „Aldi“. Auf der Innenseite der Küchentür hing eine Tafel, auf der die Ausgaben eines jeden vermerkt waren. So musste man nur darauf achten, dass in etwa ein gleicher Ausgabenstand erreicht wurde. Das klappte eigentlich immer sehr gut. Manchmal musste jemand daran erinnert werden, dass er ein paar Mark im Rückstand war, dann wurde aber wieder ausgeglichen. Im „Globus“ gab es alles, was gebraucht wurde, zu relativ günstigen Preisen. Als ganz hervorragend waren bei uns die Fleischwurst und das Siegerländer Schwarzbrot in Erinnerung. Auch das Fleisch war von guter Qualität. Manchmal stellte man einen Kasten Bier unten auf den Einkaufswagen und vergaß, den an der Kasse zu bezahlen.
Die Kassiererinnen schauten damals noch nicht so genau. Bei Aldi ging es damals noch etwas herber zu als heute, auch war die Produktpalette noch nicht so vielfältig. Wir kauften dort vor allem Reinigungsmittel, Wein und Kaffee. Aldi befand sich im Einkaufszentrum von Weidenau. Das EKZ war Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger aus dem Boden gestampft worden und versprühte den Charme unpersönlicher Nachkriegsarchitektur. In der Mitte der ganzen Anlage prangte das Kaufhaus Hertie. Drumherum angesiedelt waren Geschäfte wie Nordsee, Penny und eben Aldi. Das Einkaufszentrum war gut zu Fuß zu erreichen. Morgens holte man dort Brötchen. Vor unserem Haus verlief die vierspurige Weidenauer Straße, auf der sich natürlich ein beträchtlicher Verkehr abspielte, der aber nicht weiter störte. Von der Straße aus passierte man eine Hausdurchfahrt und gelangte auf unseren Hof. Hier gab es die Druckerei Tackenberg, die auch das Erdgeschoss unseres Hauses mitbenutzte. Im Hause befand sich deren Lager, der eigentliche Betrieb aber war ein Flachbau auf dem Hof. Die Leute von Tackenberg sah man gelegentlich und grüßte sie, Herr Tackenberg war immer sehr nett zu uns. Uwe hatte auf dem Hof eine Garage, an den Hof grenzte ein winziges Stück Garten, in dem Rasen wuchs. Ganz selten hatte bei uns Sonnenschein mal dahin gelangt. Lutz hatte eine alte 250er BMW mit hohem Lenker („Easy Rider“), mit der ich auch mal fahren durfte. Ein Motorradpolizist verfolgte mich bis auf den Hof. Lutz hatte seine ganzen An- und Umbauten natürlich nicht eintragen lassen, auch nicht den hochgezogenen Auspuff. Also war eine Strafe fällig, ich weiß nicht mehr, wie viel wir bezahlen mussten.
Wir waren alle „Entenfahrer“, nur Henni hatte eine „Diane“, Dieter fuhr anfangs noch einen „VW 1302“. Da die Preise damals in den Werkstätten für uns unerschwinglich waren - besonders Citroen - brachten wir uns alles, was an der „Ente“ zu schrauben war, selbst bei. Zuerst bemühte man noch „Jetzt helfe ich mir selbst“ von Dieter Korb, dann klappte es ohne Unterstützung. Teile für die anstehenden Reparaturen lagen bei uns im Keller, vom Kotflügel über Schwingarme bis zum ganzen Motor. Hatte man aber das gesuchte Teil nicht vorrätig, fuhr man zu Bernd Schmidt. Bernd war der große Meister unter den „Entenschraubern“. Er hatte eine Werkstatt im Charlottental gemietet und war eigentlich samstags vormittags immer da anzutreffen. Bernd war so fit, dass er Motoren auseinanderschraubte, Kolben austauschte, Pleuellager überholte und ganze Kurbelwellen ersetzte. Er hatte auch jedes Spezialwerkzeug, das man brauchte. Citroen Ernst in Birlenbach wurde nur aufgesucht, wenn man Kleinteile brauchte wie Unterbrecherkontakte, Teile von Radbremszylindern und Bremsbeläge. Meine Güte, was hatte ich an den „Enten“ herumoperiert. Nach und nach hatte man dann auch einen Werkzeugkasten zusammengekauft. Wichtig war eine Fühlerlehre, eine Kontrolllampe für die Zündung und ein guter Knarrenkasten, natürlich auch Schraubenzieher und Zangen. Für die Demontage des hinteren Bremssattels war eine 46er Nuss nötig, die hatte sich Lutz mal anfertigen lassen. Er hatte auch eine halb aufgeschnittene Bremstrommel, die sich zum Justieren der Bremsbeläge sehr gut eignete. An der „Ente“ – genau gesagt am „2 CV“ (zwei Pferde) – war so ziemlich alles geschraubt. Das einzige, was geschweißt war, war der Rahmen, an den das ganze Auto mit 11er und 12er Schrauben befestigt war. Selbst die Fahrerkabine, „das Häuschen“, wie wir sie nannten, war geschraubt. Man konnte sie leicht zu zweit hochheben. Reparaturen, die sehr häufig anfielen, waren vor allem an der Zündung und an der Bremsanlage zu erledigen. Auch der Lichtmaschinenregler von Marchall war oft kaputt. Das Hauptproblem aber war der Rost. Man konnte froh sein, die Schrauben noch bewegen zu können, bevor sie ganz dem Rost zum Opfer gefallen waren. Da aber vieles geschraubt war, ersetzte man durchgerostete Teile einfach durch neue aus dem Keller. Lediglich das Bodenblech des Häuschens musste geschweißt werden. Diese Kunst beherrschte aus unserem Bekanntenkreis nur Lutz. Schutzgasschweißen gab es noch nicht. E–Schweißen eignete sich wegen des dünnen Bleches nicht, da blieb nur vorsichtiges Azetylenschweißen, das konnte Lutz. Manchmal ging man runter auf den Hof und stellte die Zündung am Wagen ein, obwohl das nicht nötig war. Man löste dazu das Kästchen, in dem sich der Unterbrecherkontakt befand und drehte es, bis der richtige Zündzeitpunkt eingestellt war. Vorher entfernte man das „Flattergehäuse“, um dann die zwei 11er Schrauben zu lockern. In der Regel sprang die Ente dann gut an. Eine aufwendige Sache war das Belegen der vorderen Bremsen. Die Bremsbacken saßen direkt am Getriebe, statt wie bei anderen Autos am Rad, sodass sie entsprechend zugebaut waren. Man musste zuerst die Antriebswellen ausbauen, danach die Bremstrommel abnehmen. Die Bremsbacken wurden von einer Feder in ihrer Halterung befestigt, die von einem um neunzig Grad verdrehten Stift gehalten wurde. Dieser Stift war das größte Problem, denn man musste ihn aus Platzgründen an der Getriebeseite herausfriemeln. Hier gab es Spezialisten, die mit Seilchen und was weiß ich nicht noch allem arbeiteten. Auf jeden Fall war das ganze eine unglaubliche Plackerei. Waren die Bremsbacken eingebaut, kam die halbe Bremstrommel von Lutz ins Spiel, mit deren Hilfe ließen sich die Brembacken wunderbar zentrieren. Wenn dann alles funktionierte, war man stolz wie bei allem, was einem gelang. Der KFZ - Brief einer Ente war immer nur auf den Rahmen ausgestellt, alles andere war daran gebaut. So kaufte ich mir mal einen intakten Rahmen mit Brief, ich glaube von Bernd Schmidt und begann, Teile für meine noch zusammenzusetzende Ente zu suchen. Der Rahmen war wirklich nur ein viereckiges Stück Metall, zwei Doppel–T–Träger, durch Bodenbleche miteinander verbunden, zwischen den Rahmenteilen saß hinten der Tank. Vorne saß auf einem Querträger die Rahmennummer, die war wichtig, denn darauf war der Brief ausgestellt.
Ich weiß gar nicht mehr, wo ich überall die Teile für meine Ente organisiert hatte, ich brauchte ja alles, Räder, Schwingarme, Häuschen, Motor, Auspuff usw.
Lutz schweißte mir ein paar Bleche am Häuschen zusammen, man konnte es im ausgebauten Zustand prima auf die Seite legen. Nachdem ich alles zusammen hatte, fing ich an, die Teile zusammenzubauen. Vorher instruierte ich die Kinder, meine halb zusammengesetzte „Ente“ nicht als Spielplatz zu benutzen. Als ich sie dann doch dabei erwischte, wie sie in meinem roh daliegendes Häuschen Fahren übten, riss mir der Geduldsfaden und ich gab Matthija und Claudia einen Klaps auf den Po, ganz leicht, wie ich glaubte. Das Geschrei war riesig, als hätte ich beide richtig gehend vertrümmt. Dann wurde mir noch der Vorwurf gemacht, ich hätte den einen viel fester gehauen als den anderen. Das mit dem Klaps war nicht in Ordnung, so viel sah ich hinterher ein, aber hinterer scharrten die Hühner!
Ich pinselte mein neues Häuschen ordentlich mit Unterbodenschutz ein, dann kamen die anderen Sachen an die Reihe. Der Rahmen bekam vier Schwingarme mit vier Rädern verpasst, immerhin stand so schon mal eine vierrädriges Etwas da. Dann wurde das Häuschen draufgesetzt, jetzt war schon ein richtiges Auto zu erkennen. Die Türen wurden in Aufnahmeschienen gesteckt, die Sitze mit ihren Haken in dafür vorgesehene Bodenlöcher geschoben, ebenso die Rückbank, die mit einem Bügel noch verriegelt wurde. Das „Häuschen“ wurde dann mit einer Fülle von 11er Schrauben mit dem Rahmen verbunden. Die Montage von Motor, Getriebe und Achswellen war kein großes Problem. Zum Schluss wurden noch die Kotflügel montiert und fertig war meine „Ente“.
Ich lackierte meine „Ente“ grün und war stolz, mein eigenes Auto zusammengebaut zu haben. Die größte Hürde stand aber noch bevor: der TÜV! Erstmal musste ich zum Straßenverkehrsamt, den Wagen zulassen. Das Straßenverkehrsamt war bei allen verhasst, das lag an den missmutigen Beschäftigten, mit denen man da zu tun hatte. Es bildeten sich immer riesige Schlangen an den Schaltern, die Mitarbeiter kosteten ihre Machtposition richtig aus und schickten einen manchmal, wenn man endlich dran war, zurück zur Kassenschlange, wo man wieder anstehen musste. Stunden verbrachte man auf diesem Amt und war froh, endlich durch zu sein.
Ähnliche Machtdünkel erlebte man beim TÜV, je nachdem, an wen man geriet. Ich hatte das Glück, einen netten Prüfer zu haben, meine Ente passierte den TÜV auf Anhieb. Meine Güte, war ich glücklich. Mein selbst zusammengesetztes Auto war durch den TÜV gekommen, Wahnsinn! Auch die anderen staunten nicht schlecht, als ich zur Wohngemeinschaft zurückkam. Nachdem Dieter seinen Käfer abgegeben hatte, fuhr auch er eine „Ente“, die ich ihm dann später abkaufte. Bei meiner „Ente“ konnte man schon nach einem halben Jahr vom Fahrersitz aus durch das Bodenblech auf die Straße gucken.
Unser Hof stand immer voller Autos, irgendein Wagen war immer zu reparieren. Die „Ente“ war ein Einfachauto, wenn man sich mit Reparaturen auskannte und immer Werkzeug an Bord hatte, machte das „Entenfahren“ unheimlichen Spaß. Lutz hatte eine weiße „Ente“ mit blauen Kotflügeln. Was der so richtig machte, war mir nie ganz klar. Er studierte eine Zeit lang mit Henni Elektrotechnik, dann war er am Siegerlandkolleg, um sein Abitur zu machen. Er war ein Frauentyp, und das wusste er auch. Manchmal ging der Narziss mit ihm durch, aber das hielt sich alles noch in Grenzen. Er war sehr körperbedacht und achtete auf eine gute Figur. Er hatte einen astreinen Body. Im Keller hatte er große Gärflaschen mit Apfelwein stehen, die wir alle leertranken. Die meiste Zeit war er mit seiner Freundin Annette zusammen. Es gab aber auch mal andere Frauen, Gudrun und Martina zum Beispiel. Lutz hörte gerne gute Musik, wie wir alle, und er spielte oft auf seinen Kongas.
Annette war aufs Äußerste auf ihre Erscheinung bedacht. Sie war sehr gepflegt, schminkte sich, trug moderne enge Jeans und dazu die höchsten Highheels. die ich je gesehen hatte. Ich glaubte, sie konnte schon nicht mehr normal barfuß laufen, so hatten ihre Schuhe ihre Füße verformt. Sie hatte ein lustiges Naturell und konnte dermaßen laut lachen, dass die Wände wackelten. Wenn sie mit ihren hochhackigen Schuhen lief, wackelte ihr Hintern, was sie natürlich wusste. Sie war in ihrem Wesen sehr nett, allerdings manchmal auch recht einfachen Geistes. Annette verließ die Wohngemeinschaft dann früher als wir anderen.
Uwe war der Älteste von uns allen. Seine „Ente“ hatte eine grünliche Farbe. Er war in aller Augen der Siegerländer Prototyp: sehr verschlossen, um nicht zu sagen stur, nicht sehr wortgewaltig. Er war sehr groß und ging nach vorne gebeugt, als hätte er einen Buckel. Er drehte „Samson“ - Zigaretten, was damals noch recht billig war. Er mischte auch ganz gern ein Stückchen Shit unter den Tabak. Uwe war ein herzensguter Mensch, der auch gerne lachte. Seiner Frau Bärbel gegenüber verhielt er sich immer fair, obwohl er auch gerne nach anderen Frauen schielte. Er studierte eine Zeit lang, was weiß ich nicht mehr, er hatte die Begabtensonderprüfung gemacht, ein Sonderweg zur Hochschule für Leute ohne Abitur, den es damals nur in Nordrhein–Westfalen gab. Bärbel war die liebste Frau, die ich damals kannte. Sie arbeitete in der Wäscherei des Krankenhauses und kümmerte sich um ihren Sohn Matthija. Ich denke, dass sich Bärbel so manches Mal ihre Gedanken gemacht hatte, wenn sie uns Nichtstuer so in der Gegend herumhängen sah. Sie machte aber niemandem einen Vorwurf und war die einzige, die versuchte, so etwas wie einen normalen Haushalt zu gestalten. Manchmal, wenn wir bei Kaffee und Brötchen am Tisch saßen, zog Bärbel mit dem Staubsauger durchs Gemeinschaftszimmer. Man konnte immer mit ihr über alles reden. Sie war das gute Herz der Wohngemeinschaft.
Alice war von ihrem Mann Klaus geschieden und lebte mit ihren zwei Kindern bei uns. Man hatte immer den Eindruck, als hätte sie etwas nachzuholen, was ihr in den Jahren ihrer Ehe vorenthalten worden war. Alice war groß und hatte langes dunkles Haar. Sie war attraktiv. Sie war ein offener und herzlicher Mensch. Man ging gerne mit ihr aus. Ich war einmal mit ihr und ihren Kindern in den Kölner Zoo gefahren.
Bei unseren Kneipenzügen war Alice immer dabei. Um zur Arbeit zu kommen, sie war gelernte Säuglingsschwester, lieh sie sich von irgendjemandem ein Auto aus. Um die Erziehung ihrer Kinder kümmerten wir uns alle, das klappte sehr gut, und ich glaube, dass die Kinder nicht zu kurz gekommen waren.
Dieter kannte ich am längsten. Ich hatte schon vieles mit ihm unternommen. Auch er war ein kleiner Narziss, aber so ein bisschen war das wohl jeder von uns. Dieter spielte sehr gut Gitarre, Fingerpicking. Seine Lieblingsmusik war Bob Dylan, er spielte diese Musik immer mit Gitarre und Mundharmonika nach. Dieter war nicht sehr groß, er drehte, wie wir alle, Zigaretten. Er rauchte aber auch Pfeife, wie Uwe und ich. Zuerst rauchten wir „Mc Barens Burley“, dann „Mc Barens Mixture“, den sehr viele Pfeifenraucher nahmen. Dieter war entweder sehr offen und für alles zu haben, oder er zog sich zurück und war nicht ansprechbar. Er war ein bisschen kapriziös. Man konnte aber alles von ihm haben. Mehrere Frauen spielten damals in Dieters Leben eine Rolle, ich kann die gar nicht alle aufzählen. Bevor Dieter und ich in die Wohngemeinschaft zogen, waren wir zu zwei Siegener Mädchen nach Österreich gefahren, die Familie des einen hatte ein Ferienhaus in der Nähe von Spielfeld. In diesem Kurzurlaub lernten wir alle unseren späteren Wohngemeinschaftsgenossen kennen. Dieter studierte Architektur und brachte es bis zum Diplom. Ich weiß noch, dass er sehr viel zu zeichnen hatte.
Henni war ursprünglich aus Dieters Heimat Ritterhude nach Siegen gekommen. Dieter und er kannten sich von früher. Henni war ein sehr stiller Mensch, der, wenn er aufgewacht war, sehr lustig sein konnte. Sein Lachen glich einem Gickern. Henni lebte bei Dieter und mir oben in der ehemaligen Küche. Er studierte kurzzeitig Elektrotechnik mit Lutz zusammen, was er dann machte, weiß ich nicht mehr. Henni war in Ordnung, Ich bin einmal mit ihm und seiner Diane bis nach Portugal gefahren. Manchmal sah ich abends bei ihm in der Küche fern. Er war eine Zeit lang mit Maria befreundet, wenn Evelyn aus Frankreich zu Besuch war, dann auch mit ihr.
Markus war das aufgeweckteste der drei Kinder. Er war acht Jahre alt und der Bruder von Claudia. Markus sah gut aus, hatte dunkles wuscheliges Haar, war groß und nicht dick. Er machte einen sehr intelligenten Eindruck und besuchte später das Gymnasium. (Heute ist er Oberarzt). Markus verstand es immer, die leichte Überforderung, die auf die Kinder einströmte, für sich umzusetzen und sein aufgeschlossenes Wesen und seine Lustigkeit zu bewahren. Er war den beiden anderen Kindern weit überlegen.
Caudia war mit ihren fünf Jahren noch sehr jung. Aber auch sie wirkte ausgeglichen und zeigte uns Erwachsenen gegenüber keinerlei Scheu. Sie war leicht pummelig, sah aber gut aus. Claudia wurde manchmal von Markus getriezt. Sie hatte in Matthija ihren Spielkameraden.
Matthija war sehr schüchtern. Diese Eigenart hatte er von seinem Vater Uwe übernommen. Er wirkte insgesamt schmächtig, zurückhaltend und still. Aber auch er zeigte uns Erwachsenen gegenüber keinerlei Distanz. Claudia und er ließen sich jeden Morgen in den Kindergarten bringen, sie waren gleichaltrig.
Mit all diesen Leuten lebte ich, Paulo Köhler, in der Wohngemeinschaft zusammen und fühlte mich sehr wohl dabei. Ich glaubte, dass uns damals so mancher um unsere Lebensweise beneidet hatte. Es war nicht immer sehr sauber bei uns, aber darauf kam es doch nicht an! Unser Haus war schon relativ alt. Das Treppenhaus gab knarzende Geräusche von sich, wenn jemand herauf- oder hinunterging. Besonders wenn zum Essen gerufen wurde und die Leute vom Tischtennisraum heruntergetrampelt kamen. Lutz trampelte mit seinen Bundeswehrstiefeln besonders laut.
Die Musik spielte bei uns eine besondere Rolle. Dieter spielte Gitarre, Lutz Kongas, jeder hatte einen Plattenspieler. Und im Gemeinschaftsraum dudelte immer eine Platte. Da, wo wir aßen, stand ein Radio. Wir hörten um neunzehn Uhr immer „Popshop“ auf „SWF 3“ mit Frank Laufenberg. Oben bei Dieter gab es Bob Dylan, sehr angesagt waren aber auch Crosby, Stills Nash & Young, Leo Kottke, Stephan Grossmann, Werner Lämmerhirt. Im Gemeinschaftsraum liefen aber auch Heads, Hands and Feet, Neil Young, Rolling Stones, Beatles, Led Zeppelin, Derek and the Dominos und Pink Floyd. Wir hingen dort oft nachmittags rum und redeten und redeten. Oft kam irgendjemand zu Besuch und trank mit uns Kaffee oder Bier. Sehr häufig kamen Frieder und Jutta, Dieter und Susanne aber auch Opa. Der ließ sich ein Bier geben und legte sich dann bis zum nächsten Morgen aufs Sofa. In der Mensa wartete er, bis er drei Gesinnungsgenossen zum Doppelkopf zusammen hatte, soff dann mit denen bis zum Mittag Bier und kam dann wieder zu uns. Natürlich spielten auch die Eagles und John Denver bei uns eine Rolle. Mimo spielte mit Vorliebe die paar Barreegriffe zu John Denver´s „Country Roads“, der letzte Schmalz. Er war der Sohn des Hausmeisters der „Puddingschule“ und hatte eine „Kastenente“, etwas ganz Besonderes.
Wir fuhren manchmal alle hoch zum Landeskroner Weiher, badeten und machten Musik. Wir hatten dann Wein dabei und rauchten Gras. Mit uns fuhren auch viele Mädchen, die wir inzwischen kennengelernt hatten, vor allem Gabi, Annette L. und Dagmar.
Mit der Ente musste man auf dem letzten Stück zum Weiher hoch den zweiten Gang einlegen. Auf dem Weg nach Wilnsdorf kam man an der Eremitage vorbei, wo wir schon mal Bier auf der Terrasse getrunken hatten.
Das Studium vollzog sich trotz aller Eskapaden in geordneten Bahnen. Ich hatte sogar ein Urlaubssemester eingelegt. In dieser studienfreien Zeit spielten wir oft Karten und tranken den Apfelwein von Lutz. Entsprechend lange schlief man danach. Mein Urlaubssemester war ein Wintersemester, es wurde kurz nach dem Aufstehen schon wieder dunkel. Legendär waren unsere Kneipengänge. Kneipen, die bei mir eine Rolle spielten, waren das „Black & White“ nebenan, das Ulli, Stephan und ich mit aufgebaut hatten. Schnüffi und Porky hatten ein altes Siegerländer Haus gekauft und es völlig entkernt. Das Fachwerk im Innern blieb erhalten und wurde aufwendig saniert. Die Kaffeekanne, die ich jeden Morgen auf die Baustelle trug, habe ich heute noch. Nach ganz kurzer Betriebszeit brannte das „Black & White“ ab. Böse Zungen sprachen von Brandstiftung.
Etwas weiter weg war das „Belle Epoque“, Richtung Globus gelegen. Es bestand aus zwei Räumen, von denen der erste von einer großen Theke beherrscht wurde. Über der Theke verlief an der Decke ein Regal, auf dem aller Schnaps stand, der dort angeboten wurde. Einmal nahm ich eine Flasche, um sie mitgehen zu lassen. Sie rutschte mir aus der Hand und fiel auf den Plattenspieler. Die augenblickliche Stille verriet sofort den Übeltäter, mein Gott, war das peinlich. Hätte ich nicht schon mehrere Hundert Mark im „Belle Epoque“ für Bier ausgegeben, wäre ich mit Sicherheit rausgeflogen. Im „Belle Epoque“ traf man fast immer alle Bekannten. Wenn dort um ein Uhr nachts zugemacht wurde, gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. Entweder ging man dann zum „Herrengarten“, zur „Siegerlandhalle“ oder ins „Studio“, das lag Richtung Eiserfeld und hatte bis vier Uhr morgens geöffnet, natürlich gab es auch noch Bier! Sonny war der heißeste Tänzer! Ich erinnere mich noch an „Woman, take me in your arms, rock me Baby“! Vor dem „Belle Epoque“ hatten Tina und ich mal mit der Stoßstange ihrer „Ente“ beim Rückwärtsfahren die Rallyelampen eines „NSU 1000“ zerstört. Als wir zu Hause waren, plagte uns das schlechte Gewissen und wir waren noch mal zurück gefahren.
In der Frankfurter Straße lag das „Chaiselongue“, das gehörte dem Langen (Peter) und Gerd. Ich hatte dort mal gezapft und bedient. Von der Wohngemeinschaft aus waren wir da nicht so oft. Ich erinnere mich, wie Alice dort ihre Hochzeit mit Ulli feierte, da wohnte ich schon in der Frankfurter Straße mit Achim und Volker zusammen. Wir waren hinterher so besoffen, dass Tina mich nach Hause bringen und sogar ausziehen musste.
Der Lange hatte mal einen tollen Witz erzählt: ob wir wüssten, wie Eskimos pinkelten? Dann ließ er zwischen seinen Beinen Eiswürfel runterfallen. Er war der Typ, der einen Witz nah dem anderen erzählen konnte. Er fuhr einen „Citroen CX Kombi“. Ich hatte ihn später aus den Augen verloren.
Manchmal bekamen wir Besuch aus Frankreich: Evelyn, Francoise, Kattel und Juanita war auch einmal dabei. Die ersten drei Mädchen hatte Dieter in irgendeinem Italienurlaub kennengelernt, Juanita hatte es mir besonders angetan. Ich hatte sie nie mehr wiedergesehen. Auch Francoise war sehr nett. Henni kümmerte sich um Evelyn und Dieter um Kattel.
Ganz kurz, bevor wir in die Wohngemeinschaft gezogen waren, hatte ich mir von Dr. Fend die Nasenscheidewand richten lassen. Ich saß in seiner Praxis in einem Stuhl, bekam zwei Betäubungsspritzen in den Nasenkorpel und musste eine Nierenschale unter die Nase halten. Dr. Fend arbeitete mit einer Art Kneifzange Knochen heraus, die tönend in die Schale fielen. Anschließend stopfte er mir Tamponade in die Nasenlöcher und steckte mich eine Woche lang in das Weidenauer Krankenhaus. Das Entfernen der Tamponade nach einer Woche war unangenehm. Eine ähnlich gelagerte HNO–Geschichte war die Erweiterung meines linken Gehörganges. Das wurde im Jung–Stilling–Krankenhaus bei Dr. Gerlach durchgeführt. Die Operation dauerte drei Stunden bei Vollnarkose, mein ganzer Kopf verschwand anschließend in einem Verband.
Ich weiß noch, wie wir zu sechst auf dem Krankenzimmer Bier tranken, Tina hatte mich immer besucht. Auch dort musste ich eine Woche bleiben.
Ich hatte an der Hochschule das Fach Kunst gegen Sozialwissenschaften getauscht, eine richtige Entscheidung. Prof. Dr. L. F. Neumann war ein angenehmer Mensch, noch sehr jung und dynamisch. Er war unglaublich intelligent und rühmte sich damit, mit Sir Karl Popper schon einmal Tennis gespielt zu haben. Damit hatte ich meine endgültige Fächerkombination. Trotz Urlaubssemester machte ich innerhalb der Regelstudienzeit mein Examen. Damals bedeutete das, dass ich nichts von dem BAFöG, das ich bekam, zurückzahlen musste! Das BAFöG-Amt war im Einkaufszentrum in Weidenau. Ich musste jedes Semester dahin und BAFöG beantragen. Ich kam damals mit ungefähr sechshundert DM aus. Das Auto war nicht teuer, Benzin kostete circa achtzig Pfennige pro Liter. Die Wohnungsmiete war lächerlich gering, ich glaube wir zahlten zweihundert DM zu Dritt! Das Essen kostete auch nicht die Welt, weil wir zusammen einkauften oder in der Mensa aßen. So blieb dann noch genügend übrig für unsere abendlichen Kneipengänge.
Die „Dose“ war früher die Anlaufstelle von Dieter und mir. Die war aber dann irgendwann zu. In der Oberstadt gingen wir manchmal ins „Zeughaus“, das lag am Schloss oder in den „Stachel“. Der „Stachel“ lag etwas versteckt in der Altstadt. Wenn man mit der „Ente“ in die Oberstadt fuhr, musste man auf dem letzten Stück der Kölner Straße den zweiten Gang einlegen. In der Oberstadt befanden sich früher die Geschäfte, die für uns früher von Belang waren. Dort oben war der „Kaufhof“, gegenüber war die „Montanus“-Buchhandlung, ein Stück weiter war das „Eiscafe Garda“, das in der oberen Etage eine Pizzeria hatte. Wenn man die Fußgängerzone hinunterlief kam man am „Schuhhaus Schreiber“ vorbei, gegenüber von „Karstadt“ lag die „Bücherei Ruth Nohl“, ganz unten war das Bekleidungshaus „Werner und Ullrich“. Dann ging man über die Straße auf die Siegplatte. Dort hatte Harald Hecken einen HiFi-Laden. Harald hatte Wasserbau studiert und machte jetzt in HiFi-Sachen. Ich hatte ihn früher mit meiner Freundin öfter besucht. Er hatte sich Lautsprecherboxen aus Beton gegossen. Die Überlegung dabei war, dass er die Eigenschwingungen der Boxen minimieren wollte. Sie klangen auch ganz gut, aber ganz so viel Brimborium wie die anderen um ihre Boxen, Lautsprecher und Verstärker trieben, hatte ich nie gemacht. Hinter der Siegplatte lag die Bahnhofstraße. Dort gab es „Cafe Haar“ und ein sehr gutes jugoslawisches Restaurant. In der Bahnhofstraße hielten wir uns aber kaum einmal auf.
Wenn keine Semesterferien waren, fuhr ich jeden Tag hoch zu den Veranstaltungen. Das Studium hatte einen Gesamtumfang von einhundertundsechzig Semersterwochenstunden, also zwanzig Wochenstunden pro Semester.
Das machte, wenn man die Veranstaltungen gut verteilen konnte, zwei Veranstaltungen pro Tag.
Hatte man Glück mit dem Vorlesungsverzeichnis, konnte man beide Veranstaltungen auf den Nachmittag legen, von 14 bis 18 Uhr. Dann konnte man morgens ausschlafen. Man konnte schon einiges tricksen, was die Lage der Veranstaltungen anbelangte, man suchte sich eben die Dinge passend aus. An der Uni war eigentlich nie Massenbetrieb, man bekam in den Hörsälen immer einen Platz. Wenn das Seminar langweilte, ging der Blick oft hoch zur großen Uhr, die an der Seitenwand des Hörsaales hing. Ich hatte im Rahmen meines Sozialwissenschaftsstudiums auch einige BWL-Veranstaltungen belegt. Die liefen bei Prof. Merck im unteren Gebäude, wo auch die Architekten waren. Ansonsten fanden meine Seminare alle oben in der Adolf-Reichwein-Straße statt. Ich quälte meine „Ente“ den Haardter Berg hoch, meistens im dritten Gang und bekam immer direkt vor der Uni einen Parkplatz. Auch die Mensa war nie überfüllt. Sicher, um die Mittagszeit wollten alle essen, und es gab schon mal eine kleine Schlange bei der Essensausgabe, das ging aber immer sehr schnell voran. Es gab drei verschiedene Gerichte: das Gericht I zu 1.20 DM war meist ein Eintopf oder ein Salat, Gericht II zu 1.80 DM war schon etwas anspruchsvoller und Gericht III zu 2.40 DM war recht umfangreich, mit Vorsuppe, einem Stück Fleisch als Hauptgericht und Nachtisch. Oft nahmen wir einen halben Liter Bier dazu. Das machte aber dermaßen müde, dass man kaum noch Lust hatte, sich in die Nachmittagsveranstaltungen zu schleppen.
Mit der Zeit kannte man natürlich oben sehr viele Leute, wenn man keine Veranstaltung miteinander hatte, aß man zusammen oder man traf sich auch schon einmal abends in der Kneipe. Ich hatte auch erlebt, wie manche Kommilitonen ihr Studium abbrachen. Das war natürlich eine traurige Angelegenheit. Die Gründe waren mir gar nicht immer klar, Geldmangel konnte es eigentlich nicht sein, vielleicht waren manche intellektuell überfordert?
Ich war während des Studiums zweimal mit dem „Historischen Seminar“ in Prag. Das waren beides ausgesprochen tolle Studienfahrten. Man fuhr sehr lange, ich glaube um die zehn Stunden mit dem Bus. Es gab ja noch das ganze Theater an der Grenze. Aber dann waren wir in Prag und durften uns wie die Könige fühlen. Wir tauschten unser Geld schwarz zu unglaublichen Kursen, man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Das Prager Touristenlokal war das „U Fleku“, wo ein halber Liter Bier fünfzig Pfennige kostete. Wir konnten uns alles erlauben, Geld spielte für uns kaum eine Rolle. In den Augen unseres Professors hatten wir uns daneben benommen, so besoffen, wie wir manchmal in den Betten lagen. Ein ganzer Bus mit Schwedinnen hätte sich mit uns getroffen, was selbstverständlich nicht stimmte, aber manche hatten schon weit über das Ziel hinausgeschossen. Ich denke da an einen Kommilitonen, der zum Frühstück eine Flasche Becherovka vor der Nase stehen hatte. Prag erfreute sich immer großer Beliebtheit, auch später noch, bei Schülern. Einmal war Uwe mit, ich weiß noch, wie er sich eine Balaleika kaufte, im besoffenen Kopf die Saiten entfernte und sich, nachdem er noch ein passendes Loch hineinfabrizierte, das Ding wie einen Hut aufsetzte. Es existiert noch ein Foto davon.
Die Feten in der Weidenauer Straße waren legendär. Es kamen unheimlich viele Leute zu uns, man kannte gar nicht alle. Um das ganze Bier zu besorgen, bauten wir bei drei „Enten“ die Rückbänke aus und transportierten auf diese Weise jede Menge Kästen. Draußen im Flur standen dann immer die Türme mit „Primus Pils“. „Primus Pils“ war damals mit sechs DM pro Kasten das billigste Bier, es schmeckte aber auch nicht. Wir tanzten dann und machten Quatsch. Besondere Gäste waren Ponte und Karin, Peter H., Jani, Gabi, Axel, Opa, Annette, Dagmar, Hanne, Miete u.a. Wir feierten immer bis in den Morgen, dann fielen wir todmüde ins Bett. Damals, als Dieter und ich nach Österreich fuhren, hatte ich meinen Führerschein für drei Wochen abgeben müssen. Wir waren zu viert, das heißt Guido, Gustav, Achim und ich von der Hochschule aus Richtung Langenholdighausen in den Wald gefahren und hatten reichlich Rotwein dabei. Wir setzten uns bei herrlichem Sonnenschein und warmer Luft auf eine Lichtung und tranken. Als wir langsam müde wurden, legten wir uns hin und streckten alle Viere von uns. Auf dem Nachhauseweg waren wir alle leicht angeheitert. Dennoch fuhr ich und war recht guter Dinge. Wir hatten das Dach meiner Ente nach hinten gerollt, die drei standen im Wagen und grölten irgendwelche Lieder. Ich fuhr leichte Schlangenlinie im Takt. Plötzlich kam uns ein Streifenwagen entgegen, als die Beamten uns sahen, drehten sie sofort um. Sie hielten uns an und sahen oder rochen gleich, was los war. Dann nahmen sie meinen Führerschein und brachten mich nach Eiserfeld zur Wache. Gustav und Achim fuhren nach Hause, Guido begleitete mich. Auf einmal wurden die Polizisten richtig pampig, dass sie Guido nicht geschlagen hatten, war alles. Sie brachten mich ins Marienhospital zur Blutabnahme. Ich erfuhr später, dass ich 1.28 Promille Alkohol im Blut gehabt hatte. Damals waren alle Werte unter 1.3 Promille nicht so sehr tragisch, weil man seinen Führerschein behalten durfte, bis sich die Staatsanwaltschaft gemeldet hatte. Die Promillegrenze lag bei 0.8 Promille. So bekam ich kurz vor Weihnachten Bescheid und suchte mir die Weihnachtsferien aus, um den Führerschein abzugeben. Ich musste auch noch zweihundertfünfzig DM bezahlen, das schmerzte am meisten.
Nach Österreich waren wir sehr lange unterwegs. Wir fuhren über Passau, das zog sich unendlich. Das Haus von Annettes Eltern lag in einer sehr schönen Gegend, inmitten von Weinbergen. Natürlich wurde viel Wein getrunken. Wir waren bestimmt zwölf Leute da zu Besuch. Wir hatten aber alle genügend Platz. Dagmar war sehr verschüchtert, niemand wusste, wo sie später gelandet war. Das Wetter war sehr schön, wir saßen oft draußen vor dem Haus und machten Musik. Ich erinnere mich noch an den Weinbauern, bei dem wir immer unsere Bestände auffrischten. Er hatte in der Küche ein paar Stühle stehen, auf denen saßen wir und kosteten den guten Wein, den wir hinterher mitnahmen. Dort hatten Dieter und ich Uwe, Bärbel und Matthija kennengelernt, die dann zu uns in die Weidenauer Straße gezogen waren. Ich hatte Gabi als Freundin gewonnen.
Manchmal gingen wir schwimmen. Im Sommer gab es das Freibad in Kaan-Marienborn, sehr schön gelegen. Dort hatten Jupp und ich mal einen Spanner in der Umkleidekabine erwischt, wie er mit einem Spiegel unter der Abtrennwand hindurch in die Nachbarkabine schaute. Wir hatten ihn beim Bademeister verpfiffen. Mit Jupp verband mich eine enge Freundschaft, mit Jupp und Jutta waren Tina und ich nach Mexiko geflogen. Oder man fuhr an den Landeskroner Weiher hinter Wilnsdorf (siehe oben!), am schönsten war es im Sommer aber am Seelbacher Weiher. Der lag Richtung Freudenberg und war ein richtiges Naturfreibad.
Das war nicht jedermanns Sache, das Wasser hatte eine leichte Trübung, es wuchsen Pflanzen im Wasser, es gab Fische und in der Mitte des Weihers schwammen Enten. Auch war das Wasser relativ frisch. Gegenüber dem Seelbacher Weiher lag ein Teich, auf dem wir im Winter, wenn er zugefroren war, Eishockey spielten.
Es gab zwei Hallenbäder in Weidenau und in Siegen: ein sehr altes in der Weidenauer Bismarckstraße und ein relativ neues am Siegener Löhrtor. Das war klasse, da waren Dieter und ich recht häufig schwimmen. In der Bismarckstraße in Weidenau stand die uralte Bismarckhalle. Dort hatte ich mit meiner Freundin und meinen Eltern eine Komödie mit Karl Schönböck gesehen. Die Halle lag, genau wie das Schwimmbad, schräg hinter dem „EKZ“. Ein Stückchen weiter am „EKZ“ vorbei kam man zur Haardter Brücke, sie war eine Straßengabelung, die B 62 zweigte dort nach Dreistiefenbach ab, auch bog man dort Richtung Uni ein. Man überquerte den Bahnübergang und fuhr dann links den Haardter Berg hoch. Unten an der Schranke hatte „Fritten Martha“ ihren Pommeswagen stehen. Wenn wir in der Wohngemeinschaft kein Bier mehr hatten, kauften wir da Nachschub. „Fritten Martha“ hatte „Irle Pils“ im Verkauf. Dieses Bier mochte ich nie, dazu kam noch, dass es die Temperatur des Pommeswagens hatte.
An der Haardter Brücke gab es drei Geschäfte, die für uns von Bedeutung waren: den Tabakladen, die „Bücherei Ruth Nohl“ (eine Filiale) und ein Musikgeschäft.
Da ich, wie viele andere auch, damals, neben Zigaretten, vor allem Pfeife rauchte, besorgte ich mir meinen Tabak immer dort in dem Laden. Das war am Anfang noch „Mc Barens Burley“, den der Tabakhändler „Buhrlei“ mit texanischem R, wie das in Siegen so üblich war, aussprach. Wir nannten ihn dann daraufhin „Mr. Buhrlei“. In den Veranstaltungen an der Uni durfte damals noch geraucht werden. Manche legten ihre Pfeifentaschen vor sich hin, und wenn da vier Pfeifen drin waren, lag da schon mal der Wert von tausend DM. Es gab schon schöne und teure Pfeifen, besonders die Italiener bauten tolle Pfeifen, zum Beispiel die „Savinelli“, aber auch die irische „Peterson“ war sehr schön. Die etwas bescheidenere Ausführung gab es von „Vauen“. Von dieser Firma benutzte ich anfangs noch Pfeifenfilter und -reiniger. Die Filter ließ ich später weg, die Reiniger brauchte man natürlich immer. Ich hatte auch eine ganz gute „Stanwellpfeife“. Ich hatte mir aber nie Meerschaumpfeifen gekauft. Manche machten aus dem Pfeiferauchen einen Kult, das war nichts für mich. Einige rauchten „Early Morning Pipe“, den roch man sofort, mir schmeckte der aber nicht, „Night Cap“ war auch so eine besondere Sorte. Da lagen die Tabakstriemen in der Dose und troffen vor Fermentierung. Wir rauchten dann irgendwann alle „Mac Barens Mixture“. Der schmeckte anfangs etwas scharf, dann ging es aber.
Ich gab das Pfeiferauchen irgendwann auf, nachdem ich auch die Pfeife auf Lunge geraucht hatte und sie nicht mehr richtig sauber machte. Zwanzig Jahre später hörte ich ganz auf zu rauchen.
„Ruth Nohl“ war eine wichtige Anlaufstelle für Fachliteratur. Sie lebte natürlich von der Uni und bestellte alles, was man brauchte. Ich möchte nicht wissen, wieviel Hunderte von DM ich bei „Ruth Nohl“ gelassen hatte.
Der Musikladen war zumindest für Dieter wichtig, er kaufte dort Saiten, Kapodaster und Plektren. Er brachte mich nach langem Zureden dazu, dass ich mir in diesem Laden eine „Epiphone-Westerngitarre“ zu dreihundertsechzig DM kaufte. So fing ich langsam wieder an, Gitarre zu spielen, ich frischte alte Kenntnisse auf, denn ich hatte früher in meiner Heimatstadt einen Gitarrenkursus besucht. Ich lernte das Fingerpicking nach Tabulaturen von Peter Bursch. Das war einfacher, als nach Noten zu spielen, in den Tabulaturen waren die Gitarrensaiten mit den jeweiligen Griffen dargestellt, das vereinfachte die Sache ungemein. Meine „Epiphone“ habe ich heute noch. Ich machte relativ lange Musik. Als Lehrer spielte ich mit Schülern in einer Band und nahm eine Cassette mit eigenen Kompositionen auf. Dann stand die Gitarre auf einmal nur noch in der Ecke. Ich werde aber sicher wieder anfangen.
Auf einer Karnevalsfete in der Weidenauer Straße lernte ich Tina kennen. Sie kam mit ihrer Schwester, die damals noch mit Ulli zusammen war. Beide sahen toll aus, ich war sofort in Tina verknallt. In diesem Jahr endete unsere gemeinsame Wohnsituation. Wir zogen alle aus, nachdem die Vermieter mal da waren und gesehen hatten, wie viele Leute inzwischen in ihrem alten Haus wohnten. Ich denke noch heute oft an diese Zeit, ich denke, das geht den anderen auch so. Ich zog wieder mit Dieter zusammen in die Koblenzer Straße. Wir blieben da aber nur kurze Zeit und zogen dann in die Frankfurter Straße. Von dort aus konnte man zu Fuß ins „Chaiselongue“. Die Wohnung in der Frankfurter Straße gehörte der „AWO“ und wurde uns von einem Herrn Langhans zugeteilt. Dieter zog aber bald wieder aus, es kamen dann Achim, der Mathematik und Geschichte studierte und aus Katzwinkel kam und Volker aus Lohr am Main, der studierte Architektur. Mit den beiden wohnte ich bis zum Ende meines Studiums zusammen.
Tina kam immer dorthin zu Besuch. Sie ging zur MTA-Schule im Jung-Stilling-Krankenhaus und hatte ein Zimmer in der Schillerstraße, die lag am Fuße des Wellersberges. Tinas Eltern wohnten in Dillenburg, ihre Schwester und ihr großer Bruder lebten in Marburg, ihr kleiner Bruder wohnte bei den Eltern. Ich bekam irgendwann alle neun Beethoven-Symphonien von Tinas Vater geschenkt, seine alten Platten. Die legte ich immer auf, während ich an meiner Staatsarbeit saß. Ich lernte die Beethoven-Symphonien lieben, besonders die vierte und die siebte. Ich hatte von meinen Eltern die alte Fernsehtruhe übernommen, da war ein Plattenspieler und ein Radio eingebaut, die reichten mir völlig. Der Fernseher war zwar schwarz-weiß, genügte aber meinen Ansprüchen. So saß ich neun Monate lang an meiner Staatsarbeit mit dem Thema: „Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Konzeptionen, aufgezeigt am Beispiel ausgewählter kameralistischer Schriften“. Der Kameralismus war im siebzehnten Jahrhundert angesiedelt, das bedeutete, dass ich die alte Literatur nicht in Siegen bekam. Ich begab mich deshalb regelmäßig auf Reisen nach Gießen und Marburg. In Gießen übernachtete ich bei Freunden von Tina und mir, Ulli und Willi, die beide dort studierten. In Marburg entspann sich eine Szenerie ganz eigener Art.
Stefan, Tinas älterer Bruder, wohnte in Bauerbach, etwas außerhalb von Marburg, Richtung Kirchhain. Regelmäßig wurden in Bauerbach Feten gefeiert. Ähnlich wie in Weidenau entwickelten sich solche Feten zu riesigen Volksfesten. Das ganz Besondere in Bauerbach war der Apfelkorn. Alle, die damals in Bauerbach dabei waren, werden sich ihr Leben lang daran erinnern. Zunächst wurde der Putzeimer aus der Küche richtig gereinigt. Dann wurde in diesen Eimer Korn von Aldi mit Apfelsaft, ebenfalls von Aldi, vermengt und so Apfelkorn in eigener Produktion hergestellt. Bernie, der ebenso wie Stefan Chemie studierte, hatte oben im Hause seine Zimmer, genau wie Stefan, der auch oben zwei Zimmer hatte. Beide waren „Entenfahrer“ und regelrechte Tüftler. Bernie experimentierte mit einem „Ami 8“ herum, der natürlich einen stärkeren Motor hatte. Beide mussten jeden Morgen die Lahnberge hoch. Die Bibliothek lag mitten in Marburg in der Nähe der Bahnlinie. Sie war nicht sehr attraktiv, ich bekam aber dort die alten Kamellen, die ich brauchte. Auf den Bauerbachfeten stand der Apfelkorneimer in der Mitte, meist oben bei Stefan. Man musste nun mit einem Bierseidel in den Eimer langen und so sein Glas füllen. Man kann sich vorstellen, dass die Apfelkorntrinker relativ schnell besoffen waren. Ich erinnere mich, dass ich an den Türrahmen gelehnt auf dem Boden saß und froh war, dass ich nicht zum Klo musste, denn das hätte ich nicht geschafft. Dieser Apfelkornrausch verflog aber relativ schnell wieder, sodass man wieder bewegungsfähig wurde. Wenn der Apfelkorn getrunken war, ging man zu Bier über. Man trank „Licher Pils“ und es ging der Spruch: „Licher Pils, unerreicht, drei getrunken, vier geseicht“.
Zu der Bauerbachtruppe gehörten zum Teil Bekannte, Ulli und Willi kannte man ja, Bernie und Stefan, Gabi S., Tinas Schwester Kai, Peter und Regi, Klaus aus Siegen, Susi von der Freusburg mit ihrem neurotischen Hund Rita, und ich erinnere mich an Reinhard, der viel älter war als wir und eine Alkoholkarriere hinter sich hatte. Ich weiß noch, wie der unten bei Gabi auf dem Klavier spielte und sang: „Im Harem sitzen heulend die Eunuchen, die Lieblingsfrau des Sultans ist entfloh´n; er könnt´ sie alle köpfen und verfluchen, die Lieblingsfrau erwartet einen Sohn. Der Sultan, er ist nicht kleinlich, doch ist es peinlich, er war ein ganzes Jahr verreist“.
Ich hatte gegen Ende meiner Studienzeit Stefan in Bauerbach besucht und dort gelernt. Das war eine schöne Zeit. Gegenüber wohnte Bauer Nau, bei dem holten wir immer Milch und tranken sie um die Wette. Auf diese Art und Weise tranken wir manchmal jeder drei Liter am Tag. Einmal mussten wir hinüber und dabei helfen, ein Kälbchen auf die Welt zu holen. Im Mutterleib bekam es Stricke um die Beine gebunden, dann zogen wir es raus. Zu Stefans Bekanntschaft gehörte ein Richter am Landericht in Kirchhain. Wir hatten uns an einem schönen Maienabend oberhalb von Bauerbach im Schlafsack an den Waldrand gelegt. Plötzlich sahen wir aus dem Haus von Richter Corden Rauch aufsteigen. Wir waren schnell hingelaufen und hatten geguckt, ob wir helfen konnten. Das Feuer, das in der Küche ausgebrochen war, war aber schon gelöscht. Wir saßen noch eine Zeit zusammen auf ein Bier und gingen dann zurück zum Waldrand.
Einmal fuhren wir alle auf Initiative Reinhards hin nach Maulbronn in die Jugendherberge. Die ganze Bauerbachtruppe war dabei. Das war klasse. Die Klosteranlage war unheimlich beeindruckend, Hermann Hesse war dort Seminarist („Unterm Rad“). Wir unternahmen lange Wanderungen und saßen abends singend in der Kneipe, war das toll! Wir waren alle mit unseren „Enten“ da runtergefahren. Heute weiß man erst zu schätzen, wie unbeschwert man damals gelebt hatte. In Bauerbach war ganz vorne im Ort der Supermarkt. Dort kauften wir immer ein. Die Küche war bei Bernie und Stefan relativ dunkel, zum Bad ging man von dort durch eine Art Abstellraum. Im Bad hing ein großer Boiler, in dem Wasser mittels Feuer erhitzt wurde. Das dauerte sehr lange, wie man sich denken kann. Deshalb wurde kalt geduscht. In Siegen zurück, schrieb ich weiter an meiner Staatsarbeit. Das Thema stellte sich als sehr dröge heraus. Ich verlor nicht nur die Lust, daran zu arbeiten. Bei mir machten sich sogar Anzeichen einer Depression bemerkbar. Ich ging deshalb zu Dr. Buschhaus in der Nachbarschaft. Der verschrieb mir Johanniskrauttabletten. Ich war jedenfalls froh, als ich am Jahresende rechtzeitig meine Staatsarbeit abgeben konnte. Ich trank eine ganze Flasche Sekt leer und ging anschließend ins Bett.
Das Frühjahr des Folgejahres stand ganz im Zeichen der Examensvorbereitungen. Das Examen im EGT (erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Teilstudium) hatte ich erfolgreich absolviert. Ich schrieb daraufhin noch zwei Examensklausuren in Sozialwissenschaften („Theorie der sozialen Rolle“) und in Geschichte („Die Parteien in der Endphase der Weimarer Republik“). Dazu kamen natürlich noch zwei Kolloquien von jeweils fünfundvierzig Minuten. Ich besuchte kaum noch Veranstaltungen an der Hochschule, alles war auf das Examen ausgerichtet. Meine Semesterwochenstunden hatte ich zusammen. Im Studienbuch standen Seminare und Vorlesungen aus allen möglichen Bereichen. Ich rief gelegentlich die Dozenten an, um letzte Fragen für die Kolloquien zu klären. In Geschichte kamen die Themen „Didaktik der Geschichte bei Annette Kuhn“ und „Römer und Germanen“ und in Sozialwissenschaften „Soziologie der Familie“ und „Demokratietheorien“ dran. In Geschichte bestand ich mit Bravour, in Sozialwissenschaften nicht so gut. Jedenfalls hatte ich im Mai alles hinter mir.
Die Ehemaligen aus der Wohngemeinschaft wohnten über ganz Siegen verteilt. Uwe wohnte mit Familie in der Nordstraße, Alice wohnte mit den Kindern und Ulli in der Sandstraße, Lutz, Dieter und Henni irgendwo. Für mich fing mit dem neuen Schuljahr ein neuer Lebensabschnitt an, ich musste ein Referendariat absolvieren.
Dazu bewarb man sich beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf. Ich bekam dann irgendwann Bescheid und musste nach Kleve zum Studienseminar für Gymnasien. Kleve am Niederrhein war ein Ort, an dem ich in meinem ganzen Leben bis dahin noch nicht gewesen war. Man kam auch sehr schlecht dahin. Die Autobahn 57 gab es erst in Teilstücken. Vom Studienseminar Kleve aus wurden verschiedene Gymnasien in der Umgebung betreut. Dazu gehörte natürlich Kleve selbst, Emmerich, Goch, Rees-Haldern, Kalkar, Kevelaer, Geldern und Rheinberg. Tina und ich wollten zusammenziehen und suchten schon mal eine Wohnung in Goch. Wir fanden eine in der Bahnhofstraße über einer Pizzeria. Die Wohnung gehörte einem Tierarzt aus Gelsenkirchen, der mit uns sofort einen Mietvertrag abschloss. Die Wohnung hatte Dachschrägen, war aber mit hundert Quadratmetern recht groß. Ich hatte eine Zeit lang allein in der Wohnung gelebt. Tina kam im September nach, sie war MTA und hatte eine Stelle in Wesel angenommen. Ich musste zum Amplonius-Gymnasium nach Rheinberg. Wir hatten beide ungefähr achtunddreißig Kilometer zu fahren. Das war schon allerhand!
Ich hatte mir einen gebrauchten „Renault 12 TS“ gekauft, der hatte fünfzigtausend Kilometer gelaufen und kostete zweitausendfünfhundert DM. Tina hatte einen „Renault 4 TL“. Die Autos taten beide lange ihren Dienst. Im schlimmen Winter 1978/79 legte Tina ihren R 4 aufs Dach. Sie war in einer Schneewehe weggerutscht. Der Wagen hatte eine kleine Beule auf dem Dach, Tina war nichts passiert, ihr steckte allerdings ganz schön der Schreck in den Gliedern. Als ich mit meinem Wagen bei Ulli und Alice zu Besuch in Siegen war, bog ich oberhalb des Marienkrankenhauses in eine steile Kopfsteinpflasterstraße ein und wollte sie hinunterfahren. Leider war sie völlig vereist, so dass das Auto zu rutschen anfing, und ich als Fahrer überhaupt keinen Einfluss mehr auf das Geschehen hatte, weder Kuppeln, noch Bremsen oder Lenken hatten eine spürbare Wirkung. Der Wagen rutschte immer schneller werdend auf einen Opel Rekord, der sich mit eingeschlagenen Rädern am Bordstein hielt. Ich war eigentlich froh, zum Stehen gekommen zu sein, wer weiß, wo ich hingerutscht wäre, beim Anblick der Beulen aber, die entstanden waren, wurde mir doch ganz anders. Ich brauchte einen neuen Kotflügel, eine neue Haube und einen neuen Reflektor. Allein der Reflektor kostete damals hundertachtzig DM. Der Schaden am Opel Rekord wurde von meiner Haftpflichtversicherung beglichen. Das alles passierte kurz vor Weihnachten. Ich reparierte meinen Schaden so gut es ging selbst. Ich feierte Heiligabend bei Alice, Ulli und den Kindern. Legendär ist heute noch, dass Ulli und ich als Indianer verkleidet versuchten, mit Gummipfeilen aus Blasrohren Markus einen Apfel vom Kopf zu schießen. Markus stand da in Unterhosen. Ließ sich der Kuckuck aus der Wanduhr blicken, bekam auch er einen Pfeil ab. Schließlich stellten wir die Uhr auf kurz vor zwölf und lauerten auf den Kuckuck. Tina feierte in Dillenburg mit ihrer Familie, so gut waren die Beziehungen noch nicht, dass ich da hätte mitfeiern können.
Auf der Rückfahrt nach Goch lag dermaßen viel Schnee auf der Autobahn, dass wir nur im Schritttempo fahren konnten. Wir brauchten vier und eine halbe Stunde!