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Berlin

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Der Alltag hatte mich schnell wieder. Das neue Schuljahr fing an, ich hatte einen Leistungskurs in Geschichte in der 13, mit dem ich in das Abitur gehen würde. Schwergewichtig nahm ich den „Nationalsozialismus“ und die „Geschichte Deutschlands nach 1945“ durch. Die Schüler mussten sich mit der „Teilungsproblematik“ auseinandersetzen. Dass uns die Realpolitik einholen würde, daran hätte ich nie geglaubt. Ich hätte mehrere Gehälter darauf verwettet, dass ich die „Deutsche Einheit“ nicht mehr erleben würde. Mehrere Male war ich im geteilten Berlin und auch in der DDR. Martialische Grenzanlagen hinderten die Menschen am freien Reisen. Die Einreise in die DDR war immer ein besonderes Erlebnis, auch die Ausreise aus der DDR. Um nach Berlin zu kommen, musste man entweder fliegen, oder man passierte die DDR-Grenze in Helmstedt und verließ die DDR wieder in Dreilinden/Drewitz nach Berlin. Dazwischen lagen 120 km holprige Autobahn durch die Magdeburger Börde. Der „Rasthof Ziesar“ lag an dieser Autobahn. Wollte man dort etwas essen, musste man sich an die Tür stellen und warten, bis einem der Kellner einen Tisch zuwies. Dann gab es von der ohnehin nicht sehr reichhaltigen Karte nur ausgesuchte Sachen zu essen. Auf diesem Rasthof war das meistens Rotkohl. An der Grenze bildeten sich lange Warteschlangen. Die Grenzpolizisten nahmen sich unheimlich wichtig. Versuchte man, mit Meckern seinem Unmut Luft zu machen, wurde man in eine Extraspur gewunken und einer Sonderbehandlung unterzogen. Das konnte dann Stunden dauern. Also ließ man die Schikane über sich ergehen. Die Passbeamten saßen in einem niedrigen primitiven Grenzhäuschen und schauten sich die Autoinsassen genau an. Am Grenzübergang Friedrichstraße in Berlin musste man sogar ein Ohr freimachen, um dem Beamten einen Blick auf sein Profil zu ermöglichen. Andere Grenzbeamte liefen mit einer langen Stange herum, an deren Ende ein Spiegel befestigt war. Damit schauten sie unter das Auto, um so Republikflüchtlinge zu erwischen. Auf der Autobahn musste man sich unbedingt an die vorgeschriebene Geschwindigkeit halten. Übertretungen kosteten einiges. Tina und ich fuhren einmal in Bad Hersfeld über die Grenze, um nach Polen durchzureisen. Die Landschaft öffnete sich in das Thüringer Becken, die Autobahn war deshalb leicht abschüssig. Plötzlich wurde eine Geschwindigkeitsbeschränkung angezeigt: 80, 60, 40, 20. Die 20 km/h hätte man nach circa 150 m erreicht haben müssen. Da stand dann die Polizei und kassierte. In unserem Falle waren es 50 DM. Ich hätte auch mit Ost-Mark bezahlen dürfen, da wir aber auf dem Transit waren, hatten wir keine Ost-Mark dabei. Gnädigerweise nahm man aber auch Westgeld. Man kam aus Westdeutschland an der alten „Avus“ nach Berlin, der alten „Automobil-Verkehrs-und Übungsstraße“, auf der 1926 der erste Große Preis von Deutschland gefahren wurde. Sehr markant war die Berliner Mauer, die am 13. August 1961 errichtet wurde. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“, sagte Walter Ulbricht, der Generalsekretär des Zentralkomittes der SED auf Befragen von Westreportern hin. Die Mauer teilte die Stadt Berlin in zwei Hälften, wobei sie im Zentrum einen Bogen zugunsten des Ostens beschrieb. Sie war vom Brandenburger Tor aus zu besichtigen, ich weiß noch, wie auf einem Hinweisschild zu lesen war:

„Achtung, sie verlassen den freien Sektor!“ (in drei Sprachen), an der Mauer fand sich an dieser Stelle ein Graffiti:

„Ja wie denn?“.

Es gab hölzerne Plattformen, von denen aus man in den Osten der Stadt schauen konnte, zu ihnen führten Treppen hoch. Auf den im Osten befindlichen Wachtürmen schauten Wachsoldaten permanent durch ihre Ferngläser. Einmal war ich mit Andrea und Uwe in Ostberlin, wir waren mit der S-Bahn bis nach Köpenick gefahren. Es war immer ein mulmiges Gefühl präsent, wenn man sich im Osten aufhielt. Wir aßen für ganz kleines Geld im Köpenicker Ratskeller. Berlin war immer, trotz der Teilung, eine sehr attraktive Stadt. Es war eine Menge los, in jeder Hinsicht, vor allem aber kulturell.

Die Kneipen hatten die ganze Nacht über geöffnet. In Berlin traten weltbekannte Künstler auf, es gab unheimlich viele Museen von Weltgeltung. Mein erster Berlinbesuch war in der zehnten Gymnasialklasse. Wie wurden wir verdonnert, doch an der Grenze bloß nichts Falsches zu sagen oder sogar zu provozieren. Auch damals waren wir im Ostteil der Stadt und hatten uns das „Zeughaus“ angesehen. In unregelmäßigen Abständen fuhr ich immer wieder hin und besuchte Freunde. Tinas Bruder arbeitete bei „Osram“ in München und musste alle drei Wochen für eine Woche nach Berlin. Die Firma stellte ihm deshalb ein Appartement am Siemensdamm zur Verfügung. Da konnten wir, wenn Stefan nicht da war, kostenlos übernachten. Vom Siemensdamm war man in 15 Minuten mit der U-Bahn im Zentrum. Lange nach der Wiedervereinigung waren Tina und ich mit unserem Sohn in Berlin, um ihm einmal die geschichtsträchtige Stadt zu zeigen. Unsere Tochter hielt sich zu einem halbjährigen Schüleraustausch in Südafrika auf. Im Folgenden ein kleiner Abriss unserer damaligen Berlinfahrt:

Zweiundzwanzigster Oktober

Um 5.45 h, es war noch stockfinster, standen wir auf. Schnell gewaschen und die Zähne geputzt, dann runter, im Stehen Kaffee trinken. Ein kurzer Blick in die Zeitung, die schon um 5.00 h gebracht wurde, dann, um 6.20 h, nahmen wir unser Gepäck und zogen los. Eigentlich wollten wir an diesem Morgen von Weeze nach Berlin fliegen.

Die Tickets hatten wir schon gekauft, sensationelle 120 Euro für drei Personen hin und zurück. Doch dann ging „VBird“ Pleite, schade, also fuhren wir mit dem Zug. Die 120 Euro für unsere Flugtickets bekamen wir zurück. Um 6.40 h waren wir am Duisburger Hauptbahnhof, trotz der Fahrbahnverengung an der Rheinbrücke. Im Parkhaus am UCI parkten wir für 5 Euro pro Tag. Am Osteingang wurde das Frühstück fortgesetzt, Käse-Schinken-Sandwiches, Pudding-Teilchen, Kaffee. Unser Zug fuhr pünktlich an Gleis 13 ein. Leider saßen wir bei den Rauchern, weil bei den Nichtrauchern schon alle Plätze vergeben waren. Das stank schon ganz schön. Der Zug war unheimlich leise, kein Vergleich zu früher, als das Gerappel von den Schienen zu hören war. Um 8.15 h schien die Sonne, der Himmel wurde blau, vielleicht hatten wir Glück mit dem Wetter! Gegen 11.00 h waren wir am Bahnhof Zoo, wir waren mit 250 km/h durch das Gebiet der ehemaligen DDR gefahren. Eigentlich wären wir besser in Spandau ausgestiegen, aber egal.

Dann U-Bahn bis Bismarckstraße, umsteigen Richtung Ruhleben, Siemensdamm raus. Wir erkannten sofort alles wieder. Wir kauften bei „Minimal“ fürs Frühstück und fürs Mittagessen ein. Dann kleine Pause. Ich hatte im Zug mein neues Buch angefangen:

Ian McEwan, „Der Zementgarten“, ganz gut das. Dann zogen wir los Richtung Oranienburger Str. zum „Centrum Judaicum“. Dreimal mussten wir umsteigen, bis wir da waren.

Die Synagoge war leider seit 13.30 h geschlossen, sie war aber mit ihrem neuen Dach auch von außen ganz imposant. Über die „Museumsinsel“ kamen wir zur wichtigsten Berliner Straße: Unter den Linden. Das Wetter war schön, es war toll, da herzulaufen. Neben dem wiedereröffneten „Hotel Adlon“ lag am Pariser Platz die Baustelle der amerikanischen Botschaft. Hier gab es die Gedenkstätte für die ermordeten europäischen Juden, ein Feld von 2711 Betonstelen, jede 1.50 m hoch, 1 m breit und 2.50 m lang, entworfen von dem Architekten Peter Eisenman. Schulklassen besuchten das Stelenfeld, die Schüler kletterten hinauf und sprangen zum Entsetzen der Umstehenden von Stele zu Stele. Ein eigens eingesetzter Bewachungsdienst ließ sie gewähren, es war wichtig, diese unbewusste Handlung zu tolerieren. Anschließend ging es in das „Sony-Center“. Dort setzten wir uns und tranken erst einmal einen Cappuccino. In den vergangenen drei Jahren wurde am Potsdamer Platz unglaublich gebaut. Man erkannte nichts wieder. Zur Zeit der „Teilung Berlins“ war der Potsdamer Platz eine einzige Brache, dann war er mit einem Male ein hypermoderner Baukomplex mit allen facilities, die dazu gehörten. Es gab eine große gläserne Kuppel, unter der man saß. Der Bau des „Sony-Centers“ ging auf den Chicagoer Architekten Helmut Jahn zurück. Die Kuppelkonstruktion stellte eine spektakuläre Ingenieursleistung dar, ein aufgefächertes Zeltdach aus Stoffbahnen war mit Zugankern an einem Stahlring befestigt, der auf den umliegenden Gebäuden auflag. Beeindruckend! Nach kurzer Pause fuhren wir zum Wittenbergplatz, Nik wollte ins „KadeWe“. Das „KaDeWe (Kaufhaus des Westens)“ war der Luxustempel schlechthin. Als wir das Kaufhaus betraten, kamen Nik und ich zufällig in die Taschenabteilung, es waren Taschen von Louis Vuitton ausgestellt. Da gab es eine, die genauso aussah, wie die Taschen, mit denen meine Mutter früher auf ihrem Fahrrad zum Borbecker Wochenmarkt gefahren war, nur dass diese dort 1000 Euro kostete. Nach einer kleinen Rolltreppen-/Liftaktion befanden wir uns in der Etage mit Herrenkleidung. Ich hatte überhaupt keine Lust, nach Sachen für Nik zu schauen und fuhr in den Wintergarten in der 7. Etage. Nach einer halben Stunde kamen die beiden nach, Nik hatte sich eine Levi`s 501 für 85 Euro zurücklegen lassen. Für das Geld hätte ich mir drei Hosen gekauft, aber eine 501 war eine gute Hose, ich hatte schon mal eine. Wir tranken kurz etwas, dann holten wir die Hose und fuhren zum Prenzlauer Berg. Wir suchten vergeblich das von Hilde durchgegebene Thai-Restaurant und gingen stattdessen in eine tolle italienische Kneipe, „La Storia“. Die niedrigen Preise hauten einen um, wenn man da mal an zum Beispiel Paris dachte. Nik aß das größte Rumpsteak, das ich je gesehen hatte. Wir gingen die Kollwitzstraße wieder zurück zum Senefelder Platz, dann fuhren wir mit der U-Bahn zum Siemensdamm, unsere längste Strecke mit einer Linie.

Wir machten kurz den Fernseher an, um 22.15 h schlief ich.

Dreiundzwanzigster Oktober

Ich ging mit Nik ganz in der Nähe Brötchen und Zeitung holen. Tina hatte inzwischen Kaffee gekocht. Nach dem Frühstück brachen wir auf, wir wollten zum Ostbahnhof, einen „Mauerrest“ in der Mühlenstraße ansehen. Vom Bahnhof Zoo aus fuhren wir nach Ostberlin, man sah die DDR noch an der Architektur, man sah aber auch, dass dorthin viele Euros geflossen waren. Der Ostbahnhof war, wie auch der Lehrter Bahnhof (Berliner Hauptbahnhof) toll hergerichtet. Das Stück Mauer war zwar sehr interessant, die richtige „Mauerstimmung“ kam aber nicht rüber, wir fuhren wieder zurück. Im Bahnhof Zoo gingen wir auf die „Zooterrassen“, wo wir vor drei Jahren schon einmal gesessen hatten. Dann stiegen wir in die Buslinie 100 und fuhren die Touro-Strecke ab. Die Linie 100 war der Touristenbus, sie bot aber alles wichtige, was man in Berlin sehen musste, von oben aus dem Bus sah man wirklich viel Interessantes. Wir fuhren durch das Regierungsviertel. Leider regnete es inzwischen, am Vortag war das Wetter noch so toll. Wir stiegen an der Volkskammer aus und wollten eigentlich auf den Flohmarkt auf der „Museumsinsel“, aber bei so einem Wetter!

Wir fuhren mit der Linie 100 wieder zurück, das ging alles mit dem Gruppenticket, das wir am Morgen nach langem Studium aus dem Automaten am Siemensdamm gezogen hatten, 14 Euro für alle für einen Tag. Vom Bahnhof Zoo fuhren wir zum Wittenbergplatz, wo wir noch einmal ins „KaDeWe“ gingen. Nik stöberte in der Compi-Abteilung herum. Ich trennte mich von den beiden und wollte eigentlich in den 7. Stock, etwas trinken, da war aber kein Platz. Also wieder runter. Die beiden waren aber nicht zu finden. In so einer Situation war ein Handy Gold wert: ich fuhr hoch zur Kundendienstabteilung und rief Tina an, die Nummer hatte sie mir zum Glück vorher aufgeschrieben. Kurze Zeit später kamen beide hoch. Ich hatte kein Handy, weil ich das Telefonieren eigentlich hasste. Im übrigen war ein Handy inzwischen zum Unterhalter mutiert, mit dem man beileibe nicht nur telefonierte. Auf einer Motorradtour zückte Reinhard einmal sein Handy und schaltete einen Fernseher ein, auf einem Autobahnrastplatz beobachtete ich einmal sechs Jugendliche, wie sie die Köpfe über einem Handy zusammensteckten, meine Güte! Das Handy war ein Statussymbol geworden! Wir gingen am Wittenbergplatz in ein Cafe. Ich rief Lutz Weiß an, den wir besuchen wollten. Wir verabredeten uns und fuhren mit der S-Bahn nach Köpenick runter. Drei Haltestellen vor Köpenick rief ich noch einmal an, damit Lutz uns abholte.

Vor zwanzig Jahren war ich das letzte Mal mit Andrea und Uwe in Köpenick. Dann Bahnhof Friedrichshagen, ausgestiegen, und siehe da, der Herr Lutz. Eigentlich kaum verändert, die Haare kurz, gut drauf, lustig, angenehmer Typ. Nach kurzer Begrüßung fuhr er uns nach Friedrichshagen zu sich nach Hause. Es hatte ihn in eine große Villa am Spreeufer mit Bootssteg verschlagen. Er lebte da mit Anne (41 J.), seiner Frau und seinem Sohn Daniel (6 J.) zur Miete, es fehlten einem die Worte. Anne stammte aus Hagen, hatte in Marburg Psychologie studiert und war seit zehn Jahren mit Lutz verheiratet. Lutz hatte ein bewegtes Leben hinter sich, er hatte in Hamburg, München und Berlin-Kreuzberg gelebt, hatte sich Blutkrebs gefangen, mit knallharten Chemotherapien usw. Der Hund Jacko war das Abbild unseres früheren Pollux aus der Wohngemeinschaft, genauso verrückt. Wir tranken Kaffee und Tee und erzählten. Nik und Daniel spielten draußen mit dem Hund. Dann zeigte Lutz Fotos auf dem PC, viele Fotos sagten mir etwas, Axel, Mimo, Frieder. Ulli, Gabi, Annette, Bärbel, Uwe usw., alte „Enten“. Anschließend gingen wir in eine Pizzeria und hauten ordentlich rein. Es wurde erzählt und erzählt, toll war das. Lutz und ich liefen nach Hause, die Frauen nahmen das Auto. Leider hatte ich ganz vergessen, Fotos zu machen, was weiß ich, warum. Schließlich fuhr uns Lutz zum S-Bahnhof Friedrichshagen.

Wir fuhren über Ostkreuz und Bahnhof Zoo zum Siemensdamm.

Im Appartement machten wir noch klasse Fahrradfotos von Nik und mir, dann war Schluss für diesen Tag.

Vierundzwanzigster Oktober

Ich ging an diesem Morgen wieder Brötchen und Zeitung holen. Irgendjemand sagte mir, ich sollte aufpassen, weil die Verkäuferin betuppte. Tatsächlich machte die auch ihr Späßchen und alle lachten. Das Wetter war klasse, es war unheimlich warm. Nach dem Frühstück ging es los, wir lösten unser Gruppenticket am Automaten, inzwischen kannten wir uns aus. Das erweiterte Ticket bis Potsdam kostete 15 Euro, nicht sehr viel. Über Charlottenburg - wir mussten zum S-Bahnhof laufen - nach Wannsee, umsteigen bis Bahnhof Potsdam. Potsdam hatte einen schönen neu errichteten Bahnhof, das Wetter war immer noch klasse. Unten an der Tramhaltestelle stiegen wir in die Linie 96 und fuhren bis Charlottenhof. In der Bahn erzählte uns eine ältere Dame etwas zu verschiedenen Baudenkmälern. Dann stiegen wir wieder aus und liefen und liefen. Unterwegs sahen wir die Nocolaikirche. Offenbar wollten viele zum Schloss Sanssoussi, jedenfalls war ganz schön was los. Wir kamen am chinesischen Teehaus vorbei, der alte Fritz hatte ganz gut gelebt. Schließlich standen wir unten am wunderschönen Schlossgarten, wir mussten sechs Treppenblöcke hochsteigen, jeder hatte 22 Stufen. Oben hatten wir in der Redoute eigentlich ein Cafe erwartet, aber nichts. Wir liefen dann den Voltaireweg entlang (Voltaire war mit Friedrich d. Großen befreundet) und gingen in der Weinbergstraße in die Blumberg-Remise, Cappuccino und alkoholfreies Bier trinken. Wir sahen eine wunderschöne Straße mit herrlich renovierten Bürgerhäusern, aber auch noch Verfall. Wir liefen weiter Richtung Alexandrowska, ein paar alte russische Holzhäuser, na ja. Dann aber mit Bahn und Bus zum Cäcilienhof, wo Geschichte gemacht wurde, die „Großen Drei“, das „Potsdamer Abkommen“ usw. Der Blumenstern am Eingang erinnerte mich an die Dokumentarfilme, die ich in der Schule gezeigt hatte. Wir gingen aber nicht rein, es gab nur Führungen für fünf Euro pro Person. Zurück zur Bushaltestelle. Der Bus fuhr uns vor der Nase weg, der nächste kam 20 Minuten später. Wir fuhren dann zum Nauener Tor ins Holländische Viertel. Dort machten wir eine kleine Getränkepause. Potsdam machte einen sehr guten Eindruck, ich könnte mir die Stadt als Wohnsitz vorstellen. Gut, dass an unserem Lokal die Tram vorbeifuhr, wir fuhren mit einer zum Bahnhof. Dort aßen wir gegen den ersten Hunger in einer Bäckerei Sandwiches und Kuchen. Dann wieder Richtung Berlin. Weil irgendwo Bauarbeiten im Gange waren, fuhren wir über Steglitz unten herum zum Potsdamer Platz. Wir setzten uns wieder hin und schauten auf den Potsdamer Bahnhof und die umliegenden Gebäude. Dann fuhren wir mit der U 2 zum Senefelder Platz nach Prenzlau. In der Kollwitzstraße gingen wir beim Inder etwas trinken. Tina hatte einen Tee, der wie Hühnerbrühe mit Kondensmilch schmeckte. Dann gingen wir noch ein paar Blocks die Kollwitzstraße hoch und setzten uns in das Eckrestaurant Bangin, das Wort war angeblich Balinesisch und bedeutete Aubergine. Am Vorabend war es dort noch sehr voll. Hunger hatten wir noch nicht. Trotzdem bestellte Nik sein Rumpsteak, ich Hähnchenleber mit Cous Cous und Tina Nudeln mit Pilzen, was sie natürlich nicht schaffte. An diesem Abend wurden wir nicht alt. Wir gingen zum Senefelder Platz und fuhren bis zur Bismarckstraße. Vier Stationen später unterbrachen wir die Fahrt, Nik musste zum Klo.

Um 21.15 h waren wir am Siemensdamm.

Wir guckten noch den Rest vom „Tatort“ und von „Free Willy“, dann war Schluss.

Fünfundzwanzigster Oktober

Wir fuhren wieder nach Hause. Ich ging wieder Brötchen und Zeitung kaufen. Nik überlegte die ganze Zeit, welche DigiCam er sich kaufen sollte. Wir machten kurz alles sauber, dann, um 10.45 h verließen wir das Appartement. Der Bahnhof war brechend voll mit Leuten. Unser Zug hatte fünf Minuten Verspätung und lief auf dem Nachbargleis ein. Um 12.00 h fuhren wir los.

Das war ein sehr eindrucksvoller Berlinbesuch, obwohl wir nicht ein Museum besucht hatten. Der Unterschied zu früher sprang ins Auge, lediglich an den alten Bauten im Osten konnte man sich noch ein bisschen DDR ins Gedächtnis rufen. Was es aber bedeutet hatte, vor so einem martialischen Bauwerk wie der Berliner Mauer zu stehen oder an der DDR-Grenze mit Todesstreifen, Zaun, Laufweg für scharfe Hunde, Minengürtel, das war nicht zu vermitteln. Wir waren auch am ehemaligen Checkpoint Charly im Mauermuseum, dort gab es allerhand zur Teilung zu sehen, zum Beispiel einen Kleinwagen mit drapiertem Beifahrersitz, auf den sich verdeckt jemand setzen konnte, ohne gesehen oder erahnt zu werden. Auf der Straße vor dem Museum war eine Markierung, die den Verlauf der Mauer anzeigte. Man konnte Niklas beschreiben, wie man damals dort stand und nicht weiterkam, wie unüberwindbar die vier Meter hohe Mauer, der „antiimperialistische Schutzwall“, war, vermitteln konnte man den Eindruck nicht, der sich damals einstellte. Auch das Stück Mauer in der Mühlenstraße war dazu nicht geeignet. So blieben die 40 Jahre Sozialismus in der DDR im Gedächtnis als eine Zeit des Dunkels und der Repression. Natürlich kannten auch die DDR-Bürger Glück und Zufriedenheit, aus Sicht der Westdeutschen lebten sie aber in Armut und Unterdrückung. Wir hatten während der DDR-Zeit keine Beziehungen nach drüben, außer ganz früher, als Mutter Kontakt zu ihrer Verwandtschaft in der Nähe von Riesa unterhielt. Da gab es dann die Päckchen zu Weihnachten, wenn der Christstollen aus Görzig kam, roch man den schon durch das Papier. Viel später fuhr ich mit Freunden und Tina nach Templin in Brandenburg. In Templin wohnten Onkel, Tante und Großmutter von Gabi. Die Stadt lag klasse an der Seenplatte. Wir machten einige Ausflüge nach Eberswalde zum Schiffshebewerk in Niederfinow, nach Ost-Berlin und sogar einmal nach Stralsund. Besonders schön waren die Spaziergänge an den Seen. In Stralsund gingen wir in das Meeresmuseum, ich weiß noch, wie da in einem gläsernen Schaukasten Fischkonserven aufgestapelt waren. Einmal waren Fried, Thorsten, der Sohn unsres Gastgebers, und ich im „Scharfen Eck“ zum Skatspielen. Das „Scharfe Eck“ war eine richtige Stadtkneipe, da gingen die Leute mit Krügen hin und ließen sich Bier abfüllen. Fried saß mit ausgestreckten Beinen am Tisch, als ihm die Kellnerin mit den Worten:

„Nun setzen Sie sich mal gerade hin!“ vor das Schienbein trat. Rauhe Sitten! Martha Jänsch war eine aus mehreren Gründen anrüchige Person. Sie lag bei sich im Fenster und beobachtete die Straße. Marta Jänsch bot immer Gesprächsstoff, egal in welchem Zusammenhang, sie war das Symbol des Verruchten geworden, jedenfalls in unseren Augen. Einmal durfte ich mit Jochens „Trabant“ fahren, er fuhr meinen „Renault“. Meine Güte, das war gewöhnungsbedürftig, ich hatte Schwierigkeiten, meine Knie unter dem Lenkrad zu postieren. Dann auch noch die Lenkradschaltung! Wir tauschten die Autos schnell wieder. Jochen und Renate, unsere Gastgeber, waren sehr nette Menschen und offen für alles. Als wir nach Templin kamen, mussten wir uns auf der Polizeiwache anmelden, Formulare ausfüllen, Zweck und Dauer des Aufenthaltes usw. Auf der Hinfahrt waren wir auf dem Berliner Ring und wollten Richtung Oranienburg fahren. Da die Autobahn mit Betonplatten belegt war, und diese gegeneinander verschoben waren, war die Fahrerei eine ziemlich holprige Angelegenheit. Vor uns fuhr ein „Trabant“, auf dessen Rücksitz zwei toupierte DDR-Blondinen saßen. Sie hüpften entsprechend dem unebenen Untergrund im Gleichtakt rauf und runter, das sah zum Piepen aus. In Ost-Berlin gingen wir Bücher kaufen. Ich holte mir die Gesamtausgabe der damals in den Schulen ausgegebenen Geschichtsbücher. Bücher waren in der DDR spottbillig. Fast alle Bekannten hatten das „Philosophische Wörterbuch“, es gab einige Literaturklassiker, viele holten sich auch die „MEW“, meistens ausgewählte Bände, das war aber nicht mein Ding, weil es unglaublich mühsam war, sich durch die marxistische Theorie zu kämpfen und nur die Regale zu Hause damit füllen, das wollte ich auch nicht. Die Mediziner und Naturwissenschaftler deckten sich mit Fachliteratur ein, die bei uns im Westen traditionell sehr teuer war. Die Gesellschaftswissenschaftler wie ich mussten natürlich sehr vorsichtig sein, weil das sozialistische Weltbild eben nicht überall passte, die Geschichte war nicht nur eine Geschichte von Klassenkämpfen. Die Gesellschaftsanalyse des Karl Marx bestach durch akribische Aufarbeitung der gesellschaftlichen Grundtatbestände, man musste natürlich zwischen dem Klassenmodell und der Schichtendarstellung trennen. Gegen die „marxistische Mehrwerttheorie“ war nichts zu sagen, sie lag dem „Gewinnmaximierungsprinzip“ im Kapitalismus zugrunde. Ich ließ im Unterricht Karl Marx wenigstens in Grundzügen immer anklingen. Begriffe wie „gesellschaftlicher Wert der Arbeit“ und „Tauschwert der Arbeit“ waren den Schülern geläufig. Es kam in meinem Unterricht unter anderem darauf an, den Schülern den Wert der Geschichte nahezubringen. Was hieß es, aus der Geschichte zu lernen? Man lernt nichts aus der Geschichte, wenn man sich blindlings die historischen Fakten aneignet. Man lernt nur etwas aus der Geschichte, wenn man Strukturen in ihr ausfindig zu machen in der Lage ist und das sind oft Herrschaftsstrukturen. Insofern ist die Geschichtswissenschaft immer auch Gesellschaftswissenschaft. Das historische Faktum existiert nicht an sich, es besteht nur vor dem erkenntnisleitenden Interesse desjenigen, der versucht, gesellschaftlichen Defiziten auf den Grund zu gehen. Es gibt Heerscharen von Historikern, die auf diese Grundtatsache aufmerksam machen.

Niemandem hilft es zu wissen, dass Karl der Große im Jahre 800 n. Chr. in Aachen zum Kaiser gekrönt worden war. Für den Verlauf der Geschichte der Deutschen war es aber schon wichtig zu wissen, wie er in seinem Reich die Herrschaft organisiert hatte. Das bedeutet, dass der Historiker die Geschichte befragen muss, aus dem erkenntnisleitenden Interesse nach Aufhebung gesellschaftlicher Defizite, zum Beispiel Demokratiedefizite. Welche gesellschaftlichen Ursachen ermöglichten das Erstarken des „Nationalsozialismus“, gibt es heute parallele gesellschaftliche Strömungen, die die „Neue Rechte“ befördern? Welche Konsequenzen muss die Schule aus solchen Erscheinungen ziehen? Geschichtswissenschaft ist so auch politische Wissenschaft. Politik ist Interessendurchsetzung mittels Macht. Macht ist die Chance, den eigenen Willen - auch gegen den Willen anderer - durchzusetzen, so sagte schon Max Weber. Herrschaft ist der dynamische Aspekt der Macht, sie ist Machtausübung. Macht ist also ein Potential. Die Politikwissenschaft stellt die Frage nach der Legitimität von Macht und Herrschaft. Der Prozess der „Aufklärung“, der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant), ist insofern noch längst nicht abgeschlossen, beziehungsweise, er muss beständig neu in Gang gesetzt werden. Wo, so wäre etwa zu fragen, liegen Kräfte, die dem ureigensten Interesse nach Aufklärung entgegenstehen?

Liegen sie im Menschen selbst als Verhaltensdisposition angelegt oder werden sie von außen an ihn herangetragen? Zum ersten: der Mensch ist mit sich selbst zufrieden, das heißt, er unternimmt nur ungern Anstrengungen, sein Selbstbild zu erweitern oder gar zu zerstören. Jemanden der Aufklärung zuzuführen heißt, ihn zu veranlassen, zu lernen. Es gibt ein kindliches Lernbedürfnis, das im Erwachsenen offensichtlich wieder zugeschüttet wird. Man muss Erwachsene motivieren, zu lernen. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Die Lernmotivation ist der Schlüssel zur Aufklärung. In wessen Interesse liegt es, Menschen in die Lage zu versetzen, zu erkennen, wie sie an ihre Mündigkeit herangeführt werden? Da setzen die äußeren Bedingungen an: die Werbeindustrie etwa versteht es, Menschen zu lenken, das weiß man schon seit über 50 Jahren (siehe dazu: Vance Packard, „Die geheimen Verführer“, 1957 oder Herbert Marcuse, „Der eindimensionale Mensch“, 1964). Das funktioniert, ohne dass sich die Betroffenen dessen bewusst sind, was entscheidend ist. Niemand lässt sich gern lenken oder gängeln, alle wollen immer zumindest das Gefühl haben, ihr eigenes Geschick weitestgehend selbst zu bestimmen und richtig zu handeln. Ein Maß für die Richtigkeit des Handelns ist die Konformität mit dem Handeln anderer. Jemand, der sich diesem Konformitätsdruck entzieht, gilt als Sonderling, sein Verhalten gilt als deviant. Er wird schnell Opfer von sozialen Vorurteilen, er wird Geächteter. Es ist dann eine Frage der Ich-Stärke und des Intellekts, dem Konformitätsdruck zu widerstehen. Ich-Stärke ist insofern das Gegenteil von Vermassung. Sie bedingt die Fähigkeit, begründet zu fragen. Eine conditio sine qua non ist das Lernen und zwar das zielgerichtete, einem erkenntnisleitenden Interesse folgende Lernen. Es ist ein großes Privileg, sich über solche Grundfragen des menschlichen Lebens Gedanken machen zu dürfen und dabei frei zu sein von äußeren Zwängen. Die Dialektik des materiellen Wohlstands liegt in der subjektiven Zufriedenheit des Menschen einerseits und in der objektiven Gefahr der Entmündigung andererseits. Eine weitere Qualität liegt dem materiellen Wohlstand zugrunde, ein Infragestellen des Wohlstandes wird als Gefahr angesehen und deshalb bekämpft. Wo fängt materieller Wohlstand an? Sicher muss die Befriedigung der Existenzbedürfnisse gewährleistet sein. Ein akzeptables Maß der Überbefriedigung der Existenzbedürfnisse muss hingenommen werden, dann aber fängt materieller Wohlstand an. Auch derjenige, der sich über diese Dinge Gedanken macht, lebt in materiellem Wohlstand, weil er die Energien, die er dazu benötigt, sonst der Bedürfnisbefriedigung zuführen müsste. Die Stabilität der Gesellschaft wäre gefährdet, wenn es zu viele Menschen gäbe, die sich über diese Dinge Gedanken machten. Deshalb liegt die Aufrechterhaltung des status quo, der die meisten Menschen in der Bedürfnisbefriedigung sieht, im Interesse der Herrschenden. Die Weckung immer neuer Bedürfnisse liegt da begründet. Dieser Mechanismus funktioniert ausgezeichnet: es kaufen Leute Espressomaschinen für 800 Euro, die dann für 150 Euro repariert werden müssen, soviel Espresso kann man sein ganzes Leben lang gar nicht trinken. Man misst sich dann über den Druck, den die Maschinen aufbauen, mit anderen. Möglicherweise trinkt man selbst gar keinen Espresso!Flachbildschirme werden gekauft, obwohl es kaum digitale Sendungen gibt, die diese besonders gut übertragen. Die Bildschirmdiagonale ist das Statuskriterium. Stellt man diese Konsumenten zur Rede, wird man aggressiv angegangen oder als Ewiggestriger hingestellt. Es gibt immer weniger Menschen, die sagen: „Ich brauche das nicht!“ Wenn alle mit dem Erreichten zufrieden wären, kaum noch konsumiert würde, und es somit kein wirtschaftliches Wachstum mehr gäbe, hätten wir einen Systemkonflikt.

Tina und ich überlegten an einer weiteren Reise. In der Zeitung gab es eine Anzeige des „Penny-Marktes“. Man verkaufte dort Tickets nach Lissabon für 100 Euro pro Person. Gleich fuhr ich hin und kaufte zwei Tickets für uns, bevor das Angebot verkauft war.

Im Internet buchten wir das „Hotel Mundial“ für eine Woche, und schon stand uns eine schöne Städtereise bevor. Ich war bereits in Lissabon, das war aber schon sehr lange her. Damals war ich mit meiner „16-PS-Ente“ unterwegs, natürlich waren Freunde dabei, die auch Ente fuhren. Wir hatten in Nazare am Strand geschlafen. Währenddessen stahl man mir meine Fotoausrüstung und meine Papiere aus dem Auto. Um einen Ersatzpass zu bekommen, musste ich nach Lissabon zur deutschen Botschaft. Ich hatte damals von der Stadt nichts mitbekommen, ebensowenig wie auf der Zwischenlandung auf dem Weg nach Südamerika. Mit den „Enten“ fuhren wir in vier oder fünf Tagen bis nach Portugal. Wir mussten durch ganz Frankreich und durch ganz Spanien, mit 16 PS war man nicht sehr schnell, wie man sich vorstellen kann. Auch war das Autobahnnetz noch nicht so ausgebaut wie heute. Die Strecke ging von Genf nach Annecy, Lyon, Clermont-Ferrand, Brive, Bordeaux, Bayonne, Burgos, Valladolid, Salamanca, Coimbra, Figueira da Foz. Dann waren wir an der portugiesischen Atlantikküste. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, vor den Atlantikbrechern zu stehen, wir waren sofort im Wasser, kein Vergleich zur plätschernden Nordsee! Ich weiß noch, wie wir an der portugiesischen Grenze nach der Carta Verde gefragt wurden. Ich hatte keine grüne Versicherungskarte und zeigte stattdessen einen alten Lottoschein, der war okay.

Der offene Atlantik ergoss sich über die Strände mit gefährlicher Brandung und mitreißender Strömung. Wir sahen Fischer, die mit eingeschirrten Ochsen riesige Fischnetze aus dem Meer zogen und doch nur kleine Fänge machten. Waren Haie dabei, wurden die auf das Elendste verstümmelt und zum Verrecken liegengelassen. Haie waren des Fischers Feinde. Wir fuhren damals um die ganze Iberische Halbinsel, das waren ordentlich Kilometer. Sehr schön war auch die Algarve, es war dort aber so heiß, dass man es kaum aushalten konnte. In Granada waren wir bei Sturm schwimmen, die Brecher warfen einen an den Strand. Dann ging es über die gebührenpflichtige Autobahn zurück nach Frankreich. Aber das war alles lange her. Wir wollten, da wir zu relativem materiellen Wohlstand gelangt waren, Lissabon als Touristen erleben.

Paulo in Lissabon, New York und Südafrika (3)

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