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Am See
ОглавлениеHans Müller-Jüngst
Paulo wird ein Goor (9)
Impressum
Texte: © Copyright by Hans Müller-Jüngst
Umschlag: © Copyright by Hans Müller-Jüngst…
Verlag: Hans Müller-Jüngst
Waisenhausstr. 4
47506 Neukirchen-Vluyn
HaMuJu@t-online.de
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Wald, Wald
Es führt ein sicherer Pfad hinauf in die leuchtende Krone der Eiche.
Paulo hatte sein Aufenthaltslager mitten im Wald in einer Hütte, die einmal seinem Vater gehört hatte. Sein Vater hatte es dann aufgegeben, mit der Familie in die Hütte zu fahren, als er altersbedingt gebrechlich wurde. Er war immer mit Paulo und seiner Frau in die Hütte gefahren, um im Sommer für mindestens zwei Wochen die Ferien dort zu verbringen. Er hatte die Hütte seinerzeit zusammen mit seinem Bruder gebaut, bis der in relativ jungen Jahren an Krebs starb. Bis dahin hatte er sich mit seinem Bruder abgewechselt, wenn es in die Hütte ging, manchmal hatten sie auch ihre Ferien zusammen in der Hütte verbracht. Dann waren die Platzverhältnisse aber sehr beengt, die Kinder verbrachten die Nächte dann draußen in Zelten.
Paulo war sehr gerne mit seiner Cousine und seinem Cousin zusammen, sie waren in etwa gleichaltrig und mochten sich gegenseitig sehr. Außerhalb der Ferienzeiten sahen sie sich allerdings nicht allzu oft, sie wohnten zu weit auseinander, man hätte drei Stunden mit dem Auto oder dem Zug fahren müssen, das tat man gelegentlich, aber nicht oft. Das Grundstück hatten Pauls Vater und Onkel von ihrem Vater geerbt, der es wiederum über viele Generationen hinweg auch geerbt hatte und in seiner Naturbelassenheit bestehen ließ. Ich freute mich immer, wenn ich in dem Idyll sein durfte. Die Zeit in der Hütte schien dann wie ausgelagert, sie bemaß die Stunden und Minuten in einem besonderen Zusammenhang, der mit der normalen Zeit nichts zu tun zu haben schien, die Zeit verging auch langsamer.
Man hatte fast den Eindruck, einen Abschnitt seines Lebens in der Hütte zu verbringen.
Vor der Hütte lag ein See mit dunklem Wasser, eingebettet in eine wildzerklüftete Felsformation, er war relativ weitläufig. Der an der Hütte gelegene Teil war flach gehalten und eignete sich zum Schwimmen, er war schilfbestanden und am Grunde verschlammt. Lediglich ein schmaler, ins Tiefe führende Unterwassersteg war fest und mit Kieselsteinen versehen. Wir kannten als Kinder den Kieselweg und tasteten uns immer ins kalte Wasser vor, uns langsam abkühlend, ab und zu untertauchend und nach Luft japsend. War man einmal im Tiefen, war es herrlich, dort zu schwimmen und die im hinteren Teil des Sees steilen Felsen zu betrachten. Meine Cousine Britta war immer die Erste im Wasser, ich schaute, wenn wir zusammen ins Wasser gingen, auf ihren wohlgeformten Körper. Obwohl sie erst vierzehn war, hatte sie dennoch stark hervortretende Brüste, im kalten Wasser zeichneten sich dann in ihrem Bikinioberteil ihre Brustwarzen ab. Ich konnte mich dann kaum an ihr sattsehen und bedauerte es fast, wenn sie dann so schnell im Wasser verschwand. Sören, mein Cousin, war so ein Schisser wie ich, wir brauchten endlos lange, bis wir die Kälte überwunden hatten und uns ins kalte Nass fallen ließen.
„Geht nicht in den hinteren Teil des Gewässers, denn der ist verwunschen!“, so sagten uns unsere Eltern oft und übertrugen damit eine uralte Mär auf uns, eine Mär, die auch ihnen schon von ihren Eltern erzählt worden war und an die sie sich hielten. Auch heute war ich noch nie im felsigen Hinterteil des Sees, der See wäre dort sehr viele Meter tief, man hätte dort auch schon merkwürdige Wesen herumlaufen gesehen, vieles blieb aber im Dunkeln. Zur Hütte gehörte auch ein Nachen aus Holz, alt zwar, aber sehr gut in Schuss und stabil, ich bin mit ihm oft auf den See hinausgerudert um zu angeln oder einfach nur, um zu entspannen. Aber auch mit dem Boot fuhr ich nie zur verwunschenen Stelle des Sees, sie lag auch fast immer im Dunkeln, wenn die Sonne schien, dann beschien sie die Hütte und den Badeplatz, viel mehr aber nicht.
Rundherum war der See von tiefstem dunklem Wald eingefasst, von einem Wald, der so ausladend war, dass er im Osten bis an das Gebirge ragte, das gut und gerne dreißig Kilometer entfernt lag, im Norden an die Meeresküste stieß, die auch zwanzig Kilometer weit weg war, im Westen bis zu meiner Heimatstadt langte und im Süden von der Autobahn durchschnitten wurde, Stadt und Autobahn lagen jeweils rund dreißig Kilometer entfernt. Ich fuhr mit dem Wagen eine Stunde durch den Wald über unebene und zum Teil verwachsene Waldwege, bis ich an die Hütte gelangte und das Auto in die Remise stellte, sodass die Natur auch optisch durch kein Merkmal unserer Zivilisation gestört wurde. Es gab kein fließendes Wasser und keinen elektrischen Strom in der Hütte, natürlich gab es auch keine Kanalisation. Wozu hätte man elektrischen Strom gebraucht? Zum Fernsehen wohl kaum, auch auf die anderen dienenden Elemente seines Alltags wollte man ja in der Hütte verzichten, es gab deshalb keine Spülmaschine, keinen Kühlschrank und keine Waschmaschine und Licht wurde mit Gaslampen gemacht. Wasser wurde dem See entnommen, es war klar und sauber, sagte man jedenfalls, ich kochte es ab, bevor ich es trank, wahrscheinlich wäre das aber tatsächlich nicht nötig gewesen. Hinter der Hütte gab es ein Plumpsklo, ich erinnere mich, wie mein Vater es einst entleeren ließ, die Männer kippten den stinkenden Inhalt in den Wald, wo er eine Zeit lang vor sich hinroch, bevor die Natur ihn völlig neutralisierte.
Sobald ich mit meinem Wagen die Autobahn verließ und in den Wald einbog, kappte ich meine Verbindung zur Außenwelt, ich legte zu Hause auch mein Handy auf den Schreibtisch und war so völlig auf mich allein gestellt. Wenn mir bei meinem Hüttenaufenthalt etwas passiert wäre, man hätte mich so schnell nicht erreicht, sicher sagte ich im Krankenhaus immer, dass ich in die Hütte führe, wenn ich mich einmal von allem loseiste. Ich war Oberarzt auf der urologischen Abteilung unseres Kreiskrankenhauses und hatte als solcher allerhand am Hals, da tat mir eine solche Abgeschiedenheit, wie ich sie in der Hütte vorfand, immer sehr gut. Die Hütte war unser „Ruhetempel“, wie mein Vater zu sagen pflegte, auch er wusste schon die absolute Stille zu schätzen, die einen dort umgab.
Als wir Kinder waren, tobten wir nicht etwa herum und alberten und schrien, wie das die Kinder meistens machten, sondern wir verhielten uns so still wie möglich und empfanden selbst auch, wie gut uns die Ruhe tat, niemand von uns hatte das Bedürfnis nach Lärmen oder Herumtoben, wir bewegten uns während all unserer Aufenthalte an der Hütte in entspannter Ruhe. Vielleicht war es auch der See, der die Ruhe einforderte, sein Wasser war ja so dunkel und still und wenn Wasservögel auf ihm schwammen, so waren auch sie still. Vor der Hütte hatten mein Onkel und mein Vater eine Holzterrasse angelegt, auf der sich schön in der Sonne sitzen ließ, sie war, wie die gesamte Hütte, aus nordischer Lärche gefertigt, was sie eine Ewigkeit halten ließ. Es gab einige Terrassenmöbel, die ich in die Remise stellte, wenn ich wieder abfuhr, auch die Möbel waren aus Lärchenholz gezimmert, ein Tisch, vier Stühle und eine Liege. Die Hütte war nicht sehr groß, sie hatte zwei Zimmer und eine Kochecke, ein Zimmer war ein Wohnzimmer und eines ein Schlafzimmer.
Früher, als wir alle in die Hütte fuhren, war auch dieses Zimmer ein Wohnzimmer und wurde zum Schlafen schnell umgeräumt. Die Hütte war nur spärlich eingerichtet, es gab zwei Sofas und sonstige Sitzgelegenheiten und es gab einen großen Schrank, der alles aufnahm, was man brauchte und das waren neben Küchenutensilien und dem Besteck und Geschirr auch unsere Kleidung, wenn wir zu Besuch waren. Der Schrank war wie ein Monolith aus feinem Lärchenholz, er war eigentlich für die Hüttenräume zu groß bemessen, wir beließen ihn aber an seinem Platz, er gehörte dorthin, wie die Hütte selbst auch. Die Kochecke bestand eigentlich nur aus einem Gasherd und einer Spüle, die allerdings ohne Wasseranschluss war, auch musste man das Schmutzwasser entsorgen, wir schütteten es meistens ins Plumpsklo, wem der Weg zu weit war, der schüttete es auch schon einmal neben die Terrasse. Das Gas für den Herd musste man immer mitbringen, meistens stand eine große Gasflasche in der Hütte, die für mehrere Aufenthalte reichte, wenn allerdings viel auf dem Herd gekocht wurde und die Gaslampe lange brannte, dann reichte das Gas nicht so lange. Im Sommer saß ich abends oft draußen am Lagerfeuer. Die Magie des Feuers muss nicht gesondert beschrieben werden, man schaute in die Flammen und dachte nach.
Es gab in den Flammen im Grunde viel zu entdecken, nur wenn man genau hinsah, dann konnte man verschiedene Flammenfarben sehen oder eine Stichflamme bemerken, die sich an einer Gasblase aus dem Holz entzündet hatte. Was einen am Feuer scheinbar der Wirklichkeit entriss und ins Träumen versetzte, das war das Knistern des brennenden Holzes und das Lodern und zuckende Emporschießen der Feuerzungen. Ich konnte Stunden damit verbringen, am Feuer zu sitzen und in die Flammen zu starren, vollkommen ungestört, vollkommen losgelöst von allen Alltagsproblemen. Oftmals grillte ich ein paar Stücke Fleisch, dazu ließ ich das Feuer herunterbrennen und setzte dann einen Rost auf die Glut, das Fleisch hatte ich mir von meinem Metzger geben lassen, „na, wieder in die Einöde?“, fragte er mich dann.
Ich hatte eine Kühltasche, in der ich auch Butter und etwas Wurst mitnahm, Brot kaufte ich frisch ein, dann noch ein paar Gewürze und etwas Salat, auch eine Flasche Schnaps und ein paar Bier, das musste reichen. Die Sommerabende zogen sich immer endlos, es wurde manchmal gar nicht dunkel, um 0.00 h schien manchmal die Sonne noch, was dem Ganzen etwas Unwirkliches gab. Die Stille wurde dann nur von Geräuschen unterbrochen, die von den Tieren gemacht wurden, die im Wald lebten. Ich kannte schon als Junge alle Vogelstimmen und horchte sofort auf, wenn ein fremdes Geräusch zu vernehmen war, das mit den mir bekannten Vogelstimmen nicht übereinstimmte. Das markanteste Geräusch aller Waldtiere machten die Hirsche in der Brunftzeit, das war ein so markerschütterndes Röhren, das alles andere still werden ließ. Gefolgt wurde das Röhren von einem Geräusch, das aufeinanderschlagende Geweihe erzeugten, wenn die Männchen ihre Kämpfe austrugen und erbittert aufeinander losstürmten.
Die Brunft ist die Zeit, in der der Hirsch viel an Gewicht verliert, nicht nur wegen der Kämpfe mit seinen Rivalen um die Führerschaft in der Gruppe, sondern auch wegen der vielen Geschlechtsakte, die er mit den Hirschkühen in seinem Rudel ausführte. Sehr speziell war auch das laute Gekrächze der Eichelhäher oder das Hacken der Spechte, das liebliche Singen der Nachtigall oder das durchdringende Gurren der Wildtauben. Aber es gab noch viele andere Tierstimmen, die aus dem Wald zur Hütte drangen.
Sie wurden durch die besondere Lage des Sees verstärkt, er lag in einem Kessel, umgeben von dicht mit Wald bestandenen felsigen Hängen, die Hüttenseite war etwas lichter, zumindest in Seenähe, bevor aber auch sie in Wald überging. Die Felswände im hinteren Seeteil ragten besonders steil empor und gingen erst in ihrem oberen Teil in Tannenwald über. Der Seekessel wirkte so wie ein Resonanzbecken, weshalb er die Tierstimmen nicht nur verstärkte, sondern auch besonders klar hervortreten ließ. An manchen warmen Sommerabenden passierte es, dass ich am Feuer, wenn es schon sehr weit heruntergebrannt war, einschlief und erst durch die spät einsetzende Nachtkühle des Sees wieder geweckt wurde. Dann ging ich in die Hütte und legte mich ins Bett, deckte mich richtig warm mit dem dicken Oberbett zu, das am Morgen, wenn die Sonne die Luft früh wieder erhitzt hatte, viel zu füllig war und mich ins Schwitzen brachte. Ich stieß das Oberbett dann von mir weg und lag unbedeckt auf dem Bett, das Fenster war geöffnet und die würzige Morgenluft strömte ins Zimmer.
Das war eine Verbundenheit mit der Natur, wie es sie nur selten gab, wie sie auch nur wenigen vergönnt war, nicht einmal Jäger gingen ihrer Beschäftigung in solcher Abgeschiedenheit nach. Ich hatte noch nie jemanden am See gesehen, wohl hatte ich schon mal Schüsse von weit entfernten Jagden gehört, die dann aber wieder verstummten.
Früher waren auch meine Brüder mit am See, als wir Kinder waren und unsere Urlaube mit den Eltern dort verbrachten. Sie waren dann aber weggezogen und wir trafen uns nur ganz selten einmal zu besonderen Anlässen, wie der Hochzeit ihrer Kinder oder ihrer eigenen Silberhochzeit. Ich hatte vor zwanzig Jahren Marietta geheiratet, war aber seit acht Jahren wieder von ihr geschieden und lebte seitdem allein, wir hatten keine Kinder, vielleicht war das der Grund für unsere Trennung. Marietta war dann nach Süden gezogen, sie hatte jemand anderen kennengelernt und eine Stellung als Internistin gefunden, sie arbeitete in einem großen Krankenhaus und fühlte sich dort sehr wohl, wie ich hörte. Marietta und ich hatten uns an der Uni kennengelernt, sie stammte aus einer Medizinerfamilie, auch ihre Geschwister studierten Medizin und da war eigentlich klar, dass auch Marietta Medizinerin wurde.
Sie sah sehr gut aus und fiel mir an der Uni gleich auf, wir fingen beide zur gleichen Zeit mit dem Studium an und redeten zum ersten Mal in der Mensa miteinander. Ich glaubte, ich hatte mich sofort in Marietta verliebt und begann sie sogleich zu umgarnen. Wir wohnten beide im Wohnheim auf unterschiedlichen Etagen, sie wohnte mit ihrer Freundin und ich mit einem Freund zusammen. Ich glaubte, ich war Marietta auch auf Anhieb sympathisch, wenn ihre Freundin ausgegangen oder nach Hause zu ihren Eltern gefahren war, rief Marietta bei mir an, dass ich doch zu ihr kommen sollte und ich war dann immer gleich zu ihr hoch. Ohne viel Federlesens fielen wir dann auf Mariettas Bett und liebten uns, meine Güte, war das eine intensive Zeit!
Unser Studium lief neben uns her, es forderte keinem von uns sonderlich viel ab, wir waren vollauf mit uns selbst beschäftigt, wir liebten uns, manche Wochenenden verbrachten wir komplett im Bett, wir stellten uns Wein neben das Bett und hörten Musik, ab und zu aßen wir eine Kleinigkeit, ansonsten liebten wir uns immer wieder, eine herrliche Zeit! Marietta und ich machten ein Prädikatsexamen und kamen auch beide gleich beim Kreiskrankenhaus unter. Wir nahmen eine Wohnung in der Stadt und begannen ein Leben, wie es alle lebten, ein Leben, das äußeren Vorgaben folgte, bei dem man kaum eigene Steuerungsmöglichkeiten hatte. Wir heirateten und gingen unserer Arbeit nach. Nichts war mehr von der Wildheit unserer Beziehung zu spüren, alles verlief in festen Bahnen, es konnte eigentlich nichts schiefgehen. Marietta und ich galten als das Musterehepaar, jung, dynamisch, erfolgreich. Es kam zu ersten Streitereien zwischen uns, wir stritten uns wegen Nichtigkeiten, was daran lag, dass uns der Job alle Energien nahm, die nötig gewesen wären, um eine Liebesbeziehung fortzuführen. Unsere Gespräche, wenn wir denn überhaupt welche führten, drehten sich um unsere Jobs, um Kollegen und um unsere Chefs, wir ließen uns an ihnen aus, diese Gemeinsamkeit gab es, dann gingen wir ins Bett und schliefen, um am nächsten Tag die gleiche Tretmühle von neuem beginnen zu lassen.
Wir waren gefangen in einem Alltagskarussell, das sich drehte und drehte, immer gleich und die Zeit verging, bis wir mit einem Male merkten, dass wir beide ein paar Jahre älter geworden waren, sich aber an uns und unserem Alltag nichts verändert hatte. Das Ende kam, als Marietta mir eines Abends etwas von einer Stelle in ihrem Fachbereich erzählte, die in einer Stadt im Süden ausgeschrieben war, und ich ihr dazu riet, sich auf die Stelle zu bewerben, sie sollte doch an ihr Vorwärtskommen denken, wir hätten dann zwar nur eine Wochenendbeziehung, die hätten andere aber auch, irgendwie ginge das schon. Marietta überlegte nicht lange und bewarb sich auf die Stelle, es war eine Chefarztposition in der Inneren Abteilung eines großen Krankenhauses. Marietta bot die besten Voraussetzungen, sie war Oberärztin und sie war, was nicht unwichtig war, eine Frau, sie hatte beste Zeugnisse. Marietta bekam die Stelle.
Sie kam noch vier- oder fünfmal hoch zu mir, ich fuhr auch mal runter zu ihr, aber uns beiden war klar, dass unsere Beziehung damit beendet war. Eines Tages, Marietta hatte mir gerade ihre Abteilung gezeigt, sie war mit modernstem Gerät ausgestattet, sagte ich zu ihr, dass ich glaubte, dass es das Beste wäre, wenn wir unsere Ehe auflösten. Marietta schaute nur kurz geradeaus, warf mir einen flüchtigen Blick zu und sagte dann nur: „Wenn Du meinst!“. Das war alles.
Eine Beziehung, die voller Feuer und Hingabe begonnen hatte, war an den routinierten Abläufen des Alltags, die alles Frische und Impulsive, was eine Beziehung am Leben hielt, absorbiert hatten, aufgerieben worden. Wir reichten die Scheidung ein und trennten uns, ich fuhr wieder nach Hause und sah Marietta lange nicht mehr. Irgendwann hörte ich dann, dass sie wieder geheiratet hatte, einen Internisten von einem anderen Krankenhaus, Kinder hatte sie aber keine. In der Rückschau musste ich sagen, dass es nicht nur die Ehe war, die einem vieles abverlangte, es waren Mechanismen in der Gesellschaft am Werke, die etwas Zerstörerisches in sich bargen, sie reduzierten einen auf einen Funktionsträger, die Funktion, die man ausübte, ließ keinen Platz für Spontaneität oder individuelles Ausleben von Glücksansprüchen.
Der vordere Teil des Sees bedeutete für uns Erholung, Entspannung, Ruhe, Sorglosigkeit, man ließ die Dinge treiben und fühlte sich wohl. Oft lag ich als Kind in der Sonne und vergaß die Zeit, meine Mutter rief mich zu den Mahlzeiten, die einen Einschnitt in meinem Tagesablauf bedeuteten, das war die Gelegenheit, wo wir alle zusammensaßen und miteinander redeten. Ansonsten bestand überhaupt keine Veranlassung dazu, jeder hatte am See sein Refugium, in dem er nicht gestört werden wollte. Das Refugium meines Vaters war das Boot, mit dem er zum Fischen hinausfuhr, stundenlang, den Strohhut auf dem Kopf, der dann als leuchtend gelber Punkt in der Ferne zu sehen war. Vater saß still, in sich ruhend. Man sah als einzige Bewegung dann manchmal, wie Vater seine Angel hereinholte, die Angelschnur auf die Rolle spulte, und wenn er keinen Fisch abnahm, einen neuen Köder auf den Haken steckte. Dann warf er die Angel wieder aus und es war lange nichts mehr von ihm gesehen, außer dem gelben Strohhut.
Der Platz meiner Mutter war immer die Holzterrasse vor der Hütte, auf der sie es sich in den Terrassenmöbeln gemütlich machte. Wenn sie nicht auf der Liege lag und in der Sonne döste, saß sie am Tisch und löste Kreuzworträtsel, gelegentlich beschäftigte sie sich auch mit Sudokus oder sie nahm ihr Strickzeug und saß lange Zeit, um irgendwelche Strümpfe oder Pullover zu stricken. Wenn die Sachen für mich gedacht waren, rief sie mich ab und zu und ich musste zum Maßnehmen kommen. Ich stellte mich dann neben sie und streckte meinen Arm aus, an den sie ihre Strickarbeit hielt und deren Länge vermaß. Dann durfte ich mich wieder an meinen Sonnenplatz begeben und mich sonnen. Mutter strickte dann weiter und sprach kaum ein Wort. Manchmal summte sie alte Lieder vor sich hin, Lieder aus ihrer Kindheit.
Als mein Bruder noch mit zur Hütte fuhr, lagen wir beide in der Sonne oder wir plantschten im Wasser des Sees, das in Ufernähe angenehm warm war. Später dann, als ich allein mit meinen Eltern zur Hütte fuhr, lag ich lange Zeit in der Sonne, in Wassernähe, den Blick auf den See gerichtet oder ich richtete meine Augen auf das dunkle Grün des Nadelwaldes, der den See umgab. An manchen Stellen schmiegte er sich geradezu an das Wasser, es hingen dort Äste im See, so als wollten sie Wasser aufnehmen.
Der hintere Teil des Sees, der verwunschene Teil, war besonders dunkel, dorthin schien nie die Sonne, dort war der Nadelwald besonders dicht. Dort waren die Hänge, an denen der Wald stand, sehr steil, lediglich an unserer nördlichen Seite gab es eine Flachstelle, dort stieg das Gelände zwar auch an, aber nur sehr sanft. Die Hänge hatten sicher eine Höhe von dreihundert Metern, sie waren unwegsam, unerschlossen, man hätte sich hochkämpfen müssen. Es gab aber für uns gar keine Veranlassung, so etwas Anstrengendes zu betreiben. Ich beließ es zumeist dabei, mich in die Sonne zu legen oder schwimmen zu gehen, manchmal, wenn Vater nicht angelte, fuhr ich mit dem Boot hinaus, aber nie so weit, dass ich in den hinteren Seeteil geriet. In manchen Sommern, wenn es tagsüber nicht geregnet hatte, war der Weg zwischen Holzterrasse und See staubtrocken. Dann kamen die Sperlinge und nahmen Staubbäder an den Stellen des Weges, an denen sich der Staub aufgetürmt hatte. Sie steckten ihre Köpfe in den Staub und bewegten ihr Gefieder darin, dann schüttelten sie sich und schrien laut, wie vor Vergnügen. Wenn sie den Staub abgeschüttelt hatten, erhoben sie sich in die Luft und flogen davon.
Unangenehm war der Staub dann, wenn man aus dem Wasser kam und noch nass war, dann legte sich die vom Gehen aufgewirbelte Staubwolke auf die Haut und verschmierte dort. Man musste dann noch einmal ins Wasser, sich hinterher auf den Steg legen und warten, bis man getrocknet war, um dann leichten Schrittes zur Hütte zu laufen.
Diese Urlaubssommer hatten etwas von Materielosigkeit, von Unbeschwertheit, die Tage waren kaum spürbar, sie verflossen. Die Substanzlosigkeit übertrug sich auch auf unser Verhältnis zueinander, man nahm sich so gerade gegenseitig wahr, es wurde nicht viel geredet. Was ich so mitbekam, beschränkte sich der Umgang meiner Eltern untereinander auf das gemeinsame Essen, nie hatte ich sie Zärtlichkeiten austauschen gesehen, ob es nachts dazu kam, wusste ich nicht. Ich dachte in der Zeit, in der ich mich später allein an der Hütte aufhielt, oft an meine Aufenthalte mit Marietta, meistens liefen wir nackt an der Hütte herum und liebten uns, wenn wir gerade Lust dazu hatten, manchmal auf dem Steg, oft auf der Holzterrasse und sogar im Boot, wir waren völlig unbekümmert und vergaßen die Zeit um uns herum. Die Unbekümmertheit, die unsere Beziehung ausmachte, verschwand dann in dem Maße, in dem wir beide beruflich eingebunden waren, bis von ihr eines Tages gar nichts mehr vorhanden war, und wir uns trennten.
Ich sehnte mich nach den glücklichen Monaten in meinem Leben und ich war davon überzeugt, dass es Marietta genau so ging. Heute, mit dem zeitlichen Abstand, saß ich an der Hütte und fühlte mich wohl, auch allein, der Beruf schuf einfach die Notwendigkeit des Abschaltens, des Sich-Fallenlassens. Ab und zu telefonierte ich mit Marietta, sie machte auch am Telefon einen sehr geschäftigen und ausgelaugten Eindruck, sie war sicher als Chefärztin in viele Verpflichtungen eingebunden und es war ihr wohl auch die Möglichkeit genommen, sich auszuklinken. Ob sie mit ihrem Partner glücklich war, konnte ich nicht beurteilen, sie lebte das Leben von Millionen anderen, determiniert, ohne Ausweichmöglichkeit, aber tat ich das nicht auch?
Sicher, mein Fluchtpunkt, die Hütte, sie verlieh mir Flügel, auf denen ich dem Alltag entfliehen konnte, zumindest für die kurze Zeit meines Aufenthaltes. Ich war angekommen, hatte den Wagen in die Remise gestellt und zog mich nackt aus. So saß ich dann auf der Holzterrasse und schaute auf den See, in völliger Abgeschiedenheit und Stille. Wenn die Sonne am Spätnachmittag verschwand, um erst am fortgeschrittenen Vormittag des nächsten Tages für sieben Stunden wieder zu erscheinen, zog ich mir ein T-Shirt und ein Paar Shorts an. Manchmal kamen die Mücken uns stachen einen, ich hatte aus langjähriger Erfahrung aber einen guten Mückenschutz in der Hütte, den noch mein Vater besorgt hatte, ein überliefertes Rezept, nach dem der Mückenschutz angerührt wurde, er stank entsetzlich, half aber sehr gut.
Manchmal steckte ich abends den Grill an und briet mir ein Stück Fleisch, manchmal aß ich aber auch einfach nur ein Stück Brot mit einem Stück Käse. Wenn ich daran gedacht hatte, gab es zum Essen eine Flasche Bier, gelegentlich hatte ich auch Schnaps da, oftmals gab es aber auch nichts, dann begnügte ich mich mit Wasser, dem kühlen, sauberen Seewasser, das ich in großen Schlucken trank. Es floss in einiger Entfernung ein winziges Bächlein in den See, an dessen Ufer kurz vor seiner Mündung Schachtelhalme standen. Ich ging dann zumeist früh schlafen, die Fenster standen sperrangelweit auf und das Konzert der Waldvögel erschallte in unglaublicher Klarheit und Intensität, bis es mit einem Male abebbte und von den Vögeln nichts mehr zu hören war, es war dann nachts mucksmäuschenstill.
Einmal hörte ich vom hinteren Seeteil er ein großes Blubbern, wahrscheinlich war das eine Gasblase, die am Seegrund entstanden war. Ich schlief in der Hütte immer tief und fest und freute mich, morgens in aller Friedlichkeit zu erwachen. Ich zog mich dann aus und nahm ein Bad im See, etwas Herrlicheres hätte es kaum geben können. Ich ließ mich am Steg trocknen und setzte mich auf die Holzterrasse. Dort trank ich einen Tee und aß ein Brot, ich wartete, bis die Sonne über den Waldsaum stieg und auf die Hütte schien. Gelegentlich fand ich am Seeufer Spuren wie von Hunden, schenkte denen aber keine weitere Beachtung. Es waren breitere Tatzen zu sehen, die, wie es schien, vom hinteren Seeteil herstammten.
Ich hatte die spärlich ausgestattete Bibliothek in der Hütte bestimmt schon zweimal durchgelesen, ich brachte aber auch schon mal ein Buch mit, und so saß ich stundenlang am See und las. Hin und wieder wurde die wohltuende Ruhe durch das Blubbern von Gasblasen im hinteren Seeteil unterbrochen, ich hörte auch schon einmal Tierschreie von dort, sonst war es aber absolut ruhig.
Ich lebte regelrecht in den Tag hinein, ich zog mich manchmal bis zum Abend nicht an und sprang ab und zu in den See. Ich war dann immer sehr traurig, wenn meine paar Tage Auszeit beendet waren und ich wieder zurück unter Menschen musste. Ich befreite meinen Wagen von der Decke, in die ich ihn in der Remise gehüllt hatte, verschloss die Hütte und klappte die Fensterläden vor. Dann startete ich mein Auto und fuhr eine Stunde lang durch den dichten Wald in die Zivilisation zurück. Aber was hieß schon Zivilisation? Ich kam zu meinem Wohnblock und wurde am Parkplatz von unserem meckernden Hausmeister begrüßt, ich stieg aus, grüßte ihn, hörte mir einen Moment sein Gezeter an und ging dann ins Haus. Es umgab mich, seit ich den Wald verlassen hatte, die Geräuschkulisse des Alltags. Es begann damit, dass ich mein Autoradio anstellte und mich von den Belanglosigkeiten einlullen ließ, die der Sender verbreitete. Die Verkehrshektik machte mir auf der Schnellstraße anfangs Schwierigkeiten, man hupte mich an und zeigte mir einen Vogel, weil ich die linke Spur blockierte. Zu Hause schob ich mit dem Fuß die Zeitungen an der Wohnungstür zur Seite, ich öffnete den Briefkasten und entnahm ihm meine Post. Es hatte sich in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit eine Menge Post angesammelt, vieles war aber auch Werbung und wurde von mir sogleich entsorgt.
Wie von einem Automatismus getrieben stellte ich den Fernseher an und sah mir eine Nachrichtensendung an, ohne aber etwas Neues zu erfahren, ich hörte aber auch nur halb zu, es war die Rede von einem Kopenhagen-Gipfel und es wurde eine Rede Obamas zu Afghanistan erwähnt. Die Nachrichtensprecherin sah aus wie eine Puppe und veränderte während der ganzen Sendung ihre Haltung nicht, sie bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen, ihre Mimik wirkte aber steinern. Am nächsten Morgen musste ich wieder in mein Krankenhaus, wo ich inzwischen seit zwölf Jahren als Oberarzt arbeitete, viel Lust hatte ich nicht dazu, ich glaubte, dass man mir das in der letzten Zeit auch ansah. Es gab viele Kollegen, die mich mieden und ganz wenige, die das Gespräch mit mir suchten. Die Urologie leitete seit drei Jahren ein Chefarzt, der in meinen Augen ein aalglatter Konformist war. Er hatte die unschöne Eigenart, während der Visite, bei der immer acht Ärzte zugegen waren, seine Macht zu demonstrieren, besonders gerne tat er das im Beisein von Patienten. Nicht genug damit, dass er wie ein eitler Hahn vorneweg stolzierte, er ging mich dann auch direkt an: „Dr. Köhler, warum hat der Patient nicht......Dr. Köhler, ich hatte Sie doch gebeten......“.
Er sah mich dann immer sehr vorwurfsvoll an und wartete dann auf eine Antwort von mir, die ich ihm dann nie zufriedenstellend geben konnte. Ich bekam einen roten Kopf und schämte ich vor den anderen, der Chefarzt hatte dann seine Genugtuung. Man hatte mich bei der Besetzung des Chefarztpostens drei Jahre zuvor übergangen, ich wusste nicht, warum. Der neue Chefarzt war ein Externer, er war bestimmt vier Jahre jünger als ich. Meine Zukunftsperspektive war düster, bei der Vorstellung, noch zwanzig Jahre unter dem aalglatten Chef arbeiten zu müssen, der mir ganz offensichtlich nicht gewogen war, wurde mir fast schlecht, aber was sollte ich tun? Sollte ich mich an ein anderes Krankenhaus bewerben, ich wüsste nicht, dass irgendwo eine Chefarztstelle vakant wäre. Und einfach eine Versetzung an ein anderes Krankenhaus? Man würde mich fragen, warum ich mich denn versetzen lassen wollte. Meine Zukunft sah nicht rosig aus. Ich mochte mein Krankenhaus nicht, es war einer jener typischen Nachkriegsbauten, der schon äußerlich wenig Attraktivität aufwies. Die architektonische Blässe schien sich auf das Arbeitsklima zu übertragen, alle Mitarbeiter liefen herum wie graue Mäuse, freudlos und ohne inneren Antrieb. Wenn man sich vom Parkplatz dem Gebäude näherte, lastete der Bau wie ein Klotz auf der Seele, er erdrückte alle Lebensfreude und jegliche Energie. Die Mitarbeiter huschten wortlos aneinander vorbei und strebten ihrem Einsatzort zu, wo sie der Aalglatte erwartete, er war wie ein Sachwalter des Überkommenen, Grauen, Alten.
Schon die Luft, die einen nach Betreten des Baus umgab, war stickig und abgestanden, ja leicht säuerlich, man konnte sich nur mit Mühe vorstellen, wie Patienten in solch einer Luft genesen konnten, eher machte die Luft die Patienten noch kränker. Insgesamt nahm sich die Atmosphäre nicht gut an, sie hemmte mich in meiner Lebensentfaltung, über allem lag ein Hauch von Morbidität und Verfall. Was sich da an Unheil eines Tages über mir zusammenbraute, war dem ganzen Todgeweihten entsprungen, es lag als Wesensmerkmal in ihm begründet.
Eine Unachtsamkeit im Umgang mit einem Patienten führte zu einer drastischen Verschlechterung von dessen Allgemeinzustand, ich hatte vergessen, ihm seine täglichen Herztabletten zu geben, sodass er die Stationsschwester zu Hilfe rief, die wiederum nichts anderes zu tun hatte, als den Chefarzt zu informieren, der mich dann prompt zu sich bestellte. Da saß ich dann wie ein Sextaner beim Schulleiter, der Chefarzt machte mich herunter wie ein Spieß einen Soldaten, der eine Befehlsverweigerung begangen hatte und so kam ich mir auch vor. Es war sicher eine gravierende Verfehlung, dass ich dem Patienten sein lebenserhaltendes Medikament nicht gegeben hatte, rechtfertigte meine Fehlhandlung aber eine solch entwürdigende Maßregelung durch einen vier Jahre Jüngeren? Noch so eine Fehlhandlung und mir drohte die Entlassung, sagte der Aalglatte zu mir! Ich war wie vor den Kopf gestoßen, dachte aber gleich daran, wie es denn wäre, tatsächlich entlassen zu werden, ein Leben abseits der tristen Umgebung mit ihren überkommenen Riten und Hierarchiestrukturen führen zu können, aber das blieben Fantasiegespinste, wie sollte ich ohne Einkommen mein Dasein bestreiten, sollte ich von Sozialhilfe leben? Könnte ich mich in meinen Konsumgewohnheiten auf das Niveau meiner Studienzeit zurückentwickeln?
Ich dachte zu Hause lange über die Lebensalternative nach, lag bei laufendem Fernseher auf der Wohnzimmercouch und grübelte. Der Aalglatte war in meinen Augen ein einsamer Mensch, sein Leben war vorgezeichnet, es gab nichts, was aus eigenem innerem Antrieb heraus geschähe, er hätte keine Möglichkeit, entscheidend auf sein Leben einzuwirken. Aber wie sah das denn bei mir aus? Hatte ich denn wirklich die Gelegenheit, die Weichen in meinem Leben zu stellen? War ich nicht noch viel mehr Rädchen im Getriebe, als mein Chef? Ich schlief auf der Couch ein und wachte mitten in der Nacht wieder auf, zu müde, um aufzustehen und zu wach, um weiterzuschlafen. Ich goss mir einen Wkisky ein und kippte ihn in einem Schluck weg. Ich merkte, wie mein Blut den starken Schnaps bis in den entlegensten Winkel meines Körpers transportierte und dort für ein wohltuendes Kribbeln sorgte. Die besagte Wirkung blieb beim zweiten und dritten Whisky aus, ich wurde davon nur noch müder. Die Müdigkeit vermochte es aber nicht, mich in den Schlaf zu tragen, stattdessen schlug ich mir grübelnd die Nacht um die Ohren und war am Morgen wie gerädert. Ich überlegte kurz, mich im Krankenhaus dienstunfähig zu melden, verwarf den Gedanken dann aber wieder, duschte, machte mir einen starken Kaffee und fuhr zur Arbeit.
Und wieder begann einer jener tristen Tage in dem trostlosen Gemäuer, das einen so herunterriss. Als ich vor zwanzig Jahren mit Marietta dort anfing, kam und das beiden nicht so bedrückend vor. Wir waren jung und voller Enthusiasmus, wir wollten die Medizin auf den Kopf stellen und eckten schnell überall an, bis wir uns langsam dem System unterwarfen, was das allmähliche Ende unserer Beziehung bedeutete, wir liefen am Ende nur noch als die Hüllen unseres Selbst herum, wir agierten nicht mehr, sondern reagierten nur noch. Zu Hause sprachen wir kaum noch ein Wort miteinander. Wir tranken beide, anfangs rauchten wir auch noch, was wir uns aber zum Glück schnell wieder abgewöhnten. Je länger wir in der ausgefahrenen Tretmühle von Krankenhaus arbeiteten, desto mehr lebten wir uns auseinander, bis es am Ende nichts Verbindendes mehr gab, wir ödeten uns an.
Von daher war es Mariettas Glück, den Chefarztposten bekommen zu haben, für sie begann etwas Neues, wenngleich sich substanziell kaum etwas änderte, wenn sie in den gleichen Bahnen schwamm, wie der Aalglatte, dann sah es schlimm für sie aus. Ich hätte gern einmal Mäuschen gespielt und sie in ihrem Umfeld beobachtet, aber das wäre wohl kaum möglich. Wie krass war doch der Unterschied zu dem Leben, wie wir es einst geführt hatten! Neben unserer Jugend und Frische waren wir natürlich unerfahren, aber die Unerfahrenheit schützte uns auch vor dem Zugriff des Alltags, zunächst noch, bis später die Käseglocke der Routine über uns gestülpt wurde und alles Leben abtötete.
Der Alltag bekämpft die Triebe der Jugend und Du wirst vernichtet!
Es war eine schreckliche Zeit bis zum Wochenende, ich schleppte mich wie in Trance durch die Tage und schaute ständig auf die Uhr, wann endlich Feierabend wäre. Am Freitagnachmittag machte ich schon um 14.30 h Schluss, ich kaufte schnell ein paar Sachen ein, dachte auch an Bier und Schnaps und fuhr zur Hütte. Je mehr ich mich der Hütte näherte, desto mehr fühlte ich eine zähe, klebrige Masse von mir weichen, die mich zurückhalten zu wollen schien. Als ich in den Waldweg einbog, war ich wie erlöst, ich streifte mir im Auto meine Kleidung vom Leib und als ich an der Hütte ankam, hatte ich kaum noch etwas an. Ich fuhr in die Remise und warf die alten Decken über den Wagen. Dann drehte ich mich zum See und saugte das beglückende Bild in mir auf, das sich mir darbot, das mir mein Leben zurückgab und mich in meine Jugend zurückversetzte. Ich stand eine Zeit lang am Auto und ließ das Bild von mir Besitz ergreifen. Wenn mich ein Außenstehender so gesehen hätte, hätte er mich für einen verwahrlosten Penner halten müssen, ich stand da wie angewurzelt auf Strümpfen, in Unterhose und Unterhemd, völlig entrückt, völlig ab vom Weltlichen.
Ich wand mich dann langsam zur Hütte und fand sie unberührt. Ich öffnete die Fensterläden, ging hinein und riss alle Fenster auf, mein Leben hatte mich wieder. Nachdem ich mich ganz entkleidet hatte, ging ich schwimmen.
Es war schwer, jemandem beschreiben zu sollen, was es bedeutete, in das klare unschuldige Wasser zu steigen und sich den Schmutz vom Körper zu spülen. Dann legte ich mich zum Trocknen auf den Steg. Ich schaute zum Himmel hoch und sah eine Schar Wildgänse in V-Form nach Süden fliegen. Sie sahen meinen See, aus der Vogelperspektive, ich hatte ihn mir einmal mit „Google-Map“ angesehen, er lag als ovales Gebilde inmitten einer gigantischen Waldregion. Der vordere Teil des Ovals, also unser Teil, der der Hütte zugewandt war, war der größere, er war kreisrund und hatte einen Durchmesser von ungefähr vierhundert Metern, der hintere Teil war kleiner, er hatte einen Durchmesser von rund zweihundertfünfzig Metern. Der See war meine Auszeit-Exklave, ich hatte noch nie jemand anderen am See gesehen.
Während ich mich auf dem Steg sonnte und trocknete, vernahm ich wieder das Geräusch einer sich entladenden Gasblase im hinteren Teil, unheimlich mutete das an. Ich stand auf und lief zur Hütte, wo ich mich auf der Holzterrasse niederließ und sofort einschlief. Als ich wieder aufwachte, war die Sonne verschwunden und es wurde spürbar kühler, ich zog mir etwas Wärmeres über. Ich steckte den Grill an, trank einen Schnaps und ein Bier, ich war wieder bei mir, die teigige Zugkraft des Alltags hatte von mir gelassen, ihre Wirkung reichte nicht bis zum See, ich war frei. Warum konnte der Zustand nicht für immer anhalten? Alle belastenden und bedrückenden Gefühle waren von mir gewichen, es war eine Wohltat zu sein. Ich aß und trank und legte mich früh ins Bett.
Der Schlaf in der Hütte war unbeschreiblich, man übergab seinen müden Körper der Natur und ließ sie mit ihm machen, was sie wollte. Es war in erster Linie die würzige Luft, die dem Körper guttat. Ich schlief sehr früh und fest, alle Fenster und die Tür der Hütte standen auf. Es gab auch nicht den Hauch eines Sich-Wehrens gegen den Arm der Natur, der meinen Körper hielt und ihn sich regenerieren ließ. Es gab zu Hause Kräfte, die einen um den Schlaf brachten, Gedanken an die Arbeit, Verwobenheit in Alltagsprobleme. In der Hütte überließ man sich der Natur und ihren Helfern, man gab sich preis. Wenn ich aufwachte, meistens geweckt durch das Vogelkonzert aus dem Wald, das sich auf der Seeoberfläche verstärkte und zu Getöse anschwoll, das ich aber niemals als störend empfand, lag ich fast immer so, wie ich mich am Abend zuvor ins Bett gelegt hatte, ein Zeichen für vollkommen relaxten Schlaf. Wenn ich aufstand, war ich frisch, nicht so ermattet wie zu Hause. Ich zog mich dann aus und lief zum See, eine kurze Abkühlung und ich schwamm, ohne große Anstrengung, als trüge mich das Wasser von selbst, es bedurfte nur weniger Schwimmzüge, um mich zu bewegen. Ich lag auf dem Rücken und ließ mich treiben, das Vogelkonzert erfüllte die Luft. Dann legte ich mich wieder zum Trocknen auf den Steg. Ich schaute dabei in den Himmel, die Sonne stand fast im Zenit und wärmte ordentlich.
Das war der Moment, in dem ich über mich nachdachte, ich grübelte aber nicht, es war ein Nachdenken ohne viel Tiefgang, ich schlief sogar ein.
Das Boot, das immer am Steg lag, hatte etwas Wasser aufgenommen, es war sicher vierzig Jahre alt und in erstaunlich gutem Zustand. Ich schöpfte das Wasser aus dem Boot und lief dann zur Hütte hoch, um mir einen Tee zu kochen. Ich schnitt ein Stück Brot ab und aß etwas Dauerwurst dazu, ich war völlig nackt. Bei allem, was ich tat, gab ich mich der mich vereinnahmenden Natur hin, ich bot mich ihr an, ich passte mich ihr nicht nur an, sondern versuchte, mich ihr gefügig zu machen. Die Frage war, wie weit ich dabei gehen könnte, müsste ich mich selbst aufgeben, mich opfern? Ich würde sehen. Ich zog mir Shorts und ein T-Shirt an und ging zum Steg, wo ich mich in das Boot setzte, ich löste die Leine und ließ mich auf den See treiben. Ein sehr laues Lüftchen treib mich auf die Seemitte, ich hörte, wie ein ganz leichtes Plätschern an die Bordwand klopfte. Nach und nach frischte der Wind aber auf, ja, er wuchs zu einem Sturm an, der mich das Fürchten lehrte, er war wie aus dem Nichts entstanden, wie herbeigezaubert. Längst hatte ich meine Liegeposition im Boot aufgegeben und versuchte, aufrecht sitzend den Kahn zu rudern, das gelang mir aber nicht. Ich verlor vor lauter Hin-und Herwackelei im Boot ein Paddel, es glitt mir einfach aus der Hand und mit einem Paddel war ich manövrierunfähig. Noch nie hatte ich den See so wüten gesehen. Ich versuchte, die Hütte zu sehen, das gelang mir in der waagerecht peitschenden Gischt aber nicht, hohe Wellen schlugen gegen das Boot, Wassermassen ergossen sich in das Innere. Die auf mich niederprasselnden Wellen waren meterhoch, man hätte meinen können auf dem offenen Meer zu sein, ich wusste längst nicht mehr, an welcher Stelle des Sees ich mich befand. Das Wasser war schwarz und bedrohlich, als trennte es Himmel und Hölle, wie von einer wütenden Macht aufgewühlt tobten die Wellen um mich herum. Wer oder was mochte wohl die Ursache für die tosenden Gewalten sein?
Doch zum Denken hatte ich keine Zeit, ich hatte große Mühe, im Boot das Gleichgewicht zu halten und nicht über Bord gespült zu werden. Die Ruderbänke waren glitschig und auch der Bootsboden bot keinen sicheren Stand. Ich versuchte mit aller Macht, das Wasser aus dem Boot zu befördern, ein Gefäß hatte ich nicht, mir blieben nur die Hände. Ohne einen Anhaltspunkt am Ufer war es mir nicht möglich, meine Position zu bestimmen, die Gischt nahm mir die Sicht, ich glaubte aber, dass mich der Sturm in den hinteren Seeteil getrieben hatte. Inzwischen war auch das Tageslicht fast verschwunden, es umgab mich eine unnatürliche Dunkelheit, das Wasser um mich herum schien zu kochen, Wellenzungen griffen nach mir, als wollten sie mich zu sich ziehen, meine Bemühungen, das Wasser aus dem Boot nach draußen zu befördern, waren vergebens, ich kam gegen die hereinbrechenden Wassermassen nicht an. Also war es eine Sache von wenigen Augenblicken, dass das Boot mit mir unterginge und ich ertränke, denn an Schwimmen war in der keifenden Flut kein Denken. Plötzlich tat es einen gewaltigen Schlag und das Boot zerbrach an einer Felswand, so viel konnte ich noch erkennen, es musste das Steilufer im hinteren Seeteil sein. Ich bekam im letzten Moment einen Felsüberhang zu greifen und hangelte mich seitwärts, bis ich an eine Flachstelle des Ufers gelangte, ich hatte mir dabei Schürfwunden eingehandelt und eine schmerzhafte Knieverletzung zugezogen. Völlig erschöpft ließ ich mich auf das Uferflachstück fallen und gab Acht, dass ich nicht wieder ins Wasser gezogen wurde. Dann verlor ich das Bewusstsein, vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht wurde ich betäubt, ich konnte es im Nachhinein nicht sagen.