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Einleitung Die besten Zeiten kommen noch
ОглавлениеDie elektronische Revolution fordert jeden. Statt uns zu fürchten, sollten wir die Lehren ökonomischer Sternstunden beachten. Ein Aufruf zu mehr Zuversicht – und Auftakt einer neuen Serie.
Von Massimo Bognani und Sven Prange
Es ist eine seltsame Stimmung, ein Schwanken zwischen euphorischem Selbstbewusstsein und Zagheit, das sich durch die Diskussionen der führenden Politik- und Wirtschaftsköpfe immer dann zieht, wenn es um die Zukunft der Wirtschaft geht, der Digitalisierung. Der Chancen und Risiken, die die digitale Revolution für den Standort Deutschland beinhalten.
Da schwanken Unternehmensvertreter und Politiker einerseits berauscht vom Glück der nicht enden wollenden ökonomischen Glückssträhne Deutschlands (Bloomberg fragte vergangene Woche sogar: „Hatte jemals eine Volkswirtschaft eine solch glückliche Zeit wie Deutschland?“), andererseits aber bedrückt von den Ungewissheiten, die da kommen.
Sie denken dann an Fragen wie: Ist unser einzigartiger Mittelstand weiterhin die Zier der Ökonomie, wenn demnächst der Geist der digitalen Revolution die Leitwährung der globalen Industriegesellschaft wird? Wovon wollen wir leben, wenn die Weltgesellschaft demnächst in Google-Cars statt Daimlers durch Metropolen fährt? Und was macht der deutsche Tüftler demnächst, nachdem ihn intelligente Roboter aus der Werkshalle verdrängt haben?
Fragen, die wie ein Generalbass durch viele ökonomische Debatten dieser Zeit bummern. Und vor denen deutsche Politik wie Wirtschaft mit einer seltsamen Mischung aus Zaghaftigkeit und Planlosigkeit stehen.
Als ob es darauf nur jene dürftigen Antworten gäbe, wie sie derzeit gerne öffentlich debattiert werden: „Eine Kultur des Scheiterns schaffen“ (FDP-Chef Christian Lindner); ein „europäisches Silicon Valley“ etablieren (Ex-Wirtschaftsminister Philipp Rösler); „europäische Internetchampions“ aufbauen (EU-Digitalkommissar Günther Oettinger).
Dabei hilft die Erkenntnis, dass die derzeitige Phase des Umbruchs für den Kern der deutschen Wirtschaft keine neue Erfahrung ist. Dass die Herrenknechts und Würths, und wie sonst die Gründer des Mittelstandswunders alle heißen, zu Beginn ihrer Karrieren ganz ähnlich wirre Ausgangsbedingungen vorfanden.
Zweimal musste sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten die deutsche Wirtschaft neu erfinden. Das erste Mal zu Beginn der Industrialisierung. Und das zweite Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, als Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland einen moralischen wie wirtschaftlichen Bankrott zu verzeichnen hatten und schon deswegen wieder von vorn beginnen mussten. Zweimal hat dieser Neuanfang sehr stabile ökonomische Fundamente für die folgenden Epochen gelegt. Wenn wir jetzt also in einer Phase sind, in der die digitale Revolution und die große Krise des Finanzkapitalismus unser Wirtschaftssystem zum dritten Mal grundlegend verändern, hilft der Blick auf die Essenzen der ersten zwei Umwälzungen – auf die Sternstunden der deutschen Wirtschaft.
Es sind Sternstunden, die die Grundsteine dafür legten, dass Deutschland der große Gewinner der derzeitigen Globalisierung ist. Aus diesen Sternstunden kristallisieren sich zehn Tugenden heraus, die unser Wirtschaftssystem charakterisieren, nun da es sich heute auf den Weg in die Zukunft macht. Diese wollen wir in den nächsten Wochen analysieren und ihnen anhand der rekonstruierten Original-Ereignisse zu neuem Leben verhelfen.
Aufmüpfigkeit – das ist die Qualität des Friedrich List.
Statt sich der königlichen Autorität zu unterwerfen, macht sich der Beamte ein eigenes Bild. In einer der ersten Meinungsbefragungen der Menschheitsgeschichte erkundigt sich der junge Beamte 1817 bei Auswanderungswilligen nach deren Nöten – und setzt sich für ihre Belange ein. Ihr Leid erregt List 1817 so sehr, dass er nach Lösungen sucht. Er wird zum Vordenker des Liberalismus, zum Visionär der Deutschen Zollunion. Mit seinem Einsatz trägt List maßgeblich dazu bei, dass die vielen Zollschranken zwischen den Kleinstaaten auf deutschem Gebiet fallen, dass erstmals ein gemeinsamer Wirtschaftsraum entsteht.
Schlitzohrigkeit – das zeichnet Ernst Wilhelm Arnoldi aus.
Der Gothaer Kaufmann legte 1821 und 1827 den Grundstein fürs deutsche Assekuranzwesen, indem er aus einer Feuerversicherungs- und dann aus einer Lebensversicherungsgesellschaft den Gothaer Versicherungskonzern schuf. Mit einem kleinen Trick freilich: Waren bis dahin Versicherungen als reine Vereine auf Gegenseitigkeit verbreitet, wollte Arnoldi sie zu richtigen Unternehmen mit eigenem Kapitalstock ausbauen. Sein Problem: Erst, wenn ausreichend Geld aufgrund von Beitragszahlungen zusammen sei, würden auch neue Kunden glauben, dass die Versicherung im Schadensfall wirklich zahlen könnte. Deswegen nummerierte er die erste Policen um 100 Exemplare vor – und erschlich sich somit das Vertrauen seiner ersten Kunden, die glaubten, in einer bereits bestehenden Gemeinschaft auf 100 Versicherte zu stoßen.
Virales Marketing – das ist die Stärke des Alfred Krupp.
Der bis dato unbekannte Stahlgießer aus dem damaligen Entwicklungsland Deutschland riskiert 1851 auf der Londoner Weltausstellung eine dicke Lippe, weckt die Neugier an seinen Produkten. Wenige Tage später präsentiert er eine Weltsensation, schafft den perfekten Werbe-Coup. Der augenscheinliche Beginn der deutschen Aufholjagd gegenüber Großbritanniens Vormacht.
Gespür für die soziale Frage – das hebt Ferdinand von Stumm-Halberg heraus.
Der Saar-Industrielle erkennt in der wachsenden Gewerkschafts- und Sozialistenbewegung des 19. Jahrhunderts das Streben der Arbeiterschaft, am Wohlstand der Industriegesellschaft teilhaben zu wollen. Um dieses zu befriedigen, ersinnt er die paritätische Finanzierung von Sozialleistungen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer – die Blaupause für Bismarcks spätere Sozialreformen, die bis heute die Keimzelle für den paritätischen Charakter des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts bilden.
Wagemut – den hat Bertha Benz, denn sie ist die Braut, die sich traut:
Mit einer waghalsigen Probefahrt verhilft Bertha Benz der Erfindung ihres Mannes, dem Motorenwagen, zum Durchbruch. Sie bringt den Mut auf, den ihr Mann nicht hat, nämlich die eigene Erfindung auch zu nutzen – und wird zur ersten Fernfahrerin der Welt. Ein Lehrstück über die Früchte der Furchtlosigkeit.
Verhandlungstalent – so reüssiert der Bankier Hermann Josef Abs.
Auf der Londoner Schuldenkonferenz 1952 kämpft Deutschland um einen Schuldenschnitt. Es geht um 300.000 einzelne Schuldfälle, einen Schuldenberg von fast 30 Milliarden Mark, der sich durch die Weltkriege angehäuft hat.
Deutschland ist der große Gewinner der derzeitigen Globalisierung und meistert erfolgreich die digitale Revolution. Die Sternstunden der ersten zwei großen Umwälzungen – zu Beginn der Industrialisierung und nach dem Zweiten Weltkrieg – haben stabile Fundamente für die folgenden Epochen gelegt. Ein Überblick der zehn wichtigsten Charakterzüge unseres ökonomischen Systems.
Mit Demut, Humor und Hartnäckigkeit schafft es der langjährige Deutschbanker Abs, die Verbindlichkeiten um die Hälfte herunterzuhandeln. Die D-Mark ist plötzlich salonfähig, der Grundstein für die Exportnation Deutschland gelegt.
Geradlinigkeit – das ist dem gelernten Architekten Dieter Rams wichtig.
Nach dem Chaos, das er als Kind im Zweiten Weltkrieg in Wiesbaden erlebt hat, will er Ordnung in die Welt bringen. 1956 entwirft der Designer mit dem Dozenten Hans Gugelot 1956 einen Radio-Plattenspieler, der die Designwelt verändert – und die Firma Braun zur Weltmarke macht. Bis heute findet sich Rams’ Design in nahezu jeder zweiten Hosentasche: Apple hat sich bei seinen Produkten von den Entwürfen des Deutschen inspirieren lassen.
Kraft der Kooperation – die bringt 1969 die deutsche und europäische Luftfahrtindustrie dazu, sich in einem einzigartigen Gemeinschaftsunternehmen namens Airbus zusammenzuschließen. Allein hätte man den Kampf gegen die angelsächsische Konkurrenz aufgeben müssen.
Fantasie – die haben fünf IBM-Programmierer.
Denn 1972 entwickeln sie eine Software, für die es noch gar keine leistungsfähigen Computer gibt. Ihr Glaube an den Fortschritt wird belohnt. In einem Nylonfaserwerk nutzen sie die Chance ihres Lebens – und gründen den jüngsten deutschen Weltkonzern: SAP.
Und da ist schließlich Weltoffenheit – die zeigt Martin Herrenknecht 1995.
In dem Jahr beschließt er, einen ersten Tunnelbohrer nach China zu liefern, und damit stellvertretend für den deutschen Mittelstand eine neue Wachstumsquelle zu eröffnen: die Globalisierung des deutschen Mittelstandes.
Das also sind zehn Eigenschaften, die die Antwort auf die – wirklich nicht unberechtigte Frage des Philosophen zu Beginn jenes Berliner Abends – sehr klar erscheinen lassen. Die Wirtschaft braucht Macher, die bereit sind, Bestehendes zu hinterfragen und die mit den gewonnenen Erfahrungen Neues errichten wollen.