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1817 – Friedrich List: Die Auswandererbefragung von Heilbronn Im Auftrag Seiner Majestät

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Friedrich List ist unbequem. Schonungslos sagt er selbst dem König, was schiefläuft im Lande Württemberg. Das Leid Tausender Auswanderer erregt ihn so sehr, dass er nach Lösungen sucht. Er wird zum Vordenker der Deutschen Zollunion.

Von Sven Prange

Die Sondermission ist heikel. Seine Königliche Majestät hat sie persönlich angeordnet. Und der Innenminister hat im größtmöglichen Gehorsam seinen besten Mann ausgewählt. Und so ist es Friedrich List, der junge Rechnungsrat, der das Briefkuvert mit dem königlichen Siegel aufschlitzt. Stuttgart, 29. April 1817, 17 Uhr. Aufgeregt überfliegt der 28-jährige Beamte das Schreiben mit dem königlichen Auftrag.

Es hat Eile. Die Auswanderungswelle sorgt für Druck. Seit Januar 1816 haben 19.000 Menschen die Ausreise beantragt. Pächter, Bauern, Handwerker – sie alle wollen das kleine Königreich Württemberg verlassen. Am 1. Mai soll ein Transporter mit Auswanderern von Heilbronn losschippern, über den Neckar, auf den Rhein, bis zu den Atlantikhäfen der Niederlanden – und von dort geht es auf die große Überfahrt. Nach Amerika, ins Land der Freiheit und des steigenden Wohlstands.

„Seine Königliche Majestät haben sich zu dem Befehle gewogen gefunden, dass hierüber nähere Untersuchung durch Vernehmung der Auswanderer eingeleitet werden soll.“ Das steht in dem Brief, der List erreicht hat. Und, falls möglich, solle der Regierungsrat die Auswanderungswilligen „durch angemessene Belehrung“ gleich von ihrem Vorhaben abbringen.

König Wilhelm I. läuft das Volk davon.

Eine Ohrfeige für den Oberamtmann

Ein Grinsen huscht über Lists bubenhaftes, von franseligen Koteletten gerahmtes Gesicht. Innenminister Karl von Kerner scheint ihm wohlgesonnen. Wieder ein Sonderauftrag für das junge Talent. Wie vor einem Jahr, als er die Verwaltung seiner Heimatstadt Reutlingen prüfen sollte. Die Bürger der einst unabhängigen Reichsstadt hatten es nicht verkraftet, fortan von Oberamtmann Veiel verwaltet zu werden, diesem ihrer Meinung nach korrupten und inkompetenten Autokraten. List prüfte seine Verwaltung schonungslos. Da halfen auch die Proteste Veiels nichts, List sei doch als gebürtiger Reutlinger parteiisch. Der Nachwuchsbeamte List schlug vor, die Buchführung zu vereinfachen, ausstehende Steuern sofort einzutreiben und verlustbringende städtische Betriebe zu verkaufen. Eine Ohrfeige für den Oberamtmann. Veiel wurde strafversetzt – unter dem Jubel der Reutlinger.


List-Litographie: Trotz aller Widerstände – seine Ideen finden Gehör. (Quelle: Sammlung E. Wendler)

Zum Dank bekam List eine Festanstellung als Rechnungsrat und ein ansehnliches Monatssalär von 1200 Gulden.

Jetzt also Heilbronn. Einmal mehr ist Lists kritischer Blick gefragt. Am frühen Morgen passiert er den Fleiner Torturm, eilt durch die Fleiner Straße, vorbei an der Kilianskirche, durch die Kirchbrunnenstraße zum Brückentor, in die dicht bebaute Altstadt. Enge Gassen, schiefe Fachwerkhäuser, kleine Marktplätze. Ein beschauliches Städtchen von weniger als 10.000 Einwohnern.

Einzige Hoffnung: Amerika.

Bevor er seine Mission beginnt, meldet sich der Rechnungsrat beim Oberamt der Stadt Heilbronn, mit dem königlichen Kuvert wedelnd. Ordnung muss sein. Zwei Einheimische begleiten ihn zum Hafen.

Als wolle sie sich anschauen, welch Unheil sie über Württemberg gebracht hat, steigt an diesem Aprilmorgen über dem Hafen die Sonne auf. Endlich Sonne. Ein ganzes Jahr hat sie sich nicht blicken lassen. „Achtzehnhundertunderfroren“ hatten sie das düstere, eisige Jahr 1816 geschimpft. Die Getreide- und Kartoffelernte war ausgefallen; es folgte die große Teuerung. Brot kostete ein Vermögen. „Herr, gib uns täglich Brot aus Gnaden immerdar. Vor Mangel, teurer Zeit uns fernerhin bewahr“, beteten die Menschen. Es half nichts. Vor allem die Arbeiter mussten ihre bescheidenen Besitztümer verkaufen, um zu überleben. Zehntausende verarmten völlig. Ihre einzige Hoffnung: Amerika.

Wie wimmelnde Ameisen laufen Hunderte Menschen vor dem Heilbronner Hafenkai umher. Voll bepackte Pferdekarren knarzen über das Kopfsteinpflaster. Ächzend hievt der hölzerne Kran unentwegt Fracht auf die Schiffe. Auf dem Hafenvorplatz hausieren Menschen zwischen Habseligkeiten, andere drängen schon auf die Schiffe.


Der Hafen in Heilbronn: Von hier aus wanderten viele Menschen nach Amerika aus. Hier befragte Friedrich List Hunderte zu ihren Motiven. (Quelle: Stadtarchiv Heilbronn)

Insgesamt 600 bis 700 Württemberger bereiten sich auf die lange Reise vor. Acht Kähne haben am Ufer festgemacht. Bereit für die Abfahrt in 48 Stunden.

Das wird ein Wettrennen. Immerhin ist List als Journalist, als der er sich nebenher versucht, das Befragen von Menschen nicht fremd. Er quartiert sich direkt am Hafen ein, im Gasthaus „Zum Kranen“.

Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit

Gleich vor seiner Bleibe werden Auswanderungswillige ins Verzeichnis aufgenommen und geben ihre Fracht auf. Check-in ins gelobte Land. List packt einen Mann bei der Schulter, beugt seinen pausbäckigen Wuschelkopf vor, redet mit ruhiger Stimme. Er bitte um Entschuldigung, im Namen der Königlichen Majestät. Er sei aus Stuttgart angereist. Keineswegs sei gemeint, der Auswanderung irgendein Hindernis in den Weg zu legen. Es gehe lediglich um eine Erkundung der Gründe.

Nach einigem Zögern spricht der Auswanderer. Jakob Strähle, Zimmermann aus Eggolsheim, Oberamt Ludwigsburg, verheiratet, drei Kinder.

Offenherzig, so bittet List, solle Strähle die Ursachen schildern, warum er sein Vaterland verlassen wolle, um in ein entferntes, noch nicht entwickeltes Land zu ziehen.

Zum ersten Mal wird Strähle nach seinem Befinden gefragt, von offizieller Stelle. Der Zimmermann lässt sich nicht lange bitten. Keinen Verdienst habe er, klagt Strähle. Dazu noch dieser ständige Druck. „Wir mögen klagen, wo wir wollen, so finden wir kein Recht. Die Abgaben sind eben zu groß. Anno 1811 haben wir dem König die Straßenkosten vorschießen müssen, aus unserem Beutel, und man sagte uns, es werde wieder zurückbezahlt. Jetzt hören wir, der Amtspfleger, der die Kasse verwaltet, habe das Geld schon vor zwei Jahren erhalten und treibe es um.“

Strähles Stimme bebt. Als sei ein Damm gebrochen, sprudelt der aufgestaute Verdruss ganzer Jahre aus ihm heraus. Die Getreideabgabe zum Beispiel. Dieses Frühjahr habe man sie ihm gemacht. Ungeachtet, dass er selbst überhaupt keine Güter besitze. Als er dem Bürgermeister und dem Schuldheiß, dem städtischen Schuldeneintreiber, vor der ganzen Gemeinde klagte, er selbst habe seit Monaten kein Mehl mehr, habe es nur geheißen: „So ist der Befehl. Und wenn ihr nicht liefert, so schicke ich euch den Presser!“

Und dann diese ständigen Demütigungen. Bei den Beamten höre man nichts als Schimpfwörter. „Flegel“ sei noch das mindeste. Bei der Eintreibung der Steuer und bei Straßen- und anderen Verträgen sei der Beamte immer der Unternehmer, nehme den Bürgern das Brot vor dem Munde weg. Strähle, der frustrierte Zimmermann, redet sich in Rage, er holt mit seinen Pranken aus, schlägt durch die Luft. „Er lässt durch seinen minderjährigen Sohn, der nicht verheiratet ist, draufschlagen“, schreit Strähle, „und wenn ein anderer Bürger draufschlägt, ist er in Verdammnis.“

Mehr als hundert Auswanderer befragt der als Sonderbotschafter eingesetzte List an den kommenden Tagen. Nicht nur in Heilbronn. Auch in Neckarsulm und Weinheim. Was er hört, stimmt ihn nachdenklich. Korrupte Beamte allerorten. Autokratisch, unehrenhaft, unfähig. Geschichten von Despoten, die ganze Städte unter sich aufteilen. Von Beamten, die Spenden des Königs für die Hungerleidenden, höchstbietend verscherbeln.

Gleichzeitig schmelzt die große Teuerung die Einkommen der Bürger dahin – verschlimmert durch Gemeindesteuern, Kirchenzehnten, Abgaben. Schließlich fordert auch noch der Adel seinen Tribut. Dessen Wildschweine für die Jagd zerstören die Felder der Bauern. Eine Entschädigung gibt es nicht. Selbst das Sammeln von Feuerholz in ihren Wäldern verbieten die Aristokraten. So unsicher das Leben des einfachen Volkes, so sicher ist ihm nur eines: die Willkür vor den Gerichten. Auch hier hat die Korruption Einzug gehalten.

Der Mangel an Freiheit als Grundübel

Kaum ist List an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, schreibt er seinen Abschlussbericht. Stuttgart, der 7. Mai 1817. Mit spitzer Feder prangert er die „mangelhaften Institutionen des Staates an“. Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit. Als Medizin schlägt er vor, die Macht der Feudalherren zu beschneiden. Keine leicht bekömmlichen Worte, keine einfache Rezeptur, die List seinem Monarchen, König Wilhelm I., da serviert. Und damit nicht genug: Die ganze Gemeindeverwaltung müsse neu geordnet werden, schimpft List nach der Expedition in ein geknechtetes Land.

Doch es gibt ein übergeordnetes Übel. Wenn er, so schreibt List, die Resultate seiner Untersuchung in einen Blick zusammenfasse, so gebe es eine Grundursache für die Auswanderung: „Übelbehagen, das heißt Druck, Mangel an Freiheit, in ihren bisherigen Verhältnissen als Staats- und Gemeindebürger.“

Der Mangel an Freiheit als Grundübel. Ein Motiv, das den ehrgeizigen Beamten nicht mehr loslassen wird. Geprägt von den Armutsbefragungen im Jahr 1817 wird List ein Vordenker des Liberalismus. Wenig später überträgt er die Denkweise auf die Wirtschaft. Er wird Mitgründer des Allgemeinen Deutschen Handel- und Gewerbevereins. In einer Petition von 1819 fordert er vor der Bundesversammlung einen gemeinsamen deutschen Binnenmarkt.

Die Schranken der 39 Einzelstaaten, die Händlern auf deutschem Grund das Leben erschweren, sollen fallen. „Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen“, heißt es in der Philippika des einstigen württembergischen Beamten.

Jahrzehntelang wird Friedrich List für seine Vision kämpfen. So wie der gemeinsame Binnenmarkt die Geschäfte in Europa stimuliert, so sorgte das Ende der Kleinstaaterei vor fast 200 Jahren auf deutschem Gebiet für ökonomische Kraft. Wegen Verleumdung der Regierung und Verletzung des Pressegesetzes sollte der glühende Patriot ins Gefängnis. Mit seiner Auswanderung in die USA 1825 entging er der Strafe. In den Staaten war er Farmer, Kohleförderer, Zeitungsredakteur, Eisenbahnpionier.

Trotz aller Widerstände – Lists Ideen finden Gehör. Am 1. Januar 1834 tritt der Deutsche Zollverein in Kraft. Der erste gemeinsame deutsche Wirtschaftsraum ist geboren.

Und heute?

Über 181 Jahre nach Inkrafttreten seines Herzensprojektes ist Vordenker Friedrich List den meisten Menschen in Deutschland weitgehend unbekannt. Oftmals werden sein Name und seine Lehren mit Schutzzöllen und Protektionismus in Verbindung gebracht – und gelten manchem Experten als historisch überholt.

Dabei nimmt List in der deutschen Geschichte einen wichtigen Platz ein – den des Wegbereiters des Deutschen Zollvereins. Zwar hat er an den Verhandlungen, die zum Zollverein führten, nie direkt teilgenommen. List hat aber öffentlich wie kein anderer für den Zollverein geworben, mit seinen Ideen und Lehren die Freihandelsdebatte befeuert.

An Neujahr 1834 trat der Deutsche Zollverein schließlich unter preußischer Führung in Kraft. Norddeutsche und süddeutsche Staaten schlossen sich zusammen und bildeten so im Herzen Europas, ganz nach Lists Vision, eine Freihandelszone von 30 Millionen Einwohnern. Zölle und Abgaben, die den Warenaustausch bis dato behindert hatten, wurden eingeschränkt oder fielen gleich ganz weg. Ökonomisch war der Zusammenschluss schnell ein Erfolg. Vor allem Produkte aus Preußen und Sachsen fanden ihren Weg vermehrt in den Süden. Und auch bei den Zahlungsmitteln kam man sich näher: Die Staaten entwickelten ein Taler-Gulden-System.

Dank des Zollvereins erwuchs aus vielen Kleinstaaten erstmals eine gemeinsame Wirtschaftszone. Der Verein sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung und bildete den Grundstein für die Einigung Deutschlands 1871. Manchem gilt dieses seltene Beispiel gelungener Integration sogar als Referenzpunkt der europäischen Integration.

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