Читать книгу Eine von Zweien - Hannah Albrecht - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеIch telefonierte mit Ben, als Beth am nächsten Morgen an der Tür klingelte.
„Kleinen Moment noch, komm rein, ich telefoniere nur noch zu Ende.“
Ben hatte nur kurz angerufen, um zu erzählen, wie es bei seiner Konferenz lief und wie nett es gestern mit seinen Kollegen war. Er war drauf und dran gewesen, ins Detail zu gehen, aber ich konnte ihn vorher noch abwürgen. Ich hatte gerade keinen Kopf für diese Dinge. Er hatte auch nachgefragt, wie es bei mir lief. Aber ich hatte keine Lust gehabt, ihm alles zu berichten. Wo sollte ich auch anfangen? Er hatte Beth zwar getroffen, aber zu erklären, wer sie war und was mir gerade passierte, das wäre zu viel verlangt. Für mich, um es zu erzählen, und für ihn, es zu begreifen. Ich hoffte, glaube ich, immer noch, dass der Spuk bald vorbei sein und er gar nichts davon mitbekommen würde.
Als ich aufgelegt hatte, sah ich, wie Beth es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Ich setzte mich dazu und war gespannt, was sie mir zu sagen hatte. Ich glaube zumindest, dass ich gespannt war. Vielleicht war ich auch einfach nur angespannt. Ich versuchte mich durch ein Lächeln und einen tiefen Atemzug selbst zu beruhigen.
„Na dann, was sind deine Erkenntnisse über mich?“, sagte ich betont selbstsicher mit ironischem Nachhall. Ich versuchte, das nervöse Zucken meines Augenlids unter Kontrolle zu bringen.
„Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass dein Verstand bzw. du selbst dir verboten haben zu leben. Ja, du hast oberflächlich alles betrachtet, was man sich wünschen kann. Aber wie sieht es aus, wenn ich ein bisschen tiefer grabe? Fangen wir bei deinem Job an. Bitte beantworte mir folgende Frage: Was magst du an deinem Job?“
Nicht schon wieder, was wollte sie denn jetzt schon wieder? Wollte ich ihr nicht die Fragen stellen und sie mit ins Boot holen, um herauszufinden, wo sich unsere Wege getrennt hatten. Gut, ich werde ihre Fragen beantworten. Vielleicht kann ich dann auch gleich meine beantwortet bekommen. Also los!
„Was ich an meinem Job mag: dass ich gebraucht werde, dass ich gut bin in dem, was ich tue, und dass ich Komplimente für meine Schnelligkeit bekomme. Und eigentlich mag ich alle meine Kollegen.“
„Und du hast das Gefühl, der Job erfüllt dich und bringt dich in deinem Leben weiter?“
Diese pseudospirituelle Sichtweise lag mir überhaupt nicht: brachte mich mein Job weiter? Wo sollte er mich denn hinbringen? Nein, er brachte mir Geld und eine Aufgabe, mehr kann man ja wohl von einem Job nicht verlangen. Nur sehr wenigen Menschen bringt der Job noch mehr als das.
„Er bringt mir Geld und eine Beschäftigung und Firmenreisen und Anerkennung.“
Sie schaute mich musternd an, sie überlegte, ob sie mir die nächste Frage stellen wollte oder nicht. Entgegen meiner Hoffnung öffnete sie ihren Mund und stellte die Frage.
„Erinnerst du dich, als du mit Lukas in der Höhle hinten im Garten gesessen bist und ihr euch als kleine Kinder geschworen habt ...“
„… nie so zu enden wie die Erwachsenen, nie herumzulaufen wie die grauen Männer bei Momo?! Ja, ich erinnere mich. Ja, aber nicht alle schaffen es und haben die Kraft als Erwachsene, nicht in diesen Sog mit hineingezogen zu werden.“
Was sollte der Quatsch? Als Kind hat man Träume und Vorstellungen, die nicht immer der Realität entsprechen.
„Lukas hat sich bis heute an eure Absprache gehalten. Weißt du, was er jetzt macht?“
Mir blieb die Luft weg. An Lukas hatte ich wirklich seit Jahren nicht mehr gedacht. Ich hatte mir nie erlaubt, diese Frage zu stellen, ich wollte mir nie erlauben, diese Frage zu stellen. Er gehörte in die Vergangenheit. Ich hatte ihn komplett aus meinem Leben verbannt, und ich war mir immer sicher, so würde es bis zu meinem Tod auch bleiben.
„Nein, Beth, ich weiß nicht, was er jetzt macht und wo er ist. Ich hatte mich damals dazu entschlossen, ihn aus meinem Leben zu streichen, und das war’s. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich es auch gerne dabei belassen.“
Sie ignorierte mich und sprach einfach drauf los.
„Soweit ich weiß, leitet er eine Agentur in München und ist sehr erfolgreich. Er hat den Ruf, sehr innovativ und gegen die Norm zu arbeiten. Als er die Firma gründete, schlug seine ganze Familie die Hände über dem Kopf zusammen. Er musste von Anfang an kämpfen. Aber es hat sich wohl gelohnt. Wie es scheint, hat er sich immer an das einander gegenseitig abgenommene Versprechen erinnert. Was ist mit dir?“
Sie schaute mir direkt in die Augen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Was interessierte mich Lukas’ Erfolg? Sollte ich mich jetzt für ihn etwa noch freuen?
„Lukas, tzzz, ja, der hat immer gemacht, was er wollte. Das durfte ich am eigenen Leib erfahren.“
Eigentlich hatten wir schon alles gemeinsam geplant, und er hat es mit Füßen getreten. Einen Tag vor der Zeugnisübergabe ist er zu mir gekommen und sagte, wir müssten reden. Dumm und unerfahren wie ich war, dachte ich, wir würden über unsere Pläne sprechen. Nein, er hat mir mitgeteilt, dass er nach Australien gehen würde. Alleine! Er hätte dort Verwandte. Er würde dort erst mal anfangen zu arbeiten und dann von Australien aus die Welt bereisen. Ich war geschockt, ich schrie ihn an: ich würde ihn nie wieder sehen wollen ... und er sollte auch nicht versuchen, mich nach der Reise zu kontaktieren, weder per E-mail, noch über meine Familie. Ich wollte mit so einem Menschen nichts mehr zu tun haben. Auf keinen Fall! Ich gab auch meiner Familie die Anweisung, mir nie wieder etwas über ihn zu erzählen. Und von da an hütete ich mich, jemals wieder jemandem zu trauen. Er hat mich einfach sitzen lassen. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander geredet haben. Anfangs hatten alle immer mal vorsichtig versucht, mir Informationen über ihn zukommen zu lassen; aber das gewöhnte ich ihnen ganz schnell ab. Ich hatte ein Gespräch mit meinem Vater, in dem er mir vorschlug, ich sollte doch eine kleine Auszeit von allem nehmen. Das klang gut. Einfach weg von der ganzen Demütigung! Er arrangierte bei einem Partner ein Praktikum in einer Firma für Wirtschaftsprüfung in Berlin. Alles, womit ich bis dato noch nicht in Kontakt gekommen war, alles, was mich nicht an Lukas und mein vorheriges Leben erinnerte, war willkommen. Ich ging nach Berlin, machte das Praktikum und schrieb mich an der Uni ein. Ich verbannte alles aus meinem Gedächtnis, was mit Lukas zu tun hatte, und das war quasi mein ganzes Leben in Nürnberg. Dazu gehörten auch unsere Freunde. Ich wollte mich nie wieder an ihn erinnern und vor allem nicht an irgendwelche bescheuerten Versprechen, die ich mit ihm geschlossen hatte, mit jemandem, dem man nicht vertrauen konnte. Was brachte es, diese Erinnerungen nun wieder hochzuholen. Als ich aufblickte, merkte ich, wie Beth geduldig wartete. Sie hielt mir eine Taschentuchpackung hin. Ich hatte diesen Teil meiner Erinnerungen gut verschlossen gehabt. Jetzt kamen die ganzen Gefühle hoch. Mir liefen ungehemmt die Tränen über die Wangen, und ich konnte sie einfach nicht stoppen. Ich hasste es, wenn ich keine Kontrolle über meine Tränen hatte. Es machte mich immer nervös, wenn ich mich oder eine Situation nicht unter Kontrolle hatte. Als ich aufstehen wollte, um uns etwas zu trinken zu holen und mir etwas Luft zu schaffen, hielt Beth mich auf. Ich hoffte, Beth hätte Erbarmen und würde mir eine Verschnaufpause gönnen, aber nicht die liebe Beth. Sie hatte schon gleich die nächste Frage parat.
„Wo wir gerade an dieser Stelle sind, ich habe noch eine Frage: was war das letzte Bild, das du gemalt hast? Ich frage es dich jetzt, weil ich befürchte, dass du alles wieder in die Kiste verpackst, mit Ketten verschließt und in tiefste Tiefen versenkst.“
Jetzt war auch alles egal, ich konnte ebenso gut versuchen, mich zu erinnern. Und dann sah ich es plötzlich genau vor mir. Blau, gelb – eine schemaartige Welt und dann unsere beiden Gesichter. Es sollte unser Vorhaben darstellen, und ich wollte es Lukas nach der Zeugnisausgabe überreichen. Ich hatte mir all die Mühe gemacht, hatte es in seinen Lieblingsfarben gehalten. Ich wollte es ihm symbolträchtig überreichen. Aber es kam nie dazu. Die Tränen bahnten sich mit einer ungeahnten Kraft ihren Weg. Ich hatte keine Chance, ich griff zu einem Taschentuch. So ein Mistkerl! Auch nach so vielen Jahren konnte mich allein der Gedanke an die Situation rasend machen.
Zum Glück ließ nun auch Beth Gnade walten.
„Es ist ok, ich habe gespürt, was du gedacht hast, du musst es nicht noch einmal sagen.“
Ich war Beth so dankbar. Ich hatte auch keine Kraft mehr, meine Erinnerungen laut auszusprechen. Ich hatte nie wieder in meinem Leben dieses Gefühl gehabt. Mein Inneres hatte sich damals zusammengezogen, bis ich nicht mehr atmen konnte. Alles verkrampfte sich, ich dachte, ich werde niemals wieder normal atmen können. So hatte ich daraufhin beschlossen, mich für immer vor diesem Gefühl zu schützen. Ich würde mir das nie wieder antun lassen. Ich entschied mich also für das Praktikum. Zahlen waren für mich zwar immer etwas Langweiliges gewesen, aber die Abwechslung habe ich dankend angenommen. Hauptsache, nichts, was mich an irgendetwas von früher erinnerte. Was folgte, wussten wir beide: ich ging nach Berlin, brach den Kontakt mit allen Freunden ab und besorgte mir eine neue Telefonnummer. Ich hatte komplett neu in Berlin begonnen. Ich habe sogar meinen Spitznamen von damals abgelegt, ich wurde von Beth zu Lissi. So war das, und jetzt bin ich hier. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich schaute Beth an. Alles machte wieder Sinn! Ich musste die Erinnerungen schnell wieder wegschieben. Es reichte!
„Du bist also Beth geblieben? Du bist also die Gegen-Lissi?“ Ich erinnerte mich an meinen gestrigen Gedanken. Die perfekte Ablenkung. Jetzt konnte ich die Fragen stellen. Ich sortierte meine Gedanken, wischte mir die Schminke aus dem Gesicht und freute mich auf Beth’ Ausführungen.
„Ich denke, irgendwie so lässt es sich beschreiben. Ich bin den geplanten Weg weitergegangen, auch ohne Lukas, den Weg, den du, den wir uns vorgenommen hatten. Es war ein sicherer Weg, den du gewählt hast. Manchmal habe ich mich auch nach Unbekümmertem gesehnt. Nach einem Weg, der vorgeplant und anerkannt war. Du bist sicher den einfacheren, den sicheren Weg gegangen. Vor allem in der Zeit, in der ich mich ganz alleine gefühlt habe, während der Auseinandersetzung mit unserem Vater. Er hätte es auch sehr gerne gesehen, dass ich erst was Vernünftiges lerne, bevor ich mich um die „brotlose Kunst“ kümmere. Da hätte ich jemanden an meiner Seite gebraucht. Da war ja sonst immer Lukas, der mir beistand. Auf den konnte ich nun nicht mehr zählen. Zum Glück hatte ich ja noch die Freunde. Die waren mir immer eine Rettung.“ Beth seufzte und wurde still.
Mir wurde ganz schwindelig. Ich bekam also die Chance, mein Leben anzuschauen. Also das Leben, wie es gewesen wäre, wenn ich einen anderen Weg gegangen wäre. Genau an dieser Stelle. Also war das der Bruch, der Anfangspunkt?
„Hast du also noch Kontakt zu Lukas?“ Mir wurde ganz flau im Magen, nachdem die Worte meine Lippen verlassen hatten. Im gleichen Moment wollte ich die Antwort schon gar nicht mehr hören. Die Wunde war heute schon genug aufgerissen worden. Warum noch Salz hineinstreuen? Aber das machte ich ja gerne, immer noch mal draufhauen! Wie war doch die Bezeichnung gleich für diese Art von Menschen? Masochisten. Zu dieser Gruppe musste ich wohl gehören. So eine musste ich sein.
Beth sah nach unten, anscheinend ging ihr das Thema auch nahe. Sie antwortete mit leiser Stimme.
„Nein, nicht direkt. Ich bin ihm danach nie wieder begegnet. Wir, du und ich, haben da gleich gehandelt. Lukas und ich haben aber quasi das Sorgerecht für unsere Freunde geteilt. Er hatte zwar versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber darauf bin ich nicht eingegangen. Die Informationen über ihn habe ich durch unsere Freunde und durch die Szene, in der wir beide verkehrten, bekommen. Ich wusste ungefähr, wo er unterwegs war. Aber ich war auch nicht die ganze Zeit in Nürnberg oder Umgebung. Ich hatte ja auch nach dem Gespräch die Heimat verlassen, habe in den verschiedenen Ländern und Kulturen meine Wunden heilen lassen und habe mich mit Inspiration angereichert, habe Europa bereist und an den verschiedensten Universitäten Kunst und Malerei studiert. Aber ich musste immer wieder an ihn denken. Die erste Liebe ist nicht so leicht zu vergessen. Vor allem, wenn sie so lange gehalten hat. Zum Glück hat der Schmerz mit der Zeit nachgelassen, und es kamen auch immer wieder gute Erinnerungen dazu. Jetzt kann ich auch sagen, keine andere Liebe verursacht solche Schmerzen, wie die erste. Alle Männer danach, die mir das Herz gebrochen haben, der Trennungsschmerz, hatten nicht diese Intensität. Lissi, ging es dir nicht ähnlich?“
Ich brauchte nicht lange nachdenken, bevor ich antwortete. „Ich habe nie wieder jemandem die Macht über mich und mein Herz gegeben. Ich bin doch nicht selbstzerstörerisch.“ Ich haute zwar gerne auf mir herum, aber solche Schmerzen würde ich mir nicht noch einmal antun. Es gab Grenzen.
„Außer jetzt Ben?“ Beth grinste mich an.
Außer Ben, nein, auch dem nicht. Ich fasse doch auch nicht wieder auf eine glühend heiße Herdplatte, wenn ich mir dabei schon einmal die Hände verbrannt habe. Dann weiß ich vorher, dass ich mich dabei verbrenne. Also, warum sollte ich mich in Herzensangelegenheiten anders verhalten. Das schien mir unlogisch.
„Mit Ben ist es anders. Wir respektieren uns auf ganzer Linie. Er würde mir nie wehtun, und er ist so lieb. Wir verstehen uns super. Wir geben uns die nötigen Freiräume, und alles läuft gut. Er ist mein Vertrauter, aber sollte es hart auf hart kommen, dann würde ich ohne weiteres ohne ihn auskommen können! Das hört sich jetzt sehr hart an, aber ganz so ist es nicht gemeint. Ich habe einfach gelernt, dass ich mich auf nichts verlassen kann. Also muss ich darauf achten, dass ich auch immer alleine klar komme. Also, bei uns ist alles einfach super, ok?!“
„Alles klar!“ Beth verzog das Gesicht. Ich war mir sicher, dieser Gesichtsausdruck gehörte nicht zu meinem Repertoire. Den hatte sie sich angeeignet, nachdem wir unterschiedliche Wege gegangen waren.
„Lissi, was sind deine Träume? Hast du irgendetwas, was du noch unbedingt machen willst? Etwas, was du schon lange machen wolltest?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und wie alles ist. Es ist immer so wie erwartet, und das mag ich auch. Alles ist berechenbar und dadurch kontrollierbar. Für dich hört sich das vielleicht wie eine öde Bestrafung an, aber für mich ist das Sicherheit. Sicherheit, dass ich nicht von plötzlichen Veränderungen überrascht werde.“
„Aber Lissi, Unsicherheiten und Risiken, das nennt man doch Leben! Es ist nicht alles vorausplanbar und kontrollierbar. Es gibt so viele Varianten, die du alle nicht vorhersehen kannst.“
„Ich glaube, man kann sehr viel planen. Die paar Dinge, die nicht planbar sind, sind erträglich.“
„Ok, ok!“ Es schien fast so, als ob Beth aufgeben wollte. Ich pfuschte ihr nicht in ihrem Leben herum, dann musste sie doch auch nicht die ganze Zeit in meinem rumwurschteln. Ich hatte aber noch eine Sache im Kopf: ich war zwiegespalten und wusste nicht, ob ich es wirklich wissen wollte. Aber eigentlich stand ich doch über diesen Dingen. Ich war doch auch stolz darauf, was ich bis jetzt erreicht hatte. Ich musste mich nicht verstecken!
„Beth, wie kam es, wie war es, als du dich dazu entschieden hast, wirklich mit der Kunst weiter zu gehen? Vor allem: wie hast du das bei unserem Dad durchgeprügelt?“
„Ich habe niemanden gefragt, nichts hinterfragt, ich habe damals einfach aus Trotz mein Ding durchgezogen. Nach dem Gespräch mit Lukas habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin im Internet herumgesurft und habe überall die Möglichkeiten gecheckt, wie ich in anderen Ländern an die Unis kommen könnte. Ich habe alle Vorbereitungen in den direkt danach liegenden Wochen getroffen. Mum und Dad haben mir einen Trip nach Italien ermöglicht, damit ich auf andere Gedanken komme. Dort habe ich für drei Monate einen Sprach- und Kunstkurs gemacht und mich entschlossen, in München an der Akademie der Künste zu bewerben. Im Jahr darauf habe ich dort einen Platz bekommen. Im Studium habe ich mein Auslandssemester in Florenz verbracht. Von meinen Plänen, davon hatte ich gar nichts erzählt. Ich habe sie beide, vor allem Dad, einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Dad und ich haben eine Weile danach kaum mehr miteinander geredet. Du weißt ja, wie er ist. Aber, als ich dann mit meiner Kunst langsam erfolgreich wurde und mit der Kunst mein Brot verdienen konnte, kam auch er zu meinen Ausstellungen. Das hat natürlich seine Zeit gedauert, bis er meine Arbeit vollkommen akzeptieren konnte. Aber er musste sich daran gewöhnen, und das hat er dann auch. Hast du denn alle deine Pläne mit den Eltern besprochen?“, fragte Beth ironisch.
Ja, am Anfang schon. Sie hingegen hatte sich also komplett auf sich selbst verlassen. Bei mir kam der Knick nach dem Gespräch. Ich fiel in Dads Arme und habe mich einfach seinem Plan hingegeben. War es das? War das der Unterschied? Ich war noch ganz in Gedanken, als ich langsam anfing, ihr zu antworten.
„Nein, naja am Anfang schon. Dad fand die Idee, dass ich Wirtschaftsprüferin werde, natürlich großartig. Er war ja auch derjenige, der mir das Praktikum besorgt hatte. Von da hat sich alles verselbstständigt. Unsere Eltern erwarteten, glaube ich, beide, dass ich nach dem Praktikum wieder nach Hause komme. Ich habe das dann alles alleine durchgezogen. Aber du, Beth, noch eine Frage: kann man denn mit Malen Geld verdienen?“
Beth fuhr sich durchs Haar: „Der Anfang war sehr schwer. Nach dem Abschluss meines Studiums hatte ich zwar das Glück, mit einer Gruppenausstellung durch verschiedene Galerien zu touren und dabei auch Bilder zu verkaufen. Das war das Abschlussprojekt, das die Uni jedes Jahr macht, um uns Abgängern den Einstieg zu sichern. Aber erstmal habe ich hauptsächlich Geld verdient, indem ich unterrichtet habe. Nebenher habe ich mir eine Webseite aufgebaut und einen Facebook-Account, um mich auch im Netz als Künstlerin aufzustellen. Das hat seine Zeit gedauert, und in der Zwischenzeit habe ich Kinder in einer kleinen Malwerkstätte unterrichtet. Das hat mir damals viel Energie gegeben.“
Soviel unbedarfte, kindliche Kreativität, dachte ich, das war großartig!
„Die Erfahrungen mit den Kindern haben mich der Malerei wieder näher gebracht. Durch das Studium und den Umgang mit anderen Künstlern verlierst du den Spaß. Es geht nur noch um die Noten und darum, anderen zu gefallen. Alle haben ihren eigenen Stil und ihre eigene Meinung, auch zu deiner Kunst, und es entsteht ein sehr destruktiver Sog untereinander. Zusätzlich wirst du dann auch darauf getrimmt, wirtschaftlich zu denken. Das ist gut, um zu überleben, versteh mich nicht falsch. Aber es kann die Ideenvielfalt einschränken. Diese Kinder haben mich wieder inspiriert und mich von dem Eisenmantel befreit, der mir mit der Zeit die Freiheit und die Ideen genommen hatte. Ich habe drei Mal die Woche unterrichtet und nachts gemalt. Die gemalten Bilder habe ich fotografiert und hochgeladen, und daraufhin hat es sich verselbständigt. Einer meiner Kontakte aus Florenz hat die online gestellten Bilder einem Bekannten gezeigt. Dieser Bekannte war Organisator von Benefizveranstaltungen in Museen und Galerien und hat meine Arbeit für eine Ausstellung vorgeschlagen. Von da aus ging es weiter! Es wurde eine richtig große Angelegenheit daraus. Ich bin sehr dankbar und kann sagen, ich hatte sehr viel Glück. Doch, ja, Glück gehört mit Sicherheit auch dazu.“ Beth’ Wangen glühten, als sie mit ihren Ausführungen fertig war.
„Wow, das hört sich alles sehr aufregend an. Das hast du alles alleine auf die Beine gestellt?“ Ich war nachdenklich geworden. Nach dieser Erzählung begann ich, Beth in einem anderen Licht zu sehen. Vielleicht konnte ich tatsächlich noch etwas von ihr lernen! Sie hatte sich durchgeboxt, ohne Sicherheiten. Ich war beeindruckt. Aber sie hatte auch Glück gehabt.
„Nein, nicht ganz alleine. Alice, unser Schwesterherz, sie wurde zu meiner Heldin. Sie hat die Verteidigung an der Front zu Hause übernommen. Ich darf auch nicht die Mädels vergessen. Ohne ihre aufmunternden Worte wäre alles sehr viel schwieriger und einsamer gewesen.“
„Hört sich alles toll an“, sagte ich nachdenklich, während ich von meinen Gedanken und Gefühlen umhüllt wurde.
Wehmut machte sich breit. Ja, die Mädels. Früher waren wir eine eingeschworene Bande. So unterschiedlich, aber immer füreinander da. Bis ich mich nach Berlin verkrochen hatte. Ob die sich alle noch so trafen wie damals? Oder ob die anderen auch schon die sichere Heimat verlassen hatten. Das werde ich wohl nicht mehr erfahren.
„Ja, es ist toll geworden. Es war hart, aber das Ergebnis hat alles in die richtige Perspektive gerückt. Ich bin sehr dankbar und glücklich.“ Beth hatte einen Glanz im Gesicht. Sie schien von Grund auf zufrieden und wirklich glücklich. Ich konnte mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich noch nie jemanden gesehen hatte, der in mir diesen Eindruck hervorrief. Es war schön anzusehen. Glücklich, sie schien richtig glücklich! Mir reichte schon einfache, abgewogene Zufriedenheit. Wenn ich mich in meinem Leben umsah, gab es wenigstens nichts, was mich unglücklich machte. Ich konnte zufrieden sein mit alledem, was ich hatte.
Nach Glück zu streben, ist eine sehr heikle Angelegenheit. Glücklich sein geht nicht, ohne Risiken einzugehen, vor allem das Risiko ohne Auffangnetz, unglaublich, wahnsinnig verletzt zu werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder den Mut zur Bewältigung möglicher Rückschläge zu finden. Ich war zufrieden mit dem Zufriedensein. Ja, ich bewunderte Beth. Hätte ich ihre Kraft, würde ich die Schritte wagen, aber wir sind halt verschieden.