Читать книгу Letzte Begegnungen - Hannah Haberland - Страница 3

Оглавление

Der Tag, an dem ich meine medizinische Karriere ernsthaft überdachte, war ein schöner Herbsttag. Buntes Laub fiel von den Bäumen, und die Temperatur kletterte einmal mehr über die Zwanzig-Grad-Marke. Eigentlich wäre es ein guter Tag gewesen. Ich jedoch saß heulend bei meiner Hausärztin und bat sie um eine Überweisung zur Magenspiegelung, zur Darmspiegelung, zur Mammographie und zum Röntgen der Lunge. Einer Ultraschalluntersuchung des Bauchraums gegenüber war ich auch nicht abgeneigt. Ich war davon überzeugt, an einer schrecklichen Tumorerkrankung zu leiden, mindestens weit fortgeschritten und definitiv unheilbar. Nebenbei bemerkt war ich gerade Mitte dreißig, was die Wahrscheinlichkeit einer Tumorerkrankung zwar nicht auf null setzte, aber doch nicht sehr wahrscheinlich machte.

»Ihr Job macht es Ihnen ja auch nicht wirklich leicht«, sagte meine Hausärztin mitfühlend. »Jemand, der eh schon eine leichte Neigung zur Hypochondrie hat, wird natürlich in der Palliativmedizin täglich mit neuen Triggerfaktoren konfrontiert. Da war es ja eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Sie zusammenklappen.«

Die Hausärztin kannte mich schon lange, und sie kannte mich gut. Wahrscheinlich besser als ich mich selbst, denn sie sah mir an, dass meine Arbeit mich mehr belastete, als ich mir eingestehen wollte. Wer täglich mit Menschen konfrontiert ist, die im Schnitt noch wenige Wochen zu leben haben und dann zumeist durch eine Tumorerkrankung aus dem Leben scheiden, muss wahnsinnig gut im Verdrängen sein und es schaffen, all diese Schicksale nicht mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Das liegt mir nun leider gar nicht.

»Hier, ich gebe Ihnen was.« Die Ärztin schob ihre Lesebrille zurück auf die Nase und tippte auf der Tastatur herum. Surrend warf der Drucker ein Rezept aus, das sie unterschrieb und mir reichte. »Davon nehmen Sie jetzt mal drei Tage lang eine halbe Tablette und danach eine ganze. Und suchen Sie sich einen Psychotherapeuten.«

Wortlos und ohne darauf zu blicken, nahm ich das Rezept und steckte es in meine Tasche. Ich verabschiedete mich, stand auf und verließ die Praxis. Auf der Straße kramte ich das Rezept aus meiner Tasche und sah mir an, was mir die Hausärztin verordnet hatte. Es war ein SSRI, ein Medikament gegen Depressionen und Angststörungen. Ich riss es in der Mitte durch und warf es in den nächsten Mülleimer. Dass man mich vom Fenster der Praxis aus sehen konnte, war mir egal.

Ein paar Minuten später saß ich in einem Café und rührte lustlos mit einem Löffel in einem Latte macchiato. Wie hatte es so weit kommen können? Was war diesem akuten Zusammenbruch vorausgegangen? Ich arbeitete nun schon ein paar Jahre in der Palliativmedizin. Nach meiner Facharztausbildung in der Anästhesie wollte ich mich noch weiter spezialisieren, Palliativmedizin hatte mich schon immer interessiert. Ich hatte auch schon zu viel gesehen, gerade auf der Intensivstation, wo es dank der modernen Medizin immer öfter gelingt, den Patienten nochmals »von der Wolke zu zerren«, wie es die Pflegekräfte oft verächtlich nannten, wenn wir uns mal wieder weigerten, einen Todgeweihten gehen zu lassen. Mit Würde hatte dies auch in meinen Augen schon lange nichts mehr zu tun, umso dankbarer hatte ich das Angebot angenommen, bei einem Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung, kurz SAPV, anzufangen und hier meine Zusatzweiterbildung zur Palliativmedizinerin zu absolvieren. Als ich diese Prüfung hinter mich gebracht hatte, blieb ich weiter an diesem Krankenhaus angestellt.

Das Besondere ist, dass unsere Patienten nicht in der Klinik liegen, sondern zu Hause sind und in der Regel auch zu Hause versterben. Mit einem Team aus Ärzten und Pflegekräften kümmern wir uns um sie und sorgen dafür, dass sie zu Hause sterben können, ohne an Schmerzen oder anderen qualvollen Symptomen zu leiden, was mal mehr, mal weniger gut gelingt.

Meine Kollegen mag ich alle sehr, sie sind zuverlässig und nehmen ihre Arbeit ernst, ich habe eigentlich wirklich keinen Grund zur Klage. Trotzdem saß ich nun hier und machte mir das Leben selbst schwer, indem ich mir verschiedene Krankheiten andichtete. Die Worte der Hausärztin kamen mir wieder in den Sinn – sie hatte von Triggerfaktoren gesprochen. Welcher Patient hatte diese akute Reaktion bei mir getriggert? Im Geiste ging ich die Liste der Namen der kürzlich verstorbenen Patienten durch. Es waren eine Menge. Ich hatte in letzter Zeit definitiv zu viel gearbeitet – und auch wieder nicht nein sagen können, auch als die Liste der Patienten länger und länger wurde. Irgendeiner von ihnen musste es sein. Welcher? Namen kamen und gingen, Gesichter – zu manchen gab es Namen, zu anderen nicht. Ich wartete darauf, dass irgendeiner dieser Namen oder eines der Gesichter etwas in mir hervorrief. Dort wollte ich ansetzen.

Es dauerte nicht lange, bis sich ein Gesicht herauskristallisierte, das mehr war als nur ein Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, gerade fünfzig Jahre alt. Entstellt von grotesken Beulen unter der Haut, Zeichen des abscheulichen Tumors, der sich wie ein wildes, gieriges Tier durch seinen Körper gefressen hatte und mich unwillkürlich an den Glöckner von Notre Dame denken ließ. Dazu eine Stimme, sanft und ohne Bitterkeit, was angesichts der Situation nur schwer nachzuvollziehen oder gar zu ertragen war. Martin Fischer. Mit ihm wollte ich die Reise in meine verquere Psyche beginnen, auf der Suche nach dem einen, dem ich posthum die Schuld an meiner Misere geben konnte.

Letzte Begegnungen

Подняться наверх