Читать книгу Letzte Begegnungen - Hannah Haberland - Страница 4
Bis zum letzten Tag
ОглавлениеMartin Fischer war etwa drei Wochen zuvor verstorben, und sein Tod hatte mich etwas mehr belastet, als es das Versterben meiner Patienten sonst tat. Natürlich ist es mir bei keinem Patienten egal, aber gewisse Kompensationsmechanismen sorgen dafür, dass ich auch nach einer Leichenschau schon recht bald wieder lachen kann. Kann man das nicht, so ist man in diesem Beruf wahrscheinlich schon nach wenigen Wochen am Ende. Es gibt aber trotzdem immer wieder Patienten, die einem nähergehen als andere. Warum das so ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich gibt es etwas, das mich mit diesen Menschen besonders verbindet und mir erlaubt, mich selbst in ihnen zu sehen.
Bei Martin Fischer war es die Tatsache, dass er auch Arzt war und zudem noch relativ jung. Mit seinen fünfzig Jahren war er zwar noch ein ganzes Stück älter als ich, aber doch deutlich jünger als die meisten Patienten, die wir sonst betreuen.
Es war ein Tag im Hochsommer, an dem das Telefon bei uns im Büro klingelte. Ich hörte Waltraud, unsere Sekretärin, routiniert Fragen stellen, denen ich schon entnehmen konnte, dass es sich um eine Neuaufnahme handelte.
»Ja, Frau Doktor ruft dann gleich zurück«, hörte ich sie am Ende des Gesprächs sagen. Das galt wohl mir, denn wir waren nur zwei Ärzte und der andere war ein Mann. Arne Winkler, mein Kollege, war außerdem gerade auf Hausbesuch. Ich mochte ihn, so wie man einen alten Hund mit Flöhen mag, an den man sich gewöhnt hat. Auch wenn er gerade Ende dreißig war, sah er doch wie sein eigener Großvater aus, und sein Hang zu karierten Hemden und Strickjacken machte die Sache nicht wirklich besser. Anstatt wie andere Männer, die schon in jungem Alter mit einer Halbglatze gesegnet sind, die Haare einfach abzurasieren, kultivierte er einen ausgeprägten Heiligenschein auf seinem Kopf, und auch die randlose Brille tat nichts dazu, ihn optisch etwas aufzupeppen. Wenn er im Gespräch seine Hände gefaltet auf seinem imposanten Bauch ablegte, fehlte eigentlich nur noch der weiße Kragen und er hätte jedem Patienten die Beichte abnehmen können. Er verstand sein Handwerk, aber oft fehlte es ihm an Empathie. Waltraud schob die schwierigen Fälle daher gern mir zu, anscheinend hatte ich ihrem Verständnis nach etwas mehr Empathie zu bieten. Waltraud war seit dreißig Jahren an der Klinik und arbeitete auch schon mehrere Jahre in der Palliativmedizin. Auf ihr Urteil konnte man sich in der Regel verlassen, denn sie hatte eine hervorragende Menschenkenntnis.
»Bist du gerade beschäftigt?«, rief Waltraud von ihrem Empfangstresen in mein Büro hinein. Wenn ich mich ein wenig nach vorn beugte, konnte ich sie sogar sehen. Sie trug wie so oft eine knallbunte Bluse und hatte die langen silbergrauen Haare einem Vogelnest gleich auf ihrem Haupt aufgetürmt. Waltraud war groß, mit ihrem aufgetürmten Haar fast 1,90 Meter, und was ich besonders an ihr schätzte, war die Tatsache, dass sie kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte.
»Auch nicht mehr als sonst!«, rief ich zurück.
»Dann hast du jetzt Kundschaft. Ich sage dir Bescheid, wenn ich die Akte angelegt habe.« Ich hörte sie energisch auf die Tastatur einhämmern. Es dauerte nicht lange, dann hatte sie ein elektronisches Profil des Neuzuganges angelegt und mir zugeteilt, was mir durch das klingende Geräusch einer neuen Nachricht in meinem Posteingang angekündigt wurde. Gleichzeitig hörte ich, wie ein Fax ankam. Wahrscheinlich ein Arztbrief, dachte ich. Waltraud war hocheffizient, sie hatte sicherlich schon sämtliche Unterlagen angefordert, noch bevor der Patient den Telefonhörer aufgelegt hatte.
Ich stand auf und lief zum Empfangsbereich. Waltraud ergriff wortlos die drei Blätter, die da aus dem Fax kamen.
»Der Arztbrief«, sagte sie, ohne den Blick von ihrem Monitor zu nehmen, und schob mir die Blätter zu. Es war tatsächlich ein Brief aus der Hämatologischen Ambulanz der Universitätsklinik.
»Und die Akte habe ich auch schon angelegt. Du mögest bitte Herrn Martin Fischer zurückrufen. Das ist der Patient. Es scheint mir eher dringlich zu sein, aber lies selbst.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder etwas zu, das nach Abrechnungen aussah. Ich ging zurück an meinen Schreibtisch und vertiefte mich in meine neue Lektüre.
Herr Fischer litt an einem Multiplen Myelom, einer Krebserkrankung des Knochenmarkes. Es gehört zu den sogenannten malignen Lymphomen und ist keine häufige Erkrankung. Wenn man sie hat, so ist das Wissen um die Seltenheit allerdings nutzlos, denn das Multiple Myelom ist in der Regel nicht heilbar. Man kann allerdings über viele Jahre ganz gut damit leben, was diese Sorte Patienten zu eher schwierigen Palliativpatienten werden lässt, da es ihnen oft schwerfällt, einzusehen, dass das Ende der Fahnenstange irgendwann leider trotzdem erreicht ist.
Der Arztbrief war gerade erst drei Wochen alt und führte die Therapien von Herrn Fischer auf. Er stand derzeit noch voll unter Chemotherapie. Das ist für unsere Arbeit in der SAPV eigentlich ein Ausschlusskriterium. Ein Patient, der noch Chemotherapie erhält, auch, wenn es eine sogenannte palliative Chemotherapie ist, die nicht der Heilung, sondern lediglich der Lebenszeitverlängerung dient, eignet sich nicht für die ambulante Begleitung, da es sehr schwierig ist, zu unterscheiden, ob Symptome, die wir sehen, nur Nebenwirkungen der Chemotherapie sind oder eine akute Zustandsverschlechterung im Rahmen der Tumorerkrankung darstellen. Ist Letzteres der Fall, werden nur die Symptome behandelt und dafür gesorgt, dass der Patient nicht leidet. Nebenwirkungen der Chemotherapie allerdings müssen in der Klinik therapiert werden, denn hierbei handelt es sich ja um eine behandelbare Ursache. Aber das nachts um drei zu entscheiden, wenn man im heimischen Schlafzimmer des Patienten an dessen Bett steht, ist nicht ganz so einfach. Um sich diesem Widerspruch nicht auszusetzen, lehnen die allermeisten SAPV-Teams Patienten unter Chemotherapie ab, was allerdings nicht bedeutet, dass man dem Patienten nicht auch ein Gespräch anbietet und zu klären versucht, wohin die Reise gehen soll und ob man durch eine kurzfristige Umstellung der Medikamente nicht eine Besserung der Symptome bewirken kann.
Mir fiel gleich auf, dass Herr Fischer selbst Arzt war. Das konnte die Sache erleichtern oder erschweren, je nachdem. Ärztliche Kollegen tun sich oft schwer damit, Ratschläge anzunehmen. Andererseits sind sie meist auch realistischer, was die Einschätzung ihrer eigenen Prognose angeht, sodass sich oft ganz gut mit ihnen arbeiten lässt.
Aus Waltrauds Einträgen in die elektronische Patientenakte konnte ich lesen, dass Herr Fischer über schwer zu behandelnde Schmerzen klagte. Zudem litt er an Hautmetastasen, die aufzugehen drohten. Das war nicht unbedingt typisch für das Multiple Myelom, aber auch nicht komplett undenkbar. Ich war froh, dass Waltraud den Patienten nicht gleich zu mir durchgestellt hatte. So hatte ich eine Chance, mir ein Bild zu machen, bevor ich Herrn Fischer eine Zu- oder Absage erteilen musste.
»Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich nicht gleich zu dir durchgestellt habe«, rief Waltraud aus dem Nebenraum, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Herr Fischer ist Arzt, genau wie du.«
»Außer, dass ich Ärztin bin«, erwiderte ich mit der Betonung auf der letzten Silbe von »Ärztin«.
Waltraud lachte laut auf. »Ja, und schöner, klüger und intelligenter bist du natürlich auch.« Waltraud war offensichtlich keine überzeugte Feministin und machte sich herzlich wenig aus genderkorrekter Nomenklatur.
»Ich rufe ihn jetzt jedenfalls gleich an«, sagte ich, um das Feuer der aufkeimenden Diskussion nicht noch zu schüren.
»Braves Mädchen.«
»Kundschaft?«, fragte Linda, die zur Tür hereinkam, als ich gerade den Brief in der einen und den Telefonhörer in der anderen Hand hielt. Ich legte den Telefonhörer vorerst wieder auf, während Linda ihre Tasche mit einem lauten Knall auf ihren Schreibtisch warf und sich geräuschvoll auf ihren Stuhl fallen ließ. Wir teilten uns ein Büro, was den multidisziplinären Ansatz unserer Arbeit noch unterstrich. Linda war eigentlich Anästhesieschwester, hatte sich aber vor drei Jahren auf Palliativmedizin spezialisiert und die Zusatzausbildung für Pflegekräfte in Palliative Care absolviert. Wir waren etwa gleich alt, doch Linda war manchmal so abgeklärt, dass man meinen könnte, sie mache den Job schon genauso lange wie Waltraud. Obwohl sie sehr gewissenhaft arbeitete, hatte ich in den letzten Monaten Anzeichen von Übermüdung bei ihr gesehen und ihre Abgeklärtheit ging gelegentlich in einen beißenden Sarkasmus über. Vielleicht war ich doch nicht die Einzige, der dieser Job auf Dauer zu schaffen machte.
»Kundschaft, ja. Multiples Myelom, fünfzig Jahre und Arzt. Ich wollte ihn gerade anrufen.«
Linda nickte und fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, hellblonden Haare. Ich beneidete sie insgeheim für ihre Frisur. Nur wenige Frauen können das Haar so kurz tragen und dabei so gut und feminin aussehen wie Linda. Mit den tiefblauen Augen und den zarten Sommersprossen auf ihrer Nase sah sie aus, als wäre sie gerade dem Cover eines Hochglanzmagazins entsprungen, und das, obwohl sie sich nicht schminkte und auch keinen besonderen Wert auf ihre Kleidung zu legen schien. Heute trug sie eine enge Jeans und ein weites beigefarbenes T-Shirt, was für meinen Geschmack etwas zu viel von ihren schmalen Schultern zeigte.
»Wenn du nachher hinfahren willst – ich hätte Zeit.« Sie biss auf ihre Unterlippe und starrte in die Luft. »Oder vielleicht lieber doch erst morgen. Kann er bis morgen warten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Ich muss erst mit ihm sprechen. Er bekommt noch Chemotherapie.«
»Dann ist er doch eh nichts für uns. Dann kannst du auch allein hinfahren, wenn es unbedingt sein muss.« Linda konnte sehr schnippisch sein.
Ich rollte mit den Augen. »Lass mich doch erst mal mit ihm telefonieren, ja?«
Linda zuckte mit den Achseln. »Ich mache mir jetzt einen Tee, und dann dokumentiere ich meine Besuche.« Sie holte ihren Laptop aus der Tasche und schloss ihn an die Stromversorgung an. Sie brachte immer ihr eigenes Gerät der neuesten Generation mit. Das Geld, das sie augenscheinlich nicht in ihre Garderobe investierte, gab sie lieber für allerhand technische Gadgets aus. Bevor sie in die Teeküche ging, nahm sie noch ein Headset aus ihrer Schublade und setzte es sich auf. Ich sah ihr nach, als sie aus dem Zimmer lief. Linda war gertenschlank und hatte auch nach zwei Schwangerschaften noch einen beneidenswert flachen Bauch, während ich mich, obwohl insgesamt auch eher zierlich, täglich in figurformende Unterwäsche zwängte, um die Zeugnisse von Schwangerschaft, Stillzeit und Schwerkraft möglichst unauffällig zu kaschieren.
Seufzend hob ich schließlich den altmodischen Telefonhörer ab und nahm mir mal wieder vor, von der Klinikleitung auch ein Headset zu verlangen. Dann rief ich endlich Herrn Fischer zurück. Nach einer kurzen Begrüßung kam er recht schnell auf den Punkt.
»Ich habe Schmerzen. Ich versuche es schon mit allem Möglichen, Fentanyl-Pflaster, Oxycodon, alles, aber es hilft nicht so richtig. Die onkologische Tagesklinik hat mir Ihre Telefonnummer gegeben. Sie sagten, es sei langsam mal Zeit.« Er lachte heiser auf. Es klang resigniert.
»Sie bekommen aber noch Chemotherapie?«
Herr Fischer seufzte. »Na ja, meine Werte sind miserabel. Ehrlich gesagt wollen die jetzt mal eine Weile Pause machen. Ich weiß nicht, ob ich dann noch mal anfange mit der Chemotherapie. Ich meine, im Moment fühle ich mich, von den Schmerzen mal abgesehen, eigentlich gar nicht so schlecht, aber die Therapie scheint nicht richtig anzuschlagen und ich brauche immer öfter Bluttransfusionen und Thrombozyten.«
Ein typischer Verlauf dieser Erkrankung. Die Blutbildung funktioniert nicht mehr richtig, und der Körper wirft mehr und mehr funktionslose Zellen aus. Wenn die Therapien nicht anschlagen, bricht dieses System über kurz oder lang zusammen. Es fehlt an roten Blutkörperchen, um den Sauerstoff zu transportieren, an weißen Blutkörperchen, um Infektionen zu bekämpfen, und an Blutplättchen – den Thrombozyten –, um Blutungen zu stillen. Mit Blutübertragungen lässt sich dies noch eine Weile stabilisieren, aber irgendwann funktioniert auch das nicht mehr. Die Chemotherapie kann hier lebensverlängernd wirken, indem sie die schädlichen Zellen ein wenig zurückdrängt, aber gleichzeitig verschlechtert die Chemotherapie selbst natürlich auch die Produktion der körpereignen Zellen, die noch nicht funktionslos sind. Als Arzt wusste Herr Fischer um dieses Dilemma, aber ich würde nicht umhinkommen, seine weiteren Optionen in Ruhe mit ihm zu besprechen. Außerdem würde ich seine Medikamente umstellen, um seine Schmerzen besser in den Griff zu bekommen.
Auch bei Patienten unter Chemotherapie machen wir eine sogenannte Koordination. Der Gesetzgeber sieht in der SAPV ein dreistufiges Modell vor. Die niedrigste Stufe ist die Beratung, in der wir uns nur kurz vorstellen und dann wieder gehen. Die Koordination erlaubt weitergehende Leistungen wie eine Medikamentenumstellung und Beratung und Hilfestellungen zu speziellen Fragestellungen und umfasst meist einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen, in dem man sich mit den Sorgen des Patienten befasst und versucht, in dieser Zeit eine stabile Situation herzustellen. Die letzte Stufe ist die vollständige Versorgung des Patienten bis zu seinem Lebensende, von mir auch das »Rundum-sorglos-Paket« genannt. Hier sind wir für die Patienten rund um die Uhr erreichbar, sie und ihre Angehörigen haben unsere Notrufnummer und können uns jederzeit kontaktieren. Dies ist aber Patienten vorbehalten, die keine weiteren Therapien wie Chemo oder Bestrahlung mehr erhalten.
»Ich schlage vor, ich komme mal bei Ihnen vorbei und wir unterhalten uns in Ruhe. Was meinen Sie?«
»Das wäre sehr nett!« Herr Fischer klang erleichtert. »Wann könnten Sie denn kommen?«
»Wie wäre es morgen um elf Uhr?«
»Ja, das wäre gut!«
Ich verabschiedete mich vom Patienten und sah dann Linda herausfordernd an, die schon vor einer Weile wieder mitsamt ihrer Teetasse mir gegenüber Platz genommen hatte und betont desinteressiert auf ihren Monitor starrte.
»Du kommst mit«, sagte ich bestimmend.
Linda sah aus, als wollte sie mir widersprechen, dann überlegte sie es sich aber anders und machte stillschweigend eine Notiz in ihren Kalender. Ich ging nicht gern allein zu Patienten. Oft gab es Fragen zur Pflegeversicherung oder zu Hilfsmitteln, die ich allein nur schlecht beantworten konnte. Außerdem war ich froh, wenn mir hinterher jemand das zeitaufwendige Ausstellen der Rezepte und die Kommunikation mit der Apotheke abnahm. Zudem war es ganz gut, wenn eine Pflegekraft den Patienten schon kannte, falls er in die Vollversorgung aufgenommen werden musste. Diese Arbeit lief dann eh zu einem Großteil über die Pflegekräfte, die den Kontakt zu den Patienten und ihren Angehörigen hielten und sich regelmäßig ein Bild über den Zustand machten, sodass wir Ärzte nach dem Erstgespräch meistens nur noch auf Zuruf agierten.
»Gibt es unausgesprochene Konflikte, derer wir uns mal annehmen sollten?«, fragte der hochgewachsene Mittvierziger, der gerade den Raum betrat, nur halb im Scherz. Mit seiner schwarzen Hornbrille und dem dunklen Rollkragenpullover hätte Simon problemlos im Paris der Fünfzigerjahre unterkommen können und sich dort sicherlich lebhaft an philosophischen Diskussionen über den Existentialismus beteiligt. Leider war er dafür etwas zu spät geboren worden, was ihn aber nicht davon abhielt, einen Stil zu kultivieren, von dem er meinte, dass er ihn als Intellektuellen auswies, ohne dass er den Mund zu öffnen brauchte. Ich fand, er wirkte dadurch arrogant und unnahbar, ein Eindruck, der sich schnell revidierte, wenn man mit ihm sprach, denn er war im Gespräch überraschend offen und warmherzig.
»Simon, ist schon wieder Mittwoch?« Linda konnte den Psychologen nicht leiden, was sie ihn auch bei jeder Gelegenheit spüren ließ. Simon hatte eine Halbtagsstelle als Klinikpsychologe und war für die Tumorpatienten zuständig. Für unsere Patienten machte er bei Bedarf auch Hausbesuche. Und er teilte sich das Büro mit uns.
»Linda, liebreizend wie eh und je.«
»Und Simon, bevor ich mich von dir bezüglich unausgesprochener Konflikte beraten lasse, müssen sie mich unter Zwang in die Anstalt einweisen«, erwiderte Linda kühl. Ich fragte mich, was zwischen den beiden vorgefallen war. Soweit ich das beurteilen konnte, war Simon auch Linda gegenüber immer professionell und zumindest oberflächlich höflich aufgetreten. Ich hatte jedenfalls nichts gegen ihn. Er war zu mir immer freundlich und zuvorkommend und nahm sich meiner Patienten in der Regel ohne längere Diskussionen an. Außerdem war er meistens nicht da, was sich angesichts des Platzmangels als vorteilhaft erwies. Ich hatte Linda schon oft nach ihrem schwierigen Verhältnis zu Simon befragt, aber nie eine zufriedenstellende Antwort bekommen, was meine Fantasie natürlich noch mehr anheizte, als wenn sie einfach mit einer Erklärung rausrücken würde. Simon hatte sich mittlerweile an seinem Schreibtisch niedergelassen. Lindas gehässige Kommentare schienen einfach an ihm abzuprallen. Ich schüttelte den Kopf und machte mich daran, mein Gespräch mit Herrn Fischer zu dokumentieren. Es gab noch viel zu tun.
Herr Fischer öffnete uns am nächsten Vormittag in Jogginghose und T-Shirt die Tür. Er war ziemlich blass, aber sein Gang war aufrecht und sicher. Er schüttelte Linda und mir die Hand und bat uns, am Esstisch Platz zu nehmen. Ich sah, wie Linda sich mit geschultem Blick in der Wohnung umschaute. Wie viele Zimmer gab es? Lebte Herr Fischer allein? Würde man ein Pflegebett aufstellen können? Wo war das Bad? Diese Fragen hatte sie sicherlich schon für sich beantwortet, noch bevor sie ihre Tasche neben dem Stuhl am Esszimmertisch abgestellt hatte.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Herr Fischer höflich. Wir wehrten beide ab. Herr Fischer setzte sich schließlich uns gegenüber hin.
»Ich habe Weichteilmetastasen, sehen Sie?«, fragte er und hob sein T-Shirt an. Über seinen Bauch verteilt waren mehrere hühnereigroße Knubbel. Herr Fischer war sehr schlank, fast kachektisch, die Metastasen wirkten geradezu grotesk auf seinem eingefallenen Bauch.
»Das tut weh. Der Bauch tut weh. Die Knochen sowieso. Ich habe ein Fentanyl-Pflaster. Die Dosis habe ich schon verdoppelt, aber es hilft nicht. Ich glaube, ich habe schon alles ausprobiert. Außerdem habe ich Angst, dass die Metastasen aufgehen.«
Ich nickte verständnisvoll. Sein Bauch war durchsetzt von Metastasen, das hatte ich schon in seinem Arztbrief gelesen. Außerdem drückte ihm Tumorgewebe auf die Wirbelsäule und die Nervenfasern, die daraus hervorgingen, was ihm auch starke Schmerzen bereitete.
»Wissen Sie, in der onkologischen Tagesklinik sagten sie, dass sie nicht sicher sind, ob dieser Tumor an der Wirbelsäule nicht vielleicht doch ein eigener Tumor ist. Irgendein Non-Hodgkin-Lymphom. Sie wollen noch weitere Tests machen. Sollte sich das bewahrheiten, dann würden sie noch mal eine Chemotherapie machen. Sonst bringt es wohl nicht viel.« Er lächelte entschuldigend.
Ich verstand seinen Gedankengang sofort und damit auch, warum er sich noch nicht für das Ende der Chemotherapie entschieden hatte. Wenn sich dieser solide Tumor an seiner Wirbelsäule, möglicherweise auch die Weichteilmetastasen, als Teile eines anderen Tumors herausstellten, so könnte man dies mit einer erneuten und spezifischen Chemotherapie vielleicht komplett zurückdrängen. Zwar würde er dann noch immer an seinem Multiplen Myelom versterben, aber vielleicht nicht ganz so schnell.
Mein Blick glitt über die Kommode hinter Herrn Fischer. Fotos von Landschaften, Bilder von ihm selbst, die offensichtlich im Urlaub aufgenommen worden waren, aber nichts, was auf engere familiäre Bindungen hindeutete. Keine Bilder von Kindern bei der Einschulung, kein Hochzeitsfoto. Auch war die Wohnung mit ihren anderthalb Zimmern für mehr als eine Person sicher zu klein. Herr Fischer bemerkte meinen Blick und drehte sich um.
»Nicaragua, vor drei Jahren. Kurz vor meiner Diagnose. Das war der letzte schöne Urlaub. Obwohl, ich habe mich da auch schon recht schlapp gefühlt.«
»Wer hat das Foto aufgenommen?«, fragte Linda. Sie dachte wohl das Gleiche wie ich.
»Das? Oh, Otto. Ein Freund. Wir sind immer zusammen verreist.«
»Leben Sie allein?«
»Ja, ich bin allein. War ich immer, wird sich wohl auch jetzt nichts mehr dran ändern.«
»Wer kümmert sich um Sie, wenn es Ihnen nicht gut geht? Eltern, Geschwister, Nachbarn?«
»Ich habe viele Freunde. Meine Familie lebt in Duisburg, und der Kontakt ist nicht allzu gut.«
»Gibt es auch Freunde, die hier bei Ihnen bleiben würden, wenn es Ihnen richtig schlecht ginge?«
»Wenn ich sterbe, meinen Sie?« Er sah mich offen an. Ich nickte diskret.
»Ich hoffe mal, dass das noch nicht so bald sein wird.« Seine Stimme hob sich leicht am Ende des Satzes, so als könne er sich nicht entscheiden, ob er eine Frage stellen oder eine Aussage machen wollte.
»Das weiß ich genauso wenig wie Sie«, sagte ich mit einem zögerlichen Lächeln. Insgeheim war meine eigene Prognose aber wesentlich weniger optimistisch als seine.
»Ich wäre schon dankbar, wenn das mit den Schmerzen aufhören würde.«
»Zeigen Sie mir mal Ihren Medikamentenplan«, forderte ich ihn auf. Herr Fischer griff nach einem Stapel Papiere, der auf dem Esstisch lag, und zog ein Blatt heraus, das er selbst von Hand beschrieben hatte. Das Geschriebene war mehrfach durchgestrichen und ausgebessert worden. Die Anordnung der Medikamente war typisch für einen Patienten, der selbst Arzt ist. Alles Mögliche wurde mehr oder weniger sinnvoll miteinander kombiniert.
»Darf ich?«, fragte ich und fing nun meinerseits an, Dinge durchzustreichen und umzustellen. Nach etwa fünf Minuten hatte ich einen Plan erstellt, den ich Herrn Fischer zuschob.
»Ich würde Ihnen so was in der Art vorschlagen«, sagte ich, während er las. »Das Pflaster stellen wir auf Hydromorphon um. Sie sind zu dünn für ein Pflaster, das wirkt nicht mehr zuverlässig.«
Er nickte.
»Das Metamizol sollten Sie regelmäßig nehmen, gegen die Nervenschmerzen nehmen Sie ja schon das Pregabalin ein, aber die Dosis reicht nicht aus. Außerdem habe ich Ihnen was für Durchbruchschmerzen aufgeschrieben. Das Oxycodon lassen Sie bitte weg – es ist besser, verschiedene Opiate nicht miteinander zu kombinieren. Klingt das für Sie annehmbar?«
Er blickte kurz von dem neuen Plan auf. »Ich wäre zumindest bereit, es zu probieren«, sagte er und zog dabei leicht die Mundwinkel nach oben.
»Dann lassen wir Ihnen die Medikamente heute noch von der Apotheke liefern. Dann können Sie heute Abend damit anfangen.«
Jetzt lächelte Herr Fischer dankbar. »Das klingt doch nach einem Plan.«
»Und jetzt noch mal zu den grundsätzlicheren Dingen. Ich erzähle Ihnen mal kurz, was wir machen und was wir Ihnen anbieten können, okay? Und dann gucken wir zusammen, ob das was für Sie ist.«
Herr Fischer nickte. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Linda sich zurücklehnte. Was jetzt kam, hatte sie mich schon Hunderte von Malen sagen hören, wahrscheinlich konnte sie es Wort für Wort mitsprechen.
»Wir kümmern uns um Menschen, die an einer Erkrankung leiden, die leider nicht mehr zu heilen ist. Wir machen es ihnen möglich, zu Hause zu bleiben, und sorgen dafür, dass sie möglichst wenig an Symptomen leiden. Wir stellen ihre Medikamente ein und halten engen Kontakt. Zudem sind wir jederzeit für unsere Patienten und ihre Angehörigen erreichbar, jedenfalls dann, wenn wir voll in die Versorgung einsteigen.« Ich nickte Herrn Fischer zu, um zu sehen, ob er mir folgen konnte. Er nickte zurück.
»Bedingung für diese Vollversorgung ist, dass Sie keine weiteren Therapien mehr anstehen haben. Wir können Sie nicht unter Chemotherapie aufnehmen.« Ich erklärte Herrn Fischer die Beweggründe für diese Entscheidung. »Für Patienten, wie Sie es sind, bei denen der Entschluss gegen weitere Therapien noch nicht gefallen ist, was ich bei Ihnen auch durchaus nachvollziehen kann, bieten wir eine Koordination der weiteren Behandlung an. Wir stellen Ihre Medikamente um und bleiben eine Weile in Kontakt, bis Ihre Schmerzsymptomatik stabil eingestellt ist. Dann ziehen wir uns wieder aus der Versorgung zurück. Sie können sich aber jederzeit bei uns melden, wenn Sie etwas brauchen oder wenn die Situation für eine Vollversorgung gegeben ist. Wir lassen Sie also nicht allein.«
»Und ich kann Sie jederzeit anrufen?«
»In der Koordination leider nicht. Da haben Sie unsere Notrufnummer nicht. Sie können uns«, ich blickte zu Linda und sah an den steilen Falten auf ihrer Stirn, dass der Patient ihr nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte, »Sie können mich zu den Bürozeiten jederzeit anrufen. Wenn Sie mich nicht erreichen, dann rufe ich Sie zurück.«
Herr Fischer dachte nach. »Und wenn ich keine Chemotherapie oder Bestrahlung mehr bekomme, dann kommen Sie und kümmern sich um mich?«
»Ja. Dann melden Sie sich einfach.«
»Und Sie übernehmen dann die Pflege?«, fragte er an Linda gewandt. Das war die falsche Frage. Linda sog hörbar die Luft ein.
»Nein. Das macht dann ein professioneller Pflegedienst, wenn Sie einen benötigen«, sagte sie ruhig. Doch da ich sie gut kannte, konnte ich an ihrem Ton hören, dass sie sich über die Frage geärgert hatte. »Die Pflegekräfte im SAPV-Team organisieren solche Dinge für Sie. Wir rufen Sie regelmäßig an, kontrollieren, dass Ihre Symptome gut eingestellt sind, und halten Rücksprache hierüber mit den Ärzten.« Linda mochte es überhaupt nicht, wenn jemand ihren Aufgabenbereich nicht einschätzen konnte, vor allem, wenn er selbst vom Fach war.
»Ah, entschuldigen Sie bitte«, sagte Herr Fischer mit einem angedeuteten Lächeln in Lindas Richtung. »Und ich muss dann nicht in die Klinik?«
Ich sah mich noch einmal prüfend um. »Herr Fischer, ich will Sie nicht anlügen. Die Umstände hier sind nicht ganz ideal. Und Sie sind allein.«
»Ich habe Freunde, die sich um mich kümmern. Einer wohnt hier im Haus, Otto, mit dem ich immer in Urlaub gefahren bin. Er arbeitet von zu Hause aus, ist also immer da, wenn ich ihn brauchen sollte. Wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Er lächelte entschuldigend.
»Otto hin oder her, wenn es nicht geht, können wir Ihre Aufnahme auf eine Palliativstation veranlassen. Da bin ich relativ uneitel, auch wenn es mein Job ist, den Leuten zu ermöglichen, zu Hause zu bleiben.«
Herr Fischer nickte mit dem Kopf. »Das klingt doch nach einem Angebot. Im Laufe der Woche wird sich klären, was mit dem Tumor an der Wirbelsäule ist.«
»Wir werden morgen eh telefonieren, damit Sie mir sagen können, ob die Umstellung der Schmerzmedikation Ihnen geholfen hat oder nicht. Wir müssen da unter Umständen noch ein paar Anpassungen vornehmen. Und Sie halten mich dann einfach auf dem Laufenden.«
»Das mache ich.«
Herr Fischer erzählte dann noch ein wenig aus seinem Leben, dass er gern gereist war, dies aber seit dem Beginn der Erkrankung nicht mehr möglich sei. Er hatte zuletzt in Teilzeit auf der Intensivstation eines Kreisklinikums gearbeitet und war so etwa die Hälfte des Jahres auf Reisen gewesen. Das passte auch zu seiner spartanischen Wohnungseinrichtung – sie passte zu einem Mann, der nicht viel Zeit in seiner Wohnung verbrachte. In den letzten Jahren war er immer wieder längere Zeit krankgeschrieben gewesen. Seit einem halben Jahr hatte er gar nicht mehr gearbeitet. Er hoffte aber, dass er vielleicht doch wieder für einige Zeit an seinen Arbeitsplatz zurückkehren konnte, eine Hoffnung, die mir angesichts seines Zustands sehr realitätsfern erschien, was ich jedoch für mich behielt. Warum dem Mann seine Hoffnung nehmen? Wahrscheinlich würde ich in seiner Situation genauso denken.
Schließlich verabschiedeten wir uns von ihm. Ich sah auf die Uhr, anderthalb Stunden. Ein echter Luxus, dass wir uns diese Zeit nehmen konnten.
»Da kannst du immer selbst anrufen. Ich mache da nichts«, schimpfte Linda, als wir im Auto saßen. »Das war so ein typischer Arzt, mich hat der noch nicht mal mit dem Hintern angesehen. Und dann fragt er auch noch, ob ich ein Pflegedienst bin. Unverschämtheit.«
»Linda, jetzt reg dich doch mal ab. Woher soll er das denn wissen? Der hat doch in seinem Leben gerade das erste Mal von SAPV gehört.«
Linda schwieg einen kurzen Moment, bevor sie den ersten Gang einlegte und geräuschvoll losfuhr. »Du hast sicherlich recht. Aber er hat trotzdem nur mit dir geredet und so getan, als ob ich Luft wäre.«
»Na, das war ja auch einfacher für ihn. Meine Rolle konnte er genau einschätzen. Außerdem habe ich ihn nicht mit so einer Eiseskälte angestarrt.«
Jetzt musste Linda doch ein wenig lachen, war dann aber gleich wieder ernst. »Das wird ja eh nichts mit dem. Der macht bis zum letzten Tag Chemo.«
»Da könntest du recht haben, aber wenn in dem Laden irgendjemand Hirn und Verstand besitzt, so bieten sie ihm nicht noch eine Chemotherapie an. Ich meine, das überlebt er doch nicht. Und das weiß er eigentlich auch.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wieso diese Onkologen immer wieder eine neue Therapie anbieten. Das sieht man doch, dass die Ressourcen dieses Mannes einfach aufgebraucht sind. Noch eine Chemo und er ist tot. Das muss doch nicht sein!«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Linda mir bei. »Ich sehe das genauso wie du. Und eine Versorgung bei ihm zu Hause wird eh schwierig. Ich meine, hast du dir die Wohnung mal angesehen? In dem halben Zimmer, in dem er schläft, kann man kein Pflegebett hinstellen. Da liegt jetzt eine Matratze auf dem Boden. Eine Matratze! Und das andere Zimmer ist auch viel zu klein. Da müsste erst mal umgeräumt werden. Das Bad war auch super mickrig. Ich wundere mich, dass er da überhaupt noch zurechtkommt.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Das wird schwierig, aber wer weiß, vielleicht hast du ja recht und er kommt gar nicht auf uns zu.«
»Wie dem auch sei, ich ruf ihn morgen nicht an. Das kannst du schön selbst machen. Der will ja eh nicht mit mir sprechen.«
Ich schwieg. Den Rest der Fahrt blickte ich nur stumm aus dem Fenster und dachte über Herrn Fischer nach. Er war mir sympathisch, auch wenn ich seine Haltung zur Chemotherapie nicht ganz nachvollziehen konnte und schon ahnte, dass da ein paar schwierige Gespräche auf mich zukommen würden. Ich wünschte mir einerseits für ihn, dass der Tumor an der Wirbelsäule ein Non-Hodgkin-Lymphom sein möge, weil das seine Prognose deutlich verbessern würde. Andererseits war er schon so geschwächt, dass er in seinem derzeitigen Zustand eine weitere Chemotherapie nicht überleben würde. Trotzdem war es zumindest eine Chance, auf die man hoffen durfte. Ich nahm mein Telefon heraus und machte mir eine Notiz in meinen Kalender, damit ich nicht vergaß, Herrn Fischer wie versprochen am Folgetag anzurufen. Es sollte das erste von vielen Telefonaten sein.
»Wie ist es denn mit den Schmerzen?«, fragte ich am nächsten Tag, als ich mit Herrn Fischer telefonierte.
»Viel besser. Ich komme gut damit klar. Ich habe auch viel mehr Energie! Morgen gehe ich wieder in die Klinik, mal gucken, was sie sagen wegen meiner Blutwerte. Vielleicht wissen sie ja auch schon was Neues bezüglich des zweiten Tumors.«
Ich war ja froh, dass es Herrn Fischer gut ging. Dass Patienten bei einer leichten Verbesserung gleich wieder Hoffnung schöpfen und plötzlich Therapien anstreben, von denen vorher keine Rede war, ist nichts Ungewöhnliches. Davor sind auch Ärzte nicht gefeit. Allerdings wünschte ich, dass Herr Fischer die wenige Zeit, die ihm verblieb, mit seinen Freunden und an den Orten verbringen würde, die ihm wichtig waren – und nicht in der Klinik, einer vagen Hoffnung hinterherjagend, die sich wahrscheinlich als trügerisch herausstellen würde. Ich wusste nur nicht, wie ich das Herrn Fischer gegenüber ansprechen sollte. Er schien sich seiner Sache sehr sicher.
»Gut, Herr Fischer. Dann telefonieren wir am besten Anfang nächster Woche wieder, vielleicht ist die Situation dann für uns alle etwas klarer.«
Herr Fischer stimmte mir zu, und ich legte auf. Kurz überlegte ich, in der Klinik anzurufen, in der Herr Fischer in Behandlung war, und direkt mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, aber da Herr Fischer selbst Arzt war, hätte ich dann irgendwie das Gefühl, ihn zu hintergehen. Ich beschloss, einfach bis zur nächsten Woche abzuwarten.
»Du musst aus der Versorgung aussteigen«, sagte Linda trocken, als sie mich drei Wochen später mal wieder über Herrn Fischers Akte brüten sah. »Es ist eh nur eine Koordination gewesen, seine Schmerzen sind gut eingestellt, und jetzt hängt er sich an dich dran und saugt dich aus. Du weißt doch selbst, dass er sich nicht gegen eine Therapie entscheiden wird.«
Es war noch immer sehr heiß, besonders in unserem Büro, das direkt unter dem Dach lag und im Sommer eher einem Glutofen als einem Büro glich. Linda hatte sich ein Handtuch um die Schultern gelegt und wedelte damit gelegentlich vor ihrem Gesicht herum. Sie sah aus, als würde sie gleich einen Tennisschläger aus ihrer Tasche holen und ein paar Bälle schlagen.
»Ich weiß, aber ich kann nicht anders. Ich kann ihn irgendwie verstehen, weißt du? Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich genauso handeln. Was soll er denn machen? Er ist gerade mal fünfzig, da möchte er den Gedanken an das eigene Ende doch ganz weit von sich schieben.«
»Du bist aber nicht er. Und du musst die nötige Distanz zu ihm aufbringen, sonst frisst es dich irgendwann auf.«
Ich schob die Akte weg. »Ich weiß. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich dieses Hin und Her nicht mehr ewig mitmachen kann. Er muss sich einfach entscheiden, was er will, aber er ruft ja dauernd wieder an. Was soll ich denn machen? Ich kann ja nicht einfach den Hörer auflegen, wenn er sich meldet.«
»Er ist auf dich fixiert, weil du ihm mit seinen Schmerzen geholfen hast. Daher möchte er deine Meinung zu seinen Therapieoptionen hören. Aber eigentlich möchte er von dir hören, dass er diesen Weg weitergehen kann und du dich trotzdem um ihn kümmerst.«
»Ja, er versucht, mich zu manipulieren. Und das kann ich ihm noch nicht mal übelnehmen.«
Linda seufzte. »Was ist denn eigentlich beim Onkologen rausgekommen?«
Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Was soll schon rausgekommen sein? Natürlich ist das kein neues Non-Hodgkin-Lymphom, sondern alles das Multiple Myelom. Es gibt erst mal keine weitere Chemo, aber er geht alle paar Tage hin für Bluttransfusionen. Und irgendein durchgeknallter Kollege hat tatsächlich zu ihm gesagt, wenn er sich noch ein kleines bisschen erholt, dann könnte man vielleicht doch noch irgendeine abgefahrene und garantiert todbringende Chemotherapie erwägen.«
»Das ist echt pervers. Wirklich. Ich verstehe nicht, warum man solche Patienten nicht einfach mal in Ruhe lässt.« Linda schüttelte den Kopf. »Umso wichtiger, dass du dich von der ganzen Sache distanzierst. Das kann nicht gut gehen. Glaub mir, ich habe es schon oft genug erlebt.«
Ich glaubte Linda, und ich war ja auch gewillt, Herrn Fischer ein wenig auf Abstand zu halten, was mir jedoch nicht sonderlich gut gelang, da er mich etwa zweimal in der Woche anrief; wahlweise, um sich bei mir über die inkompetenten Kollegen in der onkologischen Tagesklinik aufzuregen oder die professionelle Versorgung zu loben, die ihm dort widerfuhr. Ich wusste, dass es Zeit für ein klärendes Gespräch war. Herr Fischer musste sich entscheiden – SAPV oder Chemotherapie, beides gleichzeitig ging nicht. Nur … wie sagte ich das diesem Mann, dem nur noch wenig Zeit blieb, der sich an jeden noch so vagen Hoffnungsschimmer klammerte und sich nun auch an mich krallte wie ein Ertrinkender? Während ich so darüber nachdachte, klingelte das Telefon. Ein Blick auf das Display genügte, um zu wissen, wer der Anrufer war. Die Nummer kannte ich inzwischen auswendig.
»Herr Fischer, wie geht es Ihnen?«, sagte ich gleich zur Begrüßung.
»Ich bin in der Klinik.«
»Oh, was ist los?«
»Ich … ich bin heute Morgen mit einer Gesichtslähmung aufgewacht. Diese Tumoren, sie sind jetzt überall.« Seine Stimme zitterte ein wenig, fast klang es, als würde er schluchzen. Ich fühlte sofort eine Welle von Mitleid über mich rollen.
»Sie werden mich bestrahlen. Den Tumor an der Wirbelsäule auch gleich, und die Metastasen am Bauch, damit die nicht aufplatzen. Und dann überlegen wir, ob man noch mal eine Chemo macht. Eine Möglichkeit gäbe es da wohl noch, das werde ich mir überlegen. Jetzt mache ich erstmal die Bestrahlung. Ist ja auch nicht so furchtbar gesund. Meine Blutwerte sind weiterhin nicht so toll, ich habe schon wieder Thrombozyten bekommen, und eigentlich brauche ich auch einmal pro Woche eine Bluttransfusion.« Er machte eine kurze Pause, so, als müsse er überlegen, was er als Nächstes sagen wollte. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich diese Woche in der Klinik bin. Damit Sie Bescheid wissen.«
Es klang ein wenig so, als wolle er, dass ich ihn besuchen komme. Kurz dachte ich sogar darüber nach, doch dieses Verhalten wäre wirklich indiskutabel und fern jeglicher professioneller Distanz. Für Patienten in Kliniken haben wir keinen Versorgungsauftrag. Ein solcher Besuch lässt sich noch nicht mal abrechnen, was mir persönlich natürlich egal ist, da mein Gehalt ja von der Klinik bezahlt wird. Ich könnte ihn also nur privat besuchen, und das wäre wirklich nicht mit meiner professionellen Distanz zum Patienten vereinbar. Daher sagte ich erst mal nichts dazu.
Auch Herr Fischer schwieg. Schließlich fragte er zögerlich: »Was soll ich jetzt machen?«
Ich seufzte. »Herr Fischer, ich würde Ihnen gern helfen. Das wissen Sie ja. Nur machen Sie es mir nicht gerade leicht. Ich bewege mich hier mit Ihnen außerhalb jeglicher Leistungen, die wir als SAPV anbieten können. Das mache ich gern, aber Sie müssen sich dennoch entscheiden, was Sie wollen.« Ich zögerte. Dieses Gespräch sollte ich wirklich persönlich führen, von Angesicht zu Angesicht. So fühlte es sich ein bisschen wie Schluss machen am Telefon an. Aber es half nichts. »Ich kann Ihnen nur begrenzt helfen, wenn Sie weiterhin voll auf der kurativen Schiene fahren. Ich kann das ja auch verstehen, und ich würde möglicherweise genauso handeln wie Sie, nur leider bin ich da im Moment nicht der richtige Ansprechpartner. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich als Palliativmedizinerin Ihnen eher von weiteren Therapien abrate, wenn Sie mich so direkt fragen, und das wissen Sie auch. Aber ich kann Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen.«
Schweigen. Ich sah, wie Linda, die mir gegenübersaß, die Ohren spitzte. Zwar konnte sie nur hören, was ich sagte, aber das genügte ihr. Sie nickte mir nachdrücklich zu.
Herr Fischer sagte erst mal nichts. Ich fühlte, wie sich Verzweiflung in ihm breitmachte. War ich zu hart gewesen? War ich nicht mitfühlend genug? War professionelle Distanz überhaupt gerechtfertigt, wenn es um einen sterbenden Menschen ging?
»Ich wusste das nicht. Ich wusste nicht, dass Sie keinen Versorgungsauftrag mehr für mich haben. Aber ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich trotzdem weiterhin so um mich kümmern.«
»Das ist doch selbstverständlich. Ich habe Ihnen doch versprochen, dass ich Sie nicht allein lasse. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie von mir die Hilfe bekommen, die Sie sich wünschen. Therapieentscheidungen sollten Sie mit den Onkologen besprechen, auch das Für und Wider abwägen. Das ist ja auch gerechtfertigt. Ich kann Ihnen erst dann wieder zur Seite stehen, wenn Sie sich gegen weitere Therapien entschieden haben.«
Ich holte tief Luft. Das hatte ich eigentlich nicht sagen wollen. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er sich gegen die Therapien entscheiden müsse, wenn er weiterhin mit mir reden wollte. Er könnte sich erpresst fühlen. Das war, wie ich in diesem Moment realisierte, mit einer der Gründe, warum ich mich nicht von ihm distanzieren konnte. Ich konnte doch einem sterbenden Mann nicht sagen: »Entweder lässt du alle Therapien sein oder ich rede nicht mehr mit dir.« Denn darauf lief es ja letztendlich hinaus. Oder konnte ich das doch? Denn letzten Endes wusste ich ja, dass das alles Quatsch war, dass er nach Hause gehen, seine Liebsten um sich versammeln und sich noch ein paar schöne Tage machen sollte, bevor das Schicksal unabwendbar seinen Lauf nahm. Aber natürlich war das auch nur eine subjektive Meinung und meine persönliche, von meinen Erlebnissen geprägte Sicht der Dinge. Die Kollegen in der Strahlentherapie, wo er sich gerade befand, würden mir wahrscheinlich vehement widersprechen. Natürlich könnte ich insistieren, wahrscheinlich könnte ich Herrn Fischer sogar überreden, seine Koffer zu packen und nach Hause zu fahren. Sicherlich wäre das das Vernünftigste, aber es wäre auch unumkehrbar, und wollte ich diese Entscheidung wirklich für jemand anderes treffen? Nein, das konnte ich nicht, die Entscheidung musste von Herrn Fischer selbst kommen.
»Ich möchte diese Entscheidung aber mit Ihrer Hilfe treffen«, sagte Herr Fischer ungewohnt deutlich. »Ich habe mich entschieden, mich noch mal bestrahlen zu lassen. Ich gehe in ein paar Tagen wieder nach Hause. Dann muss ich irgendwann eine Entscheidung treffen. Aber können Sie nicht noch mal zu mir kommen und mir helfen? Ich werde am Freitag entlassen. Können Sie nicht nächste Woche vorbeikommen und mit mir darüber reden? Natürlich nur, wenn das Ihr Budget nicht zu sehr belastet.«
Da war er, der Seitenhieb, und er saß.
»Okay«, sagte ich, ohne großartig darüber nachzudenken. »Ich komme zu Ihnen nach Hause. Nächste Woche Dienstag, sagen wir um vierzehn Uhr? Dann reden wir darüber. Aber dann müssen Sie sich auch entscheiden.« Ich hoffte, dass ich einigermaßen bestimmt rüberkam. Gleichzeitig sagte mir irgendwas, dass eine Woche verdammt lang war, wenn sich Herr Fischer auch nur ansatzweise in der Verfassung befand, in der ich ihn vermutete.
Ich sah, wie sich Linda mit der Hand an die Stirn schlug.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, zischte sie mir zu, als ich aufgelegt hatte.
»Nein. Ich bin einfach nur ein Mensch«, sagte ich verärgert. Ich schätzte Lindas Meinung sehr, aber ich mochte es nicht, dass sie meine Entscheidungen so oft und so harsch kritisierte. Linda wurde ob meines Kommentars ein wenig blass und verstummte augenblicklich, was für sie ungewöhnlich war. Sie war zu weit gegangen, und das merkte sie auch.
»Entschuldige. Du wirst schon deine Gründe dafür haben.« Es klang aufrichtig. Ich kommentierte ihre Entschuldigung nicht weiter, da ich keine Lust hatte, ihr meine Beweggründe nahezubringen und mich damit wiederum für Kritik anzubieten. In der Palliativmedizin ist das Verhältnis zwischen Ärzten und Pflegekräften enger, als ich es sonst kannte, und die Pflegekräfte sind alle hoch spezialisiert und kennen sich in ihrem Gebiet in der Regel ausgezeichnet aus. Daher hatte ich auch kein Problem damit, mir die Kritik von Linda anzuhören und ihre Ratschläge anzunehmen. Allerdings war es immer leicht, eine starke Position zu vertreten und eine klare Meinung zu haben, wenn man nicht derjenige war, der das Ganze dann auch zu verantworten hatte.
Nächste Woche würde ich das klärende Gespräch mit Herrn Fischer führen. Natürlich würde er sich noch immer nicht entschieden haben, aber dann konnte mir wenigstens niemand nachsagen, dass ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Fast ein wenig trotzig wandte ich mich wieder meinem Computer zu.
Herr Fischer meldete sich tatsächlich die ganze Woche nicht bei mir. Umso überraschter war ich, als am Dienstagvormittag das Telefon klingelte und ich seine Nummer auf dem Display sah.
»Herr Fischer?«, meldete ich mich. Wollte er absagen? War er schon wieder in der Klinik und wartete auf die nächste Chemo?
»Ja, ich … ich wollte nur fragen, ob Sie auch wirklich kommen heute?«
Er klang anders als sonst. Seine Stimme war matt, der Anruf schien ihn viel Kraft zu kosten.
»Ja, klar. Um vierzehn Uhr. Wieso, geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein. Es geht mir nicht gut. Ich … es geht mir nicht gut. Kommen Sie einfach vorbei. Ich glaube, ich brauche jetzt wirklich Ihre Hilfe.«
Ich sah auf die Uhr. Ich hatte noch einen anderen Termin zu absolvieren. »Können Sie bis vierzehn Uhr warten?«
»Ja, ich wollte nur sichergehen, dass Sie kommen.«
»Ich komme«, sagte ich. »Ganz sicher.«
Linda hatte das Gespräch verfolgt.
»Es geht ihm nicht gut, oder?«, fragte sie mit großen Augen.
»Nein. Er klang ziemlich bescheiden.«
»Ich komme mit. Und ich packe die Medikamentenpumpe ein.«
Dafür schätzte ich Linda. Sie wusste, wann eine Situation kippte, und egal wie sehr sie sich zuvor über Herrn Fischer geärgert hatte, jetzt würde sie für ihn da sein.
Wir klingelten etwas früher, als geplant, an Herrn Fischers Haustür. Es dauerte ewig, bis er die Tür öffnete. Wir beide erschraken, als wir ihn sahen, und bemühten uns, ihn das nicht merken zu lassen.
»Sie sahen schon mal besser aus«, bemerkte ich daher nur lakonisch.
Ein angedeutetes Lächeln. »Ich habe mich auch schon mal besser gefühlt.«
Er war sehr blass, auch sein Nagelbett und die Schleimhäute, was schon für eine deutliche Blutarmut sprach. Auch hatte er punktförmige Einblutungen an den Hautstellen, die ich einsehen konnte. Dies wiederum deutete auf eine sehr niedrige Thrombozytenzahl hin. Seine Blutgerinnung war nicht mehr ausreichend, und kleinste Verletzungen führten zu ausgeprägten Blutergüssen. Das Schlimmste aber war sein Gesicht. Beulen deformierten seinen Schädel, und er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Die wenigen, die verblieben waren, standen wild in alle Richtungen ab. Eine Gesichtshälfte hing schlaff herab. Die Bestrahlung schien nicht viel genützt zu haben. Er war noch dünner geworden, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Herr Fischer schwankte bedächtig, als er sich zu seinem Sessel zurückbewegte. Linda sprang ihm sofort zur Seite und stützte ihn. Gemeinsam schafften sie es bis zu dem Sessel, in den er sich kraftlos fallen ließ.
Ich sah sofort, dass sich ein Gespräch über Therapieoptionen erübrigte. Er hatte keine mehr. So sah ein sterbender Mann aus.
»Wieso haben Sie nicht schon früher angerufen?«, fragte ich etwas zu vorwurfsvoll.
»Ich wusste ja, dass Sie heute kommen würden. Am Wochenende ging es mir noch richtig gut. Ich war mit meinen Freunden draußen am See. Sie haben meinen VW-Bus für mich hergerichtet. Ich konnte zwar nicht helfen, aber wir hatten eine gute Zeit. Sie haben ihn angemalt und eine Bank eingebaut.«
Es erschien mir surreal, dass seine Freunde den Bus herrichteten, wenn Herr Fischer doch offensichtlich nie wieder damit fahren würde. Aber vielleicht zeigte sich in solchen Momenten und in diesen Taten auch wahre Freundschaft. Du opferst ein Wochenende für eine Aktion, von der jeder weiß, dass sie zumindest unter praktischen Aspekten Unsinn ist, die aber Herrn Fischer sicher sehr gefreut hatte und ihm zumindest für ein paar Stunden das Gefühl gab, dass sein Leben noch ein Leben war. Es hatte den Anschein von Normalität, und das hatte er in diesem Moment sicherlich gut brauchen können.
»Können Sie Ihre Tabletten noch schlucken?«, fragte ich.
»Heute habe ich sie noch nicht eingenommen. Es fällt mir schwer, mein Mund ist so trocken. Dementsprechend bekomme ich jetzt auch schon wieder diese Schmerzen.«
Ich sah mich prüfend in der Wohnung um, während Linda schon diskret in ihrer Tasche kramte und die Medikamentenpumpe hervorholte.
»Gut, Herr Fischer, jetzt mal was ganz Grundsätzliches. Wollen Sie noch mal in die Klinik?«
»Nein.«
»Was wollen Sie?«
»Zu Hause bleiben. Es hat ja doch keinen Sinn. Ich bekomme keine weiteren Therapien. Es ist vorbei.«
»Okay. Dann hängen wir Ihnen jetzt eine Medikamentenpumpe an, damit Sie keine Medikamente mehr schlucken müssen. Die Pumpe funktioniert wie ein Perfusor im Krankenhaus. Wir geben da in die Kassette unter der Pumpe die Medikamente hinein, die Sie brauchen.«
»So weit ist es schon?«, fragte Herr Fischer.
»Ja, so weit ist es«, erwiderte ich bestimmt. »Und Sie können nicht allein bleiben. Die Pumpe läuft mit der von uns eingestellten Befüllung über 24 Stunden. Wir geben aber etwas mehr von den Medikamenten in die Pumpe, als Sie eigentlich brauchen, denn Sie können sich über eine kleine blaue Taste selbst eine voreingestellte Menge zusätzlich geben. Damit können Sie sich auch nicht überdosieren, denn nach jeder Bolusgabe ist die zusätzliche Gabe für 15 Minuten gesperrt.« Ich machte eine Pause, um zu sehen, ob meine Informationen bei Herrn Fischer angekommen waren. Herr Fischer schien einfach durch mich hindurch zu blicken. Auch wenn er selbst Arzt war und die Erklärung zur Medikamentenpumpe wahrscheinlich gar nicht gebraucht hätte, wurde mir in dem Moment bewusst, dass ich ihn damit heillos überforderte. Er würde weder selbst die Pumpe bedienen noch irgendetwas von dem wiedergeben können, was ich ihm gerade erklärt hatte. Ich schwieg einen kurzen Moment. »Wo ist Otto?«, fragte ich schließlich. Wir mussten jetzt Nägel mit Köpfen machen.
Herr Fischer zeigte an die Zimmerdecke. »Einen Stock über mir. Otto Meister. Er ist zu Hause.«
Linda stand auf. »Ich gehe hoch und unterhalte mich mit ihm«, sagte sie so natürlich, als würde sie jeden Tag bei Menschen an die Tür klopfen und ihnen sagen, dass ihr Nachbar bald stirbt und sie sich gefälligst um ihn kümmern sollen. Wenn ich so darüber nachdachte, dann tat sie das ja irgendwie auch. Trotzdem kam mir die Situation so absurd vor. Was für einen komischen Beruf hatten wir, dass wir an fremder Leute Türen klopften und sie mit solchen Situationen konfrontierten?
Herrn Fischer schien das alles mittlerweile gänzlich egal zu sein. Der Verlauf, den er beschrieb, war nicht ungewöhnlich. Ein letztes gutes Wochenende, alle sind begeistert und denken, es gehe bergauf, und dann kommt der Einbruch. Wir sehen das andauernd, aber für jemanden, der das nicht kennt, ist das eher ungewöhnlich. So wie für Otto, der bald darauf mit Linda durch die Tür kam. Er sah einigermaßen schockiert aus. Linda hatte sicherlich sehr deutliche Worte für Herrn Fischers Situation gefunden.
»Martin?«, fragte Otto, nachdem er mir die Hand geschüttelt hatte. »Ich bleibe bei dir, natürlich!« Otto setzte sich neben Herrn Fischer und nahm seine Hand. Etwas Vertrautes lag zwischen den beiden. Ich hatte den Eindruck, dass sie mehr als nur gute Freunde waren.
»Aber morgen gehst du noch mal in die Klinik, oder? Du brauchst doch Thrombozyten!«, sagte Otto an Herrn Fischer gewandt, während ihm eine Träne über die Wange lief.
»Ja, natürlich.«
Ich traute meinen Ohren kaum. »Im Ernst?«, fragte ich.
»Ich weiß, dass ich sterben muss, aber doch bitte nicht an einer behandelbaren Ursache!«, sagte Herr Fischer einigermaßen entrüstet und mit überraschend viel Kraft.
»Er braucht seine Thrombozyten!«, rief Otto gleichermaßen entsetzt, so als hätte ich vorgeschlagen, Herrn Fischer hier und jetzt ein Kissen auf das Gesicht zu drücken.
Linda warf mir einen vielsagenden Blick zu.
»Okay, wir werden sehen, wie Sie sich morgen fühlen.« Ich wusste, dass Herr Fischer nirgendwo mehr hingehen würde, daher gab es auch keinen Grund, auf diese Diskussion zu bestehen.
»Haben Sie eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht?«, fragte Linda.
»Ja, im Schrank. Habe ich selbst geschrieben. Lesen Sie es, dann verstehen Sie, warum ich so bin, wie ich bin.«
Otto stand auf und ging zu dem Wandregal. Er wusste genau, wo er suchen musste, und reichte Linda das gewünschte Dokument. Es waren mehrere handgeschriebene Seiten.
»Darf ich das mitnehmen? Ich kopiere es mir und bringe es Ihnen morgen wieder mit.«
Herr Fischer nickte schwach, und Linda schob die Papiere in ihre Tasche. Mir grauste schon bei dem Gedanken daran, dass ich das alles durchlesen sollte, ein Gedanke, für den ich mich sogleich und auch im Nachgang noch oft schämte.
Linda machte sich sogleich an die Befüllung der Schmerzpumpe mit den Medikamenten und der Dosierung, die ich ihr auf einen Zettel schrieb. Es war eine Kombination aus einem Opiat, einem Neuroleptikum gegen Übelkeit und einem weiteren Schmerzmittel. Eigentlich gehörte auch noch ein Beruhigungsmittel dazu, welches auch gegen Krampfanfälle wirkte und das ich aufgrund der Metastasen, die ich schon außerhalb des Schädels sah, sehr befürwortet hätte, denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Tumor nicht nur unter der Haut, sondern auch im Gehirn saß, war zumindest gegeben. Herr Fischer wehrte sich aber vehement dagegen; er wolle nicht schlafen und bitteschön bei Bewusstsein bleiben. Ich verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass er so oder so nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben würde. Der Kunde ist König, dachte ich mir, zumindest, wenn er selbst Medizin studiert hat. Er konnte die Risiken einschätzen. Zumindest theoretisch.
Herr Fischer schlief ein, während Linda mit Otto ein paar wesentliche Fragen klärte. Sollten wir einen Pflegedienst kommen lassen? Konnte Otto wirklich gewährleisten, dass Herr Fischer nicht mehr allein blieb?
Otto bestand darauf, sich selbst um Herrn Fischer zu kümmern. Wir gaben ihm schließlich unsere Notfallnummer, damit er uns rund um die Uhr erreichen konnte. Außerdem erklärte ich auch ihm noch mal detailliert die Funktionsweise der Medikamentenpumpe.
»Herr Fischer …« Ich tippte ihm sanft an den Arm. Er öffnete die Augen. »Wir gehen jetzt. Linda ruft nachher bei Otto an und fragt, wie es Ihnen geht.«
Linda nickte bekräftigend. Sie hatte den Rest der Woche Bereitschaftsdienst, sodass sie etwaige abendliche Anrufe tätigen würde.
»Das ist gut. Kommen Sie mich wieder besuchen?« Er lächelte matt.
Ich überlegte. Eigentlich würde ich nicht unbedingt kommen. Linda würde am nächsten Tag sowieso vorbeifahren und gucken, ob die Dosierung der Medikamente angepasst werden müsste, dafür brauchte sie mich nicht.
»Ja, ich komme Sie wieder besuchen. Morgen.«
»Das ist schön. Da freue ich mich drauf.«
Ich konnte förmlich spüren, wie Linda in meinem Rücken einen Blick gen Himmel schickte. Sie war es gewohnt, eigenständig zu arbeiten, und hatte nur wenig Lust, als mein Anhängsel Patientenbesuche zu machen. Aber da musste sie jetzt durch.
Als wir an der Wohnungstür angekommen waren, zog ich Otto nach draußen. Ich ging davon aus, dass Linda ihn schon vollumfänglich aufgeklärt hatte, aber in solchen Situationen muss man sich oft wiederholen, damit die Botschaft auch ankommt.
»Otto, Martin stirbt«, sagte ich und wählte bewusst Herrn Fischers Vornamen, um eine gewisse Vertrautheit zu schaffen und ihm zu sagen, dass wir mit im Boot waren. Otto begann zu weinen.
»Aber am Wochenende ging es ihm doch noch so gut!«
»Jetzt stirbt er aber.«
»Er sollte ins Krankenhaus!«
»Und dann?«
Otto schluchzte. »Dann bekommt er Blut und Thrombozyten und noch mal eine Bestrahlung«, sagte er trotzig.
»Und stirbt trotzdem. Wahrscheinlich noch schneller als ohne.« Etwas sanfter fügte ich noch hinzu: »Otto, Martin kann froh sein, dass er einen Freund wie Sie hat. Ich verstehe auch, dass das jetzt alles ein wenig plötzlich für Sie kommt. Aber Sie werden an seiner Situation leider nichts ändern können. Niemand kann das. Und er hat ganz klar gesagt, er möchte zu Hause bleiben. Er möchte zu Hause sterben. Wir werden ihm das ermöglichen. Er wird keine Schmerzen haben, aber er wird schwächer werden und es wird nicht mehr lange dauern.«
Otto weinte jetzt hemmungslos. »Ich weiß …«
Linda strich Otto über den Rücken, woraufhin er ihre Hand nahm und sie fest drückte. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel Nähe Menschen, die man gerade erst kennengelernt hatte, in solchen Situationen zulassen.
»Ich rufe Sie nachher an«, sagte Linda zu ihm. Er nickte. Langsam beruhigte er sich wieder.
»Wir gehen jetzt. Wenn Sie irgendetwas brauchen, dann zögern Sie bitte nicht und rufen uns an.«
Otto versprach, sich zu melden, trocknete sein Gesicht mit dem Ärmel ab und straffte sich merklich, bevor er wieder die Wohnung betrat. Schweigend liefen wir zu unserem Auto. In solchen Momenten denke ich immer, dass all das für uns inzwischen Routine ist, da drinnen brach aber gerade für jemanden eine Welt zusammen.
»Du kannst ja allein reingehen«, sagte Linda erwartungsgemäß, als wir am nächsten Tag vor dem Haus des Patienten anhielten. »Ich telefoniere inzwischen. Hier, nimm das mit.« Sie drückte mir Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in die Hand, welche ich noch immer nicht gelesen hatte. Linda hatte sich beides jedoch angesehen und mit »Jetzt wird mir so einiges klar« kommentiert.
Otto öffnete mir die Tür. Er war blass, wirkte aber gefasst. »Das ist Katrin«, sagte er und zeigte auf eine schlanke, kurzhaarige Frau Mitte fünfzig, die gerade mit einem Becher vor Herrn Fischers Gesicht rumfuchtelte. »Sie ist auch eine Freundin.«
Katrin schüttelte meine Hand. »Die Medikamente sind zu hoch dosiert!«, sagte sie ohne Umschweife. »Er schläft fast nur noch.«
Ich seufzte innerlich. Immer waren die Medikamente schuld. Ich überging ihren Kommentar erst mal und setzte mich auf einen kleinen Hocker direkt vor Herrn Fischer, der noch immer in seinem Sessel saß – oder vielmehr lag.
»Herr Fischer?« Ich berührte ihn sanft am Knie, woraufhin er kurz die Augen öffnete und andeutungsweise lächelte.
»Ah, Doktor Haberland, Sie sind gekommen. Wie versprochen.« Dann schloss er die Augen wieder.
»Heute Nacht war er sehr unruhig«, bemerkte Otto, der etwas hilflos neben mir stand. »Wollte immer aufstehen, dabei hat er keine Kraft mehr.« Otto schluckte. »Ich habe ein paar Mal auf die Taste da gedrückt«, sagte er und deutete auf die Bolusfunktion an der Medikamentenpumpe.
Diese nächtliche Unruhe ist am Lebensende nicht ungewöhnlich. Aber sie ist auch sehr unangenehm für die Patienten. An Katrin gewandt sagte ich daher: »Das sind nicht die Medikamente.« Er stirbt, fügte ich in Gedanken hinzu, aber das zu sagen kam mir vor Herrn Fischer falsch vor. »Er braucht mehr Medikamente, nicht weniger. Diese Unruhe ist extrem unangenehm, dagegen müssen wir etwas tun.«
»Aber dann schläft er ja nur noch!«, rief Katrin entrüstet. Ich sah sie nur mit hochgezogenen Brauen an.
»Katrin, lass …« Otto hatte die Situation akzeptiert. Er hatte in den letzten 24 Stunden offensichtlich einen deutlichen Sprung gemacht, was die Einsicht in die aktuelle Lage anging. »Wir machen das so, wie Sie es sagen«, fuhr Otto fort. »Ich bin mir sicher, Sie wissen, was das Beste ist.«
Ja, das wusste ich. Ich passte die Medikation an und fügte eine ordentliche Dosis eines Beruhigungsmittels hinzu. Dann bat ich Otto und Katrin vor die Tür und klärte sie über die Sterbephase auf. Erklärte ihnen, dass sie Martin nicht mit Getränken bedrängen sollten, dass er nicht verdursten würde. Stattdessen sollten sie ihm nur den Mund mit Flüssigkeit aus einer Sprühflasche benetzen. Dann sagte ich ihnen noch, was sie machen sollten, wenn Herr Fischer verstarb. Katrin weinte, als ich ihr das weitere Prozedere erklärte. Die Thrombozytengabe und eine Klinikeinweisung wurden glücklicherweise nicht mehr erwähnt. Daran war in dieser Situation auch nicht mehr zu denken.
»Noch was«, sagte ich in Ottos Richtung. »Sie sollten vielleicht versuchen, ihn dazu zu bewegen, sich ins Bett zu legen. Ich kann Ihnen dabei helfen, wenn Sie es wünschen.«
Otto schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon versucht. Er will nicht. Er liebt diesen Sessel.«
Ich nickte. Warum auch nicht. Sie mussten dann nur daran denken, dass sie ihn, wenn er verstorben war, flach lagerten, damit die Totenstarre ihn nicht in einer halbsitzenden Position fixierte. Ich versuchte, Otto diese Überlegung behutsam näherzubringen, was dieser mit einem weiteren Tränenausbruch quittierte. Schließlich ging ich wieder. Herr Fischer hatte die ganze Zeit über geschlafen. Ich wusste, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich ihn lebend sah.
Martin Fischer starb in dieser Nacht. Als ich am nächsten Tag zur Leichenschau kam, war seine Wohnung voller Leute. Herr Fischer saß natürlich noch im Sessel, niemand hatte daran gedacht, ihn gerade hinzulegen. Er hatte nicht untertrieben, er hatte wirklich viele Freunde. Otto stellte mir jeden einzeln vor.
»Frau Doktor Haberland«, sagte ein Mann um die siebzig mit langem weißem Haar, der mich ein wenig an Gandalf aus Herr der Ringe erinnerte, »Martin hat sie oft erwähnt. Sie haben sich sehr um ihn gekümmert, nicht wahr?«
Ich errötete. Hatte ich das?
»Äh, na ja, so wie es sich einrichten ließ«, nuschelte ich. Was für eine blöde Antwort, dachte ich noch. Gandalf lächelte jedoch. »Doch, er sagte, dass Sie sich weit über das vorgesehene Maß hinaus um ihn bemüht hätten. Auch dann noch, als die Versorgung schon längst ausgelaufen war.«
Ich dachte nach. Irgendwie stimmte das ja auch.
Als ich wieder im Auto saß, nahm ich mein Laptop zur Hand und loggte mich in Herrn Fischers elektronische Akte ein. Ich suchte seine Patientenverfügung, die Linda gescannt und angehängt hatte. Als ich sie las, stiegen mir die Tränen in die Augen.
Wenn es keine Aussicht mehr auf Heilung gibt, wenn es keine sinnvolle Therapie mehr gibt, die mein Leben verlängern könnte, so möchte ich nach Hause gehen und dort versterben. Zu Hause möchte ich von einem SAPV-Team betreut werden, so wie es mit Frau Dr. Haberland abgesprochen ist. Sie kennt meine Wünsche und weiß, was in dieser Situation zu tun sein wird. Sie hat hierbei mein vollstes Vertrauen.
•
Mein Latte macchiato war mittlerweile kalt geworden. Trotzdem rührte ich noch immer darin herum. Herr Fischer – hatte ich Schuldgefühle seinetwegen? Hätte ich mich mehr um ihn kümmern müssen? Oder hatte Linda recht und ich hatte mich zu sehr in die Situation hineingesteigert? War es das? Ich würde es nicht abschließend klären können. Die Situation hatte ja eigentlich einen guten Abschluss gefunden und wirklich oft hatte ich seit seinem Versterben auch nicht über Herrn Fischer nachgedacht. Vielleicht war das falsch. Dachte ich zu wenig über die Patienten nach, wenn sie erst mal verstorben waren? Auch war die Versorgung nicht übermäßig aufwendig gewesen. Emotional anstrengend, ja, aber medizinisch nicht sonderlich schwierig und auch die Angehörigen waren leicht zu führen gewesen.
Fast musste ich ein wenig lachen, als das Gesicht eines weiteren Patienten vor meinem geistigen Auge auftauchte, Herr Özdemir. Ihn hatten wir sehr lange betreut, und seine Angehörigen waren alles andere als einfach gewesen. Ich dachte da insbesondere an eine Begegnung mit seinen Angehörigen, der es trotz aller Tragik nicht an einer gewissen Komik fehlte, auch wenn das Ende dieser Begleitung mehr als unbefriedigend war.