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KAPITEL 5:
Alles und Nichts

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Flug buchen. Check!

Im Februar war es vollbracht. Es stand fest. Mein Weg nach Peru war geebnet. Ich hielt den Buchungsbeleg in der Hand. Am 10. Juli 2014 sollte eine Lufthansa-Maschine von Frankfurt nach Houston, Texas, starten. Am selben Tag sollte es weiter nach Lima, in die Hauptstadt Perus, gehen.

Rund 17 Stunden alleine im Flugzeug. Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Gefühlschaos ich in diesen Stunden erleben würde. Obwohl ich in diesem Moment auf den Flugbeleg blickte, hielt sich mein Gefühlschaos noch in Grenzen. Ich war ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm. Ich fühlte keine überschwängliche Euphorie, keine Panik, kein Herzrasen. Die Entscheidung war schon gefallen und vermutlich, dachte ich, hatte ich diese Phase schon überwunden.

Scheinbar wusste ich absolut, was ich tue und war mir meines Weges vollkommen sicher.

Oder der Grund für meine Sachlichkeit lag in einem Naturinstinkt begründet, einem Impuls, einem neurologischen Zusammenhang in Ausnahmezuständen. Denn ich musste nun Nerven bewahren, mich auf das Wesentliche konzentrieren und mich mit aller Nüchternheit den notwendigen Vorbereitungen widmen. Dieser Vergleich wirkt immens, doch für mich nahm mein Projekt Peru eine schier kolossale Bedeutung ein und war derart groß, dass sich mein Verstand durchaus in einem Ausnahmezustand befand.

Wie bereitet man sich auf eine solche Reise vor? Ich war schon mehrmals auf Reisen im Ausland gewesen. Mit meiner Mama oder früher meinen beiden Eltern. Wir waren in Griechenland, auf den Kanaren, in Ägypten, in Tunesien … Der Unterschied: All diese Reisen waren pauschal vom Reiseveranstalter geplant und auch um den Rest musste ich mich größtenteils nicht kümmern. Ich musste nur meinen Koffer packen, zum Flughafen, einchecken und die Entspannung ging los. Herrlich! Nun sollte es andersrum sein. Die Anspannung würde beginnen, wenn ich im Flugzeug sitze.

Meine Reiseerfahrungen abseits von All-Inclusive-Hotels oder Ferienwohnungen beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt auf einen Schüleraustausch mit einer spanischen Schule in der Nähe von Alicante, an dem ich in der 11. Klasse teilgenommen hatte. Im Prinzip hatte ich da ja auch in einer Gastfamilie gelebt und war ohne meine Eltern im Ausland gewesen, jedoch mit meinen bekannten Mitschülern und Lehrern. Außerdem hatte ich meine Austauschpartnerin schon gekannt, denn die Spanier und Spanierinnen waren zuvor bei uns in Deutschland zu Gast gewesen.

Die meisten Jugendlichen im Teenageralter können es bekanntlich kaum erwarten, endlich ohne die Eltern loszuziehen, Orte zu entdecken, mit Freunden zu verreisen. Bei mir war das irgendwie anders. Meine Verbindung zu meiner Mama war zu stark. Ich hatte Verlustängste, wollte gar nicht lange weg sein. Der Gedanke, für fünf Wochen auf der anderen Seite der Welt alleine zu sein, formte einen dicken, dicken Kloß in meinem Hals. Um ehrlich zu sein, war dies, soweit mein Erinnerungs- und Einfühlungsvermögen ausreicht, meine größte Sorge.

Zurück zur Planung. Zurück zur Besinnung auf das Notwendige. Organisation und Pläne gehörten zu mir, wie der Machu Picchu zu Peru. Nicht umsonst hatte ich mich für ein Management-Studium entschieden.

Einen Sitzplatz im Flugzeug hatte ich also schon mal.

Für die Einreise in die USA brauchte ich ein Visum, das berühmte ESTA. So ein Quatsch für eine Stunde Aufenthalt am Flughafen. Na gut, erledigt und genehmigt – ganz bequem online. Läuft!

Die erste Herausforderung würde mir in Lima bevorstehen. Sehr spät abends würde ich am Flughafen der Pazifikmetropole ankommen und erst am nächsten Morgen einen Inlandsflug hoch in die Anden nach Cusco nehmen. Ich brauchte also einen Schlafplatz. Sämtliche Portale für Unterkünfte wurden durchforstet. So routiniert wie heute war ich bei Weitem noch nicht. Bewertungen waren mir wichtig, die Nähe zum Flughafen war mir wichtig. Einen einigermaßen hohen Standard sollte die Bude schon haben. Den aller-, allergrößten Wert legte ich jedoch auf die Sicherheit. Ein junges, blondes, zierliches Mädchen alleine in einer südamerikanischen Großstadt. Um Gottes Willen! Insbesondere für meine Familie hatte meine Sicherheit verständlicherweise den höchsten Wert.

Ich buchte also ein Hostel in der Nähe vom Flughafen und gönnte mir einen offiziellen Flughafentransfer. Eine sehr weise Entscheidung. Der Preis war für mich in diesem Fall sekundär. Nun könnte ein falscher Eindruck entstehen. Mein Abenteuer war nicht sponsored by Mum. Bereits mit 14 Jahren hatte ich, vermutlich nicht ganz legal, für ein paar Euro im Kino gearbeitet, teilweise bis 1 Uhr nachts Kinosäle geputzt. Ich war mir nicht zu schade. Einige Jahre lang hatte ich erfolgreich Schülernachhilfe gegeben, ein Nebenjob der lukrativeren Art. Als kleiner Sparfuchs hatte ich mir dadurch ein solides Polster erarbeitet. Natürlich mit der ein oder anderen Finanzspritze von Verwandten an Geburtstagen, Weihnachten oder zum Abi.

Wenn ich schon so hart für meinen Traum gearbeitet hatte, wollte ich währenddessen auch nicht knauserig sein. Neben der Sicherheit wünschte ich mir auch, dass es mir während meiner Traumerfüllung gut geht. Also setzte ich meinem Traum von Peru noch eine Kirsche auf.

Einen Direktflug von Lima zurück nach Deutschland gab es nicht. Wieso also nicht auf dem Rückflug noch einen Stopover nur für mich alleine einlegen? Panama oder Costa Rica reizten mich sehr, doch dies hätte zu mindestens einem weiteren Zwischenflug und einem höheren Preis geführt. Als ich die Flugnetze studierte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Rio de Janeiro! Geil, Brasilien! Und das auch noch im Jahre der dort stattfindenden Fußball-WM. Fünf weitere, unbefangene Tage genehmigte ich mir dort, bevor es wieder zurück nach Deutschland gehen sollte. Fünf Tage zur Entspannung, nur für mich.

Hostel in Rio buchen. Check! Inklusive Flughafentransfer, versteht sich …

Die Flüge und die Unterkünfte in Lima und Rio waren das Einzige, was von der allgemeinen Organisation an mir hing. Die Teilnahme am Volunteer-Programm über Proyecto Perú hatte zum Vorteil, dass ich eine Gastfamilie vermittelt bekam und von dieser persönlich vom Flughafen in Cusco abgeholt werden sollte. Neben dem Schlafplatz war ich auch unheimlich gespannt auf die Verpflegung in meiner Gastfamilie. Schließlich war ich seit drei Jahren Vegetarierin und nicht empfänglich für Meerschweinchen oder Rinderherz auf dem Teller.

Der Trend des internationalen Volunteerings weckte in den vergangenen Jahren eine Vielzahl mehr oder weniger gemeinnütziger Organisationen zum Leben, die es sich auf die Fahne schreiben, Kulturen und Menschen zusammenzuführen und gleichzeitig einen immateriell wertvollen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Organisationen, bei welchen das kommerzielle Interesse vorherrscht, nutzen die zunehmende freiwillige Bereitschaft sowie den Drang nach der Erweiterung des persönlichen Erfahrungsschatzes internationaler Gäste hochgradig aus. Die Anzahl muss beträchtlich sein. Für einen unerfahrenen und naiven »Volunteer-Rookie« wie mich, war die Schwelle dabei nur sehr schwer erkennbar oder in der Vorstellung auch gar nicht existent. Ehrlicherweise habe ich die gemeinnützige Arbeit von meiner auserwählten Organisation im Vorhinein gar nicht hinterfragt. Ich habe mich auf die Bewertungen von ehemaligen Freiwilligen, Helfern und Praktikanten im Netz verlassen – und hatte im Endeffekt damit auch ein gutes Händchen oder auch einfach sehr viel Glück.

Ein beruhigendes Zeichen war die zuverlässige Kommunikation vor meiner Anreise. Ab dem Zeitpunkt der Teilnahmebestätigung am Volunteer-Programm bestand reger E-Mail-Kontakt zwischen mir und der Agentur. Bei sämtlichen Fragen und Sorgen wurde mir geholfen, Unterstützung versichert und Mut zugesprochen. Absolut ehrlich gemeint!

»Du bist Vegetarierin? Das ist doch kein Problem. Die Gastfamilie weiß schon Bescheid.«

Klingt nach Pauschalurlaub? Nun ja – das nun wirklich nicht.

Wer allerdings denkt, dies alles ist umsonst, liegt falsch. Geld bezahlen dafür, dass man umsonst arbeitet? Wo gibt’s das denn? Für das Leben in meiner Gastfamilie inklusive Verpflegung, die Vermittlung, Organisation und Betreuung in der Organisation, Versicherungen sowie Spenden für das gemeinnützige Projekt standen bei mir circa 1.000€ auf dem Zettel. Diejenigen, die bei dem Preis nun drohen umzufallen, sollten mal nachsehen, was ein fünfwöchiger Aufenthalt in Peru summa summarum sonst kosten würde.

Ich rede bewusst von einer Teilnahme am Volunteer-Programm, nicht von einer Buchung. Denn aus meiner Sicht geschieht eine Buchung meist ohne Hürden, eine Teilnahme hingegen kann an Bedingungen geknüpft sein. Grundsätzlich sind Volunteer-Programme in vielen Fällen frei zugänglich, die Hürden sind niedrig und für viele leicht zu überwinden. Aber eben nicht für jeden. In meinem Fall wären die Hürden für ein medizinisch orientiertes Programm unüberwindbar gewesen. Ohne medizinische Grundausbildung geht hier berechtigterweise nichts. Was ich damit sagen möchte? Die Voraussetzungen für Volunteer-Programme können sehr stark variieren. Manche erfordern eine laufende oder gar abgeschlossene fachspezifische Ausbildung. Manche nicht. Mein After-School-Programm hatte keine formalen Voraussetzungen. Für einige Projekte gilt fließendes Spanisch als Grundvoraussetzung, bei anderen wird es empfohlen, bei einigen wenigen reicht Englisch aus. Um diese Hürde überwindbar zu machen, bieten einige Organisationen zusätzlich Spanisch-Kurse an. So auch Proyecto Perú. Dort ist eine Sprachschule angegliedert, in der man nicht nur Spanisch, sondern bei Interesse sogar Quechua, die Sprache der Ureinwohner, gelehrt bekommt. Immer noch sprechen einige indigene Peruaner Quechua und bewahren diese alte Tradition. Eine schöne Sache, wie ich finde, auch diese Kultur internationalen Gästen zugänglich zu machen.

Die sprachliche Barriere war für mich leicht zu bewältigen, kam ich doch frisch aus dem Spanisch-Leistungskurs. Außerdem pflegte ich noch immer den Kontakt zu meinen Freunden aus dem Spanien-Austausch. Deshalb irritierte es mich, dass mich Proyecto Perú zu einem einwöchigen Spanisch-Kurs zu Beginn meines Aufenthaltes verpflichtete. Dies galt für alle Volunteers, demnach auch für mich, obwohl ich bereits fünf Jahre Spanischunterricht besucht hatte. Bestimmt würde ich trotzdem dazu lernen. Vielleicht würde ich dadurch bereits mit anderen Volunteers Kontakt knüpfen und in sprachliche Besonderheiten in Peru eintauchen können.

»Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit.«, stellte Ludwig Börne bereits vor vielen Jahren fest.

Die Gesundheit zu schützen und Risiken zu vermeiden, steht natürlich bei der Vorbereitung auf solch eine Reise ganz oben auf der ToDo-Liste. Ich reiste nicht als normaler Tourist nach Peru. Ich wusste, dass ich engen Kontakt zu Einheimischen haben würde, die in Gegenden leben, in denen kein trinkbares Wasser aus dem Wasserhahn kommt. Ich sollte in ein Land reisen, dessen Gesundheitssystem und dessen Gesundheitspolitik nicht mit der hiesigen vergleichbar ist. Arztbesuche standen vor meiner Abreise also auf dem Programm. Viele Arztbesuche! Vom Tropeninstitut ging es zum Hausarzt, von der Blutabnahme weiter zur Urinabgabe. Der Grundtenor der behandelnden Ärzte:

»Kind, du kannst doch nicht alleine nach Peru. Das ist doch viel zu gefährlich!«.

Kleiner Reminder: Ja, ich lebte auf dem Land. Meine eiskalte Antwort:

»Klar kann ich das!«.

Ein kleiner Piecks gegen Gelbfieber, drei nervige Sessions für Hepatitis A und B und eine Schluckimpfung gegen Typhus unmittelbar eine Woche vor Abreise standen auf meinem Impfprogramm. Jetzt muss ich aber gewappnet sein. Doch da war noch ein Risiko, welches ich vorher nicht ausschließen konnte: Die Höhenkrankheit. Cusco liegt auf 3.400m Höhe. Auf dieser Höhe war ich noch nie zuvor gewesen, nicht mal annähernd. So oft habe ich gehört oder gelesen, wie Touristen an Soroche, wie es dort genannt wird, leiden. Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, Erbrechen. Gemeinsam mit meinem Hausarzt fanden wir ein hier erhältliches Präparat, das als Provisorium in meine Reiseapotheke wanderte. Ich bin mir sicher, dass ich für den alteingesessenen Landarzt, der mich von meiner Geburt an kannte, die erste Patientin war, die nach Peru reiste. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich nur einige wenige der besagten tausend Krankheiten vermieden hatte.

Dass die perfekte Vorbereitung vermeintlich alles, aber auch zugleich nichts ist, durfte ich bald zu spüren bekommen. Packlisten. Ein Sinnbild meines organisierten und strukturierten Perfektionismus. Quasi nach dem Klick zur Flugbuchung schnappte ich mir Zettel und Stift, zeichnete in kunstvoller Schrift »Peru 2014« auf den oberen Papierrand und füllte dieses Blatt Papier bereits Wochen vorm Abflug nach und nach mit Leben. Mama und ich klapperten diverse Geschäfte ab, um passende Kleidung und hilfreiches Equipment zu besorgen. Eine wetterfeste Softshell-Jacke, eine vernünftige Kamera, einfache T-Shirts von H&M, Hygieneartikel, Geschenke für die Gastfamilie und so weiter und so fort.

Der Job als Begleiterin, Weggefährtin und Mutter, während meiner Zeit vor Peru muss anstrengend gewesen sein. Und trotzdem stieß ich bei Mama, die alle Rollen selbstverständlich übernahm, zu jeder Zeit auf Besonnenheit, Ruhe und Zuversicht.

Es war die Zeit der Fußball-WM. Die deutsche Nationalmannschaft performte stark und marschierte durch. Dies nahm ich als Anlass, Hawaii-Ketten im Deutschland-Design und jede Menge Haribo für die ganze peruanische Familie zu besorgen. Ich wusste die Namen meiner zeitweisen Familienmitglieder und hatte sogar schon mal Mailkontakt. Peru schien also nicht hinter dem Mond zu sein. Schließlich gab es offensichtlich Internet.

Von der besten Freundin meiner Mama und ihrer Tochter bekam ich zu meinem Geburtstag einen dünnen und praktisch zusammenfaltbaren Baumwoll-Schlafsack und eine kleine rote Wärmflasche mit der Aufschrift »Liebe«. Noch ahnte ich nicht, dass diese Kleinigkeit zu meinem persönlichen Lebensretter werden würde.

Langsam wurde es ernst, ungemein ernst. Der Moment rückte immer näher. Mit jeder Woche, jedem Tag, jeder Minute. Unruhe machte sich breit und wich anschließend Freude. Oder andersrum. An manchen Tagen konnte ich es nicht fassen. An manchen Tagen hatte ich einfach Angst und die Zweifel waren so groß, dass ich mich dem Abbruch nahe fühlte. An manchen Tagen wünschte ich mir so sehr, dass ich schon da wäre.

Die Zeit verging unfassbar schnell. Eine Abiturprüfung nach der anderen, zwischendurch Vorbereitungen für mein Abenteuer. Kein Platz für Zweifel! Irgendwann kommt der Moment, in dem ich lernen muss, mich von Zuhause zu lösen. Alleine der Gedanke ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Eigentlich war ich für mein Alter sehr reif. Ich hatte es erwähnt, die meisten meiner besten Freundinnen waren ein paar Jahre älter als ich und so fühlte ich mich auch.

Obwohl ich Einzelkind bin, hatte ich mich, insbesondere die letzten fünf Jahre vor meiner Reise, schnell in Richtung Selbstständigkeit bewegt. Nach der Trennung meiner Eltern waren meine Mama und ich noch näher zusammengerückt. Wir wurden zu einem starken und unzertrennlichen Team. Ich übernahm mehr Aufgaben, um meiner vollzeitarbeitenden Mama den Alltag zu erleichtern. Wir vertrauten uns blind, wir kannten uns blind. Fortan gab es nur noch uns – und unseren Hasen Oddi.

Ich war und bin immer noch überaus dankbar für unser Verhältnis und unsere unbändige gegenseitige Unterstützung. Doch diesen Gurt, der uns beide fest zusammenhielt, zu öffnen, davor hatte ich eine riesige Angst. Angst vor Verlust. Meine Mama war für mich der einzige Mensch, der mich wirklich verstand, auf den ich mich verlassen konnte, den ich bis zur Unendlichkeit liebte. Ich klammerte mich ganz fest daran. Dies zu verlieren, würde mir nicht nur den Boden unter den Füßen wegreißen, ich könnte nicht mehr existieren, ich würde nicht mehr existieren wollen. Im Leben oder bei einer Reise auf eigenen Füßen stehen, selbstständig zu agieren und Probleme zu lösen, praktisch betrachtet sah ich mich dazu in der Lage. Mental fühlte ich mich jedoch vollkommen abhängig. Was mir fürs Erwachsensein augenscheinlich noch fehlte, war das Tragen von Verantwortung. Das sollte ich in Peru lernen: An erster Stelle Verantwortung für mich selbst zu übernehmen und im Grunde genommen sogar auch für andere.

Denn die Konstellation drehte sich um. Während bei vorherigen Reisen meine Mama die Verantwortung für sich und mich übernahm, lag es nun an mir, meine eigene zu übernehmen und in gewisser Hinsicht auch für fremde Kinder, die künftig mir vertrauen sollten.

Dieses Problem musste ich in den Griff bekommen, wenn ich erwachsen werden wollte. Dessen war ich mir bewusst. Auf Dauer würde diese Situation für uns beide nicht optimal sein. Mamas müssen letztendlich auch lernen, loszulassen. Auch meine Mama hatte ziemliche Verlustängste. Angst, mir könne in Peru etwas zustoßen, um sich dann in totaler Machtlosigkeit wiederzufinden. Mir machte dieser mentale Gurt zeitweise enorm zu schaffen. Er erstickte mich oft auch in Alltagssituationen, etwa, wenn meine Mama berufsbedingt über Nacht weg war. Lange verstand ich nicht, dass wir trotz allem weiterhin ein enges Verhältnis haben und ein starkes Team sein würden.

Nichtsdestotrotz begriffen wir beide mein Abenteuer auch als Chance.

Für die seelisch schwierige Zeit, die uns beiden bevorstand, wollten wir uns anschließend belohnen. Wenn wir diese Hürde überwunden haben würden, wollten wir einen unvergesslichen gemeinsamen Urlaub miteinander verbringen. Zwei Wochen nach meiner geplanten Rückreise sollte es für uns beide in die andere Richtung gehen: nach Sri Lanka. Auch dies war eine bewusste Entscheidung. Schließlich hätte ich diese Zeit auch in Peru verbringen können, was im ersten Augenblick die logischere und sinnvollere Entscheidung gewesen wäre. Doch dieses gemeinsame Ziel von uns beiden besaß einen großen Wert, der durch den Gedanken zustande kam, dies könne unser letzter gemeinsamer Urlaub sein, bevor für mich ein neues, ein eigenständiges Leben beginnen würde. Es sollte nicht nur eine Belohnung werden, sondern eine Besiegelung. Wir nahmen an, es solle so sein, dass erwachsene Kinder nicht mehr mit der eigenen Mutter verreisen. Eine falsche Annahme, wie sich noch heute herausstellt.

Meine Mama glaubte an mich, fand mein Vorhaben klasse und schaute mit mir gemeinsam gespannt und voller Vorfreude Dokumentationen über kulturelle Traditionen, das Essen, die Menschen und das Leben in Peru. Übrigens gab es bei uns damals noch kein Netflix oder einen Smart-TV mit integrierter YouTube-App. Wir kauften DVDs oder im Bestfall schafften wir es, einen Laptop an das Fernsehgerät anzuschließen. Zwar würden wir die kommenden Wochen räumlich weit voneinander getrennt sein, aber wer und was kann uns innerlich trennen? Niemand! Als Symbol für unsere unkaputtbare Verbundenheit schenkte sie mir eine Kette mit einem Amulett, das ein Foto von ihr inne trägt. Wie schön! Diese Kette werde ich immer bei mir haben und kann mich ihr nah fühlen!

Es beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt, was voraussetzt, dass ich nun noch einen Schritt Richtung Selbstständigkeit gehe. Eigentlich sogar in vollkommene Selbstständigkeit.

(21.06.2014)

Der Kalender zeigte den 8. Juli 2014. Noch zwei Tage bis zum Abflug. Es war ein heißer Sommer. In kurzen Klamotten fieberten wir beide mit einem Glas Erdbeerbowle und Chips dem Ball im Fernsehen hinterher. Die deutsche Nationalmannschaft traf im Halbfinale auf die brasilianische. Und das im legendären Maracanã in Rio de Janeiro. In der Stadt, in der ich in knapp fünf Wochen selbst sein werde.

»In fünf Wochen wird meine Reise schon fast vorbei sein«, durchbrachen meine Gedanken das Spiel.

7:1! Für Deutschland! Viele werden sich bestimmt erinnern. Welch eine Demütigung für Brasilien. Das bedeutete, Deutschland war im Finale und ich werde es nicht hier erleben. Was ist, wenn die Brasilianer jetzt Hass auf Deutsche haben? Bin ich dann etwa in Gefahr? Da war es wieder, das Was-wäre-wenn-Spiel …

Der Kalender zeigte den 9. Juli 2014. Der Koffer war gepackt. Ein letztes Mal vor meiner Abreise machten wir gemeinsam Oddis Hasenstall sauber. Ich redete bei jeder Gelegenheit vom »letzten Mal«. Das letzte Essen, das letzte Duschen, das letzte Mal die Treppe runtergehen ... Als würde ich den Weg in mein eigenes Grab antreten.

Wie immer setzten wir Oddi auf eine Decke im Wohnzimmer, damit wir den Stall saubermachen konnten. Ich liebte Oddi abgöttisch! Ein Zwergkaninchen mit weiß-schwarz geschecktem Fell. Und das Fell war das aller-, allerweichste, kuscheligste auf der ganzen Welt.

Uns fehlte Streu. Mama stieg rasch ins Auto, um im nächsten Supermarkt neues zu besorgen. Ich passte in der Zeit auf Oddi auf und legte mich bäuchlings zu ihm auf die Decke, schaute ihm in die Augen. Er mümmelte. Ich konnte ein Lächeln erkennen. Ich legte meine Stirn sanft auf seine und flüsterte:

»Oddi, mein Schatz. Bitte, bitte bleib bei mir … Pass auf dich und die Mama auf. Bald liegen wir beide genauso wieder auf der Decke wie jetzt. Bitte bleib bei mir!«

Ich küsste das Fell zwischen seinen Augen. Als ich diese Worte sagte, beschlich mich irgendwie ein ganz komisches Gefühl, sodass mir das Atmen kurzerhand schwerfiel und ein schmerzhafter Druck auf meine Augäpfel einwirkte, wie wenn sich Tränen den Weg nach Außen bahnen wollen.

Der Wecker klingelte sehr früh. Mir war kalt und heiß zugleich. Mein Kopf schmerzte. Meine Glieder auch. Ist bestimmt nur die Aufregung. Ich versuchte, mein schlechtes Gefühl zu vertuschen, irgendwie herunterzuschlucken. Doch ich war wirklich geschwächt. Das konnte nicht nur die Aufregung sein. Ich maß Fieber. Oh je! Warum ausgerechnet jetzt? Geht bestimmt bald weg ... Der Gedanke, einfach hierzubleiben, beruhigte mich ganz kurz. In der nächsten Sekunde verwarf ich ihn wieder. Jetzt mach keinen Scheiß! Auf geht’s zum Flughafen! Ich glaube so aufgeregt war ich in meinem Leben noch nicht. Aufgeregt und verzweifelt. Das Abenteuer begann. Mein Traum verwandelte sich genau an diesem Tag in Realität. Was werde ich wohl alles erleben? Wie werde ich mich fühlen? Wie werde ich in meiner Gastfamilie aufgenommen? Wie werde ich in meinem Freiwilligenprojekt zurechtkommen? Wen werde ich treffen?

Pachamama

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