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Meine andere Kindheit
ОглавлениеEigentlich hätte ich ein »Thomas« werden sollen, aber ich wurde Hannah. Also doch nicht die Reinkarnation des ersten und wichtigsten Geliebten meines Vaters Papasan. Dieser erhielt seinen Namen in Südostasien, wo er im letzten Drittel seines Lebens lebte und wirkte. »Papasan« heißt sinngemäß »Herr Papa«, und ich werde ihn hier durchgängig so nennen.
Ich bin im Januar 1950 in Heidelberg geboren. Meine Mutter war bei meiner Geburt 42 Jahre alt. Ich war das fünfte Kind, eine Totgeburt nicht mitgerechnet. Mutti hatte bei der Geburt der Schwesterzwillinge 1942 eine Schwangerschaftsvergiftung erlitten. Und es war von einer weiteren Schwangerschaft dringend abgeraten worden, weil ihre Gesundheit massiv bedroht gewesen wäre. Aber ich sollte zur Welt kommen.
Bis zu meinem 60. Geburtstag war ich der Überzeugung, dass sich diese schöne Geschichte zugetragen hatte:
Mutti hatte die dringende Empfehlung und auch die offizielle Genehmigung zu einer medizinisch begründeten Abtreibung erhalten. Im Wartezimmer in Heidelberg saß sie, der Eingriff sollte demnächst erfolgen. Sie ist aber vorher aufgestanden und einfach gegangen. Und hat ihren vier »Großen« ein Geschenk gekauft, jedem ein winziges aus Leder gefertigtes Tierchen. Das meines Bruders Wolfgang, immer Wiff genannt, war ein Häschen, braun und mit Steppnaht. Ich habe es gesehen. Und Mutti ist damals nach Hause gegangen und hat mich im Januar darauf zur Welt gebracht, ohne große Komplikationen, und ich war ein gesundes Kind. Überraschend nur, dass ich eben kein »Thomas« war.
59 Jahre später, kurz nach dem Tod meines Bruders Wiff, fand meine Schwägerin Usha Unterlagen, aus denen hervorging, dass es damals anders gewesen war:
Die Eltern hatten sich schweren Herzens wegen der Armut in der Nachkriegszeit und der medizinischen Vorgeschichte meiner Mutter zu einer Abtreibung entschlossen. Ein Heidelberger Gynäkologie-Professor überredete sie jedoch mit moralisch-ethischen Argumenten, die Schwangerschaft und Geburt trotz allem zu riskieren.
Als ich gesund auf der Welt war, trugen die Eltern eben diesem Arzt aus Dankbarkeit die Patenschaft an, denn er hatte sie ja zu diesem gewaltigen Schritt überredet. Zu dieser Patenschaft kam es allerdings nicht. Aber meine Taufe fand durch meinen Großvater väterlicherseits statt, den Pfarrer Opa Jonathan aus Kassel-Bettenhausen. Ich habe keine deutliche Erinnerung an ihn, nur ein paar Fotos zeigen ein Gesicht mit Spitzbart und einem tiefernsten Ausdruck. Der evangelische Geistliche hatte zehn Kinder, Papasan war das zweitjüngste. Es gab neun Söhne und eine Tochter – Tante Lena. Opa Jonathan beerdigte früh seine Frau – Wilhelmine – die Mutter der Zehn. Sie starb im Alter von 42 Jahren an Herzschwäche und die neue Oma Hedwig zog die noch recht kleinen Kinder groß. Im ersten und im zweiten Weltkrieg starben drei der Söhne, Opa Jonathan in Kassel im Jahr 1953. Drei Jahre vor seinem Tod war also meine Taufe.
Papasan hatte nach dem Krieg den Peterhof in Ziegelhausen – einem Vorort von Heidelberg – als Pächter anvertraut bekommen. Mit seinem stets ausgeprägten Charisma hatte er das Vertrauen der Besitzerin – von allen nur die »Baronin« genannt – gewinnen können. Er, der Diplom-Ingenieur, hatte überzeugend dargelegt und bewiesen, dass er der ideale Bewirtschafter des großen Hofes sein würde.
Die vier »Großen« – meine Geschwister – erzählten später ausführlich von armen, aber heiteren, harmonischen Kindheitszeiten: Zusammen spielen in der Natur, bestimmt auch im Haushalt und auf dem Obstgut mithelfen, bestimmten ihren Alltag. Die vier Kinder lebten unter großen äußerlichen Entbehrungen, aber in fröhlicher Gemeinschaft und jederzeit reich an Musik, Theater und Spielen.
Irgendwann war vom Vater jedem Kind ein Verslein zugeschrieben worden. Sie konnten es bis in ihr Erwachsenen-Alter hinein auswendig hersagen. Und es hatte wundersamer Weise mit ihrem sich entfaltenden Wesen zu tun. Das von Schwester Eleni begann so: „Ich bin der kecke Löwenzahn, an jedem Fleckchen wachs ich an.“
Unsere Mutti hat die Familie damals mit Holzbirnen ernährt, und zwar in jeder denkbaren Zubereitungsart.
Befreundet war die Familie, in die ich hineingeboren wurde, mit der Familie F. Diese wohnte in der »Mühle«. War der Vater Müller? Oder Seifensieder? Vielleicht ein Farbenhändler? Auf jeden Fall gab es zehn Kinder und auch dort große Nachkriegsarmut. Aber auch sie erlebten heitere Erfüllung durch Hausmusik, Gedichte und Theateraufführungen. Erste Kontakte mit der Anthroposophie und der gerade in Heidelberg entstehenden Waldorfschulgründung verbanden beide Familien.
Und eine frische Liebe unseres Vaters zu Heiner. Und später zu Karl, beides Söhne der Familie F. Der jüngere wurde, damals etwa 16-jährig, zu meinem Paten ernannt. Jahrzehnte später wurde mir klar, warum ich diesen Patenonkel unsympathisch und immer auch ein wenig eklig fand. Ich versuchte später wiederholt, das zu erfassen und mit dem dann älter gewordenen Mann, der Lehrer geworden war, zu besprechen und aufzulösen. Das ist aber leider nicht geglückt.
Meine Taufe aber war wohl ein gelungenes Fest. Eine begnadete Märchendichterin im Umfeld der Familie – eine Frau K. – hatte aus dem Märchen ‘Dornröschen’ ein Theaterstück geschrieben. Das Dornröschen im Körbchen war ich mit meinen wenigen Lebensmonaten. Und die guten Feen waren auch zugegen. Die Größen der beiden Familien mit zehn und fünf Kindern gaben das mühelos her. Die böse, 13. Fee, war auch dabei. Da war also schon einiges in die Wiege gelegt.
Vom Peterhof zog die Familie nicht direkt nach Hannover. In Bielefeld wurde 1951 zunächst Station gemacht. Es gab Arbeit für Papasan bei den Stadtwerken und die Familie wohnte in der Herforder Straße. Für Erinnerungen war ich allerdings noch zu klein.
Aber nach einem knappen Jahr in Bielefeld ging es nach Hannover in die Heinrich-Heine-Straße. Und von dort gibt es auch Bilder. Es muss sehr eng gewesen sein für die siebenköpfige Familie. Eigentlich war eine 5-Zimmer-Wohnung von Bielefeld aus organisiert worden. In den Stunden, in denen der Hausrat nach Hannover gebracht wurde, zog jedoch eine andere Familie in die für uns vorgesehene Wohnung ein. Ohne Bürokratie, blitzschnell, wie es in der damaligen Zeit der Wohnungsnot bestimmt häufig einfach nur so gemacht wurde. In Hannover angekommen fanden meine Eltern und Geschwister nur noch eine 2-Zimmer-Wohnung vor und bezogen notgedrungen dieses Quartier, wenn auch recht eng für das »Siebengestirn«.
Papasan und Mutti hatten in Heidelberg ja bereits die Anthroposophie kennengelernt und eine intensive Phase der Vertiefung in dieses Gedankengut hatte begonnen. Im platonischen Weltbild der Griechischen Antike spielten die sieben sichtbaren Planeten eine große Rolle, wie auch ihre Verbindung mit den Wochentagen, mit Pflanzen und Metallen. Was lag da näher, als die Mitglieder der Familie einzuteilen?
Der »uralte, bleischwere Saturn«. So hat sich der Vater, mit dem Älterwerden kokettierend, oft genannt.
Das Siebengestirn, das um die »Sonne«, Mutti, kreist!
In ihrer unmittelbaren Nähe die kleine »jungfräuliche Venus«: Ich.
»Mond« und »Merkur«, die Schwestern Anna-Maria und Eleni, ebenfalls nicht weit von der Sonne entfernt.
Der »kriegerische Mars« war dem Wiff zugeschrieben und »Jupiter« – alt, wissend – dem ältesten Bruder Joachim, von allen nur Kim genannt.
Für mich alles stimmig. Und am Weihnachtsbaum hingen sie dann, diese Symbole: Sonne vergoldet, Mond versilbert, Venus aus Kupfer, Merkur mit Quecksilbergehalt. Das sich entwickelnde Wesen der Familienmitglieder hatte für mich immer selbstverständlich mit den Planeteneigenschaften und deren materiellem Gehalt zu tun.
Daneben gibt es noch weitere eigene Erinnerungen aus dieser Zeit:
Ein Spaziergang mit Anna-Maria, bei dem mich ein Fahrradfahrer umfuhr. Es brannte höllisch zwischen den Beinen.
Eine Stehlampe neben meinem Gitterbett, warmes, gemütliches Licht. Die Gespräche im Nebenraum und die häufig gespielte Hausmusik waren aber so spannend, dass ich wohl zigmal aus dem Bett kletterte und neugierig auftauchte. Dabei erinnere ich mich an die einzigen Schläge meiner Kinderzeit, auf den Po, durch Papasan. Danach bin ich wohl nicht mehr aufgestanden, nachdem ich zu Bett gebracht worden war.
Zwei Hauseingänge weiter gab es den Fahrradladen, der hieß Esau, wo die älteren Brüder sich oft eine Pumpe ausborgten. Und zwei Straßen weiter war in einer Garage ein Lebensmittelgeschäft eingerichtet, in dem Fräulein Christawas herrschte. Irgendeine Süßigkeit bekam ich dort immer und liebte natürlich die Wege in dieses Geschäft.
Neben den Trümmern, der Wohnraumknappheit und dem allgemeinen Mangel in der Nachkriegszeit herrschte sicher auch Geldmangel in der großen Familie, obwohl Papasan eine Anstellung beim TÜV hatte und in Hannover und Umgebung täglich in „Kessel kriechen“ musste, was immer das bedeuten mochte.
Die vier großen Geschwister hatten alle einen Platz in der kurz nach dem Kriegsende wiedereröffneten Waldorfschule am Maschsee bekommen. Es gibt diese Familien, die Schulen eine Zeit lang tragen. Meine Familie entwickelte sich zu einer diesen Familien. Mit einem jungen Lehrer zusammen gründete mein Vater eine Wandergruppe an dieser Schule.
Der Versuch, mich in den Waldorf-Kindergarten zu bringen, scheiterte jedoch schnell. Schreiend berichtete ich zu Hause von der leibhaftigen Hexe, die dort sei. Die gute Frau Hattermann hatte gerade die Waldorf-Kindergarten-Bewegung ins Leben gerufen. Ich hätte eine schöne Zeit bei ihr haben können. Aber sie hatte diese Schneidezähne mit einer größeren Lücke dazwischen. Und ich war vertraut mit den Grimmschen Märchen, die mir allabendlich erzählt wurden. Und in denen kamen diese Hexen reichlich vor. So musste das Experiment »Kindergarten« umgehend aufgegeben werden.
Mein Lieblingsgericht damals war »Reimerlein«. Die Klassenlehrerin meines Bruders Wiff hatte diesen Namen – und Babyzwillingsmädchen. Eines ist noch vor dem vollendeten ersten Lebensjahr gestorben. Die Lehrerin hielt es damals für richtig, alle Kinder ihrer Klasse an dem aufgebahrten toten Kind entlang defilieren zu lassen. Das überlebende Mädchen wurde meiner Mutter zum Hüten anvertraut, da dessen Mutter ihre Lehrtätigkeit kaum unterbrach. Und das kleine Mädchen bekam gemuste gekochte Kartoffeln und Karotten zu essen. Diesen Brei mochte ich auch.
Meine kindliche Phantasie war real: Die Nachbarsfamilie hatte ein Radio. Hinter der Stoffbespannung ertönte Musik, wunderschöne Musik. An sie war ich ja seinerzeit von der musizierenden Familie gewöhnt. Aber wie kam die Musik aus diesem Holzkasten? Ich blickte durch das Bespannungsgewebe und sah ganz, ganz sicher: Ein komplettes Orchester, Geigen, Celli, Bässe, Flöten. Und einen engagierten Dirigenten. In Bewegung. Natürlich. Alles war geklärt.
Die Enge in der Heinrich-Heine-Straße hat wohl vor allem das Projekt »Häuschen« vorangetrieben. Um 1953 entstand eine Siedlung in der Tilsiter Straße in Hannover-Bothfeld, in der Reihenhäuser gebaut wurden, da die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit wohl zahlreiche Projekte dieser Art begünstigt hat. Unser Endhaus war winzig klein, hatte aber wunderbarer Weise sieben Zimmer. Dieses Häuschen zu erstehen war an die Bedingung geknüpft, zwei jungen Handwerker-Lehrlingen ein Dach über dem Kopf zu geben. Günther war Maler und Heinz war Maurer. Beide waren etwa 16 Jahre alt, für mich damals uralt. Sie bewohnten zwei der vier Zimmer in der ersten Etage, und ich habe zwei einfache, aber irgendwie gutmütige junge Männer in Erinnerung, die mit uns an Muttis Esstisch saßen und wie ihre eigenen Schulkinder ebenfalls morgens »Doppelbrote« für ihren Lehrlings-Arbeitstag bekamen. Das Brot war ein »Angeschobenes«: Gersterbrot, und später habe ich dann herausgefunden, dass wohl Eden-Margarine darauf war. Was noch? Ich weiß es nicht. Nur, dass Butter und das einzige Honigbrötchen ausschließlich das Familienoberhaupt bekam. Papasan saß am Kopfende des großen Esstisches und führte philosophische Gespräche mit Kim, vielleicht auch mit Wiff. Der Rest schwieg. Jeder fand es in Ordnung so.
Ich habe die berühmten glücklichsten Jahre meiner Kindheit auch wirklich als solche in Erinnerung, zumal die Stimmung in der Tilsiter Straße überhaupt sehr gut war. Nichts war schlimm daran, dass es bei uns zu Hause so ganz anders zuging als in den Nachbarschaftsfamilien.
Im kleinen Wohnzimmer stand ein Flügel und nahm diesen Raum fast vollständig ein. Über Eck standen zwei Schlafsofas, die Betten der Eltern. Abends wurden die seidigen, goldfarbenen Steppdecken aus den Bettkästen geholt. Neben dem Wohnzimmer befand sich das Esszimmer mit dem großen Tisch und dem Buffet. Auf dem stand, zunächst verhüllt, Weihnachten 1956 ein gewaltiges Fahrrad, mit dem Sattel auf der niedrigstmöglichen Position. Für mich! Tage später fuhr ich damit. Papasan hielt das Rad mit mir darauf hinten am Gepäckträger in stabiler Lage. Ich erinnere mich genau an den Moment, als er losgelassen hatte, weit zurückgeblieben war und ich stolz fuhr, auf diesem riesengroßen Rad. Natürlich gab es damals keine Extra-Kinderfahrräder.
Zurück ins Häuschen, das mir übrigens damals als Kind riesig vorkam. Später, im Erwachsenenalter, erkannte ich, dass man auf kleiner Grundfläche äußerst raumsparend gebaut hatte, auf einer Grundfläche von sicher nicht mehr als 60 qm, mit zwei Etagen. In der ersten Etage wohnten die »Mäderchen« im Balkonzimmer. Kim hatte dort auch ein eigenes kleines Zimmer, seine philosophische Literatur stand im Bücherschrank. Er trug meistens einen dunkelroten Samtkittel und spielte häufig Oboe, wenn er nicht am Flügel saß. Wiff durfte sich bald nach unserem Einzug in die Tilsiter Straße im Dachgeschoss ein Zimmer ausbauen. Sehr einfach: Presspappe waren die Wände, ein rundes Fenster gab es zur General-Wever-Straße. Die Leiter zu Wiffs Zimmer hochzuklettern war für mich das Schönste. Das durfte ich sehr häufig, und mein großer Bruder zeigte mir seine Briefmarken. Es gab sogar eine dreieckige Marke, von unermesslichem Wert! Davon war ich überzeugt, denn Wiff konnte seiner kleinen Schwester faszinierend erzählen. Einmal holte er mich – ich war wohl eine Zweitklässlerin – gegen Abend von einer Schulfreundin ab. Die wohnte in einem benachbarten Stadtteil und ich hatte den Nachmittag bei ihr verbringen dürfen.
Ich erinnere mich an ein einziges winziges Zimmer, in dem sich zahlreiche Menschen befanden und in dem der Tisch beladen war von Flaschen und Gläsern, aus denen ununterbrochen getrunken wurde – außerhalb von Mahlzeiten, man stelle sich das mal vor! Es war für mich ein bisschen unheimlich in dieser fremden Umgebung. Die Erwachsenen schrien laute, unverständliche Sätze und die Fenster waren beschlagen.
Jedenfalls holte mich Wiff dort ab. Es war schon dunkel, und unser Heimweg war weit. Das vergaß ich jedoch völlig, weil mir mein Bruder eine lange Geschichte von einem riesigen Schiff mit vier Schornsteinen erzählte, auf dem viele Menschen tanzten, speisten und sich vergnügten, das aber von einem Eisberg gerammt wurde und mit all den Menschen mitten in der Nacht im eisigen Meer versank. Gleich zwei unerhörte Eindrücke an einem einzigen Tag!
In Wiffs Bodenzimmer hatte es mir eine umfangreiche Bildchen-Sammlung besonders angetan, die ich stundenlang betrachtete. Nein, keine Fußballbildchen damals, noch lange nicht, und schon gar nicht im Hohmann-Haus, denn dort waren einige Dinge gewaltig verpönt. Die Sammelbildchen waren, glaube ich, Miniaturen von Kunstbildern – schwarz-weiß. Auseinander geschnippelte Katalogseiten? Wer weiß, kostbar und besonders für mich allemal.
Ich als Kleinste hatte im Erdgeschoss Quartier bezogen. Mein Bett stand unter dem Fenster, gegenüber eine Kommode, die wohl Wäsche und Strümpfe aller Familienmitglieder enthielt. Und in meinem Zimmerchen neben eben dieser Kommode sehe ich häufig meine Schwestern sitzen. Singend, Socken stopfend, Teenager ihrer Zeit eben. Protest? Niemals.
In meinem kleinen Zimmer hatte ich einen meiner klarsten Kindheitsträume, an die ich mich erinnern kann: Ich öffne die Tür der Kommode und bekomme einen wahnsinnigen Schreck. Zu Recht, denn darinnen sitzt eine Hexe und bewirft mich mit Sockenknäueln. Ich habe damals wohl den (Alb)Traum meiner Schwestern geträumt.
Erfreulich war jedoch einmal der Besuch von Onkel Hans. Ich lag schon im Bett und hatte einen dick verbundenen großen Zeh. Onkel Hans bedauerte mich und legte mir ein ungeheuerliches silbernes Markstück auf meinen verbunden Fuß. Damit würde mein Zeh am besten heilen, das wüsste er genau. Ich glaubte es ihm zutiefst. So ein Geldstück hatte ich noch nie besessen. Meins!
Was war anders bei uns? Was war verpönt? Als Kind vergleicht man natürlich noch nicht. Dass wohl jeden Abend Musik erklang, die mich beim Einschlafen begleitete, war einfach nur schön und vertraut. Wiff, der auf der Geige immer wieder das Violinkonzert a-Moll von Bach übte. Zu seinen Füßen saß ich oft dabei. Eleni spielte Querflöte, Anna-Maria ebenfalls Geige.
Zu häufigen Hauskonzerten kamen Freunde und Nachbarn. Ich durfte solange aufbleiben, bis es Bettzeit war. Manchmal durfte ich sogar die Noten umblättern. Dann stand ich aufmerksam neben meinem klavierspielenden Vater und wartete, dass er seinen Kopf mit dem längeren, vollen Haar einmal kräftig nach hinten warf und blätterte auf dieses Signal hin blitzschnell eine Seite weiter. Wenn ich zu Bett gegangen war, musizierten die Großen weiter. Die klassische Musik ist die Musik meiner glücklichen Kindheit.
Klar war, dass andere Musik auf gar keinen Fall sein durfte! Überheblich war von »Bummsmusik« die Rede, wo immer solche ertönte. Im Radio (wir hatten nie eines), im Fernseher (schon gar nicht), bei Ausflügen in Kurorte. Wenn in diesen Kurparkmuscheln Unterhaltungsmusik erklang, suchte Papasan mit seiner Familie das Weite, nicht ohne vorher wüst gelästert zu haben über diese Art der Töne und über die Spießer, die gar noch dazu sich bewegten (tanzten)! Es blieb meiner Mutter und den großen Geschwistern bestimmt nichts anderes übrig, als sich Papasans vernichtendem Urteil über solche Unterhaltungseinrichtungen kritiklos anzuschließen.
»Fußball« und »Rauchen« durften nicht einmal als Begriffe vorkommen. Was gar nicht ging war auch, dass wir Mädchen Hosen trugen. Nie durfte so etwas geschehen. Und auf der Straße etwas zu essen, war völlig unmöglich. »Lutscheeis« war etwas ganz Schlimmes. Immerhin bekam ich, gar nicht so selten, einen Eisbecher, silbrig beschlagen der Kelch, und das Papierschirmchen, das im Eis steckte, durfte ich behalten! Papasan hat sein kleines Mädchen oft ins Café ausgeführt, wo er sich selber dann ein Gläschen Eckes Edelkirsch oder Danziger Goldwasser genehmigte. Die großen Geschwister haben solche Erinnerungen nicht.
Etwas ganz besonderes war die legendäre Fahrt nach Sizilien Ostern 1956, unmittelbar vor meiner Einschulung. Damals begann das neue Schuljahr immer nach den Osterferien. Der Beruf des Diplom-Ingenieurs brachte für Papasan mehr Außendienst als Büroarbeit mit sich. Der seltenere Bürodienst wurde in der Tiestestraße, im TÜV-Gebäude, ausgeübt. Dorthin marschierte ich als frischgebackenes Schulkind oft von der Schule am Maschsee. Das Überqueren der großen Straßen an den Ampeln hatte Papasan manchmal vorher mit mir geübt. Das heißt, er bezog Position auf der bereits von ihm überquerten Hildesheimer Straße an der Kreuzung mit dem Altenbekener Damm. Ich hatte gelernt, auf Grün zu warten und trotzdem nach Autos zu schauen, und dann alleine über die Straße zu gehen. Das ging auch immer gut, und im TÜV-Gebäude angekommen, wartete ich dann beim Hausmeister und bekam wahlweise eine ganze Tüte Hustelinchen oder Em Eukal, die von Papasan selber bevorzugte Sorte Lutschbonbons. Und die Heimfahrt konnte angetreten werden, wenn er mit der Büroarbeit fertig war und mich beim Hausmeister abgeholt hatte. Dann bestiegen wir den neuen VW-Käfer, das dunkelblaue »Käferchen«. Dieses war kurzfristig auf Raten angeschafft worden und der ganze Stolz der Familie. Die Dienstfahrten von Hannover bis in den Harz, bis nach Alfeld, bis in die Heide, um in dortigen Fabriken Kessel zu prüfen, waren bis dahin vom Vater mit dem Fahrrad unternommen worden. Irgendwo musste Papasan immer geheimnisvoll in einen Kessel kriechen, wenn er nicht zu Hause war.
Nun hatte er also das Käferchen. Mit Beginn der Osterferien war es ausgebaut worden. Die Rückbank war entfernt und durch Stapel von Zeltplanen und Schlafsäcken ersetzt worden. Sicher waren auch die Steppdecken der Schlafsofas der Eltern dabei. Die zusammengefalteten Decken dienten den beiden Schwestern und dem Bruder Wiff als Sitz. Bruder Kim nahm an dieser Reise nicht teil.
Ich selber hatte meinen Platz vorne zwischen den Eltern, der unvermeidliche Steuerknüppel befand sich zwischen meinen Beinen. Sicher durfte ich manchmal auf Muttis Schoß sitzen. Genauer erinnere ich mich jedoch an meinen Platz auf dem Schoß des fahrenden Papasan. Und lenken durfte ich auch, vorzugsweise in den Tunneln – das war möglicherweise eine Legende. Aber nur das! Natürlich war niemand angeschnallt, Sicherheitsgurte gab es noch lange nicht. Und dass es auf den Autobahnen besonders voll gewesen wäre, daran hat niemand eine Erinnerung. Solche habe ich jedoch an einzelne Stationen dieser unvergessenen Fahrt, die insgesamt wohl drei Wochen gedauert hatte:
Wir sitzen auf einer Terrasse an einem Tisch. Der nie vorher gehörte Name »Gardasee« erklang mehrfach. Und Wasser glitzerte. Aber vor allem der Geschmack der ersten Nudeln mit Tomatensoße ist bis heute auf meiner Zunge. Ich habe häufig versucht, diese Soße, die wohl aus völlig unbehandelten Früchten bestand, nachzukochen. Der Geschmack ist jedoch nie wieder erreicht worden.
Der Geruch nach Kalk. Neubauten – noch Ruinen ohne Fenster. Die Hotelgiganten des »Teutonengrills« an der Adria entstanden gerade. Irgendwie muss der Vater die Erlaubnis erhalten haben, dort übernachten zu dürfen, für die Kinder ein Abenteuer. In den sicherlich kostenneutralen Neubauskeletten, in denen die Schlafsäcke ausgerollt wurden, wehte ein kühler März- oder Aprilwind.