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Erinnerungen an Italien

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Dann weiter südlich in den Italienstiefel. Ich durfte mitstaunen über ein riesiges, achteckiges Gebäude. Von einem Kaiser war die Rede und mir wurden wundervolle Geschichten erzählt. Die Großen tauschten sicherlich historische Realitäten aus, greifbar nah war es, das Castel del Monte.

Und auch in dieser Gegend wird der Vater unkonventionell um billige Unterkunft nachgesucht haben. In einem sehr kleinen Gebäude wurden die Schlafsäcke diesmal ausgebreitet. Am Feuer in der Mitte des runden Häuschens ohne Fenster und Türen waren dunkle, fremdartige Gesichter zu sehen. Die Trulli-Bewohner, bitterarm, die wohl noch nie ein Käferchen gesehen haben, teilten mit uns ihre Polenta und ließen uns nächtigen. Bei der Abfahrt am nächsten Morgen zupften sie an unseren geflickten, aber warmen Wollpullovern. Das Kommando Papasans: „Ausziehen!“, wurde prompt befolgt, und die gastfreundlichen Menschen, sicher noch viel ärmer als wir, strahlten über das Geschenk – wertvoll, sehr wertvoll. Natürlich auch für Mutti, die ihre liebe Not gehabt haben muss, den stets einfallsreichen Mann zu bremsen und die begeisterten Kinder satt und warm zu kriegen. Denn das Geld ausgeben durch den Haushaltsvorstand sprengte immer das Budget, so dass Mutti wohl ständig Geldsorgen gehabt haben muss, obwohl sie selber immer gerne großzügig war.

Ich erinnere mich an eine seltsame Begebenheit. Ich war ganz alleine mit meiner Mutter in der großen Stadt. Nachdem unsere Besorgungen erledigt waren, erhielt ich an einem Imbissstand ein selten genossenes Würstchen. Neben uns stand ein zerlumpter, hagerer Mann. Sie waren häufig zu sehen damals, die Erwachsenen bezeichneten sie mit dem für mich unverständlichen Wort »Kriegsheimkehrer«. Unser armer Mann sprach mit der Verkäuferin und legte ein paar Münzen auf den Tresen. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf, schob ihm das Geld zurück und reichte ihm ein Stück Brot. Da mischte sich meine Mutter ein und ergänzte das für ein Würstchen wohl nicht ausreichende Kleingeld. Der Mann verschlang die Wurst blitzschnell und sah Mutti dankbar an. Auch an der Haustüre daheim klingelte es manchmal und ein Bettler stand draußen. Jedes Mal gab meine Mutter ihm ein großes Stück Brot. Einmal war ich jedoch dabei, als der Mann ihr das Brot aus der Hand schlug und in wüstes Schimpfen verfiel. Er war wohl betrunken und wollte Geld. Für mich war Geld damals etwas völlig Unbekanntes. Sicher, man bekam etwas für Geld. Einkaufen war mir als Vorgang vertraut. Aber lange blieb mir unverständlich, warum meine Eltern beim Einkaufen sowohl die Sachen bekamen, die sie haben wollten, als auch Münzen und Scheine, obwohl sie doch nur einen einzigen solchen gegeben hatten, um zu bezahlen. Geld in meiner Kindheit: Ein Mysterium. Entweder war viel da oder gar keines.

Aber ich befinde mich ja auf der Reise nach Sizilien. Die wurde nun fortgesetzt ohne die warmen Wollpullover. An denen erfreuten sich jetzt die Trulli-Bewohner. Der nächste große Eindruck war Dunkelheit, Wasser, ein Hafen. Am gegenüberliegenden Ufer glitzerten Lichter. Die Fähre brachte die Familie samt Käferchen durch die Straße von Messina. Hier fand ich mich in einem Albergo wieder. Catania? Begleitet von meinem Bruder Wiff durfte ich in der Dunkelheit noch einmal nach draußen. Die erste sizilianische Piazza mit all ihrem Leben, ihren Geräuschen, ihren Gerüchen. Ich war gebannt und ungeheuer glücklich, als Wiff mir eine gekochte Kartoffel kaufte. Um das Abenteuer perfekt zu machen, durfte ich sie mitten auf der Piazza verspeisen. Essen! Auf der Straße! Lutscheeis... Fast schon Anarchie.

Zwischenzeitlich hatte der Vater den Carabinieri, die uns zu dem Albergo begleitet hatten, abends seine 14-jährigen Töchter anvertraut. Zum Ausgehen. Zu mehr? Sehr viel später erfuhr ich von den Schwestern, wie groß ihre Angst gewesen war, wie sehr sie sich gewehrt hätten, wie streng der Vater jedoch seine Vorstellung von „stellt euch nicht so an!“ umzusetzen wusste.

Ein riesiges Tal, ein Talkessel. So habe ich mir später, als ich lesen konnte, Evas und Peters Welt vorgestellt, die der Protagonisten aus den ‘Höhlenkindern’. Ein abgeschnittenes Stück Wildnis, für die restliche Welt unzugänglich. In Sizilien waren steinige Bögen übereinander in der felsigen Begrenzungswand des Talkessels zu sehen. Der geheimnisvolle Name »Pantalica«, der Totenstadt, blieb mir bis 2003 im Gedächtnis. Da habe ich noch einmal nach diesem Ort der Kindheitserinnerung gesucht, ihn aber auch mit der Hilfe von Google nicht wiedergefunden.

An die Ätnabesteigung erinnere ich mich nicht selber. Aber die Großen haben häufig davon erzählt: Wie in einem einfachen Albergo recht weit oben am Berg Station gemacht wurde; wie Mutti und ich dort zurückblieben, während die drei Geschwister mit dem Vater aufbrachen, um zum Gipfel bzw. Krater zu gelangen. Gequalmt soll er haben, der Vulkan, und schließlich haben sie sich über den Kraterrand gebeugt. Nur Anna-Maria erzählt bis heute, dass sie damals kurz vor dem Ziel nicht mehr weiter konnte und erschöpft auf die letzten Höhenmeter verzichtete, auf die anderen wartend, in der immerhin gewaltigen Höhe alleine zurück bleibend.

Auf der Rückreise von Sizilien ereignete sich zweierlei, was ich eindrücklich erlebte. So heiter das eine, so bedrückend das andere.

Irgendwo in Österreich hatte man Quartier gemacht. Es gab ein, vielleicht zwei sehr einfache Hotelzimmer. Ein Doppelzimmer für die Eltern, und ich hatte meinen warmen Schlafplatz im »Grübchen« des Doppelbettes. Das allein schon war wohlig und toll, denn die Eltern hatten bekanntlich zu Hause kein Doppelbett, also gab es selten ein »Grübchen« für mich, nur eben auf Reisen oder wenn wir irgendwo als Gäste nächtigten. Der Höhepunkt der Fröhlichkeit war erreicht, als die großen Geschwister wohl als Streich den offenbar mitgeführten Emaille-Nachttopf unter Muttis Bettdecke versteckt hatten und sie diesen kalt und überraschend vorfand, als sie abends ins Bett schlüpfte. Leer natürlich, alle waren ja brav. Ich habe noch ihr übermütiges herzhaftes Lachen im Ohr. Vielleicht habe ich sie sonst nie laut lachen gehört.

Zurück in Deutschland passierte etwas für die Verhältnisse der Familie Dramatisches. In Heppenheim streikte der Motor des Käferchen und das Auto fuhr nicht mehr. Ich erinnere mich an eine staubige Straße und besorgte Gespräche der Eltern und der großen Geschwister. Es gab mit Sicherheit keine Geldreserven. Die abenteuerliche Fahrt, bescheiden genug, aber für damalige Verhältnisse völlig unüblich, hatte wohl jede Mark verschlungen. Nun hörte ich leise von der ungeheuren Summe von 500 Mark sprechen, die für die Reparatur nötig, aber natürlich nicht vorhanden war. Das ganze Desaster um diese Autopanne fand aber in der Nähe eines Retters statt. Ein guter Geist, der bezeichnenderweise den Nachnamen Engel trug – ein ehemaliger Arbeitskollege von Papasan – hatte sich bereitgefunden, die gewaltige Summe zu »pumpen«. Ich hoffe doch sehr, dass Herr Engel dieses Geld jemals zurückerhalten hat.

Ein älteres Ehepaar im Bekanntenkreis hatte weder Söhne noch Töchter. Ehepaar G. war blind. Und für sie organisierte unser allgewaltiger, aber auch überaus sozial eingestellter Vater diverse kleine Hilfestellungen. Das blinde Paar wohnte in der Südstadt, und die Brüder Wiff und Kim mussten eine Zeit lang im Wechsel nach der Schule bei dem Ehepaar G. vorbeischauen und ihnen ihren täglichen Eimer Kohlen aus dem Keller in die Wohnung in der 2. Etage tragen. Mit Kohleöfen wurden damals die meisten Wohnungen geheizt. Das Kohleschleppen war eine selbstverständliche Hilfestellung durch die Familie Hohmann für die älteren Leute. Bestimmt wurden auch Einkäufe von meinen älteren Geschwistern für sie erledigt.

Dann stand eine Italienreise an. Anna-Maria war 14 Jahre alt. Sie wurde auserkoren, vermutlich nicht gefragt, bestimmt aber auch von der Großartigkeit einer solchen Reisemöglichkeit überwältigt. Anna-Maria sollte das blinde Ehepaar nach Italien begleiten. Lange vor dem vorgesehenen Ende dieser Reise kam Anna-Maria zurück nach Hause. Sie war sehr blass und weinte viel. Natürlich wurde mir nichts erzählt, aber so viel bekam ich mit: Anna-Maria hatte ein Trauma erlitten. Sie hatte das blinde Ehepaar in Italien über eine Straße geleitet. Ein viel zu schnelles Auto hatte das Grüppchen angefahren und das Unglück geschah. Anna-Maria blieb unverletzt, aber das Ehepaar G. wurde von dem Auto erfasst. Die Frau wurde so schwer verletzt, dass sie noch am Unfallort verstarb. Der mit zahlreichen Knochenbrüchen versehene Witwer musste nach Hannover zurückgebracht werden und lag dann noch einige Zeit in einer Klinik, wo seine Brüche behandelt wurden. Aber auch er starb an den Unfallfolgen, wenige Wochen nach seiner Frau.

Bis heute fällt es mir sehr schwer, mir vorzustellen, wie meine arme Schwester, 14-jährig, unter dem Erlebnis gelitten haben muss. Hatte sie nicht genug aufgepasst? Was war zu tun und zu organisieren? Wie sollte sie den schwer verletzten Witwer trösten? Wie sollte sie in einer völlig fremden Sprache dessen Rücktransport und den seiner verstorbenen Frau regeln? Vielleicht hat sie damals weinend mit den Eltern in der Tilsiter Straße telefoniert. Aber davon, dass zum Beispiel der Vater zu ihr gefahren wäre und ihr alles abgenommen hätte, davon war nie die Rede. Denn dieser Vater hatte ja auch überhaupt nicht wahrgenommen, dass seine junge Tochter allein von der Begleitungs- und Betreuungsaufgabe dieser beiden hilflosen Menschen auch ohne tödlichen Unfall bereits völlig überfordert gewesen sein muss. Anna-Maria hat damals auf jeden Fall alles geschafft, und wenigstens viele Jahre später konnte sie immer mal wieder über dieses erlittene Trauma sprechen. Meine tapfere Schwester hat in ihrem Leben zahllose weitere schwere Aufgaben bekommen und gemeistert.

Mein Vater war anders

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