Читать книгу Die Kronprinzessin - Hanne-Vibeke Holst - Страница 5
ОглавлениеSie fürchtet sich nicht vor der Dunkelheit. Nur vor dem Bild.
Es ist weit nach Mitternacht, die Nacht vom zwanzigsten auf den einundzwanzigsten Dezember. Charlotte schläft nicht. Sie liegt mit weit offenen Augen in ihrem Bett, um es nicht aus der Schlaflosigkeit hervortreten zu sehen. Bemüht sich stattdessen, Gegenstände in der filzartigen Dunkelheit des Raumes auszumachen – den Schrank, den Stuhl, die lateinamerikanischen Webstoffe an der Wand, die Lamellen des Rollladens. Lauscht nach den fernen Verkehrsgeräuschen des Jagtvej, hört den Krach eines Kanonenschlags heraus, folgt einer Notfallsirene, einem Frauenlachen in der Straßenschlucht. Fließt hin in der Musik, die aus der Wohnung von unten kommt, träger Jazz, empfindsame Saxofonsoli, die durch die Decke nach oben steigen wie die bläulichen Rauchfahnen einer glühenden Zigarette. Sie denkt an New York, den Club im The Village, in dem sie damals tanzen waren. Vor den Zwillingen. Den Zwillingen, deren Husten in regelmäßigen Abständen von der anderen Seite der Wand zu hören ist. Besonders Jens’ asthmatisches Bellen. Sie wickelt sich aus den langen Beinen ihres Liebsten, löst seinen Arm von ihrer Schulter. Er fällt schwer aufs Laken. Thomas verschläft alles. Kanonenschläge, Krankenwagen, Kinderhusten. Der Schlaf des Gerechten, sagt er, der nie von Dämonen gejagt wird. Wie sollte er dann ihre verstehen können?
Ohne Licht anzumachen, geht sie durch das Schlafzimmer auf den Gang zum Kinderzimmer. Tastet sich barfuß um Bauklötze, Puppen und Autos herum bis zu Jens’ Bett vor, setzt sich auf die Bettkante und stützt seinen Hinterkopf, während er, kaum wach, aus dem Wasserglas trinkt, das sie ihm hinhält. Klopft ihm leicht auf den Rücken, redet beruhigend mit ihm, streichelt ihm über die Wange und legt ihn behutsam wieder hin. Ein Lächeln huscht über sein rundes Gesicht, während sie die Bettdecke um ihn herum feststopft und seine Hand hält, bis seine Atmung wieder regelmäßig ist. Unterdrückt den Drang, sich neben ihn in das viel zu kurze Bett zu legen oder ihn in ihr eigenes zu tragen. Dreht sich zu dem anderen Bett, in dem Johanne wie gewöhnlich quer liegt, die Decke weggestrampelt. Sie ist die kleine Schwester, zehn Minuten nach ihrem Bruder geboren. Aber sie ist die Starke. So ist es in ihrer Familie immer gewesen. Auf dieser Seite. Wie ihre Mutter zu sagen pflegte: »Die Kerle waren schon immer nur Schwächlinge.« Während die Frauen das Band gewesen sind, das alles zusammenhält. Generation für Generation. Mit Johanne wurde auch gekuschelt und geschmust. Vielleicht nicht ganz so sanft. Bei ihr hatte sie nie Angst gehabt, sie zu verlieren. Sie kommt schon klar. So wie sie selbst klargekommen ist.
Thomas breitet die Arme aus, als sie zurückkommt und ihre kalten Füße an seiner Wade reibt.
»Kannst du nicht schlafen?«, murmelt er.
»Jens hustet«, antwortet sie und kriecht ganz nah zu ihm hin.
»Wollen wir uns lieben?«, fragt er und lässt seine Hand über ihren Bauch streichen.
»Wir müssen schlafen«, konstatiert sie und gähnt. Schließt die Augen. Spürt die Schwere. Jetzt kann sie schlafen. Er ist auf dem Weg, der Schlaf.
Aber dann trickst er sie doch aus. Gerade als sie glaubt, entkommen zu sein, taucht das Bild auf. Oder besser gesagt die Filmsequenz, die damit anfängt, dass die Mutter den Kuchen aus dem Ofen nimmt und sie bittet, den Vater und Kesse zum Kaffee zu holen. Und sie geht, oder besser, hüpft auf einem Bein über den gekiesten Hof, und es gelingt ihr, sowohl einen Stein zwischen Fuß und Sandale zu bekommen als auch, ihn wieder herauszubefördern und darüber zu spekulieren, ob sie wohl heute Nachmittag am Strand wären. Noch bevor sie die alte Wasserpumpe mit der Zinkwanne, in die die Mutter Ringelblumen gepflanzt hat, in der Mitte des Hofs erreicht hat, hat sie es auch noch geschafft, auf Englisch bis drei zu zählen – one, two, three – und hört ihre Mutter mit dem Porzellan klirren und das Radio aufdrehen. »Es ist was faul in Dänemark/die Dybbøl Mølle mahlt zur Hölle«, grölt John Mogensen durch das offene Küchenfenster, und sie grölt mit.
In diesem Augenblick ist es so sehr Sommertag, wie es nur sein kann. Bis Kesse aus der Scheune kommt, monumental wie ein Riese, ihren Vater über der rechten Schulter schleppend. Auf dieselbe Art, wie er verreckte Schweine trägt. Seither hat sie nicht mit Sicherheit sagen können, ob Kesses Brüllen oder die baumelnden, strümpfigen Füße ihres Vaters der Grund waren, warum sie in die Hose machte.
In jedem Fall war das der Moment, in dem ihre Welt zerbrach. Juli 1974. Als sie neun Jahre alt war.
Sie beißt in eine Ecke ihrer Decke, um die Fortsetzung zu vermeiden. Die Bildfolge dessen, was sie tatsächlich gar nicht gesehen hatte. Wie er es getan hatte. Wie er aus dem Seil des Mähbinders zuerst einen Strick band und danach eine Schlinge knüpfte. Wie er hinaufkletterte und das Reep am Hahnenbalken befestigte. Wie er ein altes Ölfass herbeischaffte, sich die Schlinge um den Hals legte, die Lippen anfeuchtete, die Augen aufriss und die Tonne unter sich wegtrat. Wie ein Zucken über sein Gesicht jagte, weil er es bereute.
An das Bereuen klammert sie sich. Immer noch. Nach all den Jahren. Natürlich bereute er. Da war es nur einfach zu spät.
Die Bilder lassen sie los, verblassen stumm. Aber die Angst ist immer noch da. Wie eine kalte Knochenhand, die ihren Nacken gepackt hat. Sie sucht nach Thomas’ Hand.
»Thomas?«, flüstert sie.
»Mmmh?«
»Ich habe Angst ...«
»Ich bin bei dir, Schatz«, sagt er und zieht sie zu sich. Schließt seine Hand um ihre Brust, die sich plötzlich so schwer anfühlt wie ein milchgefülltes Euter.
»Oh, wie warm du bist!«, stöhnt er, schon schnell atmend.
Sie nimmt ihn entgegen, küsst seinen Hals, als er in sie gleitet. So vertraut. So lebendig.
Danach schläft sie. Sicher. Wie ihre eigenen Kinder.
Charlotte Damgaard war keine Erfindung des Staatsministers.
Ihr Name war nie in einem kleinen, schwarzen Buch notiert worden, sie stand nicht auf der Liste, die er so gut wie fertig hatte, als er an diesem frühen, stockdusteren Dezembermorgen aufwachte. Zu früh. Besonders, wenn man in Betracht zog, wie spät es am Abend vorher geworden war. Aber auch wenn es erst kurz vor fünf war, war ihm klar, dass der Versuch, weiterzuschlafen, zwecklos war.
Stattdessen freute er sich darüber, dass er wenigstens dieses eine Mal zu Hause in der Stockholmsgade aufwachte und nicht in der Suite irgendeines Luxushotels in einer anderen Zeitzone oder draußen auf Marienborg. An und für sich fühlte er sich wohl da draußen – anders als Gitte, seine siebzehn Jahre jüngere Journalisten-Gattin, aber er riss sich nicht darum, dort zu sein, wenn sie auf Reportagereise war. Außerdem waren sie jetzt für den Winter wieder in die Stadt gezogen, nach einem langen, milden Herbst auf dem Land. Was er selbst genossen hatte, als eine Art rekreatives Refugium während der aufreibenden Wochen und Monate vor und nach der fatalen Euro-Abstimmung. Er war sich nicht sicher, ob er das ohne diese Zufluchtsstätte in schöner, friedlicher Umgebung durchgestanden hätte. Aber immer, wenn das Ministerauto den Nybrovej erreichte und über die kopfsteingepflasterte Zufahrt zur Sommerresidenz des Staatsministers rollte, die dem Staat einst von einem reichen jüdischen Mäzen vermacht worden war, entfuhr ihm ein kleiner Seufzer der Erleichterung. Jetzt konnte er es sich erlauben zu entspannen, den Krawattenknoten zu lockern und die Schultern fallen zu lassen. Wenn er nicht gerade sehr spät dran war und als Gastgeber bei einem offiziellen Abendessen erwartet wurde, und wenn nicht Gitte selbst in der Küche stand und das Messer schärfte, das sie ihm in den Bauch zu rammen drohte, sollte er nicht SOFORT zu ihrem (in der Regel mediterran inspirierten) Essen kommen – dann ließ er seinen Chauffeur Mappe und Jackett tragen und ging selbst direkt in den Park, um zwischen den alten, seltenen Bäumen umherzuschlendern, die der Mäzen hatte pflanzen lassen.
Wenn er mit den Fingern über deren Rinde strich, erfüllte ihn jedes Mal das gleiche Gefühl: Dankbarkeit dafür, dass er Zugang hatte zu diesem paradiesischen Garten mit zwitschernden Singvögeln und schwirrenden Libellen, Respekt vor der Großzügigkeit des Mäzens und zugleich eine gewisse Sorge darüber, ob die gegenwärtigen Machthaber, die er als »Beschlussfasser« bezeichnete, denselben Sinn für vorausschauendes Denken haben – »Bäume zu pflanzen« – im Namen der Zukunft. Als eingefleischter Sozialdemokrat mit Wurzeln im zähen westjütländischen Bauern- und Handwerkermilieu war er immer ein verbissener Vorkämpfer des Wohlfahrtsstaates gewesen. Und damit ein ebenso verbissener Gegner des ganzen alten Mäzenatentums mit seiner punktuellen Wohltätigkeit und den mildtätigen Hutträgerinnen, das, recht besehen, lediglich unzureichenden Ablass für die zynische Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung leistete. Aber er musste doch einräumen, dass die Umverteilung und die erfolgreiche Gleichmacherei des Wohlfahrtsstaats auch ihren Preis hatten. Es kamen zwar nur wenige Dänen mit dem Goldlöffel im Mund zur Welt. Dafür war die Mehrzahl mit einem Silberlöffel ausgestattet, der aber von niemandem als ein besonderes Geschenk angesehen wurde, das mit einer Reihe von Verpflichtungen verbunden war, seinen Teil für die Gemeinschaft zu leisten. Vielmehr waren die Dänen inzwischen so verwöhnt und verhätschelt, dass sie schon lange aufgehört hatten, für den Überfluss dankbar zu sein, in dem sie lebten, und stattdessen nach immer mehr schrien. Hier und jetzt. Ein Mäzen, der sich moralisch verpflichtet fühlt, die tragenden Säulen der Gesellschaft zu unterstützen, oder der den Wunsch verspürt, sich seinen Ruhm als ehrwürdiger und verantwortlicher Bürger zu sichern, war allmählich schwer aufzutreiben.
Fehlende Weitsicht war ein Problem. In diesen Zeiten. Und nicht zuletzt in der Politik; er liebte es, die Jüngeren in der Fraktion darüber zu belehren, wenn er sich eines der seltenen Male in ihrem Kreis niederließ oder Ausgewählte von ihnen zu vertraulichen Gesprächen in sein Büro lud. Letztere hatten meist den Charakter von Selbstgesprächen – langen Monologen, in denen er einige der Analysen und Themen ausprobierte, die später, geschliffen, gemäßigt und ausgeformt, zu Reden oder Einwürfen bei spektakulären Treffen oder wichtigen Fernsehdebatten wurden. Besonders auch im Zusammenhang mit dem Wahlkampf, bis hin zur Eurodebatte, in der er alles gegeben hatte, um zu gewinnen, und bis ganz zum Schluss damit gerechnet hatte, als Sieger daraus hervorzugehen. Die Niederlage hatte ihn erschüttert. Nicht nur, weil es eine schallende Ohrfeige für ihn selbst war, sondern auch, weil er sich zum ersten Mal desorientiert und verwirrt fühlte in Anbetracht des Volkes, das er offenbar so wenig verstanden hatte. Wienn er ganz ehrlich sein sollte, verstand er die Dänen nicht mehr. Oder vielleicht tat er es sogar noch. Aber er weigerte sich anzuerkennen, dass man immer noch über Spitze und Boden in der dänischen Gesellschaft sprechen konnte, über Masse und Elite, über die und uns. Die Sozialdemokratie hatte im Dänemark-Bild des Staatsministers haushoch gewonnen. Und wenn es auch möglicherweise ein paar Gegensätze gab, konnte es ihn doch ausgesprochen rasend machen, wenn jemand anzudeuten versuchte, dass sich unter der augenscheinlich so glatten Oberfläche immer noch markante Bruchstellen in einem Ausmaß fanden, die die Vorstellung einer homogenen, klassenlosen Gesellschaft unhaltbar machten.
Und er blieb dabei, obgleich Gitte, seine Liebste, seine Beharrlichkeit als zugleich »rührend und tragisch« bezeichnete und behauptete, diese würde in erster Linie auf ihn selbst hinweisen und auf sein Insistieren darauf, nicht aufgegeben zu haben. Sie hatten das Richtige gemacht, er hatte das Richtige gemacht.
Gut, ja, er hatte mit der Tradition gebrochen, ja, die Margarine-Stullen und die roten Kampflieder seiner Proletarier-Kindheit lagen weit zurück, ja, es war die Geschichte vom Milchjungen, der Staatsminister wurde ... aber niemand sollte sich jemals das Recht herausnehmen anzudeuten, er hätte vergessen, wo er herkam. Alles, was er tat, tat er für sie. Für ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Und wer wollte behaupten, dass es nicht geglückt wäre? Machten nicht Arbeiterkinder ihr Abitur? War die Arbeitslosigkeit nicht so gut wie abgeschafft? Konnten die Älteren ihrem Ruhestand nicht sicher entgegensehen? Sogar von der Schuldenlast hatten sie so viel abhobeln können, dass niemand mehr den Kollaps des dänischen Wohlfahrtsstaates befürchten musste. Und was die Angst vor Überfremdung anging, so hatten auch sie dem großen Teil der Bevölkerung Entgegenkommen gezeigt, der die dänische Identität bedroht sah. Er war bereit, die dänischen Werte zu schützen, er war Garant für sie – und auch wenn er sich auf öffentlichem Parkett verblüffend gut schlug und schon lange gelernt hatte, mit einem Champagnerglas zu hantieren, so war er doch tief drinnen im Bauch so dänisch wie ein Hotdog mit Röstzwiebeln.
Deshalb war er auch so frustriert darüber, dass die Wähler ihn als »unglaubwürdig« aburteilten. Das war nicht gerechtfertigt. Dennoch hatte er seit der Euro-Niederlage auf die Medienberater gehört, die meinten, dass die Tage der Partei als Hauptnenner gezählt seien. Jedenfalls dann, wenn die Sozialdemokratie nicht bald einsehe, dass kosmetisches Lifting und populistisches Fettabsaugen einfach nicht ausreichten, um die Politikverdrossenheit zu eliminieren, die nämlich genau daraus resultierte, dass es zumindest in der Einbildung des Volkes ein »Oben-Dänemark« und ein »Unten-Dänemark« gab. Sie alle mussten verdammt bald mit etwas anderem in Erscheinung treten. Beweisen, dass man den Zeitgeist zu interpretieren wusste, dass man das politische Phlegma der jüngeren Generation verstand. Und dass man die tastende Frustration und Unsicherheit aufzuheben wusste, die sich in beinahe jeden Winkel des Landes eingeschlichen hatte, das er ansonsten kannte wie die Blaumann-Tasche seines Vaters. Sie mussten für etwas stehen. Das Profil schärfen, Integrität und Würde zeigen. So, dass sie es schaffen konnten, die Umfrageergebnisse umzukehren, die Woche für Woche bis weit unter die Schmerzgrenze rasselten. Dahin, wo auch die persönliche Popularität des Staatsministers vor sich hin dümpelte. Immer mehr Kritiker sprachen offen darüber, dass er die Konsequenzen daraus ziehen und gehen müsse. Zuletzt war er im Leitartikel des Börsenblattes im Zuge der Pressespekulationen der letzten Tage dazu aufgefordert worden, nachdem erst sein Verteidigungs- und dann auch sein Außenminister ihren Hut genommen hatten. Seinem Stab gegenüber schlug er die immer gröberen persönlichen Angriffe in den Wind, aber irgendwo unter der dicken Elefantenhaut rumorte es doch. Nicht, dass er tödlich getroffen gewesen wäre, das bestimmt nicht. Aber er merkte selbst, dass er reizbar war und sich zwischenzeitlich der Mutlosigkeit näherte, die ihn in früheren Zeiten zu einem mürrischen, aufbrausenden und schwierigen Chef für seine Mitarbeiter im Staatsministerium gemacht hatte. Dass einige, viel zu viele, die Konsequenzen gezogen und sich hatten versetzen lassen, was das Staatsministerium aussehen ließ wie ein von einem Tornado verwüstetes Durchgangslager, war bedauerlich. Untragbar. Um nicht zu sagen ein großer Haufen Scheiße. Dass zurzeit relative Ruhe herrschte, war teils dem Umstand zu verdanken, dass er es mit einem Willensakt geschafft hatte, sein Temperament zu zügeln, teils lag es daran, dass alle auf die Rochade warteten. Mit den beiden Ministerabgängen war die Unsicherheit vorbei – jetzt war es nicht mehr die Frage ob, sondern wann. Schloss Christiansborg, die »Burg«, stank förmlich vor Mutmaßungen und Klatschgeschichten, Journalisten lasen in Betonungen, Gesichtsausdrücken und im Kaffeesatz und erstellten neue Listen und Nachrichten über das Wer und das Wann.
So auch heute, konstatierte er, als er am Küchentisch stand und die Zeitungen überflog, während er an einem Glas mit frisch gepresstem Orangensaft nippte. An nichts konnte er sich da erfreuen, außer daran, dass – obwohl einige der alten Zeitungsratten gute Nachrichten hatten – niemand dabei war, der den Jackpot knacken und die Liste bringen konnte, die er als die endgültige ansah. In der Sitzung gestern Abend hatten sie sich darauf geeinigt, dass die neuen Minister der Königin am Donnerstag, dem 21.12., dem kürzesten Tag des Jahres, präsentiert werden sollten. Der Hof war unter der Hand schon informiert, und das Spiel war gestern aufgegangen, sodass die Radikalen abgehandelt waren, was ihre Interessen anging. Ihr Wunsch nach »Gesinnungsministerien« schien bescheiden, aber Per Vittrup kannte die Parteivorsitzende gut genug, um zu wissen, dass sie alles andere als dumm war. »Weitsicht« war ein Wort, das man durchaus auf sie anwenden konnte.
Wo es jetzt noch knirschte, war bei ihnen selbst. Oder genauer gesagt, bei Elizabeth Meyer, der jetzigen Gesundheitsministerin. Zurzeit in Genf, hatte sie am Handy die Idee, sie zur neuen Außenministerin zu machen, vorläufig akzeptiert. Wenn auch widerstrebend. So widerstrebend, dass ihm vor den Bedingungen graute. Denn Bedingungen stellte sie immer, Frau Meyer, und zu seiner seit Jahren anhaltenden Verärgerung und Irritation glückte es ihr im Großen und Ganzen immer, sie erfüllt zu bekommen. Denn genauso wie Gert Jacobsen, der Finanzminister, besaß er trotz seiner Erfahrung und unbestreitbaren strategischen Fähigkeiten, schon einige Züge weiter zu denken, nicht dasselbe Talent wie sie, in der Politik um Ecken sehen zu können. Darüber hinaus stand sie auf einem unverrückbaren Fundament solider Unterstützung aus der Bevölkerung – nicht zuletzt bei den weiblichen Wählern war sie seit Jahren eine zuverlässige Stimmenfängerin gewesen –, und mit dem Alter hatte sie eine Würde und mütterliche Fülle bekommen, die an die frühere norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland erinnerte. Einst in ihrer frisch gewählten roten Jugend hatten sie beide, er und Elizabeth Meyer, um den Thronfolgerposten gebuhlt. Aber damals, zu Beginn der Siebziger, war die Zeit noch nicht reif gewesen für eine mächtige Frau wie sie an der Spitze, und seither hatte sie nach mehreren spektakulären »Sachen«, die zu Eigentoren gerieten, von sich aus verzichtet. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht tauchte sie ganz unvermittelt als hoch gefährlicher Joker auf. Darum waren er und Gert Jacobsen sich auch unausgesprochen einig darüber, dass Meyer um fast jeden Preis zufrieden und damit zugleich ruhig gestellt werden musste.
So hatte sie auch keinen Anspruch darauf, in seine Gedanken zur Rochade eingeweiht zu werden. Infolge guter alter dänischer Regierungs-Sitte war es Pflicht und Privileg des Staatsministers, sein Kabinett höchst eigenhändig zusammenzustellen. Aber es war ihm völlig klar, dass er in Teufels Küche kommen würde, wenn sie außen vor bliebe. Die Ministerliste musste schlicht und einfach zuerst mit ihr abgeglichen werden. Und die Pläne, die er am Telefon kurz für sie gelüftet hatte, schienen nicht unmittelbar auf große Begeisterung zu stoßen. Spät am Abend, nach dem Treffen bei Karen Hermansen, der Vorsitzenden der Radikalen und gegenwärtigen Wirtschaftsministerin, waren sie am Telefon übereingekommen, sich von Angesicht zu Angesicht in seinem Büro zu treffen, sowie sie nachmittags aus Genf angekommen sei. Ohne Gert, stillschweigend vorausgesetzt.
Was sie selbst sich vorstellte, hatte sie nicht viel mehr als vage angedeutet. Das war ihre Strategie. Ein plötzlicher, unerwarteter Angriff. Dass es Charlotte Damgaards Name war, den sie im Ärmel hatte, ahnte Per Vittrup darum nicht mal ansatzweise, als er morgenfrisch und laut Jinglebells singend gegen halb acht im Büro eintraf. Zuvor hatte er mit seinem persönlichen Trainer, dessen Aufgabe es war, den Staatsminister in physische Topform zu bringen, die übliche Stunde im Fitnesscenter geschwitzt. Vorläufig hatte er elf Kilo abgenommen, eine der wenigen Leistungen, mit denen er in dieser sonst wenig aufmunternden Zeit prahlen konnte. Was er denn auch tat. Seine Sekretärin Tove Munch verfolgte Kilo für Kilo mit Anfeuerungen und war schon mehrfach mit seinen Hosen beim Schneider gewesen, um sie enger machen zu lassen. Sie gönnte ihm die kindliche Freude über den Gewichtsverlust, hatte lange Mitleid mit ihm gehabt und ihm mit der üblichen Geduld seine Stimmungsschwankungen nachgesehen, die nicht zuletzt auch über sie hinwegfegten. An diesem Morgen freute sie sich also aufrichtig darüber, dass das Barometer offensichtlich gestiegen war – ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas im Gange war. Etwas, worauf sie sich freute. Mit anderen Worten: die Rochade.
Und als sie ihm dann den Kaffee einschenkte und er – nachdem er in seinem besonders vertraulichen Ton ihr Parfum bewundert hatte – sie darauf vorbereitete, dass sie ihren Buchclubabend wohl würde absagen müssen, nickte sie nur wissend mit dem Kopf. Keine Schlüsselperson aus dem Staatsministerium würde heute diesseits der Deadline in den Zeitungsredaktionen nach Hause kommen. Aber das würden sie erst irgendwann heute Nachmittag erfahren. Auf diese Weise hielt man das Risiko einer undichten Stelle klein.
Was gleichbedeutend damit war, dass längst alle politischen Tiere der »Burg«, von der Hyäne bis zur kleinen Maus, die Fährte aufgenommen hatten. Nach und nach, so, wie der Morgen in den Vormittag überging, waren es immer mehr geworden, die ihr Vorzimmer umkreisten, von wo aus sie die geschlossene Doppeltür ihres Chefs bewachte wie ein Drachen. Journalisten ließen ihr Telefon heiß laufen, und sogar ihre Kollegen aus den anderen Ministerien, in denen der amtierende Minister besonders nervös auf seinem Posten saß, fanden Ausreden, um sie auszuhorchen. Aber Tove Munch hielt stand. Auch gegenüber dem Pressechef, der so frustriert darüber war, außen vor gelassen zu werden, dass er demonstrativ seinen Platz verließ, um »in die Stadt essen zu gehen«. Als er nach einem regulären Arbeitsgespräch bei einer großen Zeitung ein paar Stunden später zurückkam, war es fast zwei Uhr, und Elizabeth Meyer war soeben an Tove Munchs Schreibtisch vorbeigerauscht, direkt in Per Vittrups Büro. Sie hörte gerade noch sein etwas zu joviales »Schön, dich zu sehen, Beth!« Dann wurde die Tür geschlossen. Aber als hellhörige Sekretärin erfasste Tove Munch schnell, dass das arbeitsame und zielgerichtete vormittägliche Idyll, nur unterbrochen von einigen Telefonaten mit Gitte Baek, z. Zt. Kosovo, mit der Ankunft von Elizabeth Meyer torpediert wurde. Der Lärmpegel stieg ganz einfach so merklich, dass man hätte taub sein müssen, um nicht zu begreifen, dass die beiden gewaltig uneins waren.
Auch weit weniger einig, als der Staatsminister vorhergesehen hatte. Er war zwar darauf eingestellt, dass verhandelt werden musste. Dass das Gleichgewicht zwischen den beiden Hauptflügeln der Partei, seinem und Gerts, möglicherweise noch justiert werden müsste und dass Elizabeth als die rechtmäßige große Schwester darauf bestehen würde, dass keiner übervorteilt werden darf. Aber dass sie im Großen und Ganzen beabsichtigte, die gesamte Liste zu kassieren, es sei denn, sie bekäme ihre Hauptforderung erfüllt – das hatte er nicht erwartet. Primär fand sie die Liste zu vorsichtig, zu vorhersehbar und zu fantasielos – es fehlte beides: junge Kandidaten und Frauen, und besonders junge Frauen. Was der Staatsminister bedauerlicherweise einräumen musste, aber er war ganz einfach in Kandidatennot. Sie beide, er und Gert, hatten ihre Netze ausgeworfen, um die jungen Talente in der Partei zu finden, aber die Wahrheit war, dass die Ausbeute deprimierend mager war. Besonders was die jungen weiblichen Talente betraf, die Zielstrebigkeit und Stärke gezeigt hatten. Zwar kamen sie enthusiastisch in die Fraktion, aber die meisten verloren schnell an Flughöhe und schafften es nur ein oder zwei Legislaturperioden lang, dabeizubleiben. Bevor sie Kinder bekamen. So war es, ob es einem nun passte oder nicht. Die jungen Männer waren stabiler, vielleicht auch primitiver in ihrem Machtstreben. Aber während viele der Mädchen mit der Zeit verschwanden, war es, als ob die Jungs buchstäblich mit ihrer Aufgabe wuchsen, sodass sie sehr bald in der Lage waren, einen Anzug auszufüllen und mit Nachdruck und Autorität zu sprechen. Es war schon möglich, dass er deshalb einige der jungen Männer auf Kosten der Damen favorisiert hatte, die, was man gerechterweise auch sagen musste, Taktgefühl bewiesen hatten. Also, darüber konnte man »mit sich reden lassen«.
Mit einem derartig vagen Versprechen konnte Meyer allerdings überhaupt nichts anfangen, was sie auch unmissverständlich zu verstehen gab. Tatsächlich hatte Per Vittrups altväterlicher Tonfall ihren alten Unwillen provoziert: darüber, wie nicht nur sie selbst, sondern auch die anderen Frauen ihrer Generation, ihrer Zeit und überhaupt, von alten Pavianen und jungen Löwen heruntergemacht worden waren, die die hinterhältigsten Tricks und schäbigsten Fouls einsetzten, um ihr Revier zu sichern und die Frauen rauszuhalten. Per Vittrup liebte es eigentlich, sich selbst als Fürsprecher der Frauen zu sehen. Unter anderem brüstete er sich damit, für das Lohngleichstellungsgesetz gekämpft zu haben, das in den Siebzigern eingeführt worden war, und er hatte ganz offiziell Frauengruppen, das Frauenjahr und Frauenkonferenzen unterstützt. Er kannte Meyers Temperament, wenn sie erst in Fahrt gekommen war, darum versuchte er es mit Abrüstung, anstatt zu protestieren: »Es gibt doch keinen, der dich runtergemacht hat!«
In diesem Augenblick veränderte sie ihre Farbe wie ein Chamäleon von einem hitzigen Rot zu einer marmorierten Blässe, die ihre Sommersprossen hervortreten ließ. Selbst ihre so charakteristischen blaugrünen Augen wurden fast farblos, als sie ihn lange genug unbewegt anstarrte, um ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen, bevor sie zischte: »Was glaubst du eigentlich, warum du auf diesem Stuhl sitzt und nicht ich?«
Hinterher musste er einräumen, dass er sich gewunden hatte wie ein Schuljunge, obgleich er fand, dass sie ungerecht war und unbestreitbar wider besseres Wissen sprach. Sie waren Gegner gewesen, Konkurrenten, und er hatte genau wie sie die Mittel eingesetzt, die er zur Verfügung gehabt hatte. Aber das aufzugreifen und ihn der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts anzuklagen und ihm am helllichten Tage chauvinistische Konspiration zu unterstellen! Ihm, der sie immer als gleichwertigen Gegner betrachtet hatte! Mit einem abwehrenden Kopfschütteln suchte er nach den richtigen, sorgsam gewählten Worten, hatte sie aber leider noch nicht gefunden, als ihre Farbe wieder zu flammendem Rot wechselte, die Augen feucht wurden und sie einen Zug um den Mund bekam, den er erst wenige Male gesehen hatte. Sie beugte sich nach vorne und flüsterte fast: »Du hast Eva vergessen, nicht wahr? Ihr alle habt sie vergessen, oder? Du und Gert und die ganze Meute? Was meinst du wohl, warum sie damals von der Brücke gesprungen ist?«
Das war eine so grobe Anklage, dass ihm die Luft wegblieb und er nicht zu einer Erwiderung imstande war, wenngleich sein eigener Zorn hochzukochen begann. Er war so wütend, dass er nicht einmal Tove Munch beachtete, die in diesem Augenblick die Tür öffnete und hereinschlüpfte, um ein paar unterschriebene Dokumente von seinem Schreibtisch zur weiteren Bearbeitung zu holen. Sie hingegen blieb abrupt stehen, als sie bemerkte, wie aufgeregt er war. Die Unterlippe vorgezogen, die Hände geballt, die Knöchel weiß, während Elizabeth Meyer erstarrt war wie ein Wachsmodell in einem historischen Tableau.
»Ich habe Eva geliebt«, sagte er leise zitternd. »Ich vergesse sie niemals. Das weißt du genau!«
Elizabeth Meyer schielte in Tove Munchs Richtung, sodass die sich wieder in Bewegung setzte und die Dokumente aus der Ablage des Schreibtischs nahm. Aber die Situation war so angespannt, dass auch Meyer nicht wartete, bis sie wieder alleine waren, bevor sie in demselben leisen Ton fortfuhr.
»Weshalb sprang sie denn? Deiner Meinung nach?«
Per Vittrup stand auf und ging zum Fenster, wobei er seine Sekretärin kreuzte, die auf dem Weg zurück zur Tür war.
»Weil sie zu zerbrechlich war für diese Welt! Aber das wolltest du nicht wahrhaben! Sie sollte mit aller Gewalt nach vorne gebracht werden!«
»Sie war eine Idealistin! Sie brannte dafür! Sie wollte!«
»Eva war psychisch labil«, murmelte Per Vittrup abgewandt zu sich selbst, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte. »Ihr fehlte die nötige Brutalität. Das haben wir damals nur nicht begriffen.«
Tove Munch registrierte, dass er in den Schultern leicht zusammengesunken war, als sie sich routinemäßig über den Konferenztisch beugte, um die leere Thermoskanne mitzunehmen. Ohne frischen Kaffee konnte der Staatsminister nicht leben. Erst recht nicht an so einem Tag.
»Damals, als wir alle Idealisten waren ...«, setzte Elizabeth Meyer säuerlich fort, während sie ihre Dior-Lesebrille aufsetzte, die an einer Schnur um ihren Hals hing. Dann bat sie Tove Munch darum, auch eine Kanne frischen Tee zu bringen.
Tove Münch nickte diskret und zog sich zurück, während der Staatsminister zu seinem Stuhl zurückging. Damit war das Thema »Eva Bøgelund« beendet. In erster Linie, weil niemand aus der damaligen Fraktion – und vielleicht am allerwenigsten Vittrup und Meyer – darauf brannte, die alten Wunden wieder aufzureißen, die sie alle zusammen damals davongetragen hatten, als sie – die strahlende Sonne der Partei – kurz nach dem Kongress im September ’82, 34-jährig von der Lillebelt-Brücke gesprungen war. Nach einem harten Kampf mit vielen Intrigen war es Meyers Fraktion, auch Die Rotkäppchen genannt, geglückt, sie in einer Kampfabstimmung als zweite Vorsitzende gegen den Kandidaten der Metaller, den legendären, grobkörnigen Schlossermeister John Nielsen, durchzusetzen. Per Vittrup, der über längere Zeit ein außereheliches Verhältnis mit Eva Bøgelund gehabt hatte, hatte, davon unberührt, den Schlosser unterstützt. An den taktischen Manövern, die vorausgegangen waren, war er teilweise beteiligt gewesen, und auch, wenngleich etwas mehr im Hintergrund, an den nachfolgenden Verdächtigungen und dem Säen von Zweifeln an Bøgelunds Format und ihrer Loyalität gegenüber der ganzen Partei und nicht zuletzt der Bewegung. Während Nielsen gerade als »Vizevorsitzender der ganzen Partei« lanciert wurde, wurde Eva Bøgelund in der anonymen Schmutzkampagne, die im Kielwasser der Wahl folgte, als »Blaustrumpf«, »Schulmädchen«, »Männerhasserin«, »Meyers Marionette« und ähnliches beschimpft. Die Boulevardpresse druckte das Ganze und noch mehr, indem die Spalten im Großen und Ganzen jedweder anonymen Quelle zur freien Verfügung standen, die irgendeinen Schmutz hinzuzufügen hatte, der als Abschussrampe für weitere explosive Rubriken und infame Leitartikel dienen konnte.
Abgesehen von einer ähnlichen Kampagne, die ein paar Jahre früher den missglückten Versuch gestartet hatte, Meyer aus dem Amt der Sozialministerin zu kippen – man hatte sie beschuldigt, ihr Dienstfahrzeug privat genutzt zu haben –, hatte die dänische Medienwelt nie zuvor eine solche persönliche Hetzjagd auf einen namhaften Politiker betrieben. Dass es in Wirklichkeit Meyer war, der man an den Kragen wollte, durchschaute die empfindsame Grundschullehrerin aus Roskilde nicht. Sie nahm jedes Wort persönlich. Und obgleich alle, die ihr nahe standen, sehen konnten, wie sehr die Kritik sie traf, gab es niemanden, der erfasste, wie erschüttert diese junge, noch nicht abgehärtete Frau wirklich war. Umso brutaler war der Schock, als die Besatzung eines kleinen Fischkutters sie an einem frühen Septembermorgen, einige Kilometer von der Brücke entfernt, in ihren Netzen fand, noch bevor sie überhaupt jemand hatte vermissen können, ganz zu schweigen davon, die Abschiedsbriefe zu lesen, die sie am Abend vorher abgeschickt hatte, mit Poststempel »Middelfart«. Gerüchte behaupteten, dass außer den Briefen an ihre Eltern und Geschwister und dem an die Partei noch zwei weitere existierten, einer an ihre Freundin Elizabeth Meyer und einer, der an Per Vittrup persönlich adressiert war, den jungen Kronprinzen, Fraktionsvorsitzenden und – wie alle bald zu wissen glaubten – Geliebten der Toten. Während nie jemand den genauen Wortlaut dieser beiden Briefe erfahren hatte, wurde der offizielle Brief an die Partei dem Wunsch der Toten entsprechend auf einer hastig einberufenen Sitzung vorgelesen und außerdem als Faksimile im Parteiblatt und in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. »Um Mythenbildung zu verhindern«, wie sie in einer beigefügten Notiz geschrieben hatte. Ansonsten war dieser Abschiedsbrief ausgesprochen kurz gehalten: »Liebe Freunde und Kameraden. Danke für das Vertrauen, das ihr mir entgegengebracht habt. Es tut mir Leid, dass ich es nicht schaffe, dem gerecht zu werden. Passt gut aufeinander auf. ›Es sind kalte Zeiten, in denen wir leben.‹ Macht sie ein bisschen wärmer! Liebe Grüße, Eure Eva.«
Eva Bøgelunds Selbstmord löste nicht nur in Schloss Christiansborg eine Schockwelle aus, in der Partei und in der Bewegung, sondern auch in der Bevölkerung, die, ohne die Zusammenhänge zu kennen, ahnte, dass die junge Hoffnungsträgerin Opfer eines unappetitlichen Komplotts geworden war. Der Zorn richtete sich in erster Linie gegen die Sensationspresse, die zuvor Wortführer in der modernen Hexenjagd gewesen war, aber jetzt die Flut der Trauer ausnutzte, indem sie pathetische, sentimentale Nachrufe druckte und Anklagen an die Partei richtete, in denen sie unter anderem behauptete, dass »Evas Herz gebrochen wurde«. Es wurde unverblümt angedeutet, dass ihre »unglückliche Liebe« Per Vittrup gehörte, der allerdings verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Einige Artikel beschäftigten sich auch näher mit ihrem Verhältnis zu Meyers Rotkäppchen und folgerten, dass »Eva keine Furie war«. Eine anonyme Quelle aus der Partei wurde mit den Worten zitiert, »Politik sei nichts für zarte Seelen«, stillschweigend inbegriffen, dass Eva Bøgelund »als ausgeprägter Gefühlsmensch, der nah am Wasser gebaut hatte«, von Meyer ausgenutzt worden war. Weder Vittrup noch Meyer wünschten, die Sache zu kommentieren, aber auch, wenn beide sich größte Mühe gaben, die Fassade aufrechtzuerhalten, war es für alle um sie herum doch offensichtlich, dass sie tief getroffen waren. Bei der Beerdigung, die in der Bevölkerung zu einem echten Event wurde, trug Meyer eine schwarze Jackie-Onassis-Sonnenbrille, und das Bild, als sie am Sarg kniete und ihre dunkelrote Rose niederlegte, wurde nicht nur Foto der Woche oder des Jahres, sondern des Jahrzehnts. Vittrup, der seine Frau krampfhaft an der Hand hielt, als er am Dom ankam, hielt in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender eine Rede, heiser, abgehackt und kalkweiß, die von Journalisten »die schwerste seines Lebens« genannt wurde. Und als er, nachdem er lange gegen die Tränen gekämpft hatte, schließlich zu den letzten Zeilen seines Manuskripts kam – »Eva, du warst ein leuchtendes Vorbild für uns alle. Durch dein Engagement, deine Ehrlichkeit und dein humanistisches Menschenbild, das man in früheren Zeiten Güte nannte. Du warst ein guter Mensch, Eva. Vielleicht der beste von uns allen. Dein kurzer Kampf war nicht umsonst. Wir werden dich in Erinnerung behalten für das, wofür du eingestanden bist, werden die Werte verteidigen, für die du gekämpft hast. Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden. Und wir werden dich in Erinnerung behalten für das, was du warst. Jung, klug, schön ...« –, da brach seine Stimme, woraufhin er mit zitternden Armen und einem Ausdruck kindlicher Hilflosigkeit vom Sarg weggetreten und zu seinem Platz buchstäblich gewankt war. Beobachter vermerkten, dass die Ehefrau ihre Hand in ihrem Schoß liegen ließ, um kurz darauf die Beerdigung zu verlassen. Dass die Ehe wenig später aufgelöst wurde, überraschte deshalb niemanden. Dass aber die Medien die Trennung äußerst diskret behandelten und die ganze Affäre zusammen mit der Hauptperson, die fast schon heilig gesprochen war, beerdigten, wunderte vielleicht doch manche. Die Erklärung dafür war ganz einfach: Es ließ nicht einmal die abgebrühtesten Zeitungsfritzen kalt. Weder der Todesfall noch die Reaktionen oder die Kritik. Ähnlich wie fünfzehn Jahre später beim Tod Prinzessin Dianas war die Rede von einer schmerzlichen, wenn auch nur kurzlebigen Selbstprüfung, so weit das Auge reichte.
Seitdem war »Eva Bøgelund« tabu. Nicht zuletzt innerhalb der Partei. Man erinnerte sich zwar an sie, gedachte ihrer aber nicht. In diesem Sinne hatte er, Per Vittrup, sein Versprechen also nicht gehalten. Abgesehen davon, dass er sich jedes Jahr an ihrem Geburtstag versicherte, dass auch ein Kranz auf ihr Grab gelegt worden war. Die alten Rotkäppchen, die mittlerweile in alle Richtungen zerstreut waren und als Fraktion längst nicht mehr existierten, fanden sich ebenfalls jedes Jahr in aller Stille an ihrem Grab ein. Aber sie hatten den Todestag zum Gedenken bestimmt. Vielmehr Meyer hatte das festgelegt. Sie sprachen nie wirklich über den Grund dafür. Und doch war deutlich zu merken, dass – während einige der alten Kampfgefährten die jährliche Gedenkfeier inzwischen hintanstellten und eigentlich der Meinung waren, dass es sich überholt hatte – dieser Tag für Meyer sakrosankt war. Ganz gleich, welche Position sie innehatte, ganz gleich, wie voll ihr Terminkalender war: Der 22. September, 15 Uhr, war immer reserviert. »Dieser Tag ist ihr wichtiger als Heiligabend«, wie ein Rotkäppchen einmal einem Journalisten anvertraute: Es war mehrmals passiert, dass sie im Dienstwagen in Roskilde angekommen war – entweder auf dem Weg zum Flughafen oder direkt von dort –, und manchmal hatte sie das anschließende Beisammensein mit Rotwein und Lauchkuchen, Salat und Käse, das »Eva-Menü«, auslassen müssen. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie die stille halbe Stunde, die die alten Freundinnen am Grab verbrachten, versäumt hatte. Und sie hatte es immer geschafft, die gleiche Art dunkelrote Rose aufzutreiben.
Obwohl Eva Bøgelund Per Vittrup und Elizabeth Meyer auf diese Weise zu einer schmerzlichen Schicksalsgemeinschaft zusammengefügt hatte, war das niemals etwas gewesen, was sie gepflegt hatten. Darum war es auch so unerhört, dass Meyer mit ihrem Ausbruch Eva in einer Konfliktsituation gegen Vittrup eingesetzt hatte, und so ließ sie ihre Waffe schnell wieder fallen. Aus der begründeten Angst heraus, dass sie damit selbst zum Opfer werden konnte.
Stattdessen fuhr sie in ihrem kühlen Geschäftston fort und verkündete, dass sie »eine alternative Liste« erstellt hatte, die sie daraufhin aus ihrer schicken Handtasche hervorzog – Gucci, wie Gitte ihm bei einer früheren Gelegenheit erklärt hatte. Was ja seiner Meinung nach die Erklärung dafür war, warum er Staatsminister geworden war und nicht Elizabeth Meyer, Tochter eines wohlhabenden jüdischen Kürschners in zweiter Generation. Angefangen bei ihrem honigfarbenen, hochgesteckten Haar, über den üppigen Pelzmantel bis hin zu den schlanken Zigarillos, war es schlicht ihr Auftreten – ja, der ganze Stil, der einer italienischen Operndiva würdig gewesen wäre – und nicht ihr Geschlecht, das sie um den Posten betrogen hatte, für den ihre politische Begabung, ihr Engagement und ihre Ambitioniertheit anderenfalls Berechtigung genug gewesen wären. Sie war ganz einfach undänisch und nicht gerade volksnah und, okay, sie war auch – trotz ihrer hohen Absätze und lackierten Fingernägel – auf eine provokante Art unweiblich. Im Laufe der Zeit hatte diese kinderlose und seit vielen Jahren unverheiratete Frau schließlich auch massenweise gute Ratschläge bekommen, wie sie ihr Image ändern könnte – die Haare abschneiden, sich in Jeans und Sweatshirt zeigen, sich auf dem Fahrrad mit Proviant im Korb fotografieren lassen. Ein Kind bekommen! Einen Mann! Eine Familie! Was auch immer, solange es sie nur verträglicher für die breite Öffentlichkeit machte. Sie weigerte sich standhaft, hatte immer entschieden daran festgehalten, dass man sie entweder nehmen musste, wie sie war, oder es eben bleiben ließ. Eine Haltung, für die sie teuer hatte bezahlen müssen, die aber mit den Jahren ein Teil ihres Kapitals geworden war. Denn sie bewies Integrität.
Außerdem waren die Zeiten nicht mehr so politisch korrekt – ganz im Gegenteil. Image war alles. Nicht zuletzt bei den jüngeren Wählergruppen, die mehr materialistisches Streben besaßen als alle anderen vor ihnen, und die sich, für jeden erkennbar, als Marken-Junkies darstellten. Es war keine Schande mehr, sich als fashion victim zu outen, und darum erschien Elizabeth Meyer auch öfters auf den In-Listen der hippsten Magazine und lief bereitwillig Reklame für neue Designer, die ihren »Glamlook« bewunderten. In einem Radioprogramm hatte er einmal jemanden sagen hören, dass sie »hammermäßig führte« und man sie zu »Kult« erklärte, bis hin zu »göttlich«. Per Vittrup hingegen hatte nach außen hin nichts weiter als ein Schulterzucken übrig für Meyers Flirt mit dem, was Gitte nach einem trendigen Lifestyle-Magazin als »Wallpaper-Segment« bezeichnete. Aber eigentlich beunruhigte es ihn, denn er hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie auf etwas aus war. Etwas, das er nicht durchschauen konnte.
Genau dieses Gefühl spürte er jetzt hochkriechen, als er völlig überrumpelt die bevorzugte Ministerliste in die Hand gedrückt bekam und zum ersten Mal den Namen Charlotte Damgaard in Zusammenhang mit dem Posten der Umwelt- und Energieministerin las. Erweitert um Meyers vertiefende Stichworte: »Jung, engagiert, kompetent, gut ausgebildet, schlagkräftig, insbesondere mediengeeignet, weiblich, attraktiv, Kinder, verheiratet. Stammt aus nordjütländischem Bauernmilieu. Bei allein erziehender Mutter aufgewachsen. M. A. in Politologie, Studium in Aarhus und Kopenhagen, Vorstand der Naturfreunde, früher Kampagnenleiterin bei Greenpeace, davor Angestellte der Stadt Kopenhagen. Aktiv im Freien Forum, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei seit 1990. Als studentische Hilfskraft bei Elizabeth Meyer angestellt von 96 bis 97.«
»Du weißt, ich habe sie über mehrere Jahre im Auge behalten. Sie hat alles. Und jetzt ist sie so weit«, sagte Elizabeth Meyer, bevor er es schaffte, sich zu äußern.
»Charlotte Damgaard«, seufzte er, als er vom Papier aufblickte. »Dein Schützling.«
»Eine ganz außergewöhnliche politische Begabung. Enorme fachliche Kenntnisse. Sie hat die Naturfreunde von einem harmlosen Verein für Sonntagswanderer zu einem politischen Machtfaktor gemacht. Die haben über 100.000 Mitglieder. Das ist bedeutend mehr, als wir haben«, setzte sie hinzu.
»Soweit ich über sie orientiert bin, ist sie eine rabiate Idealistin ohne Realitätssinn. Ist sie nicht die, die ein Totalverbot von Spritzmitteln fordert?«
»Sie ist gerade Realistin. Sie erfüllt die Aufgabe, die sie übernimmt. Sie war es, die den Großteil der Vorlagen für unser geändertes Umweltprogramm geschrieben hat. Im Ministerbüro waren auch alle von ihr begeistert. Viele ihrer Analysen sind immer noch aktuell. Ihre Rede auf dem letzten Kongress war meiner Meinung nach blendend.«
»Wenn sie so toll ist, warum hast du sie dann nicht behalten?«
»Sie hat abgelehnt. Damals meinte sie, dass die reellen Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, in immer größerem Maße außerhalb des Parlaments liegen. Diese These musste sie also überprüfen.«
»Und was meint sie jetzt?«
»Das Gleiche. Ich bin da übrigens einer Meinung mit ihr. Zum Ausgleich stimmt sie dafür mit mir überein, dass es schwer ist, das formelle politische System zu umgehen, wenn man wirklich etwas erreichen will. Die Basis kann den Gesetzgeber beeinflussen, aber die Gesetze schreiben – das tun immer noch wir.«
»Das hat sie eingesehen?«, fragte Per Vittrup und runzelte skeptisch die Stirn.
»Ja. Aber sie kokettiert nicht mit der Macht. Deswegen ist sie ja die Richtige. Wir brauchen ein markantes Profil auf diesem Gebiet. Sonst schnappen sich die Radikalen das Sahnestück. Dieses auch noch.«
Elizabeth Meyer nahm die Brille ab. Sah ihren Chef an, ohne zu blinzeln.
»Was ist mit dem Umweltminister, den wir haben?«, fragte er darauf rhetorisch. »Was hat er getan?«
»Nichts. Das ist ja das Problem. Er ist ausgebrannt. Es fehlt ihm an Mut. Er ist den Bauernverbänden ausgeliefert. Die Presse hat es auf ihn abgesehen. Und dann wäre da auch noch sein Alkoholkonsum, der außer Kontrolle geraten ist ...«
Der Staatsminister verdrehte die Augen in Richtung Decke.
»Das geht nur über Gerts Leiche.«
»Sie kann alles verkaufen. Und das ist es doch, was wir brauchen?!«
»Der große Flügelkrieg bricht wieder aus!«
»Ich werde schon vermitteln.«
»Ha!« Dem Staatsminister entfuhr ein hysterisches Schnauben. Er wusste es schon, hatte es im Gefühl. Das hier war ein fait accompli. Eines, das nicht nur er, sondern auch Gert würde schlucken müssen. Aus Gründen, die sich nicht so ohne weiteres erklären ließen. Was noch ein Beweis dafür war, dass Politik, entgegen der vorherrschenden Meinung, keineswegs rational war. Elizabeth Meyer wusste das, und deshalb bekam sie mehr als nur ihren Willen. Noch ehe der Nachmittag vorbei war und sie Tove Munch mit einem kurzen Nicken passierte (mit einem Gesichtsausdruck vergleichbar einer blanken japanischen No-Maske), hatte sie darüber hinaus das Kunststück vollbracht, Per Vittrup davon zu überzeugen, dass Charlotte Damgaard seine eigene Idee war.
So einleuchtend kam es ihm vor, dass er sich die Hände rieb, als Tove Munch hereinkam, um den Tisch für Rotwein und italienische Sandwiches zu decken, während sie auf den hinzugerufenen Finanzminister warteten.
»Du kannst schon mal die Truppen sammeln und sie darauf vorbereiten, dass es spät wird«, sagte er, glänzender Laune wie ein siegessicherer General vor dem entscheidenden Schlag. Dann tat er das, was Tove Munch am meisten hasste, auch wenn es ein Zeichen außergewöhnlich guter Stimmung war. Er fragte sie ohne Vorwarnung nach ihrer Meinung.
»Tove, was sagt dir der Name Charlotte Damgaard?«
Sie hatte keine Ahnung, warum sie antwortete, wie sie antwortete. Es überrumpelte sie ganz einfach genauso wie die Frage. Aber ohne nähere Überlegung kam es fest und ohne Zögern:
»Ärger.«
*
»Sag mir einen wahren Satz!«
»Worüber?«
»Über dich!«
»Ich lüge nicht.«
Es war ihr erster Sommer. Der Sommer, in dem sie sich trafen. In einer Kneipe in Løkken. Sie standen sieben Wochen am Stück hinter derselben schiffsförmigen Bar. Sie waren ein Spitzenteam. Sie hatte den Überblick, und er konnte sowohl mit den Bierfässern als auch mit den örtlichen Schnapsnasen souverän umgehen, die ziemlich zudringlich werden konnten, wenn sie deren Annäherungsversuche ignorierte und sich weigerte zu lächeln. Sie hatte kleine, kurze Zöpfe und starke, braune Arme. Sein Haar war lockig und von der Sonne ausgebleicht, und er war so groß, dass er sich bücken musste, um mit den Gästen auf Augenhöhe zu kommen. Sie hatten beide rote Matrosenhemden mit blauen Schleifen an. Sie verliebten sich sofort ineinander. Aber gleichzeitig waren sie so überwältigt, dass es trotz der Witzeleien der Kollegen drei Wochen brauchte, bis sie sich in einer hellen und beinahe windstillen Nacht endlich einen Ruck gaben und nach der Schicht nackt baden gingen. Sie stritten immer noch darüber, wer wen erobert hatte und ob es wirklich Meeresleuchten gegeben hatte. Fest stand nur, dass es Thomas war, der sie zuerst geküsst hatte. Nachdem sie einen wahren Satz gesagt hatte. Seit damals war es ein Spiel zwischen ihnen. Es war immer er, der fragte. Und es stimmte. Sie log nicht.
*
Charlotte Damgaard log nicht. Und deshalb war es die Wahrheit, wenn sie beteuerte, dass sie an diesem dämmrigen Nachmittag, da die Weihnachtspanik innerhalb der Familie auszubrechen drohte, mehr damit beschäftigt war, mit den Kindern Pfeffernüsse zu backen, als damit, ihre Antrittsrede vorzubereiten. Selbstverständlich wusste sie, dass eine Regierungsrochade bevorstand. Und es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, dass es sie nicht interessiert hätte. Im Büro war es das heißeste Thema des Tages gewesen, und sie hatte den ganzen Tag stündlich Nachrichten gehört, häufig Videotext eingeschaltet und auch im Internet nachgesehen. Als ehemalige studentische Hilfskraft im wirtschaftspolitischen Ministerbüro der Sozialdemokraten, dem PØ, und durch die dadurch bedingten regelmäßigen Besuche in Christiansborg war es unmöglich, die Erregung nicht zu spüren, selbst Jahre später. Und als scheidende Vorsitzende der Naturfreunde war es wohl nur angemessen, dass sie sich besonders dafür interessierte, ob der Staatsminister sich jetzt endlich zusammennahm und den allmählich peinlichen und immer öfter alkoholisierten Søren Schouw feuerte, dem es so offenkundig an Antriebskraft fehlte und der nicht im Geringsten der Umweltminister gewesen war, den sie alle sich erhofft hatten. Sie spekulierte auch schon heftig über eventuelle Nachfolger und hatte verschiedene Namen bereits mit ihrem alten Schulfreund Andreas Kjølbye diskutiert, der für die Fernsehnachrichten arbeitete und angerufen hatte, um zu hören, ob sie schon etwas wusste. Das tat sie nicht. Und wenn sie ehrlich sein sollte, dann ging sie eigentlich davon aus, dass Søren Schouw als einer der »Drei Musketiere« in dieser Regierung auf Lebenszeit unter Naturschutz stand. Außer sie kämen vielleicht auf die Idee, ihn zum Verkehrsminister zu machen. Was trotz allem auch schon ein Fortschritt wäre im Hinblick auf den jetzigen, den die herrschende Verkehrs-Junta fest in der Hand hatte.
Aber es war keine Koketterie, wenn sie später festhielt, dass sie keine Ahnung davon gehabt hatte, selbst Teil der Rochade zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass die hochrangigsten Minister der Regierung ausgerechnet um ihre Person am heftigsten stritten. Bis der Staatsminister kurz nach acht Uhr abends, ungefähr um die Zeit, als die Pfeffernüsse fertig gebacken, abgekühlt und in Dosen gefüllt waren, eine Entscheidung fällte. Pro. Dem fauchenden Protest des Finanzministers zum Trotz: »So behandelt man keinen Mann, der über Jahre hinweg eine loyale Stütze war! Das wäre sehr, sehr unklug!«
Rückblickend musste sie jedoch einräumen, dass Elizabeth Meyer sie einen Tag vorher aus Genf angerufen hatte – was an und für sich aber nicht weiter ungewöhnlich war. Sie machte das ab und zu, wenn sie das Bedürfnis hatte, das Ohr an der Basis zu haben, und ein politisches Problem oder eine »Tendenz« mit jemandem vom Netzwerk besprechen wollte, dem sie vertraute. Dass Charlotte dieses Vertrauen in hohem Maße genoss, wussten nur wenige, denn eine der Qualitäten, die Elizabeth Meyer in dieser begabten, hellhörigen und kompetenten jungen Frau sah, war eben ihre Diskretion. Charlotte Damgaard hatte sehr wohl Respekt vor Meyer. Aber sie war nicht untertänig, kein Snob und absolut kein Namedropper. Darüber hinaus war sie sich nicht ganz im Klaren darüber, ob sie einen Sonderstatus innehatte, obwohl ihre Bekanntschaft mit der Zeit enger geworden war und inzwischen auch ihr Privatleben einschloss. Meyer kannte Thomas, hatte sie im Krankenhaus besucht, als sie die Zwillinge bekommen hatte, und nahm an ihrem Familienleben insgesamt verblüffend Anteil. Allerdings war ihr Verhältnis in dieser Hinsicht einseitig – es kam nur äußerst selten vor, dass Meyer ihre eigene Intimsphäre ansprach. Charlotte wusste nicht viel mehr über diesen Teil von Meyers Leben als alle anderen, obwohl sie ein- oder zweimal auch ihrem Wochenend-Mann begegnet war, einem heiteren norwegischen Reeder aus Bergen. Ein ungleiches, aber anscheinend glückliches Paar.
Das Gespräch aus Genf hatte sich allerdings dadurch von den meisten anderen unterschieden, dass es ausschließlich um Charlotte selbst ging. Anders als der Rest der Welt konnte Meyer sich nicht damit abfinden, dass Charlotte beschlossen hatte, ihren Job zu quittieren, um für zwei Jahre als »begleitende Hausfrau« mit Thomas nach Afrika zu gehen. Jetzt war er dran. So lautete ihre Absprache, die nicht nur fair, sondern auch unantastbar war.
»Charlotte«, hatte Meyer in ihrem Überredungston gesagt, den sie einsetzte, wenn sie immer noch glaubte, ihren Willen bekommen zu können. »Glaub mir, dieses Leben ist nichts für dich! Egal, was du dir einbildest, du wirst eingehen wie eine Primel!«
Charlotte hatte das lachend zurückgewiesen. Sie hatte weder vor, sich in Wodka zu ertränken, noch wollte sie anfangen, Bridge zu spielen. Thomas und sie waren sich einig, dass sie natürlich eine vernünftige Beschäftigung finden musste. Sie hatte Thomas schon früher zu Auslandseinsätzen begleitet. Sogar monatelang. Sie kannte das diplomatische Expat-Milieu nur zu gut, das die begleitenden Ehegatten – Frauen – auf einen hirntoten Anhang reduzierte. Sie würde zwar die Hauptverantwortung für die Kinder übernehmen, aber ansonsten würde sie arbeiten, wie sie es immer getan hatte.
»Und womit?«, hatte Meyer daraufhin mit einem Anflug von Bissigkeit gefragt, was deutlich machte, dass sie anfing, ungeduldig zu werden. Charlotte hatte die Möglichkeiten aufgezählt – der WWF hatte Interesse für ihren Vorschlag bekundet, eine lokale Untersuchung der Biodiversifikation vorzunehmen, Danida hatte verschiedene Umweltschutzprojekte, in denen sie sich engagieren könnte, und sonst bestand schließlich immer die Möglichkeit, ehrenamtlich in einer dortigen Klinik oder Schule zu arbeiten ...
»Also Hutträgerin!« Meyer hatte tief geseufzt und geschwiegen. So, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie ihren Gegenspieler unvermittelt fallen ließ, der daraufhin in eine Stimmung von Verlassenheit geriet und sich so plötzlich doch für Verhandlungen öffnete.
Charlotte kannte den Trick und durchschaute ihn auch dieses Mal. Trotzdem konnte sie selbst hören, wie schwach ihre Bekräftigung klang, als Meyer das Gespräch beendete, indem sie konstatierte: »Dann fliegst du also am 5. Januar. Komme, was wolle.«
Ihr »Ja ...« war so zögerlich, dass sie sich beeilte und ein rationales »Ich habe ja auch gar keinen Job mehr. Die haben schon einen Neuen eingestellt« hinterherschob. Meyer lachte kurz amüsiert auf. Und wenn es etwas gab, was in Charlottes Ohren nachhallte und sie vielleicht hätte warnen können, dann dieses Lachen. Und die Tatsache, dass Elizabeth Meyer ihr weder frohe Weihnachten noch eine gute Reise wünschte. Das ähnelte ihr ganz und gar nicht.
Als sie den Gesprächsverlauf später mit Thomas diskutierte, fand sie immer noch nicht, dass es legitim war zu meinen, sie hätte einen schlichten Mangel an Höflichkeit als Jobangebot erkennen müssen. »Ein Ministerposten, Thomas! Ganz ehrlich! Das war zu weit hergeholt! Wie hätte ich denn überhaupt auf so was kommen sollen? Ich war auf dem Weg nach Afrika! Wir hatten Umzugskisten über die ganze Wohnung verteilt! Und außerdem war Weihnachten!«
Ganz gleich, wie unwahrscheinlich es einem erscheinen mag, aber so verhielt es sich tatsächlich. Nichts, absolut gar nichts, bereitete sie darauf vor, dass an diesem Abend, als sie die Kinder nach dem Fernseh-Adventskalender ins Bett brachte und versuchte, Jens dazu zu bewegen, Kamillentee mit Honig gegen den Husten zu trinken, als sie darauf wartete, dass Thomas von der Weihnachtsfeier der Organisation für Internationale Zusammenarbeit, der MS, nach Hause kam – dass an diesem Abend in weniger als zwei Stunden ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt werden würde. Sie hatte keinen siebten Sinn und keine hellseherischen Ahnungen, die ihr sagten, dass ein ganzer Stab schon dabei war, ihren Lebenslauf zu durchleuchten, zu lernen, ihren Nachnamen mit Doppel-a zu buchstabieren und sie auf die Fahrdienstliste des nächsten Tages zu setzen. Sie lauerte nicht neben dem Telefon und fühlte auch nicht dieselbe Unruhe wie der Mann, der bald ihr Vorgänger sein würde und der, während sie im gemeinschaftlichen Waschkeller des Hauses eine Waschmaschine einräumte, mit einem dünnen, sehr, sehr dünnen Whisky-Soda in der Hand am Schreibtisch in seinem Büro stand, über den Højbro Plads blickte und mit einem kurzen Schaudern von dem Gedanken gestreift wurde, dass dies möglicherweise das letzte Mal war, dass er hier stand und auf Weihnachtsbaumverkäufer, den Leierkastenmann und das so genannte wirkliche Leben blickte, das er immer mehr zu fürchten begonnen hatte.
Auch die Spätnachrichten im Fernsehen schaltete sie ohne große Erwartungen ein. Sie ließ sie laufen, während sie weiter planlos Kisten füllte, die gelagert werden würden. Sie konstatierte, dass es nichts Neues über die Rochade gab, blieb aber an einem Beitrag über den Zusammenhang zwischen den Überschwemmungen in England und der globalen Erwärmung hängen. Das brachte sie dazu, sich endgültig in die ausgefranste Sofaecke fallen zu lassen, während die nachfolgenden Berichte an ihr vorbeizogen, ohne sich festzusetzen. Sie fühlte sich plötzlich matt, überwältigt von der Halbherzigkeit, die sie zwar die ganze Zeit gefühlt, aber nicht zugelassen hatte. Zwei Jahre. Nur zwei Jahre. Dann würden sie wieder nach Hause kommen. In dieselbe Wohnung. Sie würde da weitermachen können, wo sie aufgehört hatte. Vielleicht konnte sie direkt wieder in ihrem Job anfangen. Oder sich etwas Neues suchen. Sie war immer noch jung. 35. Und selbst wenn Thomas es sich anders vorstellte, sie würden in Afrika keine weiteren Kinder bekommen.
Oder doch ... Vielleicht eins. Das wie ein Kängurubaby in einem kunterbunten Tragetuch an ihr hängen dürfte. Die Zwillinge hatte sie früh, viel zu früh, abgeben müssen. An Thomas, der glücklich die letzten neun Wochen Erziehungsurlaub genommen hatte, sodass sie ihren Job bei den Naturfreunden antreten konnte. Theoretisch klang das nach einer durch und durch modernen und vernünftigen Lösung, aber tatsächlich hatte sie schrecklich unter Sehnsucht gelitten. Sie auf der Haut zu spüren, ihren intensiven Babygeruch einatmen zu können, sogar sie zu wickeln war etwas, wonach sie sich ab sofort begeistert gesehnt hatte – die Speckfalten, die dicken Beinchen, das beglückende Gefühl, Fürsorge zu geben. Das Stillen war schon nach drei Monaten zu Ende gewesen, da war sie in jeder Hinsicht leer gesaugt. Ausgezehrt und unmittelbar erleichtert darüber, die Symbiose brechen zu können. Ausmaß und Macht hatten sie erschreckt – Mutterschaft mit Haut und Haaren, und ein Körper, der nur dazu da war, diese beiden kleinen Würmchen am Leben zu halten, die ein wenig untergewichtig die ersten zwei Tage unter der Wärmelampe im Brutkasten verbracht hatten. Ihr Flehen und ihre Bereitschaft, alles zu opfern, um nur die beiden behalten zu dürfen, ihr Anrufen aller Götter. Und ihr monumentaler Zorn, der sich in unbeherrschtem Weinen Bahn brach und später zu einer starren Unversöhnlichkeit kondensierte, als ihre Mutter ankam und kompetent und sachlich feststellte, dass die beiden lebenstüchtig waren und kein Anlass bestand, »hysterisch« zu werden. Sie war heulend von der Station geflüchtet, während Thomas versuchte, die Wogen zu glätten, die Blumen ins Wasser stellte und die Großmutter erst mit dem einen und dann mit dem anderen Zwilling dasitzen ließ. Sie hätte sich der Auseinandersetzung damals stellen sollen, aber sie war zu müde, zu dünnhäutig und zu verwirrt gewesen. Ihr Vater jedoch war da, unvermittelt aufgetaucht als sanftmütiger Geist, voll von dem Verständnis, das ihrer Mutter so völlig fehlte. Er hätte ihre Verletzlichkeit verstanden. Er hätte ihre Bindung verstanden zu diesen winzig kleinen Neugeborenen, hellrosa, wie kleine Ferkel. Er hätte von der stummen Kommunikation gewusst, die sie vom Augenblick der Geburt an so stark gefühlt hatte, als hätten sie mit ihr geredet. Auf dieselbe Weise, wie sie die enge Verbindung in Erinnerung hatte, die damals zwischen ihnen bestand, wenn sie bei ihm auf dem Traktor gesessen oder seine Hand genommen hatte und den scharfen Geruch von Schweinestall bemerkte, wenn sie ihn zum Essen holte. Auch er hätte sich für seine Kinder geopfert. Und vielleicht war es das, was er in einem tragischen Missverständnis getan und was sie ihm ohne weiteres vergeben hatte. Es war ihre Mutter, auf die sie wütend war. Weil sie es war, die dasaß und Besitz ergreifend Zwilling eins auf dem Arm hatte, ihr erstgeborenes Enkelkind. Und nicht er, ihr Vater.
Dennoch hatte sie nach den ersten aufreibenden und doch so harmonischen Wochen die Ambivalenz der Mutterschaft erfahren. Sie hasste es, das zugeben zu müssen, aber in kurzen Momenten merkte sie, wie die Nabelschnur sich um ihren Hals legte, sich zuzog und sie fast erstickte. Ein gewisses Maß an unsentimentalem Selbstschutz war notwendig, wenn man selbst überleben wollte. Vielleicht war es das, der Selbstschutz, den ihre Mutter praktiziert hatte. Was eine gute Erklärung, aber keine Entschuldigung war. Auch nicht für sie selbst. Das wurde ihr schmerzlich bewusst, als sie den Job annahm und ihre Nachkommen zurückließ. Auch verdrängte sie es mit rationalen Argumenten, als zuerst Johanne und später auch Jens nicht mehr von ihr in den Schlaf gestillt werden wollten, sondern Papas Fläschchen verlangten, das sie gierig und schmatzend austranken. Sie hatte ja keine Milch mehr! Und auch, wenn ihr Körper jammerte und klagte über diese abrupte Trennung und sie sich die ersten Monate beim Arbeiten wegschlich, um mit der Hand unter der Bluse zu prüfen, ob die Milch wieder angefangen hatte zu laufen – ihr Kopf wusste, dass es so am besten war. Ihre Erziehung steckte in ihr wie ein implantiertes Lineal: Man konnte nicht alles haben. Man nahm sich zusammen. Ohne zu jammern.
Also jammerte sie nicht. Es gab auch nichts, worüber sie sich hätte beklagen können. Die Kinder »gediehen«, wie man bei der Vorsorgeuntersuchung lobend feststellte. Und Thomas war ein fantastischer Vater mit ausgeprägtem Sinn für Elternschaft. Er verfügte über die Ruhe und den Mangel an Rastlosigkeit, die man benötigt, um ein Dasein mit so kleinen Zwillingen in einer 4-Zimmer-Wohnung am äußeren Rand von Østerbro auszuhalten. Anders als wenn sie mit ihnen alleine war, kamen sie raus. Er machte mit ihnen lange Spaziergänge im Park. Hatte sie im Café genauso dabei wie im Supermarkt und ging mit ihnen zum Babyschwimmen mit der Krabbelgruppe.
Es war seine Idee gewesen, auch noch die Elternzeit zu übernehmen; und als er in seinen Job bei MS zurückkehrte, war die Arbeitsteilung schon zementiert. Sie ackerte wie ein Pferd, und er hielt ihr den Rücken frei.
Ihrer Meinung nach lebten sie harmonisch, ihr Dasein funktionierte, und es beschäftigte sie nur flüchtig, dass sie ganz einfach das traditionelle Rollenmuster umgekehrt hatten. Möglich, dass ihre Umgebung daran Anstoß nahm, darunter ihre Schwiegereltern. Aber was andere darüber dachten, interessierte sie nur sporadisch. Sie ging ganz automatisch davon aus, dass es Thomas auch nicht aufregte, und es war ganz sicher ein Fehler gewesen, so einfach als gegeben hinzunehmen, dass er ihre Berufstätigkeit billigte, wie sie es getan hatte. Jedenfalls war es für sie völlig überraschend gekommen, als er vor einem halben Jahr plötzlich seiner enormen Frustration Ausdruck verliehen hatte, von deren Existenz sie noch nicht einmal etwas geahnt hatte.
»Wann bin ich dran?«, hatte er lakonisch gefragt. Eines Morgens, aus heiterem Himmel, als sie auf dem Weg nach Brüssel war. Er war dabei, die Kinder anzuziehen, während sie sich darauf konzentrierte, ihre Papiere zusammenzusuchen und ihren Flieger noch zu erreichen.
»Wie meinst du das?«, hatte sie geantwortet, völlig unvorbereitet.
»Du weißt nicht, wovon ich rede, oder?«
Sie musste zugeben, dass sie wirklich keine Ahnung hatte. Und so grübelte sie die zwei Tage in Brüssel darüber nach, wenn sie nicht gerade in Lobbyisten-Treffen saß und sich Strategien ausdachte, wie die Automobilindustrie dazu zu bewegen war, den CO2 -Ausstoß zu senken, oder wenn sie zum Briefing beim dänischen Umweltkommissar war. Sie liebte Thomas, wirklich, sie hatte nie einen anderen geliebt und fühlte sich normalerweise in völligem Einklang mit ihm. Sie respektierte ihn, schätzte ihn höher als irgendeinen anderen Menschen, den sie je getroffen hatte. Und deshalb schockierte es sie auch so, dass sie derartig blind gewesen war. Sie verspürte nicht im Geringsten den Wunsch, ihn zu übergehen, dachte nicht im Traum daran, sich auf seine Kosten zu profilieren, ganz zu schweigen davon, ihre Partnerschaft aufs Spiel zu setzen. Also kam sie mit einer Flasche Jahrgangswein, einer vakuumverpackten Käseauswahl und einer Schachtel belgischer Pralinen aus dem Flughafenshop nach Hause. Zunächst wurde er stinksauer, weil er fand, dass sie es sich zu leicht machte. Aber als sie den Wein aufmachte und ihm Käse und Pralinen im Kerzenschein servierte, wurde er doch gelöster. Nach dem ersten Glas Wein stürzte es regelrecht aus ihm hervor, wie Erde und Matsch bei einem Bergrutsch. Er fühlte sich übersehen, zurückgesetzt, was auch immer. Sie saß da und starrte ihn nur an, sprachlos vor Erstaunen.
»Ja, aber, ich dachte ...«, setzte sie an, wurde aber sofort wieder aus der Bahn gefegt, während er Wein nachschenkte.
»Ja, was dachtest du eigentlich? Dass ich Hausfrau und Mutter mit Rüschenschürze sein würde, forever? Den Kindern liebende Mutter und Vater in ein und derselben Person sein? Der neue Mann? Ganz ehrlich, Lotte, bist du scharf auf ihn?«
»Ich bin scharf auf dich! Und du hast verdammt noch mal einen Spitzenjob, wovon redest du hier? Bist du in der Ich-bin-dreißig-Krise, oder was?«
»Ich bin 33!«
»Ach so, ja, du warst schon immer ein bisschen langsam!«
»Und du warst schon immer so verflucht schnell! Frau Direktorin! Was kommt als Nächstes? Staatsministerin? Du bist verdammt noch mal so scheißambitioniert!«
»Hör auf damit, dich so schwachsinnig aufzuführen, Thomas!«
Thomas hatte sein Glas wütend ausgetrunken.
»Schatz, du bist es doch, die wahnsinnig ist. Du kannst ja nicht mal eine Runde Badminton im Garten spielen, ohne dass du gewinnen musst! Erinnerst du dich, wie du mit verstauchtem Fuß weitergemacht hast, nur weil du mich schlagen wolltest?«
»Ich bin nur engagiert!«, hatte sie gelacht, erleichtert darüber, dass er ihre gemeinsame Geschichte überhaupt anerkannte.
»Ja, du willst die Welt retten, nicht wahr? Die Wale und die Unken und die Ozeane und unsere Nachkommen ...«
»Und du den ganzen afrikanischen Kontinent! What’s the fucking difference!«
Statt den Ball zurückzuspielen, hatte er sein Glas stumm gedreht, wieder und wieder, und war in einem Loch aus Nachdenklichkeit verschwunden, das ihr Herz hämmern ließ. Hier ging es um etwas ganz Konkretes. Jemand oder etwas war dabei, ihren Thomas von ihr wegzuziehen. War das Undenkbare passiert? Hatte er eine andere gefunden?
»Was ist los, Thomas?«, hatte sie mit trockenem Mund gefragt. Er war mit der Hand über seine kurz geschorenen Haare gefahren, auf eine Art, die sie seine Locken und die beiden, die sie damals gewesen waren, vermissen ließ.
»Ich war bei einem Planungsgespräch. Sie wollen mich als Projektleiter haben. Ich soll Lauges Genossenschaftsding in Apac ...«
»Genossenschaftsprojekt? Das in Uganda? Na dann!«, war es erleichtert aus ihr herausgeplatzt, während er düster zu ihr hingeschielt hatte.
»Ich dachte, die suchen einen Soziologen?«, hatte sie dann angemerkt.
»Sie meinen, ich wäre qualifiziert. Sie finden mich toll.«
»Okay! Glückwunsch!«
Er hatte sie angesehen, den Kopf schief gelegt mit leicht zusammengekniffenen Augen.
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Zwei Jahre in einem ländlichen Distrikt in Uganda!«
Ihr Herz hatte wieder angefangen zu klopfen, aber sie behielt einen neutralen Ausdruck.
»Hast du zugesagt?«
»Sehr witzig!«
»Du hast nicht nein gesagt, oder?«
»Ich habe ihnen für ihr Vertrauen gedankt und gesagt, ich müsste das mit meiner Frau besprechen. Aber nur die Ruhe: Ich habe sie auf eine Absage vorbereitet.«
»Warum?«
»Shit, Lotte! Das weißt du genau! Soll ich dich etwa für zwei Jahre nach Afrika schleppen? In den Busch?«
Hier hatte sie also den Fehler begangen, der sie einen Augenblick später dazu brachte, sich selbst zu überbieten.
»Du könntest alleine fahren.«
Mit einer hastigen Bewegung hatte er sich in voller Länge aufgerichtet, war aufgestanden und zu dem Fenster gegangen, das am weitesten weg war. Sie war ihm gefolgt. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Das war Antwort genug. Lautlos hatte sie tief eingeatmet, bevor sie tat, was nötig war. So, wie die Stimmung zwischen ihnen jetzt war, so, wie sein Gesicht sich in der letzten Stunde verändert hatte, so, wie ihr Magen sich zusammenschnürte, gab es nichts anderes.
»Entschuldigung«, hatte sie gesagt und sich hinter ihn gestellt und die Arme um seinen Bauch gelegt. »Wir fahren zusammen. Natürlich.«
»Das ist nicht dein Ernst«, hatte er gemurmelt. Ohne sie wegzuschieben. Und sie hatte bekräftigt. Hatte argumentiert, wie klar die Sache war, dass er den Job annehmen musste. So wie sie damals den ihren. Vielleicht war es auch wirklich an der Zeit, dass sie sich veränderte. Niemand würde sagen können, sie hätte sich zur Unzeit davongemacht oder ihr Ziel verfehlt. Schließlich konnte sie eine top-getrimmte Organisation übergeben, die beides bekommen hatte, Redezeit und Aufmerksamkeit. An sich war es einfach. Ihr Vertrag musste ohnehin neu verhandelt werden, und sie konnte ihn schlichtweg nicht verlängern. Keine Dramatik. Nur eine Frau, die ihrem Mann folgt, der jetzt an der Reihe ist, die Bühne zu betreten.
»Es war doch immer geplant, irgendwann noch mal zu gehen, oder? Bevor wir festwachsen.«
Da hatte er sich umgedreht und sie mit viel zu funkelnden Augen angesehen, hatte ihre Hand genommen und gefragt, ob es so simpel war, dass sie einfach mitkam.
»Warum sollte es das nicht sein? Uganda ist ein schönes Land, die Kinder sind robust genug, die E-Mail ist erfunden. Ich freue mich schon!« Heiter hatte sie ihr Glas an seines angestoßen. Und er war so froh und aufgeräumt gewesen, dass sie gezwungen war, nach bestem Können mitzuspielen.
Was unfassbar einfach gewesen war, unter anderem, weil sie auf keinerlei Widerstand traf. Enttäuschend genug reagierten alle enorm positiv, von der Presse bis hin zum Freundeskreis. Niemand versuchte, sie aufzuhalten, niemand warnte sie, niemand deutete an, dass sie unersetzlich war und auf ihrem Posten gebraucht wurde. Es ging so glatt, dass sie fast schon misstrauisch wurde. War das in Wirklichkeit ein Komplott? Wünschten die sich, sie loszuwerden? Oder ging es nur darum, dass sie das einzig Richtige tat, indem sie »das gute Leben« wählte und ihren Mann zum Zuge kommen ließ?
Ihre Schwiegereltern, Restaurant-Magnaten aus Aalborg, waren zum ersten Mal in den zehn Jahren, seit sie Thomas kannte, andeutungsweise zufrieden mit ihr. Weil sie endlich einlenkte. Zuließ, dass ihr Sohn eine Führungsposition einnahm, wie sie es nannten, in dem Versuch, es klingen zu lassen, als würde er für den A.-P.-Møller-Konzern in die Welt ziehen.
Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sie als Unglück für ihren Sohn betrachteten, von dem sie sich so viel erhofft hatten. In ihren Augen stand es außer Frage, dass es ihre Schuld war, dass aus Thomas nichts geworden war. Sollte heißen: nichts, was ihm die Tür zu den Rotariern geöffnet hätte. Ein Geschäft oder wenigstens Jura. Dass er sich für Ethnographie entschieden hatte, bevor sie sich kennen lernten, hatten sie verdrängt. Dass er von dem Tag an in Opposition zu der provinziellen Bürgerlichkeit seiner Eltern gestanden hatte, an dem er als sanfter, aber konsequenter Junge seine Lacoste-Hemden in die Kleidersammlung des Roten Kreuzes geschmissen hatte und seine Zeit lieber damit verbrachte, auf der Suche nach Steinkeilen durch Vendsyssels Ackerfurchen zu stiefeln, als mit seinem Vater die Restaurants auf Aalborgs Vergnügungsmeile abzuschreiten – auch das hatten sie aus der Familienchronik entfernt. Thomas hatte immer zum Ausdruck gebracht, dass ihm die Ansichten seiner Eltern völlig gleichgültig waren. Aber auf eine rührende Art stand er ihnen immer noch treu zur Seite. Und nicht nur, weil er ihr einziges Kind war und eine gewisse familiäre Verpflichtung fühlte. Er hielt viel von ihnen, ja, er liebte sie ganz einfach. Auch wenn das Verhältnis zwischen Charlotte und seinen Eltern angespannt war, schlug er sich nie auf eine Seite. Thomas taugte nicht zu Krieg und Konflikt, er war der geborene Schlichter mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Darum hätte er es ohnehin nie weit gebracht in dem Geschäftsleben, das die Arena seines Vaters war. Ihm fehlte der Killerinstinkt. Ganz einfach.
Für Charlotte war Thomas immer ein Mysterium gewesen. Er war so ehrlich wie Wasser und Brot, und das war von Anfang an eine unglaubliche Erleichterung gewesen. Dass sie nicht alles erraten, sich nicht im Dunklen vorwärtstasten musste. Wie er es selbst ausgedrückt hatte, als sie an dem frühen, pastellfarbenen Morgen nach dem nächtlichen Bad das erste Mal gemeinsam unter einer Decke lagen: »Du bekommst, was du siehst.«
Seine Reaktion darauf, dass sie einen Schritt zurücktrat und ihm das gelbe Trikot überließ, verwirrte sie so sehr, dass sie sich in den letzten Monaten öfters dabei ertappt hatte, wie sie dasaß und ihn betrachtete, als wäre er eben erst in ihr Leben getreten. Seine Freude hatte sie völlig überrumpelt. Und sein Stolz. Der ganz besonders. Als er in Aalborg angerufen und erst seine Mutter und dann seinen Vater gesprochen hatte, war er so stolz darauf, von seiner Beförderung zu erzählen, dass seine Stimme kurz davor war zu kippen. Er ließ sich von ihnen mit Gratulationen überschütten und kroch förmlich in den Hörer vor Glück über ihre Begeisterung.
»Oh Mann, waren die aus dem Häuschen!«, grinste er exaltiert und mit gerötetem Gesicht, als er den Hörer auflegte und sich zum ersten Mal zu ihr umdrehte. Verlegen, als wüsste er genau, dass er sie irgendwie verraten hatte, indem er nie zugegeben hatte, wie viel es ihm dennoch bedeutete, ihre Erwartungen zu erfüllen.
»Das warst du wohl auch«, gab sie bissig zurück. Und schloss sich damit endgültig aus diesem offenkundig absolut intakten Dreieck aus.
Auf diese Art hatte er in den letzten Monaten neue Seiten von sich gezeigt. Während sie ihren Job abwickelte und bemerkte, wie ihr jeden Tag etwas mehr die Puste ausging, bekam er Auftrieb und wurde immer dynamischer und energischer, vereinnahmt von dem, was bevorstand. Er arbeitete lang, brachte Unterlagen mit nach Hause oder saß den ganzen Abend am Computer und schrieb und mailte der halben Welt. Umgekehrt fühlte sie sich allmählich immer müder und ausgebrannter. Ihr letzter Arbeitstag rückte näher, und ihr Nachfolger wartete schon in den Kulissen. Während sie es kaum schaffte, zum Umzug und zu ihrem neuen Dasein Stellung zu beziehen, stürzte er sich auch darauf. Sie sah passiv zu, während er voller Arbeitswut lange Listen schrieb, organisierte und verhandelte. Er regelte Versicherungen und Zoll und kümmerte sich auch um Impfungen und Malariaprophylaxe. Das Einzige, worum er sie bat, war, sich darum zu kümmern, dass die Kinder aus dem Kindergarten abgemeldet wurden, und mit den Banken über Dispokredit und Überweisungen zu sprechen. Beides schob sie über Wochen vor sich her, und als er sie das fünfte Mal daran erinnerte und vergeblich versuchte, sie dazu zu bringen, sich zu den Umzugsmodalitäten zu äußern, schmiss er den Kugelschreiber mit einer hitzigen Bewegung hin und erklärte, dass »das so nicht geht«.
»Du willst nicht mit, oder? Du tust nur so, als ob! Das konnte ich doch schon im Vorbereitungsseminar deutlich sehen. Du bist dagegen!«
»Nein!«, hatte sie abgestritten. »Vielleicht ein bisschen verschreckt. Das ist schließlich kein Picknick ... Und die Kinder ...«
»Schatz, tu mir den Gefallen und sag jetzt ab! Wenn es das ist ...«
»Ich weiß nicht, was es ist. Ich bin einfach nur schrecklich müde«, war sie ausgewichen. Und hatte ihr Gesicht mit einem kleinen flackernden Lächeln erhellt.
»Bist du schwanger?«
»Mit Spirale?«
Er zuckte mit den Schultern. Beugte sich dann über den Tisch.
»Wolltest du die nicht noch rausnehmen lassen? Bevor wir abreisen?«
»Meinst du nicht, dass wir im Augenblick genug Kinder haben?«
»Es ist am tollsten, Kinder zu kriegen, wenn man weg ist. Und schließlich wollen wir vier haben, oder?«
»Vier?! No way!«
»Mindestens drei!«
»Warum willst du so viele Kinder haben?«, hatte sie gefragt und sich auf dem Stuhl zurückgezogen.
»Weil ich dich liebe! Ich liebe es, Kinder mit dir zu haben! Ich liebe es, sie mit dir zu machen, ich liebe es, mit dir schwanger zu sein, ich liebe es, mit dir zu gebären!«
»Nur die Ruhe!«, hatte sie gelächelt.
»Kinder sind doch der Sinn des Lebens, oder?«
»Hmja«, hatte sie gemurmelt und sich aufgesetzt. »Worüber wollten wir gerade reden? Die Bank und die Nachsendeanträge ...«
»Du willst also mit? Es ist eine gemeinsame Sache? Nicht nur etwas, das ich träume?«
»Hör auf, so einen Schwachsinn zu reden«, hatte sie ihn abgefertigt, während er wieder nach dem Kugelschreiber griff.
Seither hatte sie brav getan, was sie sollte. Und sogar das Projekt gegenüber den beiden einzigen Menschen verteidigt, die Skepsis ausdrückten. Elizabeth Meyer und, seltsam genug, ihre Mutter. Was ihre Mutter wirklich dagegen hatte, war nicht ganz klar. Abgesehen davon, dass sie traurig war, weil sie ihr die Enkelkinder wegnahmen. Außerdem machte sie sich Sorgen wegen der Gefahren. Aids, Tropenkrankheiten, Verkehrsunfälle, Kriminalität. Und schließlich war sie prinzipiell dagegen, dass ihre Tochter sich von einem Mann abhängig machte.
»Es ist nicht ›ein Mann‹. Es ist Thomas. Und ich werde eine Menge zu tun haben.«
»Ja, aber du wirst wohl kaum eigenes Geld verdienen, oder?«
»Man kann nicht alles am Geld festmachen.«
Ihre Mutter hatte die Lippen gespitzt, eine zollfreie Marlboro light im Mund. Sie hatte in den letzten Jahren angefangen zu rauchen, nachdem sie begonnen hatte, um die ganze Welt zu reisen, um »klüger zu werden und mich selbst ein bisschen zu verwöhnen«. Als sie Witwe geworden war, hatte sie sich mühsam und bienenfleißig abgearbeitet, hatte die Abendschule absolviert und war Krankenschwester geworden. Sie hatte ihre drei Kinder mit dem Geld versorgt, das der Verkauf des Hofs eingebracht hatte und mit der Putzstelle, die sie in einem Pflegeheim in Brønderslev angenommen hatte. Dorthin waren sie wenige Monate, nachdem »es passiert war«, gezogen. Zunächst wohnten sie in einer Sozialwohnung in einem Genossenschaftsgebäude, später kaufte ihre Mutter das kleine Reihenhaus am Stadtrand, in dem sie noch immer wohnte. Materiell gesehen, ging es ihr heute ziemlich gut als gutbezahlte leitende OP-Schwester im örtlichen Krankenhaus.
»Nein. Aber man kann auch nicht von seinem Ruf leben. Es sei denn, man hat einen Mann, der einen versorgt. Und wer weiß, wie lange das hält.«
»So ist Thomas nicht«, hätte sie gerne geantwortet. »Er lässt uns nicht im Stich.« Aber sie redeten immer noch nicht darüber. Nie.
»Wenn wir wiederkommen, bin ich ja wieder dran ...«
»Ja, ja, das sagt ihr immer«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ihr müsst das ja sowieso unter euch ausmachen.«
Und das mussten sie wohl. Und nicht zuletzt musste sie zusehen, sich mit der Tatsache anzufreunden, dass sie in ein paar Wochen in einem Flieger sitzen würde, auf dem Weg in ein neues Leben, dem sie einen Sinn geben musste. Es war auch notwendig, das loszulassen, was ihres war. Die Vorteile darin zu sehen, dass sie nicht mehr länger zum Wasserschutzplan Stellung beziehen oder sich über die unverschämten Methoden der Spritzmittel-Mafia aufregen musste. Und sie konnte sich auch genauso gut gleich abgewöhnen, taktisch zu denken – um wen sie sich kümmern musste, für wen sie einen Samstagskommentar schreiben sollte, welche Argumente bei welchem Umweltsprecher Eindruck machten. Sie musste nicht einmal mehr ihre Hausaufgaben ordentlich machen, denn das Risiko, dass ein Journalist sie anrufen würde, war – mit der einzigen Ausnahme Andreas Kjølbye – gleich null. Der offizielle Abschieds-Empfang hatte letzte Woche stattgefunden, und sie war überwältigt davon gewesen, wie viele gekommen waren. Sogar Søren Schouw war mit einem Strauß vorbeigekommen. Er war eingeladen, aber niemand hatte damit gerechnet, dass der Minister auftauchen würde. Nicht zuletzt, weil Charlotte ihm gegenüber nie besonders höflich gewesen war. Ganz im Gegenteil, sie hatte mündlich wie schriftlich scharfe Kritik an seinem äußerst moderaten und in vielerlei Hinsicht ziemlich schlingernden Kurs geübt. Man hatte wohl damit gerechnet, dass es gute Presse gäbe, wenn er sich mit ihr, der jungen Umwelt-Tante, im Arm fotografieren lassen würde. Er hatte sich obendrein nicht geschämt, eine Rede für sie zu halten, in der er ihr für den Kampf dankte, dafür, dass sie »für die Sache brannte«, und wünschte ihr »guten, anhaltenden Wind!«.
Charlotte war vor lauter Verblüffung und Verlegenheit fast ohnmächtig geworden. Das war genau die opportunistische Falschheit, die sie bei Politikern nicht riechen konnte. Darum bestärkte seine Show sie auch darin, dass Politik nichts für sie war. Folglich hatte sie dem Parteibüro ohne Wehmut mitgeteilt, dass sie sie vorläufig nicht mehr zu sehen bekämen und ihren Status deshalb gerne in »passives Mitglied« ändern dürften. Eigentlich war sie kurz davor gewesen, ganz auszutreten, aber sie wollte die traurige Statistik der Partei nicht noch erhöhen. Den Gefallen tat sie ihnen dann doch nicht, den Bürgerlichen.
Nach dem Wetterbericht – der Kälte ankündigte und die Aussicht auf weiße Weihnachtstage, die sie teils bei der Schwiegerfamilie in Hasseris, Aalborgs Nobelgegend, und teils bei ihrer Mutter verbringen würden – machte sie den Fernseher aus, legte eine Madonna-CD auf, schenkte sich ein Glas Rotwein ein, gestattete sich eine Eigentlich-habe-ich-aufgehört-zu-rauchen-Zigarette und beschloss, weiterzupacken. Das tat sie auch eine Stunde lang, langsam und methodisch, während sie lauschend auf Thomas’ Schritte im Treppenhaus wartete, mit wachsender Irritation darüber, warum zur Hölle er nicht langsam von dieser Weihnachtsfeier zurückkam. Nicht, weil sie es ihm nicht gönnte, sich zu amüsieren. Sondern weil sie ahnte, dass es dabei bleiben würde. Dass sie auf ihn warten würde. Die nächsten zwei Jahre.
Kurz vor elf hatte sie mit sich selbst ausgemacht, dass sie ihn auf dem Handy anrufen würde, wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten da wäre. Es könnte ja theoretisch etwas passiert sein. Aber gerade als sie nach dem Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon.
»Hallo, Schatz!«, sagte sie. »Wo zum Teufel bleibst du!?«
Eine zögernde Pause und dann eine fremde Frauenstimme.
»Spreche ich mit Charlotte Damgaard?«
»Ja?«, antwortete Charlotte unsicher, mit der schwachen Angst, es könnte ihm wirklich etwas zugestoßen sein.
»Hier spricht Tove Munch, ich bin die Sekretärin des Staatsministers. Er würde Sie gerne sprechen.«
Charlotte runzelte die Stirn, aber ihre Handflächen wurden feucht. In ein und demselben Moment erfasste sie die Situation zugleich messerscharf und überhaupt nicht. Aber dass das weder ein Witz noch ein Missverständnis war, verstand sie sofort.
»Entschuldigung, worum geht es?«, brachte sie gerade noch hervor.
»Das will der Staatsminister Ihnen sicher selber sagen. Ich stelle Sie durch.« Danach folgten zwei, drei rauschende Sekunden, in denen der Boden unter ihr zu schwanken begann, da sie mit einem Mal wusste, was er wollte.
»Guten Abend, hier ist Per Vittrup. Dein Staatsminister ... Wir kennen uns ja noch aus alten Tagen, nicht? Im Übrigen war dein Beitrag neulich auf dem Kongress ganz ausgezeichnet.«
»Danke«, antwortete sie heiser, während sich unter ihrem BH ein Schweißtropfen löste.
»Charlotte, sitzt du?«
»Jetzt schon«, sagte Charlotte und sank auf den Trip-Trap-Stuhl in der abgenutzten Einbauküche. Ihr Blick war starr auf den Kühlschrank fixiert, an dem Benachrichtigungen aus dem Kindergarten, Zahnarzttermine, Rezepte, Bilder und Weihnachtskarten hingen, mit bunten Magneten befestigt.
»Gut. Du weißt, dass ich dabeibin, eine Regierungsumbildung vorzunehmen?«
Charlotte nickte stumm.
»Ja, und um es kurz zu machen: Kann ich dich überreden, meine neue Umwelt- und Energieministerin zu werden?«
»Umweltministerin?«, wiederholte sie, während ein riesengroßes, orangefarbenes JA wie ein Sperrballon die ganze Küche ausfüllte. »Was ist mit Søren Schouw?«
»Um ihn kümmere ich mich«, antwortete der Staatsminister immer noch leutselig, allerdings mit einem Unterton, der deutlich machte, dass sie das nichts anging.
»Habe ich Bedenkzeit?«, fragte sie und befeuchtete ihre Lippen.
»Selbstverständlich. Eine halbe Stunde. Wir haben hier ein bisschen Hektik. Also sagen wir, du wirst in dreißig Minuten wieder angerufen?«
Später, als sie von Journalisten aufgefordert wurde, zu beschreiben, was sie gefühlt hatte, »als der Staatsminister anrief«, versuchte sie, den Augenblick zu rekonstruieren. Aber ihren ehrlichen Bemühungen zum Trotz musste sie sie damit enttäuschen, dass sie »nichts« fühlte. Nichts anderes als Leere, Unwirklichkeit und Schock. Der Lähmung nicht unähnlich, die sie an dem »schwarzen Sonntag« ihrer Kindheit empfunden hatte. Aber das erfuhren sie nicht. Sie sagte nur, dass sie weder Zeit zum Denken noch zum Fühlen gehabt hatte. Was nicht einmal wirklich gelogen war. Die ersten zehn Minuten hatte sie darauf verwendet, auf dem Trip-Trap sitzen zu bleiben und in die Luft zu starren. Sie wusste, was sie antworten würde, wenn sie denn könnte. Aber das war unmöglich. Sie musste nein sagen. Gerade als sie zu dieser Einsicht gelangt war, rief Elizabeth Meyer an. Um sich, wie sie ohne Umschweife erklärte, zu versichern, dass Charlotte »Danke, ja« sagte.
»Du kannst es dir nicht erlauben, nein zu sagen«, entschied sie, bevor Charlotte es geschafft hatte, ihre Vorbehalte zu äußern.
»Warum nicht?«
»Weil du die richtige Person zur richtigen Zeit bist. Sonst wärst du nicht gefragt worden.«
Im Anschluss rief sie Thomas auf dem Handy an. Ihre Stimme und ihre Hände zitterten, als sie ihn kurz angebunden bat, nach Hause zu kommen. JETZT.
»Was ist passiert?«, fragte er, erschrocken über ihren Tonfall, der eine Katastrophe größeren Ausmaßes verhieß. »Ist was passiert?«
»Ja. Aber nicht so was.«
»Ist was mit den Kindern?«
»Nein, nein. Komm einfach nach Hause!«
Er saß schon im Taxi und war in weniger als zehn Minuten da. Stürmte die Treppe hoch, schloss die Tür auf und fand sie versteinert und leichenblass in der Küche sitzen, in der Hand eine Zigarette und einen Cognac, eingeschenkt in ein Wasserglas.
»Was ist passiert?«, fragte er atemlos.
»Du wirst glauben, dass ich lüge«, setzte sie an und strahlte plötzlich von einem Ohr zum anderen.
»Was?«, fragte er und warf beunruhigt seine Handschuhe auf den Küchentisch.
»Der Staatsminister hat angerufen. Per Vittrup. Er will mich zur Umweltministerin machen.«
Man kann von niemandem, der nicht vorbereitet ist, erwarten, eine solche Aussage zu erfassen. Auch nicht, wenn sie wiederholt wird. Wieder und wieder.
»Du machst Witze.«
Erst als sie zum fünften Mal versicherte, dass es die Wahrheit war, drang es zu ihm durch. Er ließ sich auf den anderen Trip-Trap fallen. War an der Grenze zwischen Lachen und Weinen, erleichtert, dass es nichts Schlimmeres war, und gleichzeitig wie ausgebombt. Ein Volltreffer hatte seine Vorstellungen in Schutt und Asche gelegt, sein Luftschloss pulverisiert. Wie sollte er sich gegen eine solche Übermacht behaupten können? Der Staatsminister, fuck you!
Sie griff nach seiner Hand.
»Du musst keine Angst haben. Ich werde ablehnen. Ich habe eine halbe Stunde Bedenkzeit bekommen. Sie rufen in ein paar Minuten wieder an.«
Thomas schüttelte den Kopf. Er war schon vorher leicht angetrunken gewesen, aber jetzt war ihm komplett schwindelig. Aber noch bevor er wieder klar im Kopf werden konnte, durchbrach das Läuten des Telefons die Pause.
Sie fuhren zusammen wie ratlose Kinder, die gegenseitig Hilfe in ihrem Blick suchten.
»Sag ja«, sagte Thomas da.
»Bist du sicher?«
Er nickte.
»Was ist mit Afrika?«
»Afrika kann warten. Das regeln wir schon. Machen es später.«
Das Telefon klingelte wieder. Charlotte griff danach, aber stoppte die Bewegung.
»Bist du sicher?«
»Ja! Nimm schon ab und sag ja! Ich liebe dich!«
»Wirklich?«
»Ja!«
»Warum?«
»Es ist deine Pflicht. Du kannst es dir nicht erlauben, nein zu sagen.«
Charlotte nickte, ohne noch weiterer Vertiefung zu bedürfen. So einfach war es eben. Sie musste.
»Okay!« Charlotte räusperte sich, nahm den Hörer und sprach wieder mit der Sekretärin, die erneut durchstellte.
»Aber ich werde keine Geisel sein«, murmelte sie mahnend am Hörer vorbei, während sie wartete, länger als das letzte Mal. Inzwischen saß Thomas da und vertiefte sich in ihre grünbraunen Augen, bis sie zu einem Strom wurden, der ihn mitriss. Nicht, weil er fünf Schnäpse zu viel gehabt hatte – es war die Art, wie er sie wahrnahm. Für ihn war sie alle Kontinente auf einmal, sie war Norden und Süden, Kälte und Wärme, Trockenheit und Regen. Von Anfang an, vom ersten Tag an, dem ersten Sommer an, hatte er ihre Klüfte und Schluchten geliebt, ihre Täler und Bergpässe, die undurchdringlichen Wälder und blühenden Felder. Wenn es ihm zugestanden hätte, hätte er sie damals auf der Stelle mitgezogen, direkt in sein Bett, statt Wochen auf eine vorsichtige Annäherung zu verwenden. Als sie sich ihm an dem frühen Morgen endlich hingegeben hatte, berauscht und fröhlich, war es, wie er es erträumt hatte. Ein Geheimnis, das sich Blatt für Blatt entfaltete. Seither hatte es für ihn keine anderen Frauen auf dieser Welt gegeben. Dass er auch der einzige Mann in ihrem Leben war, daran hatte er keinen Zweifel. Das war es nicht, wovor er Angst hatte. Er hatte Angst, sie zu verlieren, auf dieselbe Weise, wie man plötzlich den Halt verlieren kann. Und vielleicht war das das drängendste Gefühl in diesem Moment, bevor der Staatsminister ans Telefon kam. Das Gefühl von Gefahr. Und als sich der Staatsminister offenbar meldete und sie sich halb wegdrehte, wusste er es. Dass sie sich schon ein wenig entfernt hatte.
Charlotte bemühte sich, gefasst und wohl überlegt zu klingen, als der Staatsminister sie fragte, ob sie den ersten Schock überwunden hatte.
»Ja«, antwortete sie.
»Habt ihr Familienrat gehalten?«
»Ja, das haben wir.«
Jetzt klang sie so nüchtern und gefasst, dass Per Vittrup schon anfing zu befürchten, dass sie nein sagen würde. Was Meyer als Risiko angesehen hatte. Aber das gehörte wohl größtenteils zum Spiel gegenüber Gert, der immer noch stinksauer war. Um ihn glauben zu machen, dass diese Charlotte Damgaard wahrlich nicht nur irgendjemand war, der schwanzwedelnd Order parierte.
»Also, was sagst du?«, fragte er leicht, mit einem Lächeln in der Stimme.
»Ich sage, ja, danke ...«
»Das freut mich zu hören!«
»... unter der Bedingung, dass ich nicht zur Geisel der Regierung werde.«
»Geisel? Könntest du das erläutern?«
»Dass ich nicht gezwungen werde, meine Ansichten zu ändern, dass ich das Recht habe, die Entscheidungen zu treffen, die ich für richtig halte, und dass ich einen gewissen Spielraum habe im Verhältnis zur Regierungspolitik. Ich bin ja doch radikaler als Søren Schouw, und das würde ich auch gerne bleiben.«
»Äh, Politik ist ja die Kunst des Möglichen ... Also, manche Kröte muss man schon schlucken.«
»Das ist klar«, sagte Charlotte. »Ich kenne auch die Regierungsgrundsätze zur Umweltpolitik. Aber wenn es etwas bringen soll, jemanden wie mich in den Sessel zu hieven, dann muss ich meine Integrität wahren können. Andernfalls ist es für mich selbst ohne Bedeutung und zutiefst unglaubwürdig für die Menschen, die mich kennen, und für das, wofür ich stehe.«
»Das ist klar«, sagte der Staatsminister und notierte sich Stichworte auf einem Block, der vor ihm lag. »Bedingung«, »nicht Geisel«, »Kröten schlucken« stand schon da. Jetzt fügte er noch »Integrität« hinzu, und »Glaubwürdigkeit« mit drei Ausrufezeichen.
Er war so eingenommen von diesen Schlüsselwörtern, die all das waren, von dem er sich gewünscht hatte, dass sie es sagen würde, dass er es versäumte, konkret zu werden. Das war ein Fehler. Aber es wurde ihm erst sehr viel später klar, wie gravierend dieser Fehler war.
»Mit der Erfüllung dieser Bedingungen wären wir uns dann also einig?«, fragte er aufgeräumt und konnte geradezu hören, dass Charlotte Damgaard tief Luft holte, wie eine zweifelnde Braut vor dem Altar, bevor sie antwortete.
»Ja, dann sind wir uns einig.«
»Ja, dann, willkommen im Club. Dann hoffe ich nur, dass du ein hübsches Kleid für den Empfang bei der Königin hast. Und damit überlasse ich dich dem Stab. Es erfordert einiges an Logistik, sich um alles zu kümmern. Sie werden dich in Kürze zurückrufen. Wir sehen uns morgen.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, drehte sie sich zu Thomas um und gehörte wieder ihm. Großäugig und verletzlich, wie nur er sie kannte: »Bist du sicher, dass ich das schaffen kann?«
»Natürlich kannst du das! Sonst hätten sie dich nicht gefragt!«
Dann stand er auf, ging zu ihr und nahm sie in den Arm, zog sie ganz eng zu sich.
»Glückwunsch, Schatz.«
»Du bist dabei, oder?«, fragte sie und legte ihre Wange an seine Schulter.
»Natürlich. Ich halte dir den Rücken frei. Immer.«
Er küsste sie, lange und leidenschaftlich, registrierte zur gleichen Zeit seine beginnende Erektion bei der leichten Berührung ihrer breiten Hüften und ihr spontanes Zurückweichen. Und als das Telefon wiederum klingelte, wusste er, dass sie schon dabei war, von ihm wegzutreiben.
»So, jetzt fährt der Zug«, murmelte er mit belegter Stimme, die Nase in ihrem winterblonden, locker aufgesteckten Haar. Wie immer duftete sie angenehm nach Heu und Hafer. Aber als er sie losließ, nahm er einen neuen, herben Geruch wahr, einen Geruch wie von einem Raubtier in Gefahr.
»Du musst keine Angst haben«, flüsterte er.
»Habe ich auch nicht«, lächelte sie, nahm den Hörer und sagte ihren Namen mit einer Autorität, die jeden überzeugt hätte. Und es auch tat.
Das war der Augenblick, an den er später häufig zurückdenken musste. Genau da hätte er seinem Instinkt folgen und ihre Hand greifen, die Kinder aus dem Bett reißen und seine Familie in Sicherheit bringen müssen. An irgendeinen Ort, an dem kein offer you can’t refuse sie erreichen konnte. Aber er tat nichts. Er stand nur da und starrte sie an, mit hängenden Armen, bevor er ihr Glas nahm und den restlichen Cognac in einem Zug austrank. Dann ging er aus der Küche und überließ sie wem auch immer. Dem Referenten, vermutlich. Jens hustete, Thomas gab ihm Wasser. Deckte Johanne zu. Strich ihr über die hohen Wangenknochen, die sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatte.
»Tja«, seufzte er zu sich selbst und setzte sich auf den Boden, angelehnt an die türkisblaue Wand zwischen den beiden Betten. Hob ein Stofftier vom Boden auf. Knetete es geistesabwesend zwischen den Händen. Afrika blieb liegen. So viel stand fest. Vom Rest hatte er nicht den Hauch einer Ahnung.
*
Cat gab den anderen ein Zeichen, die stumm gehorchten und die Masken über den Kopf zogen. Sie waren alle fünf schwarz gekleidet, und nachdem sie ihre Masken aufhatten und nur noch die Augen frei waren, wurden sie von der Dunkelheit verschluckt, sodass sie sich kaum gegenseitig sehen konnten. Sie waren extra mit kleinen Taschenlampen ausgestattet und mit Zangen, um die Käfige aufzubekommen; sie trugen feste Handschuhe, solide Stiefel, um Bisse zu vermeiden, und jeder hatte einen Baseballschläger, um nach den Hunden zu schlagen. Darüber hinaus waren ihre Uhren synchronisiert, und sie hatten keinerlei persönliche Papiere bei sich, die etwas über ihre Identität hätten verraten können. Die Aktion war für höchstens fünf Minuten berechnet, Autofahrt hin und zurück eingeschlossen. Cat heftete ihren Blick auf das Display ihrer billigen Digitaluhr. Sie schwitzte und fror gleichzeitig in ihrem eng sitzenden, synthetischen Anzug, Adrenalin zirkulierte durch ihren dünnen Körper und ließ sie zittern, als sie mit ihrer rechten Hand die Luft durchschnitt und zählte, drei, zwei, eins, beendet von einem knallenden go! Sie lächelte ein seltenes Lächeln unter ihrer Maske, als die Formation in einem V mit ihr an der Spitze vorrückte. Das war das Größte. Der Kick, für den sie lebte. Das Kommando zu haben. Die Macht zu fühlen, wenn die anderen gehorchten, wenn sie ihre plötzliche Unsicherheit ihr gegenüber bemerkte. Diese naturromantischen Kinderärsche wussten ja nicht mal, warum sie sie erschreckte. Aber sie selbst wusste es. Sie hatten Angst vor ihr, weil sie bereit war zu sterben. Im Kampf zu fallen. Nicht für hundert oder tausend Nerze natürlich. Ihretwegen könnten die in ihren verdammten Käfigen verrotten. Sie verabscheute Nerze. Der Gestank, den der Wind von den Käfigen herüberwehte, als sie sich hastig und lautlos näherten, verursachte ihr Übelkeit. Sie fand, Nerze waren hässlich, bösartig und dekadent in ihrer Überzüchtung. Sie hasste sie auf dieselbe Weise wie die Oberklassen-Hühner, die Pelz trugen. Und das war es, worum es ihr ging. Hass und Rache. Für diese Sache war sie nicht nur bereit zu sterben. Für die war sie auch bereit zu töten. Das mit den Nerzen war nur ein Anfang. Eine Übung. Ein Pilotprojekt. Militärisches Training. Die anderen glaubten, es wäre ein Scherz, eine Art autonomer Ironie, dass sie die Gruppe Grüne Guerilla getauft hatte. »Sollen wir den Umweltminister kidnappen, oder was hast du vor?«, hatte Teis in seiner etwas zu höhnischen Art gefragt. »Kann gut sein«, hatte sie mürrisch geantwortet. »Du weißt doch nicht mal, wie unser Umweltminister heißt!«, hatte er besserwisserisch gefeixt. Drecksakademiker-Blage. »So what?«, hatte sie geknurrt. Seither hatte sie es sich gemerkt. Søren Schouw. Ein Scheiß-Arschloch. Das waren sie alle zusammen. Von rechts bis links. Korrupte Bonzen der ganze Verein.
Sie waren vorne. Sie konnten die Nerze hinter dem Maschendraht kratzen hören. Cat blieb stehen. Lauschte. Kein Hund. Bis jetzt. Sie hatte Angst vor Hunden. Die einzigen Tiere, die ihr etwas bedeuteten, waren Kühe. Sie liebte Kühe. Liebte ihre großen, braunen, treuen Augen. Ihre Art, endlos zu kauen. Ihre großen, schweren Körper. Als Kind war sie oft nach der Schule zu ein paar Feldern außerhalb der Stadt geradelt, wo eine große Herde schwarzbunter Kühe auf der Weide graste. Sie rief nach ihnen, gab ihnen Namen und suchte sich besondere Lieblinge aus, die sie zwischen den Ohren kraulte und denen sie sich anvertraute. Sie hörten ihr zu, leckten ihre Hände mit ihren rosaroten Zungen, verstanden ihre Einsamkeit. Ihre Eltern waren besorgt um sie. Sagten sie. Sie glaubten, sie triebe sich in der Stadt rum. Wäre in schlechte Gesellschaft geraten. Aber dann waren da die Sommersprossen und die roten Wangen nach der langen Fahrradtour, von der sie nichts erzählte. Sie hatten ihr Leben im Krankenhaus, sie hatte ihres. Okay? Okay, lächelten sie verunsichert von ihrer eigensinnigen Tochter, die plötzlich die fixe Idee hatte, kein Fleisch mehr essen zu wollen. Sie weigerte sich, »ihre Freunde zu essen«. Danach kassierte sie alles ein, was sie besaß, das aus »toten Tieren« hergestellt oder verarbeitet war. Schuhe, Tasche, Jacken, Haarbürsten. Da war sie elf. Ihre Eltern lachten noch immer. Nachsichtig, wie sie gegenüber allem gewesen waren, was sie sich vorgenommen hatte, seit sie als lebender Zwilling auf die Welt gekommen war, Schwester eines tot geborenen Jungen. So glücklich waren sie darüber gewesen, wenigstens eines behalten zu dürfen, dass sie das lavaförmige Muttermal, das den Großteil ihrer rechten Gesichtshälfte bedeckte, kaum bemerkten. Außerdem arbeiteten beide im Gesundheitswesen. Ihr Vater war Oberarzt am Krankenhaus in Bronderslev, ihre Mutter MTA, und sie vertrauten ganz und gar darauf, dass die plastische Chirurgie den Schaden beheben konnte, wenn die Zeit reif war. Aber als sie anfingen, von Transplantation zu sprechen, war sie zwölf, und da war es zu spät. Denn da sah sie mit Angst und Schrecken ein, dass ihre Eltern Mörder und kannibalische Monster waren, die nicht nur ihren Bruder getötet hatten, sondern nun auch sie demütigten, indem sie ihre Zähne in das Einzige schlugen, das sie lieb hatte, die Kühe. Als sie dreizehn war, erklärte sie ihnen den Krieg. Seit sie vierzehn war, betrachtete sie sie als Feinde. Ab achtzehn hatte sie sich geweigert, sie zu sehen. Jetzt war sie 21. Und ihre Eltern hatten längst aufgehört, sich zu amüsieren.
»Teis!«, sagte sie halblaut gebieterisch, worauf Teis seinen großen Bolzenschneider herauszog und geschickt ein Loch in das Tor der mit einer Betonmauer umgebenen Farm schnitt. Es war eine der kleinen – weder mit Elektrozaun noch mit fotozellengesteuerten Scheinwerfern. Nicht mal ein frei laufender Schäferhund. Das war fast zu einfach.
»Action!«, befahl sie, und einen Augenblick später hörte man das Rascheln, als fünfzehnhundert Nerzpfoten flach über den Boden wuselten.
Da war es 3 Uhr 18, und in Kopenhagen war der frühere, jetzt jämmerlich in Whisky aufgelöste Umweltminister immer noch paralysiert davon, gefeuert worden zu sein, die Entlassung brutal abgeliefert in einer kurz gehaltenen telefonischen Mitteilung, während die gerade Ernannte euphorisch den Versuch aufgab zu schlafen und resolut aus dem Bett stieg, um ihre Antrittsrede zu schreiben.
Aus Cathrine Rorbechs Blickwinkel würde das nicht den geringsten Unterschied machen.