Читать книгу Die Kronprinzessin - Hanne-Vibeke Holst - Страница 6

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»Sie war die größte Neuigkeit, unbedingt. Direkt nach der, dass Søren Schouw gefeuert worden war, natürlich. Um sich auszurechnen, dass der Mann nicht freiwillig gegangen war, ›auf eigenen Wunsch‹, wie es hieß, musste man kein Meister des investigativen Journalismus sein. Dass Frau Meyer auch ihre Finger im Spiel gehabt hatte, war ebenfalls offensichtlich. Da lag also eine gute Geschichte, die man einfach nur aufgreifen musste, wenn man fertig damit war, bei ihr Schlange zu stehen. Im Übrigen sah sie an diesem Vormittag auf dem Schlossplatz blendend aus. Sie fröstelte in ihrem kurzen Rock, der Etikette nach zu kurz, aber sie hatte schöne lange Beine, und dann hat sie ja auch dieses ländliche Vollmilch-Lächeln, das auf jeden Fall meinen wunden Punkt trifft. Den letzten, den ich noch habe, haha. Also, ich konnte sie eigentlich gut leiden, schon immer. Wünschte mir an und für sich das Beste für sie. Aber meine persönlichen Sympathien und Antipathien spielen für die Geschichte ja keine Rolle. Natürlich sollte sie ihre Chance haben. Bekam sie ja auch. Aber mal ehrlich, wie gesagt, Zeitungen müssen ja auch verkauft werden. Also, okay, wenn du so fragst – ja, ich war es, der sich das mit dem »Christbaumschmuck« ausgedacht hat. Was nett gemeint war, auch wenn sie stinksauer wurde, als sie es am nächsten Tag auf Seite i entdeckte. Ich hatte sie tatsächlich am Telefon. Persönlich. Aber sie hätte es ja auch einfach bleiben lassen können, in einem so kurzen Rock aufzutauchen und dann so zu lächeln.«

Das Lächeln zieht in den Wangen. Sie merkt selbst, dass es etwas zu breit ist, aber sie ist kurz davor, in hysterisches Lachen auszubrechen. Es ist zu surrealistisch, zu weit hergeholt: Sie war gerade eben zur Audienz bei der Königin gewesen, die ihr, ein wenig unterkühlt, aber mit verblüffender Präsenz dafür gedankt hatte, dass sie sich des Amtes angenommen hatte – »Ich weiß, dass es für eine junge Mutter besondere Anstrengung erfordert« –, und jetzt befindet sie sich als Nummer vier von rechts in der ersten Reihe in dieser traditionellen Aufstellung der neu ernannten Minister. Sie waren kaum aus der Tür getreten, als das Gebrüll losbrach, aus einer Mauer von Presseleuten mit und ohne Kameras, die eine dreif lügelige Front vor ihnen gebildet hatten.

»Gruppenbild mit drei Damen«, bemerkt der Staatsminister witzig, als er sie so sortiert hat, dass die neuen, unverbrauchten Namen in vorderster Reihe stehen und die Veteranen, die nur das Ministerium gewechselt haben, im Hintergrund platziert sind. Mit der galanten Ausnahme, dass Elizabeth Meyer, neu ernannte Außenministerin, neben Charlotte landet. Der Staatsminister selbst steht jetzt in der Mitte, flankiert von Charlotte und Christina Maribo, einem sozialdemokratischen Arbeitspferd, der schon im Vorfeld ein Platz in der neuen Regierung vorausgesagt worden war und die deshalb keine besondere Sensation als Stadtund Wohnungsbauministerin ist.

»Ich freue mich, mein neues Team vorstellen zu können«, sagt Per Vittrup und versucht, die Handwerker zu übertönen, die lärmend dabei sind, ein Gerüst unten bei den Kolonnaden über die Amaliegade abzubauen. Staub und Putz legen sich fein auf den blauen Anzug, zurechtweisende Blicke werden zu den Arbeitern geworfen, aber die machen ungerührt weiter. Das ist der letzte Tag vor den Weihnachtsferien, Mann!

Der Staatsminister macht einen tänzelnden Schritt zur Seite und breitet präsentierend die Arme aus.

»Wie Sie sehen, repräsentieren die neuen Minister sowohl Jugend als auch Weisheit«, leitet er jovial ein, »und an diesem Tag, dem kürzesten des Jahres, kann ich also gelassen sagen, dass wir lichteren Zeiten entgegengehen.«

Er nimmt seinen Platz im Zentrum ein, Fotografen auf hohen Leitern wechseln die Objektive, Kameraleute ändern den Winkel, und Neugierige drängeln, um etwas sehen zu können. Charlotte bemerkt seine Hand, die leicht um ihre Schulter greift, und es ist diese Berührung, die so sehr kitzelt, dass sie kurz davor ist loszulachen.

»Charlotte!«, ruft ein Fotograf. »Hierher schauen!« Sie gehorcht unwillkürlich und dreht den Kopf in Richtung des Rufes, obwohl sie kein Gesicht sieht, nur die Linse der Kamera.

Ihre Anspannung und die eisige Kälte, die über den Schlossplatz zieht, lassen sie mit den Zähnen klappern, aber dann ist da Meyer mit einem leisen »Entspann dich. Dann frierst du nicht«.

Sie lässt die Schultern fallen, holt tief Luft, so, wie sie es in der Geburtsvorbereitung gelernt hat. Das hilft, die Hysterie verschwindet, und sie ist schließlich wirklich anwesend. Ihr Lächeln ist weniger angespannt, sie merkt, wie der Nebel sich hebt und der Schlossplatz unter dem Schleier hervorkommt. Die Palais, die Ritterstatuen, die leuchtend roten Wachhäuschen, die Polizisten, die die Horde auf Abstand halten, und die Gruppe japanischer Touristen, die versehentlich Zeugen eines zutiefst dänischen Vorgangs werden. Sie besinnt sich auf sich, konzentriert sich auf das Presseaufgebot, und gerade hier vor ihren Objektiven, die alles und dennoch gar nichts sehen, geht die Häutung vonstatten. Sie legt die Unsicherheit ab, den Widerstand und die Vorbehalte, und nimmt die Rolle an. Sie ist nicht länger Charlotte. Sie ist Ministerin. Und als solche richtet sie sich kampfbereit auf. Erkennt ein paar Journalisten wieder, lächelt zu Andreas von den Fernseh-Nachrichten und erspäht auch ein paar der Kollegen aus dem Büro, die dastehen und grinsend mit Flaggen und Blumen winken. Thomas muss getratscht haben. Sie winkt diskret und denkt schon darüber nach, welche Botschaften sie für die Medien parat haben sollte, wenn die sich im Anschluss auf sie stürzen werden. Soundbites für die elektronischen Medien, ein paar markante Hauptsätze für die Tagespresse, etwas Langes und Perspektivenreiches für die »Information« und das Pi-Magazinprogramm, ein paar Mini-Sätze für die Boulevardblätter.

»Wollt ihr auch unsere Fingerabdrücke?«, ruft der neu ernannte Justizminister, einer der vorwitzigen Burschen, die gewöhnlich als Kronprinzen ausgerufen werden.

»Ja, das IST schließlich eine Ansammlung von Verbrechern«, gibt ein bauchlastiger Reporter des Ekstra Bladets mit Lederjacke zurück, den Charlotte mit einem gewissen Missbehagen wiedererkennt. Siggi nennt er sich, und er ist genauso verschlagen, wie er schmierig ist. Dennoch lacht sie mit – der Champagner, die Anspannung, die Nervosität bringen sie alle dazu, in dieser landschulheimartigen Partystimmung etwas über die Stränge zu schlagen, die sie von anderen Regierungspräsentationen kennt. Dass das nicht besonders kleidsam ist am nächsten Tag, weder auf dem Bildschirm noch in den Zeitungen, auch daran erinnert sie sich. Aber what the f uck, man hat ja wohl trotzdem das Recht, sich ein bisschen zu freuen. Es ist schließlich kein Verbrechen, Ministerin zu sein!

Ein plötzlicher Windstoß fährt ihr in die Haare, sie hebt die Hand, um sie wieder aus dem Gesicht zu streichen, und ihre Aufmerksamkeit wird von einer Gestalt gefangen genommen, die, aus der Frederiksgade kommend, über den Schlossplatz trottet, eine gelbe Netto-Tüte in der Hand. Ein buckliger Mann in einem ausgeblichenen grünen Parka, der nur einen flüchtigen Blick in Richtung dieses monströsen Aufmarsches wirft, bevor er weiterschlurft auf seiner Jagd nach Flaschen. Sie schnappt erschrocken nach Luft, Reaktion auf das Erkennen und zugleich auf das Entsetzen darüber, dass sie es immer noch glaubt. Dass es ihn gibt. Dass er auftaucht wie ein Phantom, in Verkleidung oder als er selbst in seiner Strickjacke, immer, wenn sie ihm etwas Besonderes zu zeigen hat. Etwas, worauf er stolz sein kann. So wie zu ihrer Konfirmation. So wie zur Abschlussfeier, wo sie ununterbrochen ihre Studentenmütze aufhatte, weil es ihn glücklich gemacht hätte. Stolz und glücklich auf dieselbe strahlende Art wie damals, das Frühjahr davor, als Lisbeth und sie eine Prämie für ihren Kürbis beim Treffen der Landjugend bekamen.

Nicht, dass ihre Mutter nicht auch verflucht glücklich gewesen wäre, als ihre Tochter sie kurz nach sieben mit der Neuigkeit angerufen hatte. Sogar so glücklich, dass sie »kurz davor war zu weinen«. Kurz davor. Aber okay, sie kam gerade von einer hektischen Nachtwache, also, was wollte man erwarten. Charlotte hatte sie gebeten, Lisbeth und Erik darüber zu informieren, ihre Schwester und deren Mann, den Schweinebaron, der vermutlich nicht in Jubel über ihren neuen Job ausbrechen würde. Sie waren, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst uneins in ihren Analysen über die Verantwortung der Landwirtschaft gegenüber dem Umweltschutz. Lars, ihren lieben kleinen Bruder, hatte sie selbst angerufen – lang lebe das Handy –; er saß auf einem Rastplatz in Österreich im Lastwagen und trank Kaffee, mit Hilfsgütern auf dem Weg in den Kosovo. Er war ganz außer sich, Großartig, der Wahnsinn!, und hatte sie später noch einmal anrufen müssen, um sicherzugehen, dass er es nicht nur geträumt oder sich in morgendlicher Verwirrtheit eingebildet hatte. Thomas hatte sich um die Schwiegereltern gekümmert, und ihre Reaktion war absehbar gewesen. Eine gewisse Verlegenheit gegenüber Titeln, gemischt mit dem Unwillen darüber, dass ihr Sohn schon wieder betrogen worden war. Und dann hielten sie auch nicht gerade viel vom Staatsminister, der Regierung und der Sozialdemokratie an sich.

»Na, Charlotte«, sagt Per Vittrup zu ihr und drückt ihr leicht die Schulter. »Du hast es nicht bereut?«

»Nein«, sagt sie und wird von einem plötzlichen Schaudern geschüttelt.

Per Vittrup lässt sie los.

»Wärt ihr jetzt so nett, das Shooting zu beenden!«, teilt er mit. »Die Mädchen frieren. Wir sehen uns zur Pressekonferenz im Speisesaal!«

Wie auf Stichwort gellt plötzlich ein zweistimmiges »MAAMMAA!« über Amalienborgs Schlossplatz, und dann kann sie das Lachen nicht länger zurückhalten – Thomas kommt mit Jens und Johanne angesprintet, die Kinder wie zwei bunte Astronauten im Fahrradanhänger sitzend. Er hält erst, als er auf einer Linie mit der Mauer aus Presseleuten ist, die gerade dabei war, auseinander zu fallen, sich aber jetzt mit einem Mal wieder formiert, die Kameras auf die Zwillinge der Umweltministerin gerichtet, die, als sie abgeschnallt sind, sofort auf ihre Mutter zustürmen. Ihre Ministerkollegen, die sich gerade in alle Richtungen verteilen, lachen, als sie in die Hocke geht und ihre Kinder in den Arm nimmt, die nicht mal bemerken, dass sie unter kräftigem Medienfeuer stehen.

»Hast du den König gesehen?«, fragt Johanne.

»Die Königin«, verbessert Charlotte und versucht ihre Strümpfe vor Stiefelabdrücken zu bewahren.

»Bist du jetzt Staatsministerin?«, fragt Jens.

»Noch nicht!«, bemerkt Per Vittrup und tätschelt ihnen den Kopf. Die Journalisten haben die Blöcke gezückt, endlich passiert was.

»Das ist der Staatsminister«, lächelt Charlotte und drückt sie noch einmal, bevor sie Thomas ein Zeichen gibt, der sich, überrumpelt von der Dreistigkeit der Presse, aus dem Verhör der Journalisten befreien muss. Wie heißen die Kinder? Sind das Zwillinge? Wie alt sind sie? Sind sie im Kindergarten? Wie heißen Sie? Was machen Sie? Sind Sie beide verheiratet?

»Entschuldige, war vielleicht keine so gute Idee«, sagt er, als er zu ihr vorgedrungen ist, küsst sie flüchtig auf die Wange und schnappt sich die Kinder.

»Ich fand nur, sie sollten das erleben ...«

»Das ist okay«, sagt sie und nickt zu den Palastwachen, die dafür sorgen sollen, dass sie mit ihren Kollegen durch das Tor kommt, bevor es wieder geschlossen wird. Eine Armada frisch geputzter Ministerautos wartet im Hof, sie sollen geordnet und in der richtigen Reihenfolge abfahren. Sie als eine der Letzten.

»Ich muss mich beeilen«, sagt sie, küsst die Kinder, lenkt sie ab, indem sie auf die Gardisten hinter sich zeigt – »Schaut mal, ihre Mützen sind aus Bären gemacht!« –, und steht auf. »Bis nachher!«

»Verflixt«, sagt Thomas. »Du siehst schön aus.«

Wie man begeistert notiert, lächelt sie ihn »liebevoll« an, bevor sie durch das Tor in den Hof verschwindet, wo sie den kolossalen silberfarbenen BMW vorfindet, der sie in Zukunft standesgemäß befördern wird. Ihr Chauffeur, den sie schon auf dem Weg hierher hatte begrüßen können, öffnet ihr mit einem höflichen »Glückwunsch!« verlegen die rechte Rücksitztür.

»Danke«, sagt sie, holt tief Luft und steigt ein, auf den glatten, cremefarbenen Sitz.

»Was für ein Schlitten!«, platzt sie heraus, als der Chauffeur sich hinter das Lenkrad gesetzt hat und weich anfährt.

»Ein BMW 7351, falls Ihr Mann fragen sollte.«

»Mein Mann?«, lacht sie laut. »Der versteht wirklich gar nichts von Autos! Der fährt Fahrrad. Ist das ein Fernseher, den wir da haben?«, fragt sie und zeigt auf den Monitor, der in der Rückenlehne des Vordersitzes eingebaut ist.

Es ist einer. Und es gibt auch ein Telefon und einen kleinen Kühlschrank.

»Wahnsinn«, kichert sie kopfschüttelnd und lehnt sich im Sitz zurück, um sich dekorativ aufzurichten, als sie an der Reihe sind, durch das Tor zu gleiten, als vorletzter Wagen in der Ministerkolonne.

»So, und jetzt müssen Sie es genießen«, klingt es vom Vordersitz. »Es gibt zwei Touren, an die sich alle Minister für immer erinnern. Die erste und die letzte ...«

»Und die letzte pflegt kein Genuss zu sein?«, fragt sie trocken und winkt ein paar standhaft Neugierigen zu, die immer noch auf dem Schlossplatz stehen. Thomas und die Kinder sind nicht mehr zu sehen.

»Nein, das ist es ja gerade«, sagt er und trifft ihren Blick im Rückspiegel. »Na, jetzt haben Sie fünf Minuten zum Entspannen.«

Sie lächelt vor sich hin, kneift sich heimlich in den Arm. Freddy heißt er, der Chauffeur. Und er kommt aus Århus. Das ist irgendwie beruhigend.

*

Das ganze Blumengeschäft ist in Aufruhr, als Ingrid Damgaard kommt und einen Fleurop-Strauß für ihre Tochter bestellt. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass so eine nordjütländische Kleinstadt auf die Dänemarkkarte gesetzt wird.

»Glückwunsch! Ich habe es gerade im Radio gehört«, ruft die redselige, mollige Blumenhändlerin, als Ingrid den Laden betritt. »Die vom Rathaus haben auch schon angerufen, der Bürgermeister schickt auch einen Strauß, das wäre ja noch schöner gewesen! Was musst du stolz sein, Ingrid!«

»Ja, das bin ich ja auch«, lächelt sie die Inhaberin, deren mageren Mann und die beiden anderen Kunden, die auch an dem Plausch teilhaben, gezwungen an. Nicht weil sie nicht stolz ist – sie ist absolut außer sich, hätte gute Lust, eine ganze Wagenladung Blumen nach Kopenhagen zu schicken –, aber irgendwie ist es fast zu überwältigend. Zu viel, um es selbst zu fassen. Und steht es ihr überhaupt zu, stolz zu sein?

»Was soll auf der Karte stehen?«, fragt die Blumenfrau, zum Notieren bereit.

»Ähm, ›Herzlichen Glückwunsch zur Ernennung, liebe Grüße, Mama‹«, versucht sie sich, aber sie merkt, dass das teilnehmende Publikum enttäuscht ist.

»Nein«, verbessert sie sich: »›Herzlichen Glückwunsch zur Ernennung. Wir sind so stolz auf dich. Liebe Grüße, Mama.«‹

Erst als sie hinterher in ihrem Skoda sitzt, auf dem Weg zum Friedhof in Løkken, mit einem Kranz für die Grabstelle, die sie nie besucht, erkennt sie, was die Pluralform wirklich bedeutet. Mama und Papa.

Sie macht die Scheibenwischer an. Glaubt, dass es angefangen hat zu regnen.

*

In besonders beengten Situationen leidet Charlotte an einer leichten Tendenz zur Klaustrophobie. Einmal war sie in einem überfüllten Zug in Kenia in Panik geraten. Einkaufszentren vor Weihnachten rufen dieselbe Art von Beklemmungen hervor, und gerade als sie den Speisesaal betritt, wo wieder ein Presseaufgebot wartet, wie ein riesiges, vielköpfiges Ungeheuer auf dem Sprung, muss sie nach Luft schnappen und einen unmittelbaren Fluchtimpuls unterdrücken. Schweiß tritt ihr auf die Stirn, während sie sich darauf konzentriert, ihren Platz zwischen dem neuen Justizminister und Elizabeth Meyer, zwei Sitze neben dem Staatsminister, zu finden, sich hinzusetzen und ohne zu zittern die Hände auszustrecken, nach der Mineralwasserflasche zu greifen und sich ein Glas einzuschenken. Es gelingt ihr, die Panik zu dämpfen. Meyer lächelt schmal, auf ihre eigene unmerkliche Weise behält sie sie im Auge, bereit, jederzeit einzugreifen. Sie hatten gestern Abend lange telefoniert, und es war ihr Champagner, überbracht per Ministerchauffeur, mit dem Thomas und sie gestern gegen Mitternacht angestoßen hatten. Aber sie hatte nicht vor, das zu erzählen, falls jemand auf die Idee kommen sollte, danach zu fragen. Sie geben sich bewusst Mühe, kein freundschaftliches Verhalten an den Tag zu legen, niemand konnte sie bei vertraulichen Gesprächen sehen oder erkennen, dass sie in engem Kontakt standen. Aber natürlich hat Elizabeth ihre Protegé gebrieft, sie auf den ganzen Zirkus vorbereitet und sie daran erinnert, vor wem oder was sie sich besonders in Acht nehmen musste.

Charlotte ist nicht naiv. Sie ist es gewohnt, mit der Presse zu arbeiten, und stimmt völlig mit Meyers Analyse überein, dass sie es sein wird, auf die man sich stürzt. Sie ist – abgesehen von dem Kirchenminister der Radikalen, einem Volkshochschulleiter aus West-Seeland – die einzige richtige Neuheit. Und er ist keine junge Frau mit Vergangenheit in der Umweltbewegung.

Der Staatsminister klopft gut gelaunt an sein Glas, um Ruhe zu schaffen, was nur teilweise gelingt, und fängt dann den klingelnden Handys zum Trotz an.

»Heute ist der kürzeste Tag des Jahres. Aber wie Sie sehen können, gehen wir lichteren Zeiten entgegen«, sagt er erneut und erntet vereinzeltes Lachen. Dann stellt er seine Minister der Reihe nach vor, verknüpft mit jedem eine witzige Bemerkung, während reihum genickt, gelächelt und errötet wird.

»Und hier haben wir die neue Außenministerin«, sagt er und legt eine Hand auf Elizabeth Meyers Schulter. »Ich muss gestehen, dass ich dank dieser Ernennung davon ausgehe, bald einen bedeutenden Rationalisierungsgewinn einstreichen zu können.«

Kunstpause, während Elizabeth Meyer spöttisch fragend zu ihm aufblickt.

»Denn ich rechne damit, dass wir Heer und Verteidigungsministerium getrost auflösen können, wenn die Welt da draußen dich, ›das stärkste Mannsbild der Regierung‹, erst einmal kennen gelernt hat!«

Brüllendes Gelächter erhebt sich wie eine Flutwelle, ist fast abgeebbt, als Meyers Replik eine weitere hervorruft:

»Oh, du spielst auf meine Fähigkeiten als Schlichterin an?«

»Okay«, lacht Vittrup und legt den Kopf in den Nacken. »Punkt für dich!«

Charlotte starrt ihn fasziniert an, zoomt auf seinen Mund mit dem charakteristischen Gold-Schneidezahn. Er liebt das. Er liebt das wirklich. Obenauf zu sein. Als er fertig ist mit Lachen und Elizabeth Meyer losgelassen hat, wendet er sich Charlotte zu, die zuvorkommend lächelt. Ihr Puls rast unter ihrer Bluse. Der schwarze, gesteppte Nylonrock spannt über den Hüften. Sie hat etwas zugenommen, seit sie ihre Arbeit gedrosselt hat.

»Ja, damit, dass sie heute hier sitzen würde, haben Sie alle nicht gerechnet: Charlotte Damgaard, neue Umwelt- und Energieministerin, bis vor kurzem Vorsitzende der Vereinigung der Naturfreunde. Sie verfügt nicht nur über profunde fachliche Kenntnisse im ganzen Umweltbereich. Wir kennen sie auch in der Partei als junge, engagierte, visionär denkende Frau, die trotz ihres akademischen und spezialisierten Hintergrundes in der Lage ist, das Gras wachsen zu hören. Vielleicht kurz vor uns anderen. Ich bin sehr froh darüber, dass Charlotte zugestimmt hat, sich dieser Aufgabe anzunehmen.«

»Warum habe ich das?.«, schreibt sie vor sich auf den Notizblock, während der Staatsminister die Vorstellung beendet, und dann erwartet sie die ersten scharfen Fragen.

Aber auf sie wird nicht zuerst geschossen. Sondern natürlich ist es der Staatsminister, der die Rochade als solche verteidigen muss. Glaubt er wirklich, dass er so die schlechten Umfrageergebnisse verbessern kann? Worin liegt die eigentliche Erneuerung? Hat er sich Gedanken darüber gemacht, der Aufforderung der »Börse« zu folgen und selbst zurückzutreten? Und warum wurden die gefeuerten Minister gefeuert?

Der Staatsminister pariert, spricht von »einer gewissen Materialermüdung hie und da«, von dem Bedarf nach »Rotationsordnungen auf dem Arbeitsmarkt« und von seiner eigenen Verantwortung als »Kapitän des Schiffes«.

»Ich beabsichtige nicht, die Brücke zu verlassen«, sagt er, »besonders jetzt nicht, wo wir uns in gefährlichen Gewässern voller Klippen, um nicht zu sagen Haien, befinden.«

»Weil ich ...«, steht jetzt auf Charlottes Zettel, gefolgt von einem Streifen siebenzackiger Sterne und Kugelschreiber-Ornamente. »Darf, muss, soll???«, schreibt sie, als Siggi, der Wolf aus der Ekstra-Bladet-Redaktion,der lange nur dagesessen und sie lauernd angelächelt hatte, mit seinem gedehnten ostjütländischen Dialekt zuschlägt.

»Warum zum Beispiel musste der ausgezeichnete Umweltminister Søren Schouw gehen? War er auch materialermüdet? Oder war er einfach nicht so schön, jung und weiblich wie seine Nachfolgerin?«

Der Staatsminister kneift die Lippen zusammen, wie er es staatsmännisch gewohnt ist. Charlotte hebt ihr Kinn ein wenig und sieht den Gnom in Lederjacke direkt an. Er soll nicht glauben, dass sie sich einschüchtern lässt. Er lächelt sie schleimig an. Sie lächelt zurück. Genauso schleimig. Idiot.

»Søren Schouw ist einer der Veteranen der Regierung. Er hat über viele Jahre einen f ormidablen Job gemacht, auch in den letzten Jahren als Umweltminister. Es ist unter anderem sein Verdienst, dass wir den Wasserschutzplan durchführen konnten, die Energie-Reform und ...«

»... das Mega-Zentrum in Ørestaden!«, sagt einer, irgendwo in der Menge.

»... so weiter. Ich habe Verständnis dafür, dass Søren Schouw das Bedürfnis hat, eine etwas mehr zurückgezogene Rolle zu spielen, und das ist es auch, was er jetzt tun wird. Er wird eine wichtige Funktion in der Partei im Vorfeld der kommenden Wahl übernehmen. Was, wie ich ohne weiteres hinzufügen kann, einstweilen noch nicht so weit ist.«

Es wird noch ein wenig weitergebohrt im Thema Søren Schouw, Charlotte hört wachsam zu, weiß, dass sie jetzt ins Visier gerät. Kameraassistenten krabbeln auf dem Boden herum, einer stolpert fast über ein Kabel, als er das Mikrofon vor ihr einstellen will.

TV2 kommt als Erstes mit der Frage, die vermutlich allen auf der Zunge liegt:

»Charlotte Damgaard, Sie haben nicht nur eine Vergangenheit als Vorsitzende der Vereinigung der Naturfreunde, sondern auch als Kampagnenleiterin bei Greenpeace, und Sie haben sich in unzähligen Zusammenhängen als ziemlich ausgeprägte Kritikerin der Umweltpolitik der Regierung hervorgetan. Sind Sie jetzt zum Feind übergelaufen, oder was?«

Charlotte befeuchtet ihre Lippen, lehnt sich leicht über den Tisch, reißt die Augen ein ganz klein wenig auf und wendet sich mit einem entwaffnenden Lächeln dem Reporter zu.

»Nun, es ist wohl eher der Feind, der zu mir übergelaufen ist!« Sie lässt dem zustimmenden Lachen Raum, bevor sie sich beeilt fortzufahren und ihm die Frage aus dem Mund zu nehmen. »Aber wenn Sie danach fragen, warum ich mit meiner basisdemokratischen Vergangenheit das hier mache, dann gibt es darauf nur die schlichte Antwort, dass ich glaube, dass ich es anders machen kann. Ich muss hinzufügen, dass ich in meiner früheren Position schließlich einsehen musste, dass, obgleich man als außerparlamentarische Organisation viel ausrichten kann, die Gesetze doch in Christiansborg und Brüssel gemacht werden. Man könnte vielleicht sagen, dass ich die nötige Reife erreicht habe, die es braucht, um die eigentliche parlamentarische Verantwortung zu übernehmen.«

»Sehr gut«, hat Meyer auf ihren Block geschrieben, den sie unmerklich einen Millimeter in Richtung Charlotte schiebt. »Sag so wenig Konkretes wie möglich, aber lüg nicht!«, hatte sie ihr gestern Abend geraten.

»Sie haben ja früher unter anderem zum Totalverbot von Pestiziden, darunter Roundup, aufgefordert. Sie sind auch gegen genetisch veränderte Feldfrüchte, selbst auf Versuchsbasis, und Sie waren auch ziemlich skeptisch, ob Dänemark seine Ziele in Hinblick auf die Reduzierung des CO2 -Ausstoßes erfüllen könnte oder wollte. Und dann waren Sie auch nicht gerade zurückhaltend in Ihrer Kritik an der Gülle-Ableitung der Landwirtschaft! Sind Sie noch genauso kritisch, oder werden Sie die grüne Geisel der Regierung sein?«, fragt die Umweltmitarbeiterin der Tageszeitung »Information«, eine kompetente Fundamentalistin, die prinzipiell immer zu den Freunden zählte, die sie aber auf persönlicher Ebene noch nie hatte ausstehen können.

Der Staatsminister öffnet den Mund, als ob er bereit wäre, sie zu retten. Immerhin ist es trotz allem der erste Schultag. Keine Fehler, danke. Aber Charlotte weiß, was sie tut. Die Journalistin hat den Fehler begangen, mehrere Fragen auf einmal zu stellen, was ihr eine Wahlmöglichkeit gibt.

»Nein, ich bin keineswegs die grüne Geisel der Regierung. Was das CO2 anbelangt, ist die Regierung ja auf dem besten Weg, ihre Pflicht zu erfüllen, sowohl gegenüber der Rio-Konferenz als auch dem Kyoto-Protokoll. Also wage ich es zu versprechen, dass wir es schaffen werden, unseren CO2 -Ausstoß bis 2005 um 21 % zu reduzieren. Ansonsten möchte ich gerne sagen, dass ich grundsätzlich dieselben Ansichten vertrete, wie ich es die ganze Zeit über getan habe. Ich will immer noch dafür kämpfen, dass meine Enkelkinder sauberes Wasser aus der Leitung trinken können, dass auch in hundert Jahren noch Unken in einer dänischen Sommernacht quaken, dass es auch in drei Generationen noch das Glück gibt, auf einer Erde zu wohnen, auf der es Regenwälder gibt, auf der Zitronenfalter zwischen der Wäsche auf der Leine flattern, auf der die Wüsten im Süden sich nicht weiter ausgebreitet haben und auf der es im Norden nicht unaufhörlich regnet. Aber«, sagt sie und macht eine kurze Pause, die den Ausschlag gibt, »ich respektiere, dass ich ein anderes Mandat mit einem anderen Spielraum habe, den ich selbstverständlich in alle Richtungen auszunutzen beabsichtige. Sonst wäre es sinnlos.«

Der Staatsminister nickt zufrieden. Bei allem Respekt, er hatte nicht geahnt, dass sie reden konnte. Oratorisch. Und kann es nicht lassen, selbst noch etwas beizutragen.

»Ich kann Ihnen versichern, dass der Ernennung von Charlotte Damgaard kein Maulkorb beigefügt war. Und hiernach muss ich Sie auffordern, weitere Fragen an Charlotte Damgaard für die Interviews aufzuheben, denen sie sich im Anschluss sicherlich gerne stellen wird.«

Eine Hand schnellt spontan hoch.

»Ja, Thor?«

»Wie verhält sich die neue Umweltministerin zur Energie-Reform? Da gab es ja einige Unzufriedenheit ...«

»... nicht zuletzt bei den Leitartikelschreibern der Jyllands Post«, sagt sie mit einem Lächeln, das umgehend das des Fragers schluckt. »Als Ausgangspunkt, meine ich, ist es absolut legitim, dass der Energiesektor für die Umweltkosten bezahlt, die mit der Produktion von Strom und Wärme verbunden sind, auch wenn es sich um Windmühlen handelt. Aber ich habe begriffen, dass gewisse Parteien im Parlament diese Ansicht nicht teilen, sondern eher Verständnis für die Haltung der Energieerzeuger aufbringen. Nachdem das gesagt ist, möchte ich noch hinzufügen, dass ich nicht so politisch korrekt bin, dass mich das stören würde ...«

Der Staatsminister atmet durch, ist schon dabei, weiter zum nächsten zu eilen, als Thor Thorsen dazwischengeht.

»Nur eine letzte Frage bezüglich der Umweltministerin: Macht es den Staatsminister selbst denn gar nicht nervös, dass er sich solch ein trojanisches Pferd in die Burg geholt hat?«

Der Staatsminister lächelt väterlich zu dem jungen, schlipstragenden Heißsporn.

»Ich bin gerührt darüber, wie sich die Jyllands Post um die Regierung kümmert. Damit werden wir sonst nicht so verwöhnt! Aber ehrlich gesagt, nein, ich bin nicht nervös. Ein wenig Wiehern und ein paar wohl dosierte Tritte in unserem Gewohnheitsdenken tun uns wahrlich gut. Das ist doch genau die Herausforderung, die wir brauchen. Und außerdem ...«, setzt er an, schafft es aber noch, es zurückzuhalten. Das darf er nicht sagen. Absolut nicht. Trolle kann man zähmen wäre eine wirklich sehr unpassende Bemerkung. Die muss er sich für den internen Gebrauch aufheben,»... und außerdem ist Charlotte Damgaard ja – trotz allem – nicht gerade eine Extremistin. Wie sie sagte, ist die Regierung äußerst ambitioniert auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Also, meine Damen und Herren!«

Kurz bevor es dem Staatsminister gelingt, das Thema zu beenden, kommt ihm Andreas Kjølbye von den Fernseh-Nachrichten dazwischen. Sie lächelt einverstanden, während er seine Frage stellt. Endlich ein weißer Mann unter diesen Hottentotten. Sie waren beide bei der Schülerzeitung gewesen und hatten eng miteinander getanzt, damals, auf dem Gymnasium in Bronderslev.

»Wie lange bleiben Sie?«, fragt er, ebenfalls mit einem Lächeln im Augenwinkel. Sie versteht haargenau, worauf er abhebt. Wo ihre Grenzen liegen. Bis wohin sie mitmacht. Darüber müssen sie irgendwann bei einem Bier diskutieren, off the record. Also zieht sie sich aus der Affäre, lächelt dieses besondere schiefe Lächeln, für das er in aller Heimlichkeit schon immer eine Schwäche gehabt hatte und dessen sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal bewusst ist:

»So lange es dauert!«

Elizabeth bricht in spontanes Lachen aus, der Staatsminister stimmt trotz leicht zusammengezogener Augenbrauen ein, Andreas Kjølbye nickt anerkennend, und während die Kollegen beifällig lachen, notiert Siggi vom Ekstra Bladet: »Charlotte D. eroberte die Presse im Sturm. Neue Kronprinzessin?«

Das Ministertreffen, eine kurze gegenseitige Vorstellung, »bevor wir uns in die Arbeit stürzen«, ist eine zivilisierte Insel im aufgewühlten Meer dieses Tages. Dort herrscht eine vorausgesetzte Sympathie für die neuen Namen, die plötzlich mitten in diesem Inferno gestrandet sind, Himmel und Hölle aus Hysterie und Drama, und von denen erwartet wird, dass sie ohne das geringste Wackeln damit umgehen können. Charlotte wünschte, sie könnte noch ein wenig bleiben. Sich mit den Alten austauschen, in einem bequemen Stuhl verschnaufen können und nur für einen Augenblick die Ereignisse einholen dürfen, die Stunde für Stunde kürzer erscheinen lassen. Aber sie schaffen es kaum, noch ein Glas Champagner auszutrinken, bevor die neuen Minister zu den Übertragungsformalitäten weitergejagt werden, die ursprünglich als interne Veranstaltung gedacht waren, in die sich aber in den letzten Jahren zunehmend Presse eingeschlichen hat, sodass jede Träne und jede bittere Mimik dem Fernsehpublikum vorgeworfen werden kann, als reality-tv live. Entsprechend bange Ahnungen hat Charlotte, bevor sie zu ihrer Sitzung weiter muss. Meyer hat angedeutet, dass Søren Schouw es »sehr schwer genommen hat«, und die junge Referentin Louise Kramer hat ohne Umschweife die Augen verdreht und gesagt, dass »Søren Schouw total ausgeflippt ist«.

Und als sie nach der kurzen Fahrt von Christiansborg in dem überdachten Innenhof des Umweltministeriums am Højbro Plads ankommt, wo sie oft zu formellen und informellen Treffen gewesen war, nun eskortiert von den beiden hektischen Referenten, Jakob Krogh und der untergeordneten Louise, beide konstant damit beschäftigt, sie in Blitzgeschwindigkeit zu briefen und unaufhörlich Anrufe auf dem Handy entgegenzunehmen, vor ihnen Angestellte und Presse, die sich gegenseitig schon auf den Füßen stehen – da wird ihr klar, dass sie sich jetzt in das emotionale Epizentrum der Politik begibt. Der Staatssekretär, Finn Wedel, ein nobler weißhaariger Herr, empfängt sie, stellt sie dem Leiter des Ministerbüros vor, Henrik Sand Jensen, woraufhin sie, an gedeckten Tischen mit Wein und Snacks vorbei, zu dem kleinen Podium geleitet wird. Von dort aus erblickt Søren Schouw sie, breitet sofort die Arme aus und macht einen großen Schritt auf sie zu. Sie versteinert, wird trotz eines Abstands von mehreren Metern von einer gewaltigen Alkoholfahne getroffen. Geht aber mechanisch weiter auf diesen Mann zu, der in den letzten zwölf Stunden alles verloren hat und dem es nur notdürftig gelingt, die Reste seiner selbst zusammenzuhalten, und der seinen geöffneten Armen und seinem Onkellächeln zum Trotz seinen Hass nicht verbergen kann. Auf sie. Die er für alles zusammen verantwortlich macht. Er zieht sie an sich, und in dieser Umarmung, die sie erwidern muss, ist eine Klinge verborgen, sie weiß das, sieht sich selbst schon zusammensinken, ein Messer im Rücken, in einer Blutlache auf gesprenkelten Granitplatten.

»Charlotte!«, ruft er aus, als er sie loslässt, »das hätte ich mir nicht träumen lassen. Es war Meyer, oder?«, fragt er so laut, dass es nicht nur im engen Kreis zu hören ist, sondern sich wie ein Echo ringsum in der Menschenmenge verteilt. Meyer, Meyer, Meyer.

»Hier, nimm ein Glas, und dann bringen wir es hinter uns«, sagt er und drückt ihr ein Glas Weißwein in die Hand, stößt mit seinem an, während der Staatssekretär mit einem Stapel Karteikarten das Podium betritt.

Während der Rede – einer Meisterleistung der Diplomatie in der artistischen Balance zwischen respektvoller und persönlicher Verabschiedung des scheidenden Ministers und einem nicht weniger volltönenden Willkommenheißen der antretenden Nachfolgerin – setzt sie, ohne auch nur die geringste Parteinahme anzudeuten, ihr aufmerksames, wohlwollendes Lächeln auf Standby und rekapituliert. Eine Strategie, die sie sich in entsprechend angespannten Situationen beigebracht hat, wo es von größter Bedeutung war, siegreich aus einer Konfrontation hervorzugehen. Wie auf einer früheren Generalversammlung der Naturfreunde, als auf einmal eine Flanke älterer verknöcherter Mitglieder auftauchte, die sich im Schutz ihrer Unerfahrenheit so schnell organisiert hatten, dass sie kurz davor waren, die Mehrheit zu erreichen, um sie abzusetzen. Offiziell auf Grund von Unklarheiten in der Rechnungsführung, mit der sie nichts zu tun hatte, inoffiziell, weil sie der Ansicht waren, sie ginge »viel zu weit« in ihrer Modernisierung der alten Vereinigung, die im Naturschutz ihren Ursprung hatte. In Wirklichkeit war es der Gegensatz zwischen »Stadt« und »Land«, der sich plötzlich offenbarte. Im letzten Moment witterte sie die Gefahr, schaffte es, eine Gegenoffensive auf die Beine zu stellen und den Putsch abzuwehren. Seitdem hat sie gelernt, mit dem Begriff »politische Feinde« zu operieren. Auch wenn ihr persönlich diese Paranoia immer noch irrelevant und komisch vorkam, die nicht zuletzt in Christiansborg verbreitet ist, wo sie seinerzeit darüber belehrt wurde, nie etwas von Bedeutung am Telefon zu sagen. Und schon gar nicht in der Burg selbst.

Aber hier ist der politische Feind nicht zu übersehen, was die Situation, die Bedrohung, auf gewisse Weise einfach macht. Søren Schouw, der gefährlich schwankt, jetzt mit einer Zigarette in der einen Hand herumfuchtelnd, wird aller Wahrscheinlichkeit nach von nun an alles tun, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Unmittelbar sieht er aus wie einer, der sich mit seinem schmerzhaften, selbstzerstörerischen Verhalten, mit dessen Beschreibung die Presse sich schwer tun wird, selbst in größte Gefahr bringt. Aber man kann nie wissen, von welcher Plattform aus er vorgeht. Kann er nur auf seinen eigenen Rachedurst bauen, oder wird er auf einer Welle hochgestreckter Hände getragen, die ihn lieben und aus dem einen oder anderen Grund dabei sein wollen, wenn es gilt, seine Niederlage zu rächen?

Charlotte beobachtet die Gesichter der Menschen, die vor ihr stehen. Die meisten lächeln sie entgegenkommend an, während der Staatssekretär sie im »größten Umweltministerium der Welt« begrüßt, »das Sie ja, von der anderen Seite des Tisches aus, bestens kennen. Als einer der Wachhunde, die uns häufig an die Hosenbeine gegangen sind, aber auch als einsichtsvolle Fachfrau, von deren Kenntnissen wir oft profitieren konnten.« Der Staatssekretär steigt herunter, man klatscht, prostet sich zu, und dann kommt der Augenblick, den alle offensichtlich gleichermaßen fürchten wie erwarten und der Kameraleute und Journalisten enger um das Podium rücken lässt: Søren Schouws Rede, die traditionell damit beendet wird, dem Nachfolger ein Geschenk zu übergeben.

Er hat kaum angefangen zu sprechen, abgehackt, unzusammenhängend, wobei Asche von der Zigarette fliegt, als rundherum Lippen zusammengepresst werden und man auf die Schuhspitzen starrt. Seine Rede ist eine Katastrophe, ein Durcheinander bitterer Ausfälle über die »brutale Exekution« durch den Staatsminister, und eine sentimentale Heulerei über »meine herausragenden Mitarbeiter«, erweitert um eine fetttriefende Lobhudelei »meiner reizenden Nachfolgerin, die zweifellos nicht nur schöner und jünger ist, sondern auch über mehr einflussreiche Freundinnen verfügt als ich«. An sich schon skandalös und ausreichend, um den Staatssekretär, den Leiter des Ministerbüros und die Referenten perplexe »take action«-Blickeaustauschen zu lassen. Aber die Unangemessenheit wird noch größer, als er nach ihrer Hand greift und sie festhält – obwohl Charlotte, selbst kurz vor dem Erbrechen, versucht, sie zurückzuziehen –, um schließlich zum eigentlichen Clou zu kommen: der Geschenkübergabe. Was – wenn das überhaupt möglich ist – die Situation noch schlimmer und so furchtbar macht, dass eine Frau (wie Charlotte später erfährt, seine Sekretärin und treue Geliebte) plötzlich in Tränen ausbricht und sich einen Weg nach draußen bahnt, woraufhin Charlottes zorniges Unbehagen dem Mitleid weicht. Großer Gott, da! Aus einer Plastiktüte zieht er einen nicht eingepackten, ausgestopften Vogel, der auf einem Zweig sitzt.

»Ein Hühnerhabicht«, erläutert er und versucht Charlotte zu fixieren, die ohne ihr Gedächtnis zu konsultieren sicher ist, dass dies der peinlichste Moment ihres Lebens ist. »Und warum habe ich nun beschlossen, dir einen Hühnerhabicht zu schenken?«, fragt er rhetorisch. »Ja, einerseits, weil ein Raubvogel wie dieser die bedrohte Natur repräsentiert, die du und ich mehr lieben als alles andere. Und andererseits, weil du dich jetzt unter Raubtieren befindest und in dem Amt, das du nun bekleiden sollst, die Natur selten zu Gesicht bekommen wirst, abgesehen von den Tauben auf dem Højbro Plads. Und dann noch, weil du ... – auch wenn du so tust, als wärst du scheißgrün und gut und nachhaltig – aber Charlotte, ich habe dich durchschaut, du bist ebenso Habicht wie Huhn! Und in diesem Sinne bist du keinen Deut besser als wir anderen! Amen!«

Charlotte sieht gerade noch den Schritt, den er auf sie zu macht, den Vogel in der ausgestreckten Hand, eine halbe Schuhlänge über der Podiumskante, dann stolpert er und stürzt, in die Arme des Ministerbüroleiters und in ihre eigenen. Er ist schwer, sie fallen beide fast mit um, werden aber von den Umstehenden gehalten, woraufhin andere übernehmen und ihn auf einen Stuhl befördern.

»Er braucht Luft, wir müssen ihn rausbringen!«, gibt Sand Jensen brüsk Order, Sicherheitspersonal taucht plötzlich auf, man hört das Wort »Krankenwagen« in dem aufgeregten Gemurmel, aber Søren Schouw schlägt abwehrend mit den Händen um sich und erklärt, dass er einfach nur ein bisschen sitzen muss. Er bekommt Wasser, sitzt mit dem Kopf zwischen den Knien, als der Staatssekretär Charlotte zunickt und sie das Podium besteigt. Sie blickt ein paar Sekunden über die erschütterte Versammlung, faltet ihre vorbereitete Rede auf, zögert und faltet sie wieder zusammen. Weiß, dass sie nicht hier stehen und brillieren kann vor einem so armseligen Hintergrund. Sie muss improvisieren. This is an emergency Situation.

»Ihr Lieben«, beginnt sie in die dichte Stille hinein, die sich wie ein Baldachin zwischen den gelb gekalkten Wänden ausgebreitet hat. Ihre Stimme zittert leicht, sie hört es selbst. Räuspert sich, nippt an ihrem Glas, findet einen Fixpunkt in der Menge vor sich, ein anonymes Gesicht, mit dem sie sprechen kann, Kontakt bekommen.

»Shakespeare hat uns gezeigt, dass Politik ein blutiges Handwerk ist. Vielleicht ist das der Grund, warum wir, die wir außerhalb der Arena standen, aber fasziniert von der Seitenlinie aus zuschauten, es vermieden haben, dieses Universum zu betreten, in dem aus Freunden Feinde werden, wo man Untaten belohnt und wo nicht immer die Gerechtigkeit siegt. Jedenfalls nicht kurzfristig. Von außen betrachtet, erscheint das einfach zu roh. Zu unschön. Das Forum Romanum der Moderne. Aber wenn es so einfach wäre, würde keiner von uns heute hier stehen. Denn Politik heißt ja auch, für das Schöne zu kämpfen – für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Und hier, an diesem Ort, in diesem Ministerium – von dem ich mir in meinem Innersten vielleicht schon immer gewünscht habe, eines Tages an seiner Spitze stehen zu dürfen –, hier ist es und muss es unser Privileg sein, für etwas so Bedeutendes zu kämpfen wie die Natur und den Umweltschutz, denen wir uns trotz allem unterwerfen müssen, wenn wir als Art überhaupt überleben wollen.«

Sie registriert, dass inzwischen einige zustimmend nicken. Aber es finden sich auch die, die ihr mit verschränkten Armen zuhören, mit einem Ausdruck frontaler Ablehnung. Aber hatte jemand gesagt, es würde leicht werden? Sie sucht sich ein paar derjenigen aus, die am meisten Vorbehalte zu haben scheinen, und blickt sie fest an, als sie zum Ende kommt.

»Ich habe nicht die Illusion, allein die Zerstörung der Ozonschicht verhindern zu können oder die Verschmutzung des Grundwassers. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich demütig alles tun will, was in meiner Macht steht, damit wir hier im Umwelt- und Energieministerium die gute Arbeit fortsetzen können, die Sie schon immer geleistet haben ...«

Sie merkt, dass die merken, dass sie auf der Stelle tritt. Diese verdammte Geschenkübergabe macht den Rhythmus kaputt. Aber es geht nicht anders. Sie muss den Stier bei den Hörnern packen und es hinter sich bringen. Auch wenn ihr Geschenk kaum deplatzierter hätte ausfallen können, in Anbetracht der Situation. Sie schielt zu Søren Schouw, der immer noch vornübergebeugt dasitzt. Aber als sie ihn direkt anspricht, hebt er seinen Kopf mit einem Ruck an. Seine Kampfbereitschaft wirkt in dem Zustand totaler Auflösung, in dem er sich befindet, zugleich komisch und erschreckend. Hätte er ein Gewehr, wäre er bereit, sie zu erschießen. Charlotte verlagert ihr Gewicht auf den anderen Fuß, bleibt sonst aber ruhig. Hält ihr Lächeln. Besteht auf den Blickkontakt.

»Bei meiner Verabschiedung neulich hast du eine hübsche Rede für mich gehalten. Und dafür würde ich mich wirklich gerne revanchieren, wenn ich nur etwas Ordentliches zu sagen hätte. Aber Søren, du bist ja selbst ein Befürworter der ›direkten Kommunikation wie‹ du es nennst. Also erlaube mir, den ministeriellen Sprachgebrauch zu verlassen oder, wie du es vielleicht gesagt hättest: Let’s cut the bullshit und lass uns die Dinge beim Namen nennen. Von deinem Standpunkt aus gesehen, ist das hier heute kein Festtag, du wärst gerne geblieben und hast wohl auch damit gerechnet zu bleiben. Was kann ich also sagen oder tun, das nicht nur Salz in deiner Wunde ist? Nicht viel mehr, als meinem Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass du meinen Respekt entgegennimmst für den großen Einsatz, den du über die Jahre für die ›Sache‹ gebracht hast. Du hast uns von der Basis immer zugehört, wir wurden immer eingeladen; und manchmal, wenn wir nicht zu ›wild‹ waren, hast du auch einiges von dem übernommen, was wir gesagt haben. Ich weiß nicht, ob ich dir zu nahe trete, wenn ich sage, dass ich zumindest in der letzten Zeit etwas besorgt um dich war. Dachte, dass du aussahst wie jemand, der frische Luft braucht und ein Stück Erde, um darin zu graben. Jemand, der Akten, Rundschreiben und Reden einfach nur satt hat. Sodass ich dir, wenn ich gekonnt hätte, heute ein Schrebergartenhaus geschenkt hätte. Aber auch das ist, wie du ja weißt, eine knappe Ressource. Stattdessen habe ich dir ein kleines Stück Natur aus Vendsyssel mitgebracht – du hast ja oft davon gesprochen, wie sehr du den hohen Himmel und den weiten Blick dort schätzt: schwarze Krähenbeeren, von meiner Mutter an einem schönen Sommertag an der Skagen Odde gepflückt und mit Jubilaeums-Aquavit übergossen. Danach durften sie ein Jahr ziehen – und so bekommst du einen echten Magenbitter, der zwar ein bisschen brennt, aber vor allem stärkt, an einem kalten Wintertag wie diesem ...«

Mit Hilfe der Sicherheitsleute, die ihn nicht loslassen, ist Søren Schouw auf die Beine gekommen. Er will sich bewegen, auf sie zugehen, um die Flasche entgegenzunehmen, die sie aus ihrer Tasche herausgeholt hat. Aber sie kommt ihm zuvor, steigt vom Podium und geht zu ihm. Wieder müssen sie eine Umarmung durchstehen, die sich nicht weniger gefährlich anfühlt als die vorherige. Aber diesmal ist er schlaffer, registriert sie – und doch vermag er es, sie lange genug festzuhalten, um ihr ein »Bitch!« ins linke Ohr zu zischen.

Woraufhin sie beide sich umdrehen und zu den Fotografen lächeln. Die verschießen pflichtschuldigst noch einen Film, obwohl sie von dieser Vorstellung viel bessere Bilder im Kasten haben.

»Dieser Mann ist ja wohl verdammt noch mal nicht ganz dicht! Ein ausgestopfter Vogel!«

Der Leiter des Ministerbüros, Henrik Sand Jensen, donnerte den Hühnerhabicht hart auf den Schreibtisch, als der innere Zirkel sie in das geräumige Eckbüro geführt hatte, das noch bis vor einem halben Tag das ihres Vorgängers gewesen war. Sie war durch das Fegefeuer der Reporter gegangen, die hatten ihre Einzel-O-Töne bekommen, danach hatte sie die Vorzimmer-Mitarbeiter begrüßt, war der rotäugigen Sekretärin vorgestellt worden und den beiden anderen Mitarbeitern, die vom Drama des Tages nicht ganz so mitgenommen waren. Louise Kramer schloss die Tür hinter ihnen, der Staatssekretär zuckte bedauernd mit den Schultern, Jakob Krogh beendete ein Telefonat.

»Wahrlich ein bizarrer Abgang«, gab der Staatssekretär zu und nickte auffordernd in Richtung des Schreibtischs und des ergonomischen Stuhls.

»Bitte sehr, nehmen Sie Platz!«, sagte er und streckte einen Arm einladend zu Charlotte hin, die, als wäre sie vom Himmel gefallen, ein paar Schritte hinter der Tür stehen geblieben war.

»Der Stuhl ist noch warm«, bemerkte sie und ließ den Blick über Dutzende von Blumensträußen gleiten, die überall standen und widersinnig genug die Beerdigungsstimmung unterstrichen.

»Aber die Schubladen sind leer!«, gab Henrik Sand zurück, und das brachte Charlotte dazu, in ein befreites, blasphemisches Lachen auszubrechen. Auch der Staatssekretär lächelte ein wenig.

»Ja, wir sind schließlich abgehärtet. Aber mir ist klar, dass so eine Übergabe durchaus ein klein wenig barbarisch anmuten kann.«

»Ich fühle mich wie ein Mittelding aus Leichenschänder und Grabräuber«, nickte sie, was Sand zum Grinsen brachte, Louise Kramer dazu, in ein albernes Gekicher auszubrechen, während Jakob Krogh sichtlich Schwierigkeiten hatte, an der Heiterkeit teilzunehmen. Charlotte beschloss, seine Vorbehalte als feinen Zug an diesem Mann zu betrachten, den sie im Vorfeld als einen äußerst korrekten, ambitiösen und tüchtigen jungen Kerl kennen gelernt hatte. Es sollte doch wohl auch einem wohlerzogenen Beamten gestattet sein, über einen plötzlichen Weggang bekümmert zu sein. Solange es nicht zu Lasten der Loyalität gegenüber dem Nachfolger ging. Sie lächelte ihn verständnisvoll an. Er senkte den Blick.

»Aber wenn ich es nicht geworden wäre, dann wohl ein anderer«, murmelte sie und ging hin, um sich prüfend in den Stuhl zu setzen.

»Okay«, sagte sie dann und nickte. »Fühlt sich gut an!«

»Wenn Sie sich nicht um die Möblierung reißen, können wir sie austauschen. Sie können auch andere Bilder bekommen. Wir leihen sie vom Staatlichen Kunstfond und von Museen aus«, sagte Henrik Sand Jensen.

»Schouw hatte ja einen recht konventionellen Geschmack«, fügte der Staatssekretär mit einem Blick auf das hohe Schreibpult hinzu.

»Wer sagt, dass ich den nicht auch habe?«, antwortete sie scherzhaft. »Aber vielleicht hat jemand Lust, mir zu helfen, diesen Stuhl hier einzustellen? Und wenn man dann noch eine Tasse Kaffee bekommen könnte?«

Sie bekam beides, Kaffee und luxuriöse fünf Minuten Ruhe, bevor sie sich wieder mit Henrik Sand treffen sollte, damit sie mit dem »Crashkurs« loslegen konnten, wie er es nannte. Das gehörte eigentlich gar nicht zu seinen Aufgaben, gab ihr der Staatssekretär zu verstehen, der es geschafft hatte, sie für ein schnelles Briefing unter vier Augen in sein Büro zu ziehen. Dort erzählte er ihr, dass er bedauerlicherweise an »einer Krankheit« leide und in der kommenden Zeit eine Reihe von Untersuchungen und Behandlungen über sich ergehen lassen müsse, was sie in aller Diskretion so geregelt hätten, dass sie Sand Jensen einen Teil der Ministerbetreuung übertragen hätten. »Er wird Ihnen ein formidabler Leutnant sein«, hatte er ihr nickend versichert.

Sobald sie alleine war, stand sie auf und schlenderte mit dem breiten Lächeln auf den Lippen durch den Raum, das sie schon den ganzen Tag hatte unterdrücken müssen. Bewunderte die Blumen, las geistesabwesend ein paar der Karten. Dann stellte sie sich in die Fensternische, sah hinaus auf den Højbro Plads, der, obwohl es erst kurz nach zwei war, schon in der Dämmerung lag. Der Weihnachtsbaumverkäufer hatte die Lichterkette an seiner Markise angemacht, die Kopenhagener hasteten drüben auf der Stroget vorbei, ein Leierkastenmann spielte Weihnachtslieder unter dem gelben McDonald’s-Logo an der Ecke zur Kobmagergade, und die Tür zum Café Norden ging unaufhörlich auf und zu. Sie fischte ihr Handy aus der Tasche, schaltete es ein, erhielt sofort eine Kurznachricht, dass sie 18 unbeantwortete Anrufe erhalten hatte – 18! –, und beeilte sich, Thomas auf seinem Handy anzurufen.

»Hallo, Schatz!«, antwortete er sofort, offensichtlich froh, von ihr zu hören.

»Thomas«, sagte sie. »Das hier ist der Hammer. Weißt du, wo ich stehe?«

»Am Fenster deines neuen Büros! Mit Blick über den Højbro Plads.«

»Woher weißt du das?«, fragte sie verblüfft.

»Weil ich genau am Storke-Springbrunnen stehe und zu dir hochsehe!«

»Das tust du nicht!?«

»Doch. Steht dir gut!«, sagte er, und jetzt sah sie ihn. Groß, schlaksig, barhäuptig. Er machte ein paar Schritte auf den Platz und winkte zu ihr hinauf.

»Warum kommst du nicht rauf?!«, lachte sie und winkte zurück.

»Ich bin da gewesen. Während der Übergabe. Ich habe mich nur ein wenig in der Menge versteckt.«

»Echt? Dann hast du’s gesehen? War das nicht einfach fürchterlich?«

»Pathetisch. Aber du hast das verdammt gut gemacht!«

Er war näher gekommen, überquerte die Fahrbahn in Richtung Weihnachtsbaumverkäufer.

»Habe ich das? War ich nicht peinlich?«

»Das war peinlich. Er war peinlich. Du warst souverän.«

»Warum bist du danach nicht einfach zu mir raufgekommen? Ich hätte dich gebraucht!«

»Du musst lernen, auf eigenen Füßen zu stehen! Und außerdem habe ich die Presse ja schon kennen gelernt. Die locken mich nur in die Falle.«

»Wie bist du klug!«

»Einer muss es ja sein! Übrigens soll ich dich von Lauge und den anderen MS-Leuten grüßen.«

»Himmel, ja! Was haben sie gesagt?«

»Willst du das wirklich hören?«

»Ja!«

»Dass du eine Mistkuh bist, eine dumme Gans und so weiter, dass das einen Höllenärger gibt, aber dass wir schon eine Lösung finden.«

»Waren sie gar nicht sauer?«

»Doch. Stinksauer. Aber sie haben versprochen, dass ich weg kann, wenn das hier überstanden ist. Das kann ja nicht so lange dauern, bei den Umfragewerten ...«

»Nein, das wollen wir nicht hoffen«, lächelte sie und zupfte ein paar welke Blätter von dem institutionalisierten Hänge-Efeu, der auf der Fensterbank stand.

»Kommst du jetzt rauf?«

»Du hast wohl kaum Zeit, oder?«

»Nee ... Was ist mit den Kindern? Und Abendessen? Shit, ist nicht heute Weihnachtskaffee im Kindergarten? Ich habe gestern Pfeffernüsse gebacken. Du kannst einfach eine Dose mitnehmen.«

»Ich kümmer’ mich drum. Um alles. Meine Mutter hat gefragt, ob sie kommen soll. Ich habe ihr gesagt, wir kriegen das hin. Soll ich einen kleinen Weihnachtsbaum kaufen? Auch wenn wir Heiligabend nicht zu Hause sind?«

Er hielt einen kleinen Tischbaum hoch. Er wirkte verkrüppelt und zwergenhaft im Verhältnis zu Thomas’ Größe. Sie schüttelte den Kopf. Er nahm einen anderen, hielt auch den hoch. Sie lächelte, wurde von Zärtlichkeit für ihn überwältigt. Er fror, das konnte sie sehen. Die Schultern hatte er fast bis an die Ohren hochgezogen. Er musste einen Hut tragen, wenn er diese Frisur behalten wollte. Jetzt konnte sie ihm einen zu Weihnachten schenken. Das schien gestern so dumm, als sie noch auf dem Weg in den ganzjährigen Sommer waren.

»Nein, sie wollen einen richtigen haben. Sollen wir nicht morgen zusammen einen kaufen? Oder am Freitag?«

Es klopfte an die Tür.

»Ich muss Schluss machen«, sagte sie und schickte ihm eine Kusshand. »Ich rufe später noch mal an. Sonst melde du dich hier. Grüß die Kleinen, es wird sicher spät ...«

Thomas stellte den Baum zurück. Der Weihnachtsbaumverkäufer drapierte ihn mürrisch neu.

»Das klappt schon. Versprich mir zwei Dinge«, sagte er dann, während Henrik Sand mit mehreren Aktenordnern unter dem Arm eintrat.

»Was?«, fragte sie und wandte sich zuvorkommend ihrem engsten Mitarbeiter zu. Dem Leutnant.

»Deine Mahlzeiten einzuhalten und dich zu amüsieren.«

»Das verspreche ich!«, sagte sie. »Für die Zukunft.«

*

Henrik Sand Jensen war 49. Ein Detail, das für seine neue Ministerin vielleicht nicht sonderlich denkwürdig war, aber dafür von extremer Bedeutung für ihn selbst. Weil jeder Tag bedeutete, einen Tag näher an der Fünfzig zu sein. Was in seiner Familie gleichbedeutend mit »Deadline« war. Buchstäblich. Seine Eltern waren im Abstand von wenigen Monaten gestorben, kurz nach dem fünfzigsten Geburtstag. Der Vater war noch keine 51 gewesen, die Mutter wurde nur 52, und so ging es weiter. Seinen großen Bruder hatte er im letzten Jahr beerdigen müssen, 53-jährig, um seine Vettern stand es auch nicht gut, und seine Großeltern hatte er kaum mehr kennen gelernt. Darum erschütterte ihn Søren Schouws öffentlicher Zusammenbruch auch mehr, als er sich anmerken ließ. Und deshalb war er schon lange, nämlich seit der Verfall sichtbar geworden war, in Opposition zu seinem früheren Chef getreten. Es provozierte ihn ganz einfach, zusehen zu müssen, wie sich ein Mann auf diese Weise selbst zerstörte. Er konnte es nicht leiden, weder die Trinkerei noch die Betrügerei, noch die Heulerei, die folgte, wenn Schouw dem Selbstmitleid nachgab, den Selbstvorwürfen und allem anderen, was die Vorsilbe Selbst- hat. Was ihn betraf, erlaubte er sich nur Selbstdisziplin, in dem Versuch, das Schicksal auszusetzen oder abzuwenden, das er, seit er ein Junge gewesen war, vorhergesehen hatte. Dass auch er dazu bestimmt war, jung zu sterben. Was ihn in einigen wilden Jahren auch dazu verleitet hatte, in einem fatalistischen Trotz gegenüber der Übermacht zu leben – wenn er ohnehin dazu ausersehen war, unangemessen früh umzukommen, dann konnte er ebenso gut mit dem Tod spielen und sein Motorrad in spanischen Gebirgskurven den Asphalt küssen lassen, in Marokko verdreckt und ausgebrannt von Haschrausch zu Haschrausch taumeln, in Marseille billige Hafennutten vögeln und in Hamburg zusammengeschlagen in einem Rinnstein aufwachen.

Nachdem er daran auch nicht gestorben war, hatte er keine Lust mehr gehabt, seine Jugend an einen Todestrieb zu verschwenden, sondern hatte sich still und leise an der Universität eingeschrieben, geheiratet, eine Familie gegründet, ein Reihenhaus in Virum gekauft und eine vernünftige Karriere eingeschlagen, die noch lange nicht ihren Gipfel erreicht hatte. Er wusste, dass er es in sich hatte – die Begabung, das Format und den Instinkt, um weiterzukommen, sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu platzieren, sodass andere begriffen, dass man um ihn nicht herumkam. Trotz seiner scharfen Zunge und einer gewissen eigensinnigen Arroganz, die ab und an mit Abgestumpftheit verwechselt wurde. Aber Henrik Sand war nicht abgestumpft. Wie der, der eng umschlungen mit dem Tod lebt, war er leicht zu erschüttern, aber genau deshalb hatte er sich eine drastische westjütländische Art zugelegt, die zarte Seelen einschüchterte. Mit denen er im Übrigen sowieso keine große Geduld hatte. Er konnte Sentimentalität und Romantisierung nicht ertragen, was manche fehlinterpretierten, indem sie glaubten, er würde sich nichts aus Frauen machen. Er liebte Frauen, war völlig abhängig von seiner Ehefrau, einer begabten Keramikerin, und vergötterte seine beiden jungen Töchter. Was er verabscheute, war alles Weibische, besonders bei Männern. Was absolut nicht bedeutete, dass er den Machismo verherrlicht hätte. Aufgeblasene, sich selbst überschätzende Männer, die partout ihre Muskeln spielen lassen mussten, waren wohl das Lächerlichste, was Henrik Sand sich vorstellen konnte. Solche Typen zerpflückte er mit größtem Vergnügen, besonders gerne vor Publikum.

Alles in allem wäre es übertrieben zu behaupten, dass Henrik Sand im Ministerium geradezu geliebt worden wäre. Aber seit er da war, hatte doch eine gewisse Auslese stattgefunden, sodass die, die mit ihm nicht klarkamen, sich wegbeworben hatten, häufig nach Aufforderung. Und die, die zurückgeblieben waren, mussten einsehen, dass es Sands Verdienst war, dass das alte »weich und langhaarig«-Image – das am Ministerium und nicht zuletzt an seinen Mitarbeitern, die früher selten ernst genommen worden waren, geklebt hatte – weggezaubert und von scharf geschliffenen Kanten und einem »modernen Profil« abgelöst worden war. Die Umweltleute waren respektiert als Leute, die ihre Sache bis hin zu den technischsten und spitzfindigsten Details beherrschten und die oft ganz vorne mit dabei waren. So hatte es auch nicht geschadet, dass man über mehrere Jahre einen »starken Minister« gehabt hatte, dem es dank seiner guten Beziehungen zum Finanzminister gelungen war, das Ministerium so ausgabenschwer zu machen, dass es mehrere Stufen in der Hierarchie nach oben gestiegen war. Dass Sand und Schouw ein effektives Team waren, war allgemein bekannt. Dass möglicherweise in den letzten Jahren immer mehr Sand ins Getriebe gekommen war, war vielleicht weniger bekannt, aber doch ein des Öfteren wiederkehrendes Thema in kollegialen Gesprächen beim Freitagsrotwein. Ob Sand weg wollte. Ob er sich zu den Budgetbeißern wegbewerben und eine Karriere im Finanzministerium starten wollte, von dem viele meinten, dass er dort rechtmäßig hingehörte.

Und in den zwei Stunden, in denen Sand alleine bei der neuen Ministerin war und ihr das erste grundlegende Briefing über die Situation früher, jetzt und in Zukunft erteilte, waren heftige Spekulationen im Gange, was nun passieren würde. Würde er bleiben, oder würde er sich schnellstmöglich wegbewerben? Oder eher, wie schnell würde es gehen? Die meisten waren sich einig, dass die neue Ministerin zunächst »schwach« war, wenn es auch verhältnismäßig imponierend war, wie sie die peinliche Übergabe gemeistert hatte. Aber alle wussten, dass es Minister, die von außen kamen, immer schwer hatten. Und eine junge, unerprobte Frau mit zwei kleinen Kindern und einer Nichtregierungsorganisation als Hintergrund hatte nicht nur einen schweren Stand. Das kam einem Kamikazef lug gleich. So war also – unabhängig davon, ob man vielleicht gewisse persönliche Sympathien für Charlotte Damgaard hegte – doch Unruhe in den Reihen. Schließlich riss sich niemand darum, an Bord eines sinkenden Schiffs zu sein. Und soweit man überhaupt behaupten konnte, den Work-aholic, Marathonläufer und Konkurrenz-Menschen Henrik Sand zu kennen, glaubte man absolut nicht, dass das ein Platz war, an dem er den »Rest seiner schönen Jugend« zu verplempern gedachte. Dazu kam noch die sichere Erwartung, dass die Chemie zwischen den beiden gar nicht stimmen könnte, was für sich genommen schon eine konstruktive Zusammenarbeit ausschließen würde. Eine romantische Idealistin und ein alter Zyniker. Das würde schief gehen. Oder eher – gar nicht gehen. Sand würde sie verlassen und seine Mitarbeiter mit dem Äffchen sitzen lassen. Ihre Tage als das renommierteste Umweltministerium Europas, ja der ganzen Welt, wären gezählt.

Eine Analyse, die immer mehr einleuchtete und sich über Telefone und E-Mails verbreitete, vom Amtssitz zur Verwaltung, bis hinein in die entferntesten Staatsforste an diesem brodelnden Nachmittag. Aber das zeigte nur, wie schlecht man den Leiter des Ministerbüros eigentlich kannte. Denn zum einen war Henrik Sand nicht annähernd so vorurteilsbeladen wie seine Mitarbeiter. Zum anderen betrachtete er Charlotte Damgaard überhaupt nicht als jung, unerprobt und romantisch. Er erlebte sie im Gegenteil als frappierend schnelle Schülerin, schnell im Kopf, schnell am Drücker und unterhaltsam im Zusammensein. Aufbau und Organisation des Ministeriums kannte sie im Voraus, den Stoff konnte sie in groben Zügen, und über die Reibereien, die ein Teil des Vermächtnisses waren, wusste sie durch ihren früheren Job auch einiges. Selbst mit der EU, die aus der Sicht eines Beamten die bürokratische Hölle war, war sie verblüffend gut vertraut.

»Waren Sie Schattenministerin, oder was?«, musste er einfach fragen, als sie schon wieder nickte und den Satz zu Ende führte, den er gerade begonnen hatte.

»Wenn man eine gute Lobbyistin sein will, ist man dazu geradezu gezwungen! Und wir haben ja auch kein gigantisches Beamten-Netz, das uns füttert.«

»Hatten«, musste er sie korrigieren. »Sie hatten kein gigantisches Beamten-Netz. Jetzt haben Sie es. Und ich kann Ihnen ebenso gut gleich raten, es auch zu nutzen. Als Minister ist es nicht nötig, sich in alle Details zu knien.«

»Dafür habe ich Leute?«

»Ganz genau. Zu glauben, man müsste alles können, ist ein ganz typischer Anfängerfehler.«

»Der Minister soll gefälligst Politik machen!«, lachte sie und fragte, ob sie eine Zigarette schnorren könne.

»Ich rauche nicht. Aber es gibt Verschiedenes hier«, sagte er und schob ihr die Zigarrenkiste hin.

»Im Prinzip tue ich das auch nicht«, erwiderte sie und versprach, dass das die erste und einzige sein würde.

»Sie sollten nicht zu viel versprechen! Das ist eine weitere wichtige Regel in der Politik! Vielleicht sogar die wichtigste.«

»Okay, dann begnüge ich mich damit zu versprechen, dass es die erste und einzige auf Staatskosten ist!«

»In der Hinsicht sind Sie etwas langsam, oder?«, schüttelte er den Kopf und gab ihr Feuer.

»Sonst noch was, das ich wissen muss?«, fragte sie und klopfte auf die beiden hohen Stapel mit Aktenmappen, »Weihnachtslektüre«, die sie mit nach Hause nehmen würde.

»Dass Sie einen 24-Stunden-Job übernommen haben, aber zum Ausgleich ist mein Telefon rund um die Uhr besetzt. Einschließlich Heiligabend.«

»Noch was?«

»›Trust Nobody‹. Vermutlich die zweitwichtigste Regel.«

»In der Politik?«

»Überall. Berufskrankheit. Entschuldigung.«

Sie legte den Kopf schief, wedelte den Rauch weg, strich ihre langen Haare zurück und machte keinerlei Hehl daraus, dass sie ihn beobachtete.

»Was ist mit Ihnen? Kann ich mich auf Sie verlassen?«, fragte sie daraufhin.

»Ich bin Westjütländer. Aus Harboore, ob Sie es glauben oder nicht.«

»Dann kann ich es also nicht!«

»Dann können Sie es also doch! Sie können sich auf mich verlassen«, nickte er, und dann kniff sie die grünbraunen Augen über den hohen Wangenknochen zusammen.

»Aber ich darf nicht. Ich darf mich auch nicht auf Sie verlassen.«

»Sie bekommen ein Sternchen in Ihr Fleißheft«, bemerkte er anerkennend. Damit war die erste Lektion beendet, die Ministerin musste zur Fraktionssitzung in die Burg und danach auf Rundreise durch die diversen Fernsehstationen.

Nachdem sie aus dem Büro abgeholt worden war, blieb er noch einen Moment sitzen. Machte ihre Kippe aus, die im Aschenbecher vor sich hin qualmte. Warf einen Blick auf das Blumenmeer und spürte ihre Anwesenheit, ein schwacher Duft nach Frau. Einen kurzen Moment fragte er sich nervös, ob er sich kopfüber in sie verliebt hatte? So was konnte passieren, sogar einem glücklich verheirateten Mann wie ihm. Und sie war ja, wenn auch nicht hübsch, doch trotzdem, ja, bemerkenswert mit den halblangen dunkelblonden Haaren, den großen Augen, dem etwas breiten Gesicht und diesem Lächeln, das so unerwartet mädchenhaft aufleuchtete. Ansonsten war sie zu üppig, um seinem Typ zu entsprechen – groß, breite Hüften, breite Schultern und ein verhältnismäßig großer Busen, wie es schien. Schöne lange Beine, eine Spur x-beinig vielleicht. All das hatte er registriert, wie es eben so ist. Aber das war nicht das, was ihn anzog. Es war die Vitalität, die sie umgab, die schon jetzt wie eine Leben spendende Bluttransfusion wirkte. Er war immer noch 49. Es quälte ihn immer noch unerträglich, dass er bald 50 würde und trotz seines niedrigen Cholesterinspiegels, seines prächtigen Blutdrucks und seiner formidablen Konstitution aller Wahrscheinlichkeit nach die Familientradition fortsetzen und plötzlich sterben würde. Aber in den letzten zwei Stunden hatte er mehr Freude gehabt als in den letzten zwei Jahren. Er hatte nicht über seine Sterblichkeit nachgedacht, nicht Sekunde für Sekunde den Countdown gespürt, diese Irritation darüber, die gezählten Stunden an ein paar Vollidioten zu verschwenden. Henrik Sand hatte höchst unerwartet die Hoffnung auf Zukunft zurückbekommen.

So musste auch niemand fragen, als er leichtfüßig aus dem Büro kam, mit einem Lächeln im Blick und den beiden leeren Kaffeetassen in der Hand.

Aber manche taten es trotzdem.

»Wie war sie?«

»Klasse. Verflucht gut. Wir werden früh aufstehen müssen, meine Damen und Herren.«

Bevor Charlotte Damgaard wieder ins Ministerium zurückgekehrt war, war dieses Gerücht schon in Umlauf. Dass Henrik Sand, der harte Hund, verführt worden war. Aber er war schließlich auch im Panik-Alter.

*

Søren Schouw war nach Hause verfrachtet worden, zum letzten Mal im Dienstwagen. Aber dennoch war er in der Fraktionssitzung, in der der Staatsminister die Rochade und seine neuen Minister vorstellte, wie ein böser Geist anwesend. Niemand wagte es, direkt gegen Per Vittrup Stellung zu beziehen, das gehörte sich einfach nicht. Aber der Unmut hing wie eine gelbliche Schwefelwolke über dem Sitzungsraum S-090. Nicht nur Schouws Alliierte waren wütend. Ein paar andere entthronte Minister saßen verbissen da und verspritzten Gift im Raum, und auch die vier, fünf anderen, die sich übergangen fühlten, unterließen es nicht, Vibrationen der Verletztheit auszusenden. Was Gert Jacobsen anging, wirkte der auf seine besonders demonstrative Art sauer, sodass niemand daran zweifeln konnte, dass die Rochade über seinen Kopf hinweg entschieden worden war. Es wurde natürlich nicht direkt gesagt, dass die Entscheidung für Charlotte Damgaard, die man ansonsten eher als eine etwas zu kluge studentische Hilfskraft kannte, weit unter dem Niveau dieser ehrwürdigen Mitglieder, besonders unpopulär war. Aber Charlotte spürte eine fast schon physische Mauer aus Widerwillen, mit der Absicht, sie auszuschließen. Besonders Susanne Branner, Umweltpolitische Sprecherin, eine Grundschullehrerin von Fünen, konnte ihre Ablehnung nicht verbergen. Und sie war es auch, die das Wort ergriff, als es freigegeben wurde.

»Im Umweltausschuss müssen wir gestehen, dass wir ein wenig ratlos vor dem Signal stehen, das von der Ablösung von Søren Schouw ausgeht. Wir von der Fraktion hatten eine vorbildliche Zusammenarbeit mit dem Minister und sind ein wenig in Sorge, ob sich diese enge Zusammenarbeit unter einer neuen Ministerin fortsetzen lässt, die ja sozusagen erst angelernt werden muss, und wir stehen schließlich vor einer Reihe ...«

»Ist das ein Kommentar oder eine Frage?«, schlug Elizabeth Meyer plötzlich dazwischen. Über den Fraktionsvorsitzenden hinweg und außerhalb der Redeliste. Ihre Stimme war beherrscht, aber so unterkühlt, dass niemand wagte zu protestieren. Jeder wusste, dass sie, wenn sie so klang, wirklich verärgert war. Was den Verdacht verstärkte, dass Charlotte Damgaard Meyers Werk war.

»D-darf ich antworten?«, ging Charlotte dazwischen, zu ihrem eigenen Ärger leicht stotternd, aber sie bekam ihre Stimme unter Kontrolle, als sie auf ein Nicken Per Vittrups hin fortfuhr:

»Ich kann gut verstehen, dass es frustrierend ist, von vorne anfangen zu müssen. Sich an eine Anfängerin gewöhnen zu müssen. Aber erstens kennt ihr mich schon, und ich kenne euch. Und zweitens beabsichtige ich, Weihnachten zu nutzen, um den Stoff nachzuholen, damit wir irgendwie da weitermachen können, wo ihr aufgehört habt. Und im Hinblick auf die Frage, ob sich die gute Zusammenarbeit fortsetzen lässt, kann ich nur mit einer Gegenfrage antworten: Warum sollten wir das nicht können, Susanne? Wir konnten uns doch früher auch gut gegenseitig helfen. Oder?«

Charlottes Lächeln war zuckersüß, genau wie das, das sie von der Sprecherin retour bekam. Allerdings konnte niemand im Raum auch nur den leisesten Zweifel daran hegen, dass die Umweltministerin ihr Revier markiert hatte und vorläufig die erste Runde eines noch nicht erklärten Krieges gewonnen hatte.

Auch Per Vittrup, der sonst an Tagen wie diesen alle Ober- und Untertöne bewusst überhörte, vernahm die drohende Krise. Davon gab es so viele, auf die meisten brauchte man keine Zeit zu verschwenden – aber diese hier galt es abzuwehren. Wieder wurde um den Fraktionsvorsitzenden herumgespielt, der während der ganzen Episode dasaß und wie ein gestrandeter Fisch den Mund öffnete und wieder schloss. Er fühlte sich mindestens so doof, wie er aussah, und das gefiel ihm ganz sicher nicht.

»Die Zusammenarbeit zwischen dem Umweltausschuss und dem Umweltminister kann nicht nur, sondern wird auf genauso vorbildliche Weise wie bisher fortgeführt«, ging Per Vittrup mit schneidender Stimme dazwischen. »Und dann lasst mich noch der Ordnung halber daran erinnern, dass wir hier nicht bei der Konservativen Volkspartei sind!«

Das war als herber Witz gemeint, aber niemand lachte.

Henrik Sand stand trippelnd in der Gruppe vor dem Fraktionsraum und wartete auf sie, als die Sitzung beendet war. Sie wäre ihm fast um den Hals gefallen vor lauter Erleichterung darüber, jemanden wiederzusehen, den sie unter den gegebenen Umständen als einen alten Freund betrachtete.

»Mannomann!«, platzte sie heraus, bevor er mit dem Kopf nach hinten nickte und sie auf eine laufende Kamera aufmerksam machte.

»TV2«, sagte er leise. »Sie machen ein Mini-Portrait über Sie für die Abendnachrichten. Sie brauchen noch ein paar Reportagebilder, ich habe ihnen das Okay gegeben, Ihre Nachbewilligung vorausgesetzt.«

Die Journalistin tauchte lächelnd hinter dem Kameramann auf, übermittelte ihre Glückwünsche und stellte sich vor, während Charlotte fragend Meyers Blick einfing, als sie sich im Gedränge vor der Tür vorbeizwängte. Meyer antwortete, indem sie ihre Augen verdrehte, bevor sie, immer noch vor Wut köchelnd, den Gang hinuntermarschierte. Sie war kaum um die Ecke, als Sands Handy klingelte.

»Für Sie«, sagte er nur und reichte es Charlotte, die einen Ausbruch unterdrücken musste, als sie Meyer hörte.

»Ich habe es sicher schon mal gesagt, aber ich erinnere dich noch mal daran: Vor dir stehen deine Widersacher, hinter dir deine Feinde. Was Susanne Branner anbelangt, sind wir einer Meinung, sie ist zu nichts Gutem zu gebrauchen. Mit etwas Glück manövriert sie sich selbst ins Abseits, bis dahin gilt es den Rücken zu schützen. Du hast das gut gemacht.«

»Danke«, schob Charlotte kurz ein, während ihr Magen noch eine Umdrehung machte und sie sich in Bewegung setzte und Henrik folgte, der mit einem verstohlenen Blick auf die Uhr losgegangen war. Die Kamera folgte ihnen den ganzen Weg, der Kameramann war ans andere Ende des Ganges gespurtet, um sie »von vorne zu kriegen«, wie er sagte.

Meyer schnarrte weiter, ein wenig atemlos, ihre Absätze klapperten auf dem Steinboden.

»Ich bin einverstanden damit, dass man genauso gut gleich die Karten auf den Tisch legen kann. Einige von denen werden dich ohnehin hassen, andere werden dich genau deswegen respektieren. Wir müssen zusehen, die Richtigen zu mobilisieren. Toi, toi, toi mit TV2, vor ihr musst du keine Angst haben, sie ist nur Praktikantin. Aber sei trotzdem nett, früher oder später könnte sie mal nützlich sein. Im Übrigen warst du in den Radio-Nachrichten heute Mittag prima. Ich ruf dich heute Abend an. Tschüss!«

Charlotte legte auf, neutralisierte ihren Gesichtsausdruck, gab Henrik das Handy zurück, als sie an einer Toilette vorbeikamen.

»Hier muss ich kurz rein«, teilte sie mit und blieb stehen. Dasselbe taten sowohl der Kameramann als auch die Journalistin, und beide steuerten auf sie zu.

»Ich muss mal. Wollen Sie das auch filmen? Oder fällt das unter Privatsphäre?«

Die Praktikantin kicherte dämlich, der Kameramann, ein junger Flegel mit asiatischen Zügen, legte feixend die Kamera ab.

»Es gibt echt nichts, was euch heilig ist, oder?«

Henrik zuckte mit den Schultern.

»Nein, jedenfalls nicht für Politiker.«

»Das haben Sie in Ihrem Briefing wohl vergessen zu erwähnen«, sagte Charlotte trocken und drückte die Türklinke herunter.

»Ich dachte, das wüssten Sie. Sie haben zwei Minuten, Hände waschen inklusive.«

»Ist da nicht immer so ein Gedrängel in Christiansborg? Am Waschbecken?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und schob die Tür auf.

Die Praktikantin kritzelte pflichtschuldig auf ihren Block, aber obwohl Henrik Sand und der Kameramann laut lachten, bekam sie sie nicht mit. Die Pointe. Aber dafür konnte man ja trotzdem mitlachen.

Sie stahl sich vier Minuten extra auf der Toilette. Ihren Bauch hatte sie schon im Laufe der Nacht und der frühen Morgenstunden geleert, deshalb blieb sie, nachdem sie platschend wie ein Elefant gepinkelt hatte, einfach mit geschlossenen Augen sitzen. Kicherte vor sich hin, so wie damals, als sie jung, freitäglich angeheitert und wankend auf irgendeinem Kneipenklo gesessen hatte, dessen Tür mit platten Emanzen-Sprüchen dekoriert war. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich den absolut banalsten davon gemerkt – »Ich liebe Lasse P« –, der sie immer noch zum Grinsen bringen konnte. »Wer ist Lasse P?«, war auch eine der internen Sachen geworden, die sie gemeinsam hatten, sie und Thomas. Ein kleiner Teil ihrer albernen Gemeinsamkeiten, die man unmöglich übersetzen oder mit anderen teilen konnte.

Auf dieselbe Weise wie damals fühlte sie sich etwas berauscht, stand ein bisschen neben sich, auf eine aufregende, exaltierte Art.

Sie stand auf, zog den Slip hoch und spülte. Thomas hatte Recht. Sie musste zusehen, etwas zu essen zu bekommen. Sonst würde sie in eine Unterzuckerung geraten, bevor sie es irgendwann entweder ins Studio von TV-Stadt oder TV-Lorry schaffen würde. Beiden Sendern hatte sie versprochen, sich für Live-Interviews sowohl für die 19- Uhr- als auch für die Spätnachrichten und für »Deadline« um kurz nach elf bereitzuhalten.

»Umweltministerin!«, grimassierte sie zu ihrem Spiegelbild über dem Waschbecken, nachdem sie einmal mit einer Bürste durch ihre Haare gegangen war, ihren Nacken mit kaltem Wasser erfrischt und darüber geflucht hatte, dass kein Deo in ihrer Tasche war. Sie würde sich umziehen müssen, bevor sie auf fusselfreie Moderatoren treffen konnte. Sie roch einfach zu sehr nach Zoologischem Garten, um auf irgendjemanden glaubwürdig zu wirken. Sich selbst eingeschlossen.

»Umweltministerin«, murmelte sie wieder. »Wem zum Teufel glaubst du, kannst du das weismachen?«

Dann zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu und ging hinaus, wo ihr Gefolge, in der Zwischenzeit um die Referentin Louise Kramer vergrößert, sie ungeduldig erwartete.

»Vamos?«, fragte sie energisch und warf ihren Kopf in Richtung Kamera, die sofort eingeschaltet wurde.

»Vamos a la playa«, hörte Henrik Sand sich selbst antworten, wie in dem Refrain eines Liedes von damals, als er jung gewesen war.

Zurück im Büro, gelang es ihr, den Großteil zweier Stücke Pizza hinunterzuschlingen, bestellt bei einem kurdischen Imbiss in der Nachbarschaft, während Henrik Sand die Strategiepapiere durchging, die erstellt worden waren in der Absicht, die schlimmsten Finten des Gegrilltwerdens in den Abendnachrichten zu umgehen.

»Qs und As«, nickte sie und schob sich die Pizza in den Mund, die höchst unitalienisch mit Kebab, Eisbergsalat und Crème-fraîche-Dressing belegt war. Äußerst primitiv, aber ihre Lieblingsvariante. »Mixed.« Das konnten sie sich gleich merken.

»Qs und As?«, wiederholte Henrik fragend.

»Questions and Answers. Sehen Sie kein CNN?«

Er antwortete mit einer gehobenen Augenbraue.

»Das Problem mit questions and answers ist, dass es trotz allem nie ganz vorhersehbar ist«, sagte sie und griff nach der Cola, die sie auch bestellt hatte. »Man muss also aufpassen, nicht zu fixiert zu sein. Sonst bekommt man Schwierigkeiten mit dem Improvisieren.«

Sie lächelte fügsam, als er die Augenbrauen zusammenzog. Ob es missbilligend oder nachdenklich war, konnte sie nicht ablesen. Und sie hatte nicht die Absicht, ihn zu verletzen.

»Aber darum wäre es natürlich ausgezeichnet, vorbereitet zu sein. Also, gehen wir es durch. Was sagt die Umweltministerin zum Beispiel über den Wasserschutzplan? Mit ihrem basisdemokratischen Hintergrund? Und nehmen Sie schon von der Pizza, Sie haben ja auch noch nichts zu essen bekommen!«, forderte sie ihn auf und schob ihm den Karton hin.

»Danke nein«, sagte er mit schiefem Blick auf die Crème fraîche. »Ich habe ein ökologisches Linsengericht draußen im Kühlschrank.«

Charlotte feixte.

»Was ist mit Cola? Wenn Sie nicht petzen, halte ich auch dicht!«

»Na dann!«, sagte er, ließ die Flasche mit ökologischem Johannisbeersaft stehen und schenkte sich Cola ein. »Über den Wasserschutzplan sagt die Umweltministerin, dass es in die richtige Richtung geht, dass man die Landwirtschaft für die Bereitschaft, ihren Teil der Vereinbarung zu erfüllen, loben muss, aber ...«

»... dass immer noch viel zu tun ist und wir die Resultate in Verbindung mit den Zwischenergebnissen des Wasserschutzplans II genau beurteilen müssen. In dieser Arbeit, die bereits im Gange ist, ist es natürlich meine Aufgabe, mich meiner Kontakte mit den Organisationen, Vereinigungen und Basisbewegungen zu bedienen, die dieses Thema genau verfolgen. Und es ist kein Geheimnis, dass nicht nur die Stickstoff-, sondern auch die Phosphorableitungen der großen Schweinemastbetriebe offenbar erschreckend negative Auswirkungen auf das Wasser haben ...«

»Das reicht!«, winkte Sand ab. »Passen Sie auf, dass Sie nicht zu tief in den Wald geführt werden!«

»Weil da der große böse Wolf wartet?«

»Yes. Halten Sie sich an luftige Absichtserklärungen. Wenigstens jetzt am Anfang.«

»Also soll ich am besten gar nichts sagen?«

»Nichts, was man gegen Sie verwenden kann.«

»Und wenn ich trotzdem dahin komme?«

»Dann bekommen Sie höllische Schwierigkeiten.«

»Kann ich daran sterben?«

Henrik stellte sein Glas ab, unterdrückte ein Aufstoßen. Kniff die hellblauen Augen hinter den Brillengläsern zusammen.

»Das ist jedenfalls eines der Berufsrisiken. In Ihrem Fach. Dass Sie einen politischen Tod sterben, indem ...«

»Passiert das nicht allen, früher oder später?«

»Tja, das kann man meinen ... so sieht es wohl aus.«

»Also besteht für einen Politiker die Wahl zwischen einem langsamen, stillen Tod und einem plötzlichen, gewaltsamen?«

Charlotte schob ihren Teller weg. Brachte plötzlich keinen Bissen mehr herunter. Denn obwohl sie beide lächelten und offensichtlich bei einem spielerischen Gedankenexperiment waren, wusste sie doch sehr genau, dass blutiger Ernst dahinter stand. Oder schnell aufkommen konnte.

Wieder sah er sie forschend an, als ob er umsichtig seine Worte wählte, um keinen weiteren Schaden anzurichten.

»Charlotte, ich meine, es ist eine vielleicht etwas morbide Diskussion, um Sie an Ihrem ersten Tag als Ministerin einzuführen.«

Sie nickte in die Luft. Spielte an ihrem Ohrring. Merkte, wie sie in ihrem Stuhl leicht zusammensank. Das Adrenalin, das ihr seit sechs Uhr früh geholfen hatte durchzuhalten, war am Abebben. Stattdessen meldete sich die Müdigkeit, jetzt, da die Peristaltik zu arbeiten anfing. Eigentlich konnte sie diese Problematik nicht mehr weiter erörtern. Auf der anderen Seite wusste sie schon, dass Henrik Sand Jensen ihr engster Vertrauter werden würde. Ohne ihn würde sie nicht manövrieren können. Darum musste sie sich jetzt Mühe geben und klare Verhältnisse schaffen. Damit er ihre Bedingungen kannte.

Sie seufzte schwach. Öffnete den Knopf im Bund ihres Rocks. Freddy, der Chauffeur, war zu ihr nach Hause geschickt worden, um saubere und bequeme Kleider für sie zu holen. Plus Kulturbeutel, damit sie eine Katzenwäsche in dem Bad vornehmen konnte, das zum Büro gehörte. Sie hatte gehofft, es selbst nach Hause zu schaffen und die Kinder bei einem kurzen Zwischenstopp zu umarmen, aber Thomas hatte sich die Visite am Telefon verbeten. Nicht verärgert oder so, nur mit der realistischen Feststellung, dass es mehr Schaden als Gewinn wäre. »Es würde sie nur total verwirren, wenn du kommen und gleich wieder gehen würdest. Sie können dich stattdessen im Fernsehen sehen!«

Also beugte sie sich in ihrem Stuhl nach vorne.

»Als Per Vittrup gestern Abend anrief, habe ich unter einer Bedingung zu diesem Job Ja gesagt: Dass ich keine Geisel sein würde.«

»Und was hat der Staatsminister dazu gesagt?«

»Er hat es akzeptiert.«

Henrik Sand lachte rau und lehnte sich zurück, streckte die Arme über der Rückenlehne aus.

»Haben Sie das schriftlich?« Henrik Sand lachte wieder, sodass Charlotte sich das erste Mal an diesem Tag in seiner Gegenwart für gewogen und zu leicht befunden fühlte.

»Sie meinen, ich bin naiv?«

»Das sind Sie nicht! Darum ist es ja so dämlich! Dass so eine kompetente Person wie Sie, die das System sowohl von innen wie von außen kennt und deswegen eine Riesenchance hat, einen verflucht guten Job zu machen, so einen Quatsch ausschließt!«

Henrik Sand stand wütend auf und wanderte im Büro herum.

»Ja, Entschuldigung«, sagte er. »Ich weiß, dass es gegen die Regeln ist, so mit einer Ministerin zu sprechen ...«

Charlotte wehrte die Entschuldigung ab.

»... aber dazu ist man verdammt noch mal gezwungen, wenn man einem solchen Fall gegenübersteht!«

»Was für einem Fall?«, fragte Charlotte leise, während ihr eigener Zorn zu trommeln anfing wie Regen auf einer Mülltonne. »Es geht um Integrität, Henrik Sand Jensen. Wenn ich überhaupt in diesem Stuhl sitzen soll«, sagte sie und zeigte hinüber zum Schreibtischstuhl, »dann muss ich mir an jedem einzelnen Tag selbst in die Augen sehen können!«

»Ja und?«

»Und dann kann ich nicht nichts meinen, nicht nichts sagen, nicht nichts machen! Dann muss ich verflucht noch mal zu- und absagen dürfen. Sonst hat das doch keinen Sinn! Dann könnte Søren Schouw oder irgendein anderer genauso gut hier sitzen!«

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Worum dann?«, fragte Charlotte hitzig. So stritt sie nicht einmal mit Thomas.

»Darum, dass man als Politiker die Fähigkeit trainieren muss, so viel wie möglich aus seiner Politik zu machen. Dass ein guter Politiker seinen Spielraum kennt. Dass ein guter Politiker auch noch in der Lage ist, diesen auszuweiten, indem er die anderen auf seine Seite zieht. Und das gelingt einem nicht, wenn man wegen seiner Integrität aufheult und Angst hat, sich die Finger schmutzig zu machen. Ich dachte, Sie wüssten das, mit Ihrem Einblick«, sagte er und stützte sich am Schreibtisch auf.

»›Politik ist die Kunst des Möglichem‹ – ›Man muss lernen, bis 90 zu zählen‹... ich kenne diese Floskeln bestens«, sagte sie und ging zur Fensternische. Sie brauchten dringend frische Luft. Hier stank es nach Pizza, Blumen, Schweiß. »Kann man die Fenster öffnen?«

»Ja«, sagte er nur und ließ sie selbst den Efeu wegräumen und die Doppelfenster einhaken. Sie streckte den Kopf hinaus und sog begierig die frische Luft ein. Lächelte leicht bei der Erinnerung an Thomas, hielt sogar nach ihm Ausschau, obwohl sie wusste, dass er zu Hause war. Es kam ihr vor, als wäre es hundert Jahre her, dass er hier gestanden hatte.

»Was ich meine, ist«, sagte Henrik versöhnlich hinter ihr, »dass Sie das eine vom anderen trennen und sich ganz und gar auf das hier einlassen müssen. Denn wenn Sie das nicht tun, werden Sie die ganze Zeit von Ihren eigenen Zweifeln gebremst werden. Sie werden Dutzende von Kröten schlucken müssen. Aber das müssen die anderen auch. Und wenn Sie tüchtig sind, schlucken die mehr als Sie.«

»Weil sie meine schlucken?«, sagte sie und drehte sich um.

»Jep.«

Sie seufzte. Sie blieben beide stehen, jeder für sich gefangen in der eigenen Nachdenklichkeit. Der Zorn hatte sich schon aufgelöst wie eine Wolke in der Sonne.

»Verstehen Sie denn gar nichts von dem, was ich sage?«, fragte sie gedämpft in einem so intimen Tonfall, dass es die entscheidende Frage zwischen zwei Liebenden hätte sein können.

Henrik Sand fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die oben schon dünn und an den Schläfen grau waren.

»Jedes Wort. Schließlich bin ich auch Idealist gewesen. Ich werde auch Ihnen ein loyaler Beamter sein und so weit als möglich das Ministerwort zum Gesetz machen. Ich persönlich habe auch keine Angst vor einem Medienorkan und einem politischen Sturmtief. Es darf nur nicht kopflos sein.«

»Dann sind Sie mein Kopf?«

»In dem Umfang, in dem Sie Ihren verlieren, ja.«

Sie lachte in einer kurzen Atempause.

»Dann haben wir ein Abkommen?«

»Worüber?«

»Dass Sie mein Alliierter sind. Sie sorgen dafür, dass ich nicht das Haus gegen mich habe. Im Gegenzug akzeptiere ich Ihre Expertise und vermeide, so gut es geht, mich als kopfloses Bauerntrampel aufzuführen.«

Er lächelte ein wenig. Bauerntrampel.

»Haben wir das?«, insistierte sie. »Ein Abkommen?«

»Ja, zum Teufel, wir haben ein Abkommen.«

»Strike!«, setzte sie hinzu und ging zu ihm, eine Hand nach oben gestreckt. Er begriff das Signal und hob die seine ebenfalls, sodass sie ihre Handflächen aneinander schlagen konnten wie zwei Teenager nach einem Treffer.

»Machen wir weiter«, sagte sie und setzte sich wieder an den Konferenztisch.

»Mit Qs und As?«

Er schnitt eine Grimasse. Sie nickte.

Das war’s. Sie waren wieder Freunde. Er hatte in den ganzen neun Jahren im Umweltministerium noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Auch darum hatte er schon jetzt Angst, dass es aufhören könnte.

*

Vielleicht ist es dieser Tag, an dem Lisbeth klar wird, wie wenig sie sich aus ihrem Mann macht. Der Tag, an dem ihre kleine Schwester zur Umweltministerin ernannt wird und sie zu ihrer großen Erleichterung bemerkt, wie sie von einer klingenden Freude erfüllt wird, ohne auch nur die geringste Dissonanz einer schrillen Missgunst zu vernehmen. Sie gönnt es ihr wirklich, sie ist stolz auf Charlotte, die in der Sondersendung um zwölf etwas genant lächelnd neben dem Staatsminister steht und in den Abendnachrichten für sich selbst einstehen muss, als die Journalisten auf sie losgehen. Wer ist sie, was kann sie, was will sie?

»Sie ist gut, was? Sie schlägt sich ja richtig gut!«, ist sie ein paar Mal kurz davor herauszuplatzen, als die ganze Familie vor dem Fernseher versammelt ist. Aber sie weiß, dass das eine unerhörte Provokation gegenüber Erik wäre, der im Ledersessel sitzt und vor sich hin meckert, stöhnt und seufzt und entrüstet den Kopf schüttelt, jedes Mal, wenn Charlotte den Mund aufmacht.

»Himmel hilf, sie ist so dumm, dass ist ja nicht zum Anhören!«, brüllt er, als die Ministerin um eine Stellungnahme zu »einer früheren Kernfrage – der Gülleableitung in der Landwirtschaft« – gebeten wird. Ist sie immer noch der Ansicht, dass das ein Problem ist? Das ist sie. Erwähnt darüber hinaus noch Mors, ihre Insel, als Beispiel dafür, wie schief es gehen kann, wenn Schweinemäster die Möglichkeit bekommen, sich ungehindert auszubreiten.

»Die versteht ja nicht mal einen Furz von dem, worüber sie redet!«, sagt er und schlägt mit seiner großen Hand auf die Armlehne. »Scheißkuh!«

Die Jungen, die großen Kerle, die nicht ganz abstreiten können, dass es ihnen irgendwie imponiert, ihre Tante in den Fernsehnachrichten zu sehen, schielen verstohlen und unsicher scherzend zu ihrer Mutter. Die stellt ihre Kaffeetasse ab und sagt, ohne die Stimme zu heben oder in die Richtung ihres Mannes zu blicken:

»Es ist meine Schwester, von der du da sprichst.«

»Das ist wahrlich nichts, worauf man stolz sein könnte!«, gibt er hart zurück.

Mehr wird an diesem Abend nicht gesagt. Nicht einmal »Gute Nacht«, als Lisbeth sofort, nachdem sie die Tassen in die Spülmaschine geräumt hat, früh ins Bett geht.

Die Kronprinzessin

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