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Reparationen und Versorgung

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Nach den politischen Absprachen zwischen der Regierung Kohl und den Alliierten sollte das gesamte russische Militär im Kalenderjahr 1994 abgezogen sein. In jener Zeit kauften sich die ehemaligen DDR-Bürger neue Möbel, Autos, und wer konnte, reiste in die Welt. Sperrmüll, in jener Zeit erstaunlich viele Sessel und Sofas, wurden an der Straße abgestellt. Man konnte beobachten, dass viele sowjetische LKWs diese Sachen einluden, um sie mit auf den Transport in die Heimat zu nehmen. Nicht selten sah man die russischen Frauen „ihre“ Soldaten dirigieren, die Möbel möglichst behutsam auf die LKWs zu laden. So gelangte viel Mobiliar in die Wohnzimmer russischer Offiziere und Angestellter. Fast täglich fuhren Güterzüge in die ehemalige Sowjetunion.

Bedauerlicherweise war der Abzug des sowjetischen Militärs mit unschönen Begleiterscheinungen verbunden. Sie montierten alles ab, was möglich war. So wurden nicht nur sämtliche Armaturen, Türklinken, Fensterrahmen und Sanitärkeramik abgebaut, nein, es wurden sogar die Fenster inklusive Rahmen herausgerissen und mitgenommen. Die Bauten waren regelrecht entkernt.

Die DDR hatte viele Neubauten für die sowjetische Armee finanziert. Nicht selten durch den Volkseigenen Betrieb Spezialbau bezugsfertig bauen lassen. Wir waren erstaunt, welche ordentlichen und neuen Bauten immer wieder finanziert wurden. Da permanenter Wohnungsmangel herrschte und quasi die gesamte Wirtschaft eine Mangelverwaltung war, hatte sich unser Staat mit diesen Maßnahmen übernommen. Schließlich wurde die Versorgung des Militärs komplett von der Volkswirtschaft getragen. Da die DDR auch die Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg bezahlte verwundert es nicht, dass wir wirtschaftlich regelrecht daran kaputt gingen. Das gesamte Dilemma war absehbar. Schätzungsweise eine Million russischer Menschen, Soldaten, Offiziere, Generäle, deren Angehörige und sonstige Personale, waren in diesem kleinen Land stationiert. Sie alle wurden von uns versorgt, beschenkt und vor ihrer Ausreise wiederum versorgt und beschenkt. Zudem wurde der Unterhalt des gesamten militärischen Apparates der Russen komplett getragen. Dies geschah über vier Jahrzehnte.

In den vier Jahren von 1990 bis 1994 bevor das Militär abzog, waren sowjetische Autos heiß begehrt. Die Offiziere wollten unbedingt einen Lada, Wolga oder sonstige Fahrzeuge in ihre Heimat mitnehmen. Wegen der Ersatzteilfrage waren die sowjetischen Modelle der Renner. Ich wohnte längst in Potsdam und da ich damals den Lada meines Mannes fuhr, der zu diesem Zeitpunkt mit drei anderen Herren eine GmbH gegründet hatte und einen BMW fuhr, wurde ich ständig in der Stadt angesprochen, ob ich denn das Auto nicht bitte verkaufen möchte. Permanent rannte mir ein Russe hinterher und jeden Tag hatte ich mehrere Zettel an der Windschutzscheibe. Es waren die Namen und Telefonnummern der potentiellen Käufer. Eine sehr aufregende und hektische Zeit.

War ein russischer Offizier drei Jahre in der DDR stationiert und konnte seinen Aufenthalt nicht verlängern (dies wollten alle…), dann musste er mit seinem Hab und Gut wieder zurück. Die Soldaten waren gehalten, ihm meist zwei große Holzcontainer mit den gigantischen Maßen von mindestens zehn Meter Länge, acht Meter Höhe und Breite zu bauen, die dann auf einen Güterzug verladen wurden. Ein Offizier hatte immer seine Ehefrau bei sich und oftmals auch seine schulpflichtigen Kinder. Es gab russische Schulen im Militärgebiet der DDR. Unserer Besatzungsmacht durfte es an NICHTS fehlen. Insofern waren dreijährige Abordnungen immer extrem beliebt, da sich die Leute damit sanierten.

Jeder Offizier oder General hatte ein Kontingent und konnte folgende Sachen erwerben: Möbel, einen Kühlschrank, gute Teppiche und handgewebte Brücken, gutes Bleikristall, Porzellan und teure Stoffe, Samt, sonstige Textilien und weiteren Luxus. Man hatte eigens für diese Bedürfnisse Magazinkontore eingerichtet. Sie wurden unter dem Namen Spezialhandel verwaltet. Meine Mutter arbeitete in so einem Kontor, die ein sogenanntes Musterzimmer hatten. In diesen Raum, in dem alle erhältlichen Waren ausgestellt und aufwändig dekoriert waren, kamen die Leiterinnen der Magazine, die überall dort zu finden waren, wo das sowjetische Militär stationiert war. Die Leiterinnen kauften für ihr Magazin die Waren ein. Alle Sachen wurden auf die LKWs geladen und dann fuhren sie mit den Einkäufen zu ihrem Standort. Diese Kontore waren auch der deutschen Bevölkerung zugänglich. Das hatte sich im Laufe der Jahre so eingespielt. Es gab dort nicht nur Textilien, sondern auch Lebensmittel. Zum Beispiel Äpfel, Ölsardinen, Zucker und Brot, sowie Kuchen und Torten.

Und es gab russisches Konfekt.

Vor dem Packen des Containers ging der Offizier hier einkaufen. Das Magazinkontor in Forst Zinna, das fast Dreiviertel des heutigen Landes Brandenburg versorgte, bestand aus zwei riesigen Getreidesilos. Zwei sehr große Bauten ausgerüstet mit Laderampen und Lastenaufzügen. In drei Etagen sah man alle Waren bis zur Decke gestapelt. Im ersten Silo befanden sich in der unteren Etage das Teppichlager, Kühlschränke, Kühltruhen, Kristall, Töpfe und Porzellan. In der zweiten Etage gab es Damen- und Herren sowie Kinderkonfektion. Zudem Bettwäsche, Handtücher, Pelzmäntel und Unmengen an Stoffsorten. Ballen mit Stoffen, die man so wunderschön nie in einem ostdeutschen Geschäft gesehen hatte. Desweiteren noch Importwaren. Diese kamen meist aus Jugoslawien und Italien. Es waren herrliche Textilien aus echter Wolle. Viele Erzeugnisse waren zudem von Hand gearbeitet. In der dritten Etage waren Schuhe, Haushaltstechnik, Babysachen und besondere Präsente aufbewahrt. Hier gab es Meißner Porzellanvasen, Porzellanteller und ganz besonderes Böhmisches Kristall, Kristallrömer, Kristallsektschalen, Eisschalen aus Bleikristall. Hatte ein General ein Jubiläum, oder eine Beförderung stand an, dann mussten die deutschen Lageristinnen und Lagerarbeiter ein derart besonderes Präsent zeigen. Es wurde über ein bestimmtes Magazin mit auf die Warenliste gesetzt und gesondert gekennzeichnet. Im zweiten Getreidesilo waren Möbel und Lebensmittel gestapelt. Alles was man sich nur vorstellen konnte gab es in der DDR. Viele Sorten Sekt, russischer Kaviar, Weine, Biere, Wurstwaren, Süßigkeiten, wenigstens vierzig Sorten russisches Konfekt und Konserven jeglicher Art. Es gab Gurken, Paprikaschoten und anderes, woran es bei uns gewöhnlich mangelte, für die Besatzungsmacht. Alles für die russische Besatzungsmacht. So war die Woche für die Lagerarbeiter geteilt in das Einlagern der eingekauften Waren in die vorhandenen Bestände und in Verkaufstage, an denen die russischen Verkäuferinnen mit einigen Soldaten, einem großen LKW und tausenden Wünschen im Musterzimmer einkauften. Diese Waren wurden dann auf Paletten zusammengestellt und zu dem jeweiligen LKW gebracht, der mit offener Plane an der Rampe wartete. Zwanzig bis dreißig Magazine wurden an einem einzigen Tag abgefertigt. Ich habe als Schülerin in den Ferien immer eine Volltagskraft, die Urlaub hatte oder krank war, ersetzt. Zudem musste ich meine Russischkenntnisse einsetzen. Den gesamten Tag russisch reden. Es war anstrengend. Auch körperlich war diese Arbeit schwer. Jeder Lagerarbeiter packte und schleppte. Alles war schwer. Da das Kontor in der Nähe der Bahnschienen war, kamen auch oft Waren im Güterwaggon, den die Lagerarbeiter dann ebenso auspacken mussten. Möbel, Spirituosen, Kühlschränke, Bierkästen. Als Hilfsmittel standen nur wenige Hubwagen zur Verfügung. Ein Knochenjob.

Die Leute sagten oft, wenn sie nur das Geld von einem einzigen Tag hätten, das zum Beispiel die Düsenjets für Kerosin auf ihren Übungsflügen verbrauchten, dann wären sie „gemachte Leute“. Jeder von uns sah, welche Unsummen die Besatzungsmacht tagtäglich verschlang.

Uns war bekannt, dass wir die zu leistenden Reparationen zu 98 Prozent erbrachten. Mit der Übergabe von kompletten Werken oder Fabriken, die in Gänze abgebaut und in die Sowjetunion gebracht wurden, zahlten wir einen hohen Preis. Die genaueren Zahlen wurden erst nach der Wende öffentlich: 3000 Werks- bzw. Betriebseinrichtungen verließen Ostdeutschland. Somit war die Pro-Kopf-Belastung der ostdeutschen Bürger sechzig Mal höher, als die der westdeutschen Bevölkerung. Von westdeutschem Gebiet wurden über 600 Betriebe abgebaut. Der Westen wurde mit dem Marschall-Plan versorgt. Das Dilemma der Betriebe, die unser Territorium verließen war zudem, dass viele der abgebauten Maschinen und sonstigen Einrichtungen bei den Russen überhaupt nicht aufgebaut oder angeschlossen werden konnten. Es fehlten schlichtweg die Voraussetzungen dazu. So rosteten die Einrichtungen auf manchem Feld einfach vor sich hin. Es war ein Desaster.

Auf jeden Fall konnte sich ein russischer Offizier vor seiner Abreise gut mit allem versorgen, bevor es wieder zurück in die „kalte Heimat“ ging.

Als mein großer Sohn Christian zur Welt kam, besorgte mir meine Mutter einen guten Teppich aus dem Magazin. Dies ging nur unter Zuhilfenahme mehrerer Lageristinnen und der Leiterin des Magazinkontors. Es waren ja schließlich Waren für die russische Besatzungsmacht. Allerdings gab es immer Möglichkeiten, dass sich deutsche Angestellte ab und an einen guten Artikel kaufen konnten. Dieser wurde dann über ein kleines Magazin über die Warenliste verkauft. Eine nette Arbeitskollegin meiner Mutter sagte zu mir, als wir den Teppich in einen LKW packten: “Also Hannelore, dieses gute Stück muss erst eingeweiht werden“. Das passierte folgendermaßen: Sie rollte den Teppich auf den staubigen Boden des Lagers aus und lief mit ihren Straßenschuhen quer darüber. „So, nun ist er eingeweiht.“ Alle Lagerarbeiter applaudierten danach. Jetzt durfte ich den Teppich einrollen und zum LKW bringen. Es war ein schöner weinroter „Halbmond-Teppich“. Handgeknüpft aus Kaschmir.

Über die komische Verkaufskultur der sowjetischen Verkäuferinnen haben sich die deutschen Einwohner regelrecht kaputtgelacht. Sie trugen merkwürdige Häubchen, waren fast immer unfreundlich und hatten nicht selten ihre Zähne komplett mit Goldkronen versiegelt. Das sah sehr merkwürdig aus. Wir nannten sie die dicken Matroschkas. Auf der Straße trugen sie viel zu knappe Wintermäntel, wurstige Stiefel und lustige bunte, verfilzte Strickmützen. Auch schöne Ohrringe und Ketten aus dunklem Gold trugen sie. Für uns waren sie schon hunderte Meter entfernt gut erkennbar. Interessant waren zudem ihre Additionsmaschinen, der sogenannte Abakus, den sie in den Verkaufseinrichtungen nutzten. Sie bestanden aus einem Rahmen mit mehreren Zwischendrähten und verschiedenfarbigen ganzen Kugeln oder auch Halbkugeln. Diese waren schwarz und braun. Einige beige. Sie konnten jedenfalls mit diesen Gerätschaften derart geschickt umgehen, dass man sich nur wunderte. Die Rechenoperationen stimmten genau. Bewundernswert war aber auch die Geschwindigkeit mit der sie rechneten. Das war schon toll. Wenn meine Mutter mich mit einem Zettel losschickte zum Einkauf im Magazin, dann fassten die russischen Offiziersfrauen ständig meine Zöpfe an. Und da meine Haare immens dick waren, war ihre Bewunderung groß. Leider nervte dies. Ich habe die russischen Frauen freundlich und hilfsbereit erlebt., aber auch rustikal, trampelig und direkt.

Wenn ich an die russischen Frauen denke, dann fällt mir der Spruch meines Russischlehrers ein. Wenn jemand eine falsche Antwort gab dann sagte er: “Ach hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben.“ Es folgte dann Gelächter der Klassenkameraden und er freute sich diebisch.

Unangenehm war für mich immer, wenn ich im Magazin etwas einkaufen musste und Soldaten waren auch da. Sie hatten wenig Geld zur Verfügung. Mein Vater sagte einmal, sie bekommen fünfzehn MDN (Mark der deutschen Notenbank) pro Monat. Meist kauften sie sich Kekse oder irgendwelche Waffeln. Da viele von ihnen auch rauchten, echte russische Zigaretten, die zur Hälfte aus Pappe bestanden, dürfte das Geld nie ausgereicht haben. Mein Vater rauchte diese Zigaretten ebenfalls. Sie hießen Papyrus oder Belarus. Sie waren in einfachen weichen Pappschachteln mit blau-weißem Aufdruck verpackt.

In den letzten Jahren vor der Wende hatten die DDR-Bürger eine seltsame Vokabel erfunden. Diese lautete „Verrussifizierung“. Wir hatten Angst davor, noch mehr von den russischen Gewohnheiten, der Schlampigkeit und Gleichmacherei, sowie der militärischen Gewohnheiten zu übernehmen. Es war uns ein Graus.

In Jüterbog gab es aus dem Zweiten Weltkrieg einen speziellen Bahnhof mit einem sehr großen Bahnhofsgebäude (Jüterbog II) von dem aus nur russische Züge abfuhren. Hier habe ich auch einige Male Intercontinental-Raketen und BUG-Raketen auf offenen Güterwagons gesehen. Die darüber gespannten Planen waren vom Wind heruntergezogen. Die Offiziere bemühten sich, die Planen wieder neu festzuzurren. Das Bahnhofsgebäude hatte sogar einen komfortablen Lastenaufzug. Die Züge wurden teilweise dort eingesetzt und standen manchmal Tage vorher bereit. Es waren Sammelzüge, die aus mehreren Gegenden der Republik die sowjetischen Offiziere zusammenfassten. Wenn Soldaten ihre Militärzeit hinter sich hatten, wurden sie in Güterzügen befördert. Ein Personenzug kam für sie nicht in Frage.

Eine peinliche Geschichte ist mir einige Zeit nach dem Fall der Mauer passiert. Ich war nach der Währungsunion im Supermarkt Meyer einkaufen. Vor mir an der Kasse stand zu meinem großen Erstaunen ein russischer Soldat. Er trug diesen bekannten hässlichen langen Filzmantel. Für mich unverkennbar. Er war sehr dünn und machte einen richtig kranken Eindruck. Er kaufte sich eine Flasche Milch und wollte gerade bezahlen. Ich sagte der Verkäuferin, dass ich die Milch gerne mit bezahlen möchte. Kein Problem. Zu meinem großen Erstaunen entpuppte sich der „russische Soldat“ als ein Berliner Student, der mich auf der Stelle laut anschnauzte, warum ich denn seine Milch bezahlen wollte. Ich entschuldigte mich in aller Form, nannte ihm aber nicht den Grund. Ich war ja sowieso total perplex. Es war „in“ bei den Westberliner Studenten, sich Sachen und Gegenstände vom russischen Militär zu besorgen. Mäntel und Fellmützen waren ganz besonders beliebt. Wer gute Beziehungen hatte, besorgte sich sogar Waffen. Die Kalaschnikows wurden heiß gehandelt. Tatsächlich setzte das sowjetische Militär alles Erdenkliche in bare Münze um.

Russisches Konfekt

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