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Es war 1971, als ich eines Morgens auf sehr glatter und regennasser Straße mit meinem Fahrrad zur Schule fuhr. Ich war aufgeregt, da eine Mathematik-Klassenarbeit bevorstand. Ich fuhr irgendwie mit einem Trabant zusammen, rutschte über die Straßenpflasterung und zog mir eine Gehirnerschütterung zu. Ich war einige Tage im Jüterboger Krankenhaus. Einen Tag bevor ich entlassen werden sollte, herrschte Bettennot. Ich konnte also einen Tag früher nach Hause. Ich packte meine Sachen und lief mit meiner schulbuchbeladenen Tasche durch die Stadt. Der Weg war weit. Da ich tatsächlich recht schwach war, fiel mir das Laufen schwer. Ich wollte zum Bahnhof. Dieser war aber noch drei Kilometer entfernt. Die Sonne brannte. Mich überholten einige russische Frauen, die mir sofort die Tasche abnahmen, einen Lkw anhielten - per Anhalter wurde oft gefahren - und mir auf die Ladefläche halfen. In Altes Lager angekommen leisteten sie mir wiederum Hilfe. Das habe ich nie vergessen. Sie waren irgendwie sehr kompakt und griffen immer zu, um zu helfen.

In der elften Klasse hatten wir uns als Schüler der Goethe-Oberschule zu verpflichten, Blut für Vietnam zu spenden. Auch ich habe an einem Morgen nach wenigen Unterrichtsstunden gespendet und wollte mit meinem Fahrrad nach Hause. Ich lief den kleinen Berg Kapan hoch und stieg wieder auf mein Rad. Es klappte aber nicht, da ich umfiel. Ich hatte im Blutspendenbüro nichts getrunken, obwohl man mich dazu aufgefordert hatte. Da ich auf meine Linie achtete, lehnte ich das Getränk dankend ab, rannte schnell raus zu meinem Rad, damit auch niemand deswegen auf mich aufmerksam wurde. Auch in dieser Situation half mir ein Russe. Ein großer russischer Offizier, bestimmt ein Meter fünfundneunzig, kam mit dem Fahrrad gefahren, hob mich aus dem Gras auf, stellte mich neben mein Fahrrad und sagte „Dewutschka – alles in Ordnung?“. „Ja, ja“, sagte ich und bedankte mich. Ich musste dann die sieben Kilometer laufen, weil ich einfach zu schwach war.

Ebenso passierte es immer wieder, dass ich auf dem Weg von Jüterbog nach Altes Lager mit dem Rad mehreren Eltern von Mitschülern begegnete. Oft traf ich den Vater einer sympathischen Mitschülerin. Er hatte ein Beerdigungsunternehmen und überführte häufig Verstorbene nach Treuenbrietzen, Potsdam oder Berlin. Er grüßte jeweils mit einem lauten Hupkonzert. Auch meine Eltern kannten die Familie gut. Es war ja irgendwie ein drolliges Bild – der Leichenwagen hupt und macht großes Getöse….Ein anderer Mitschüler hatte einen Vater, der Taxiunternehmer war. Auch dieser Vater grüßte mich lautstark, wenn er mir auf der Landstraße begegnete.

Heute tun mir viele Russen leid. Der Don-Kosaken-Chor versucht regelmäßig in Deutschland aufzutreten, jeder Russe der einmal in der DDR war, schwärmt. Für viele war es die beste Zeit ihres Lebens. Unbeschwert mit guten finanziellen Einkünften. Heute graust es mich, wenn ich in Berlin vor dem Kaufhaus (KaDeWe) russische ältere Herrschaften sitzen sehe, die versuchen handbemalte Matroschkas zu verkaufen. Die Leute schauen weg oder handeln bei den sehr kleinen Preisen diese noch herunter. Mich beschleicht dann immer ein ungutes Gefühl. Die ehemalige Besatzungsmacht der DDR, sie ist heruntergekommen, abgestiegen. Wie mögen sich manche bloß vorkommen? Der ehemalige Kapitalismus, den ihnen ihr Lenin all die Jahrzehnte vor Augen geführt hatte – als menschenverachtend und schlimm. In diesem Kapitalismus, in dieser von ihnen verhassten Gesellschaftsordnung versuchen nun manche Fuß zu fassen, etwas zu verkaufen. Russen sind sehr stolze Menschen. Mit dem Verkauf ihrer Sachen verkaufen sie auch ein Stückchen ihrer russischen Seele.

Bedauerlicherweise jedoch geht selbst die russische Gesellschaft mit ihren Menschen nicht gut um. Ich hatte schon als Schülerin den Eindruck, dass ein Menschenleben ihnen nicht viel bedeutet. Insbesondere wenn Soldaten zu Tode kamen oder wegen irgendwelcher Verbrechen zum Teil jahrzehntelang in Straflagern landeten. In Arbeitslagern die einfach menschenunwürdig waren. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Der Film "Doktor Schiwago“ zeigt, wie die Leute in Gulags verschwanden und dort schufteten. Sie starben unbemerkt und hatten sich oftmals zu Tode gerackert. Von dieser Zeit ist noch viel übrig geblieben. Als Putin im Kalenderjahr 2000 sehr spät seinen Urlaub unterbrach und im Freizeitlook ein paar Worte zum verunglückten U-Boot Kursk sagte, bedeutete ihm die Geheimhaltung der Waffensysteme dieses U-Bootes wesentlich mehr als die kostbaren Menschenleben seiner Matrosen und Offiziere. Ich fand es horrormäßig. Vor der gesamten Weltöffentlichkeit wurde es publik.

An Feiertagen und wenn wir als deutsche Schüler bei den russischen Schülern mit Kulturprogrammen auftraten, trugen die älteren Offiziere sämtliche Orden, Abzeichen und Ordensbänder am gesamten Jackett. Ein bizarrer Anblick. Kamen sie direkt aus der Sowjetunion, haben wir sie sofort erkannt. Die „frisch Importierten“ trugen braune Schnürschuhe. Auch die Ehefrauen trugen sehr altmodische Kleidung. Später trugen die Frauen moderne Sachen und die Offiziere ganz andere braune Schuhe oder Stiefel. Oft hatte man den Eindruck, dass sie aus dem tiefsten Sibirien kamen. Dort, wo die Zeit irgendwie stehen geblieben war.

Da die russischen Frauen gern während ihres Aufenthaltes in der DDR arbeiteten, versuchten sie ihre Kleinkinder während der Tageszeit betreuen zu lassen. Es gab ein paar wenige deutsche Frauen, die sich damit ihr Geld verdienten. Sie betreuten mehrere russische Kleinkinder in ihrer privaten Wohnung, gingen mit ihnen spazieren und spielten mit ihnen in ihrem Garten in einem großen Sandkasten. Auch in unserer Nachbarschaft gab es eine Frau, die über viele Jahre Kleinkinder betreute. Sie hatte einen guten Kontakt zu den russischen Müttern. Sehr selten kamen die Offiziere, die Väter, ihre Kinder abzuholen. Diese Kinder wuchsen in den deutschen Haushalten mehrsprachig auf. Unsere Nachbarin konnte zum Beispiel kaum russisch sprechen. Sie verständigte sich mit Händen und Füßen. Die russischen Frauen waren da schon besser, sie sprachen oftmals sehr gut deutsch. Sie kamen gern in die deutschen Haushalte und waren den deutschen Frauen dankbar. Sie lobten die gute Betreuung und waren stolz über den Kontakt zu einer deutschen Familie. Offiziell wurde darüber kaum gesprochen.

Ich hatte einige Zeit nach der Wende ein großes Paket in die Sowjetunion geschickt. Und zwar aus folgendem Grund: Meine Eltern hatten einen Garten. Hier bauten sie Blumen und Gemüse an. Durch den ständigen Kontakt meines Vaters zu den sowjetischen Militärs gab es freundschaftliche Kontakte. Ein russischer Offizier half mit seiner Frau regelmäßig in unserem Garten.

Meine Eltern waren dankbar, aßen und feierten mit den beiden. Fast immer brachte das Ehepaar russisches Konfekt aus dem Magazin mit, die ‚Mischkas‘. Als der Offizier erfuhr, dass er bald die DDR verlassen muss, war er schockiert. Er sollte in Afghanistan stationiert werden. Er bat um seinen Austritt aus der Armee. In solchen Fällen wurden die Leute in Unehren entlassen und mussten auf ihre Annehmlichkeiten verzichten. Meine Eltern hatten die Heimatadresse. Also schickte ich ein dickes Paket. Ich kaufte Zucker und Kaffee, Süßigkeiten, Spielzeug, gute Schokolade, Strumpfhosen und Stifte, sowie Post it –Zettel. Das machte mir einen riesigen Spaß. Als nach vielen Wochen immer noch kein Paket angelangt war, dachten auch meine Eltern, es wird wohl gestohlen worden sein. Ich hatte allein für das Porto mehr als sechzig DM bezahlt. Nach über einen halben Jahr schrieben jedoch die Leute meinen Eltern, dass dieses Paket längst angekommen sei. War der schäbige große Karton ausschlaggebend, dass diese Sendung so wenig wertgeschätzt wurde? Oder ging es ihnen gar nicht so schlecht?

Russisches Konfekt

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