Читать книгу Rüpel und Rebell - Hannelore Schlaffer - Страница 5

Einleitung

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DIESES Buch handelt weder von Rüpeln noch von Rebellen. Es handelt von Rüpeln, die rebellisch denken, und von Rebellen, die sich rüpelhaft benehmen – kurz: Es handelt von Figuren, die mit ihrem Denken angriffslustig und mit ihrem Benehmen anstößig sein wollen.

Diese Querulanten haben keine Kanzel, kein Katheder, keine Theater; sie treiben sich in den Salons reicher Damen herum, mischen sich auf der Straße unter die Lebemänner und in den Cafés unter Künstler, Dirnen, Dichterinnen und Philister. Auf der Bühne würden sie komisch wirken, da sie aber in der bürgerlichen Öffentlichkeit ihren Übermut zeigen, glaubt jeder, dass sie es ernst meinen. Obgleich rebellisch, gehören sie keiner Partei an, obgleich geistreich, sind sie keine Philosophen, obgleich rastlos, haben sie keinen Beruf. Geistig, sozial, politisch ortlos, mag man in diesen arroganten Einzelgängern und angriffslustigen Außenseitern jene Subjekte erkennen, die Karl Mannheim die »freischwebende Intelligenz« genannt hat.

Diese wortgewandten Rhetoriker tauchen auf und gehen unter, je nachdem, ob ihnen eine gesellschaftliche Situation, ein politisches Ereignis der Rede wert zu sein scheint oder nicht. Ihren großen Auf tritt hatten sie in der Dreyfus-Affäre. Damals agierten sie fast so geschlossen wie eine Partei, weshalb man seither diese Einzelgänger doch unter einem Sammelbegriff zu fassen sucht: Man nennt sie die »Intellektuellen«. »Le Manifeste des intellectuels«, das für die Befreiung des jüdischen Hauptmanns Dreyfus eintrat, unterzeichneten Künstler, Dichter, Professoren, aber auch Offiziere, Drucker, Köche und Facharbeiter. Nicht Bildung, nicht Ausbildung, sondern das Ermessen macht den Intellektuellen. Er entwirft sich selbst und zeigt dies in Wort und Haltung. Dies okkasionelle Verhalten macht es nicht nur anderen, sondern dem Intellektuellen selbst schwer, sich zu definieren. Immer aufs neue muss er sich als Intellektueller zu erkennen geben, und das kann nur gelingen durch Gesten, die grell, provokativ, auf fallend sind und deshalb als schlechtes Benehmen eingeschätzt werden.

Nicht nur die spektakulären politischen Ereignisse sind es, die ihn zur Kritik reizen; er ist aufmerksam immer und überall, er beobachtet alles und tut es voller Misstrauen: den Alltag, die Glaubenssätze, Sitten und Tabus. Er versteht sich als Wahrheitssucher und steigert diese Aufgabe bis zum Fanatismus. Er postiert sich am Rande der Gesellschaft, und diese, sei sie nun aristokratisch oder bürgerlich, schätzt ihn als einen, der zu denken wagt, was ihr Praxis und Sitte zu tun nicht erlauben. Da er prüft, was möglich wäre, erweitert er ihr Bewusstsein. Als Kritiker ärgert er, als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten wird er geschätzt. Der Intellektuelle spricht aus dem Aparte und ermöglicht ein apartes Denken. Er ist Hofnarr und Missionar der Gesellschaft, die ihn aufnimmt, und ein notwendiges Ferment ihrer Aufklärung.

Der Denker und Redner aus dem Abseits richtet seine Kritik immer gegen das andere und die anderen, sich selbst setzt er absolut. Daher kann sein Auf tritt nicht anders denn als Provokation empfunden werden. Um die Nicht-Normalität seiner Perspektive deutlich zu machen, übertreibt der Intellektuelle: Er ist Besserwisser, Spötter, Verächter, Schwadroneur, Stadtstreicher, Schlamper – arrogant inszeniert er so die Satire des höfischen oder bürgerlichen Lebens.

Der Intellektuelle lässt sich besser fassen in seinem Lebensstil als durch sein Programm, denn er hat keines. Seine Absicht ist es zu prüfen, nicht zu handeln, das höchste Ziel dieses Misanthropen ist Menschenkenntnis. Und wie der Mensch sich historisch ändert, so ändern sich auch Kritik und Vorschläge des Intellektuellen. Alle Abhandlungen über den Intellektuellen leiden darunter, dass sie ihn aufs Wort festlegen und den Stil, das eigentliche Kampfmittel dessen, der sich eine andere Art von Mensch ausdenkt, übersehen.

Seine Meinungen also wandeln sich, konstant bleiben Charakter und Benehmen. Diese hatten denn auch im Laufe der Geschichte des Intellektuellen, die hier verfolgt wird – von der Französischen Revolution an bis heute –, eine nachhaltigere Wirkung als die gelegentlichen Verkündigungen, die er von sich gab.

Die »Erfolgsgeschichte des Intellektuellen« ist eine des schlechten Benehmens und hat nur dem Anschein nach Züge einer historischen Abhandlung. Eigentlich ist sie eine Grabrede. Als solche sammelt sie Episoden aus dem Leben des Dahingegangenen, ihn zu rühmen und die Hinterbliebenen zu rühren. Im Falle des intellektuellen Rüpels entsteht das Bild eines Melancholikers, der es sich wohl sein ließ, indem er alle verspottete und allen gefiel.

Inzwischen scheint es ein müßiges Unterfangen zu sein, diesen Charakter zu beschreiben, denn wo überhaupt gäbe es ihn noch? Wo auf der Straße der Mann mit der Zeitung unterm Arm fehlt, gibt es keinen Intellektuellen mehr; und wo im Theater fast jeder in Jeans erscheint, hat der Kritiker des bürgerlichen Dünkels seine Pflicht getan und kann gehen. Heute spielt jeder den Rüpel und Rebellen – es gibt ihrer zu viele und nur in diesem Sinne keinen Intellektuellen mehr, der sich als Einzelgänger verstand: Schlampig zum Beispiel heißt jetzt pflegeleicht, Unkeuschheit sexuelle Befreiung, Widerspruch gilt als Bürgerbeteiligung, Ungehorsam als Emanzipation, Wankelmut heißt Sich-neu-Erfinden.

Die Geschichte des schlechten Benehmens, wie es der Intellektuelle einführt, ist die Vorgeschichte des Privatmannes von heute in der Öffentlichkeit, sie ist eine Beschreibung der Tradition, aus der er die Regeln seines Auftritts bezieht. Rüpel und Rebell, die Ausgeburten der Französischen Revolution, blühen jetzt erst so richtig auf. Als Randfigur fühlt sich heute jeder, jeder kann und darf Apartes denken.

Die Orte der Kritik haben sich geändert. Sie findet nicht mehr im Salon statt, wo sie begann, nicht mehr in der Zeitung, wo sie sich fortsetzte, indem dort die Intellektuellen den Bourgeois und sich selbst untereinander beschimpften. Wo gäbe es noch Leute, die sich über Zeitungsartikel, über Redakteure und ihre Meinungen in die Haare bekämen? Wo wäre die Straße, auf der der Flaneur mit »seinem Blatt« unterm Arm großtut? Sie starben gemeinsam: die urbane Stadt, der Flaneur und der Intellektuelle – dieser allerdings erlebt heute seine Auferstehung als Eventist des Denkens und Genießens. Wie sieht er aus, welche Funktion hat er in der Gesellschaft heute?

Rüpel und Rebell

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