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Zeitgenossen

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Diderots Biographen glauben, dass Diderot in »Rameaus Neffe« ein Selbstporträt versteckt habe. Dabei nehmen sie an, dass nicht der Neffe, sondern sein Kontrahent, der das Gespräch referiert, der »Philosoph«, die Meinungen Diderots vertrete. Diderots äußere Erscheinung jedoch würde ganz der des Neffen ähneln. Verwandte Züge hat Diderot auch in einem Bericht von Madame Vandeul, seiner Tochter, der er aus der frühen Jugend erzählte, in der er sich zum Bürgerschreck und Frauenliebling stilisiert:

»Und so gefiel ich auch, sogar den Frauen und Mädchen in meiner Provinz. Sie mochten lieber mich, schlampig, ohne Hut, manchmal ohne Schuhe, nur mit einer Jacke und barfuß, mich, den Sohn eines Schmieds, als diesen kleinen, gutgekleideten, immer schön gepuderten, frisierten und wie aus dem Ei gepellten Monsieur, den Sohn der Frau Amtmännin. (…) An meinen Knopf löchern sahen sie, wie weit ich mit meinen Studien gediehen war, und ein Junge, der sein Gemüt in einem offenen, geradlinigen Wort offenbarte und besser einen Faustschlag versetzen als eine Reverenz machen konnte, gefiel ihnen besser als ein dummer, feiger, falscher und verweichlichter kleiner Kriecher.«

Nachlässiges Äußeres, herausforderndes Benehmen, Studium des Menschen und Wahrheitsliebe machen den Stolz auch des nun gereiften Verfassers von »Rameaus Neffe« aus. Bei Urteilen über Porträts, die von ihm gemalt wurden, nimmt Diderot stets den Neffen zum Maßstab für das charakterliche Profil, das er abgeben möchte. Im »Salon 1767« empört er sich über Michel van Loos Porträt, weil der dargestellte »Luxus der Kleidung … den armen Literaten ruinieren wird.« Er nehme auf dem Gemälde »die Haltung eines Staatssekretärs, nicht aber eines Philosophen« ein. Diderot zählt sich also zeitlebens selbst zu den ungezogenen Denkern, und gerade deshalb muss er diese im Neffen verhöhnen – und sich selbst mit ihnen. Hohn und Spott, die ihn wie jenen auszeichnen, sind die Kardinaltugenden des kritischen Denkers.

Erscheinung und Auftritt des Neffen waren aber ohnehin an vielen philosophes, die in Paris ihr Glück versuchten, zu beobachten. Nur durch eine hervorragende Figur aber blieb die Erscheinung im Gedächtnis: durch Rousseau. Diderot hat sich mit zunehmendem Alter konventioneller benommen, vorsichtiger, besonnener. Rousseau blieb, wo immer er erschien, ein optisches Ärgernis, in Genf, Paris, London, Neuchâtel. Er provozierte Freunde, Gönner, Retter und floh von einem zum andern. Voltaire nannte ihn den am schlechtesten erzogenen Menschen, den er kenne. 1768 nahm er sich das Ärgernis Rousseau im »Lettre à Docteur Jean-Jacques Pansophe« vor. Seit er davon erfahren hatte, dass Rousseau seine Kinder ins Waisenhaus brachte, galt er, der die Liebe ohne Folgen genießen wollte, Voltaire nur noch als »le chien de Diogène«.

Robert Spaemann nennt in seinem Buch über Rousseau den Philosophen eine »exemplarische Existenz«, das »Schöpferischwerden des Ressentiments«. Rousseau ist die ins Leben getretene Negation des Bestehenden, die Infragestellung aller Normen. Die »Bekenntnisse« und der Dialog »Rousseau richtet über Jean-Jacques« sind Verteidigungsschriften, die die Lebensform des Außenseiters aus einer höheren Notwendigkeit heraus rechtfertigen. Die Nähe dieser Schriften zu den Reden des Neffen ist unübersehbar.

Jean-Jacques ist eine ebenso zwiespältige Figur wie Rameaus Neffe, faszinierend und abstoßend, brüskierend und Mitleid heischend. Von der visuellen Erscheinung des wirklichen Rousseau, der die Garderobe stets wechselte, berichtet Melchior Grimm mehrfach in den »Correspondances littéraires«, so etwa 1770, als Rousseau nach Paris zurückkehrte: »mit dem armenischen Gewand hat er seine Bärbeißigkeit abgelegt und ist wieder höflich und überfreundlich geworden.« Aus Furcht, ein anderer könne sein Bild verzeichnen, unternahm es Rousseau, in den »Confessions« ein authentisches Selbstbildnis herzustellen. Darin datiert er die Wende seines Schicksals auf eine Inspiration, die ihm seine Auserwähltheit zeigte: Bei seiner Wanderung von Paris nach Vincennes, wo er den inhaftierten Diderot besuchen wollte, sei ihm die Idee zum »Discours sur les sciences et les arts« gekommen, der seine Lauf bahn als Schriftsteller begründete. Eine Verwandlung geht mit ihm vor sich, und diese beginnt mit einem Kleidertausch: Das bürgerliche Gewand wird durch das des Kynikers ersetzt: »Ich begann die Umwandlung meiner Lebensweise an meiner Tracht, ich tat alles Gold und meine weißen Strümpfe und meinen Degen von mir, trug fortan eine runde Perücke und verkaufte meine Uhr, indem ich mir mit unglaublichem Jubel sagte: dem Himmel sei Dank, fortan brauche ich nicht mehr zu wissen, welche Stunde es ist.«

Diderot und Rousseau, viele Jahre eng befreundet und noch mehr Jahre tief verfeindet, haben also gemeinsam an der Formung des Lebens- und Anschauungsmodells »Intellektueller« gearbeitet. Beide schufen ähnliche Figuren, Diderot durch den Text über einen Dritten, Rousseau durch Texte, die er durch eigene Auftritte bewahrheitete. Rousseau könnte es denn auch gewesen sein, der Diderot Modell stand, als er die auf fällige Figur des Neffen entwarf, vielleicht sogar, um Rousseau einen Spiegel vorzuhalten. Diderot begann mit der Niederschrift 1762, fünf Jahre nach dem endgültigen Bruch mit Rousseau im Jahr 1757. Seine Bemühungen, sich die Freundschaft des Egomanen zu erhalten, sind wohlbekannt, sein Ärger über dessen Taubheit ebenfalls.

Zahlreich sind die Anspielungen auf Rousseau. Diderot führt den Neffen als passionierten Schachspieler ein, eine Leidenschaft, von der auch der Verfasser der »Discours« besessen war. Jean-François beeindruckt durch eine laute Stimme wie Jean-Jacques; die Taktik, sein Selbstporträt durch Neid, Eifersucht, Verfolgungswahn selbst zu schwärzen, um es dann wieder aufzuhellen durch Selbstmitleid – dies Stilmittel verwendet Rousseau, ähnlich wie der Neffe, im Gespräch so gut wie in den »Bekenntnissen«. Vor allem aber gehören sämtliche Themen, in denen sich Rameaus Neffe ergeht, ins Repertoire Rousseaus: die Musik, das Verhältnis von Genie und Moral, von Tugend und Laster, Kultur und Natur. Und nicht zuletzt: Der übelredende Neffe lässt sich über die gesamte intellektuelle Elite Frankreichs aus, angefangen bei seinem Onkel Jean-Philippe Rameau bis zu Voltaire, Buffon, Montesquieu, d’Alembert; nur eine Figur des geistigen Lebens bleibt ungenannt: Rousseau, die Figur, die zur Zeit der Entstehung des Textes die berühmteste war.

Ein Indiz dafür, dass Diderot ein literarisches Porträt seines Freundes gab, vermag ein kurzer Blick auf die sehr ausführlich referierte Musiktheorie zu geben, die in »Rameaus Neffe« entwickelt wird und die vollständig jener von Rousseau entspricht. Erste Erfolge erhoffte sich Rousseau nicht als Schriftsteller, sondern als Komponist: Er setzte sich daher mit Jean-Philippe Rameau, dem führenden Komponisten Frankreichs, in Verbindung, und seine Werbung um den berühmten Musiker war intensiv. Noch bevor er mit den »Discours« Aufsehen erregte, versuchte er zum Beispiel, die Notenschrift zu revolutionieren, indem er sie durch ein Zahlensystem ersetzte. Diese Vorschläge sandte er dem ihm wenig geneigten Rameau.

In den »Bekenntnissen« charakterisiert sich Rousseau in der Rolle des verkommenen Genies. Hohe Herrn, etwa den Marschall des Königs, empfängt er in seinem armseligen Haus in Mont-Louis immerhin mit einiger Beklommenheit: »und zwar nicht, weil ich gezwungen war, ihn zwischen meine schmutzigen Schüsseln und zerbrochenen Töpfe zum Sitzen einzuladen, sondern weil mein verfaulter Fußboden in Stücke zerfiel und ich befürchtete, die Last seines Gefolges möchte ihn vollends zum Einsturz bringen.« Rousseaus Selbstporträt geht noch über Diderots Modell von Rameaus Neffen hinaus. Der bekennende Rousseau genießt alle Varianten von Hochmut und Empfindlichkeit, die ihn, wie jenen Jean-François Rameau, zum Ungeheuer, Elenden, Bösewicht, Spitzbuben, Schurken und verdorbenen Menschen machten. Die mit »meinen neuen Grundsätzen völlig übereinstimmende Rauheit«, so rechtfertigt er selbst seinen provokanten Auftritt in schäbigen Kleidern, »veredelte sich jedoch in meiner Seele und nahm in ihr die Unerschrockenheit der Tugend an.«

Anders allerdings als der Neffe betrachtet Rousseau sein Auftreten als Mission; er bereitete damit noch entschiedener das Selbstbewusstsein vor, das den Intellektuellen auszeichnet. Seine Abneigung gegen den menschlichen Umgang legt er als Berufung aus: »Mein Teil war es, den Menschen mit leidlichem Nachdruck und leidlichem Mut zwar harte, aber nützliche Wahrheiten zu sagen.« Das missionarische Verantwortungsbewusstsein drängt zur Weltverbesserung, denn »die in der Welt in diesen Dingen anerkannten Anstandsregeln scheinen vom Geist der Lüge und des Verrats eingegeben zu sein.« Der gedankenlosen Mitwelt musste als Misanthropie erscheinen, was Rousseau selbst für göttliche Eingebung hielt und als menschheitsgeschichtlichen Auftrag entgegengenommen hatte.

Rüpel und Rebell

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