Читать книгу Alle meine Kleider - Hannelore Schlaffer - Страница 6
Der Spiegel
ОглавлениеIM Foyer des Hotels »Forum« in Rom dienen antike Säulen als Träger für die Decken, auch einige Fundstücke aus den nahe gelegenen Ausgrabungsstätten liegen in Vitrinen. Die Frauen, die, aus der Hitze hereinkommend, die kühle Halle betreten, haben kein Auge für diese Antiken, derentwegen sie doch angereist sind. Alle, ob schön oder unschön, ob jung oder alt, erweisen einem Spiegel ihre Reverenz, einem bräunlich nachgedunkelten Glas, das nahe dem Eingang der Halle angebracht ist und bis zum Boden reicht. Die jungen Frauen, die viel Mühe an ihren Auftritt gewandt haben, bleiben gar stehen, zupfen an einem Schal, den sie um die Schulter geschlungen haben, richten, obgleich sie doch hereingekommen waren, um sich auszuruhen, kurz vor der Siesta noch ihr Haar, wenden den Kopf, um sich von hinten zu sehen, straffen Rücken und Brust. Keine kommt unbeobachtet durch sich selbst an diesem Spiegel vorbei – keine! Ein Unglück: denn müssten diese Frauen zupfen und sich strecken, wenn sie mit sich zufrieden wären? Warum der besorgte Blick in den Spiegel? Keine bleibt freudig überrascht stehen, keine blickt sich selig lächelnd ins eigene Angesicht, keine lässt den Blick bewundernd auf sich ruhen – keine!
Der Spiegel ist Hoffnung und Enttäuschung allen weiblichen Aufwands für die Erscheinung. Auf jeden Spiegel schreiten die Frauen hoffnungsvoll zu, von jedem wenden sie sich enttäuscht ab. Die Prüfung kann, leider, gar nicht anders ausgehen als so. Im Spiegel ist das beseelte Wesen, das ihm entgegenschwebt, nichts weiter als eine von bleicher, kalt glänzender Leere umrahmte Kontur; hart und exakt setzt sich diese von der mit Silber hinterlegten Glasscheibe ab. Außerdem erstarrt, wer gerade noch in Bewegung war, sobald er vor dem eigenen Bildnis steht – ein Schattenriss mit steifen Bewegungen glotzt ihm entgegen. Zwar kann man sich im Spiegel sehen, von oben bis unten, nur eines bedenkt man nie, das eigene Auge: Was man, und schaute man noch so oft in den Spiegel, am wenigsten kennt, sind die eigenen Augen. Selbst wenn man sich einmal bewusst auf sie konzentrierte, man sähe sie nie in Bewegung, nie voll Ausdruck, nie voll Empfindung. Den zugewandten Blick, den man mit anderen tauscht, den verständigen mit Bekannten, den freundlichen mit Freunden, den innigen mit Vertrauten – nie tauscht man ihn mit sich selbst. Immer bleiben die Augen, die aus dem Spiegel heraussehen, starr auf den Menschen gerichtet, der vor ihm steht, den Auftritt prüfend, fragend höchstens und flehentlich hoffend auf ein gutes Urteil.
Im Spiegel tritt man sich als Kritiker gegenüber, immer, nie als Freund, und wie jeder Kritiker zerlegt man sich in Details, spioniert das Gesicht aus, prüft den Teint, die Frisur, das Kleid und die Figur, die man aus alledem hergestellt hat – denn: hat man überhaupt eine Figur ohne Kleid? Jede Falte, jede Farbe verändert die Gestalt. Die Maler wissen es, wie leicht durch einen einzigen Strich ein Charakter, die Fotografen, wie einfach durch eine Geste, eine Drehung aus dem Komiker ein Melancholiker, aus der Dame eine Marketenderin zu machen ist. Auch Kinder lernen dies an Klapp- und Kippfiguren, wie allein durch das Umblättern und mit einem einzigen Handgriff eine optische Inversion der Figur zu bewirken und aus der alten eine neue zu zaubern ist. Als Kippfigur erlebt sich jede Frau, die in den Spiegel schaut: Einmal ist sie die, einmal jene. Ein Chamäleon ist es, was ihr aus dem Spiegel entgegenblickt, und dieses hat kein endgültiges Aussehen. Nichts von alledem ist so, wie erwartet, nicht so, wie es gedacht war, und selbst, wenn es so wäre, hätte die Frau nichts davon, denn sie selbst sieht die Komposition als Ganzes im Spiegel nie. Der Körper ist eine Summe aus Raum, Zeit, Volumen und Bewegung. Die Zeitlichkeit zumindest der Erscheinung kann der Spiegel nicht fassen. Das Ich in der Zeit, das sich im Auge des Mitmenschen beweglich entfaltet, steht im Spiegel still. Das Spiegel-Ich ist ein scheintotes Ich.
Welch ein Unglück also für Frauen, dass sie dem Ich, das auf der Spiegelfläche keinen Boden unter sich hat, so oft als ihr Ebenbild gegenübertreten, das ihr Ebenbild gar nicht ist! Sie, die Kritikerinnen, stehen auf dem festen Boden der Kennerschaft und verfügen, was die Ästhetik des weiblichen Auftritts betrifft, über Grundsätze. Sie akzeptieren dies Spiegelbild, das Nicht-Ich, als ihr Ich und stellen sich diesem als die Andere gegenüber. Den Verdacht, das Spiegelbild könne nicht die volle Wahrheit sagen, weisen sie zurück, denn nun ist Erscheinung, was für das innere Auge nie da war – und das Sichtbare überzeugt stets mehr als Entwurf und Gedanke. So bleibt der stillgestellte Spiegelkörper die einzig mögliche Wahrnehmung vom Ich und seinem Auftritt – und so muss das Spiegelbild recht bekommen.
Nur eine einzige Frau habe ich kennengelernt, die ihr Bild und sich selbst im Spiegel genoss: Nana. Diese Szene in Zolas Roman, nackt vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers, ist die aus allen Werken Zolas am häufigsten zitierte Stelle, denn eine pikantere lässt sich kaum denken. Was aber Männer als Frivolität erleben oder, um es von sich abzurücken, als Kitsch verurteilen, beschreibt die Utopie des weiblichen Daseins: die glückliche Begegnung mit dem eigenen Körper. Das Einverständnis mit dem erscheinenden Selbst, das, wie bei Nana, zur Gesprächspartnerin wird, jede Geste wiederholt und einverständig beantwortet – das Ich als Freundin! Mit ihr führt Nana ein Gespräch, in dem die Sinnlichkeit Thema ist, die Geschlechtlichkeit aber ganz vergessen. Nana stammt nicht aus der Rippe des Adam, sie ist auch nicht dem Haupt des Zeus entsprungen, sondern dem eines Psychologen, dessen Scharfsicht ihn zum Romancier bestimmte. Die weibliche Sensibilität, die sich ihrer selbst im 19. Jahrhundert bewusst wurde, die Erkenntnis, dass der Charakter der Frau aus mehr besteht als aus Keuschheit oder Unkeuschheit, ist die Voraussetzung dafür, dass Zolas Figur denkbar wurde: die Frau, die ihre Geschlechtlichkeit vermietet und ihre Sinnlichkeit für sich behält. Nana, die ihren Körper opfert, ist wie ein Antiquar oder Kunsthändler, der seine über alles geliebten Bücher, Bilder, Möbel an zahlungskräftige Snobs verkauft.
Übrigens haben auch Spiegel ihre Launen. Nicht jeder wirft von einer und derselben Figur immer ein und dasselbe Bild zurück: Je nach Schliff und Hintergrundbeschichtung des Glases schneidet der eine Spiegel tausend Furchen ins Gesicht, der andere glättet es, der eine längt die Figur, ein anderer zieht sie in die Breite. Modegeschäfte, die wissen, dass glückliche Kundinnen leichter kaufen, achten darauf, dass ihre Spiegel sie schlanker aussehen lassen, als sie es wirklich sind. In der Anprobekabine entsteht, umstellt von mehreren, auf die Längung des Körpers geschliffenen Spiegeln, ein halbwegs gnädiger Eindruck von der eigenen Figur. (Vor allem erhascht die Käuferin, die noch zögert, in diesem Spiegelkabinett einen überraschenden Blick auf ihre Rückseite, die für die heutige Hosenträgerin eigentlich wichtiger ist als das Gesicht. Für Momente richtet sie ein männliches Auge auf sich, sie sieht, was an ihr das Verführerischste ist, und die Plötzlichkeit dieser Erscheinung kann für Augenblicke die Selbstkritik vergessen machen.)
Der Spiegel im römischen Hotel, betrachtet von meinem Sessel im Foyer aus, hatte die bräunliche Färbung des hohen Alters, und so mag er im mediterranen Dämmer des Innenraums ein gar nicht so schlechtes Abbild, ein romantisch verdunkeltes, zurückgeworfen haben. Ich selbst blickte in diesen Spiegel nie, wie ich nach Möglichkeit in gar keinen Spiegel blicke. Spiegel suche ich stets zu meiden. In der Stadt, in der ich wohne, kenne ich jeden Ort, wo einer lauert, und wenn ich mich ihm nähere, strafe ich den Missgünstigen mit Verachtung: Ich lasse mir doch nicht schon wieder, sage ich zu ihm, die Stimmung verderben. Es gab eine emanzipierte und gescheite Frau in meiner Umgebung, die ihr gesamtes Haus, jede Ecke, wo es nur eben ging, das Treppenhaus, die Gänge, die Zimmer mit Spiegeln tapezierte. Sie war einer der unglücklichsten Menschen, die ich kannte. Wenn ich mit ihr in einem Restaurant beim Abendessen saß, lief sie jede Stunde zur Toilette, um in den Spiegel zu sehen und festzustellen, dass so vieles in ihrem redseligen Gesicht nicht mehr stimmte, sie sich also aufs neue zu schminken habe – eine Frau, die ihrem Spiegelbild mit Mühe nur und nicht allzu lange entkommt, ist das tragische Gegenbild der Nana.
Die Kosmetik, die dieser Freundin zu Recht eine unzuverlässige Helferin und in ihrer Wirkung sehr vergänglich zu sein schien, ist allerdings der wahre Unglücksträger der weiblichen Aufmachung, da sie die Frau unweigerlich an den Spiegel verweist. Wer sich nicht zu seinem Naturgesicht bekennt, ist täglich auf ihn angewiesen. Auf jeden Fall schaut man nur in ihn hinein, um Fehler zu entdecken und zu korrigieren – warum sonst bräuchte es Kamm, Creme, Pinsel, Make-up! Also kann der Blick in den Spiegel nichts als Unzufriedenheit auslösen. Mit dieser Korrektur der Schöpfung, die man sich allmorgendlich, allabendlich und vor jedem Ausgang anmaßt, konzentriert man sich auf den lebendigsten Teil des Menschen, auf jenen, der in jeder Minute, in jeder mimischen Nuance über alles, was Mode ist, hinausreicht. Dieser Lebendigkeit begegnet der Spiegel mit einer Grimasse. Um allerlei Farbe auf die kleine Fläche des Gesichts aufzutragen, muss man Gesichter schneiden, Augen aufreißen oder zwinkern, den Mund verzerren und sich an der Nase herumführen wie ein Narr. Aus diesem Ritual soll eine Göttin entstehen?
Seltsamerweise hat der Spiegel zu Hause, vor dem ich mich schminke, dann doch einen Freundschaftspakt mit mir geschlossen. Bin ich fertig mit der Maquillage und nehme ein wenig Abstand von ihm, so sagt er doch tatsächlich, wenngleich zögernd: »Na ja, es geht!« Habe ich den Freundlichen, Gnädigen verlassen und schlendere unvorsichtigerweise vor einem fremden Spiegel mitten in mein Abbild hinein, so springt mir doch schon wieder dies Medusenhaupt entgegen. Wieder laufe ich herum mit dem Gefühl der bösen Schwiegermutter unter lauter Schneewittchen.
»Wer ist die Schönste im ganzen Land?« – diese Frage ist das Motto eines jeden Spiegels. Wenn ich ein Kleid erwerbe, ist es noch immer die Kreation eines Modedesigners, zu dessen Einfall und Kunst ich ja oder nein sagen darf, die Schöpfung eines anderen, deren Erwerb freudige Hoffnungen weckt; es ist etwas anderes als ich und die Haut, die es umhüllen soll. Es hat einen Stoff, der mir gefällt, Farbe, Machart – aber alles dies ist nicht von mir erdacht, ich habe keine Verantwortung dafür, es ist ein Geschenk für mich. Dies gottgegebene Antlitz aber kann nicht verkleidet, nicht interpretiert werden wie die Figur, zu der das Kostüm einen Charakter hinzufügt, es soll vielmehr neu erschaffen werden – und welcher Gott würde eine solche Anmaßung nicht bestrafen!
Spiegel sind Werkzeuge. Das vom metallischen Glanz umrahmte Abbild, das darin erscheint, will bearbeitet sein, um endlich so zu erscheinen, wie man im Auge der anderen zu erscheinen hofft. Der Spiegel ist eingesetzt als Stellvertreter des fremden Auges und akzeptiert als Autorität. Das Auge aber, dem man auf der Straße begegnet, hat andere Formen der Reflexion als der Spiegel an der Wand. Die Widerspiegelungen aus diesem fremden Auge setzen sich zudem in die Reaktionen des Gegen über um, die mimischer, tänzerischer, musikalischer Art sind; sie müssen erahnt oder interpretiert werden. Man erkennt sich im Schauspiel der anderen, in ihren Mienen, Worten, im Ton ihrer Stimme. Dies lenkt, anders als beim quecksilbrigen Spiegel, die Beobachtung zunächst einmal ab vom eigenen Ich. Nun wird die Lust, sich zu kleiden, an der Reaktion des andern überprüft und, wie bei jeder Inszenierung, fürchtet sich der Regisseur vor der Kritik. Schaut der andere etwa gar nicht her? Oder reißt es ihn herum? Parkt er gar sein Auto an der Ecke und läuft der modischen Schöpfung nach, oder kümmert sich niemand um das, woran mir so viel liegt? Sagt der andere ein Wort wie jener Geschäftsmann in Frankfurt, der die Frau im Minirock auf Plateausohlen – höher, kürzer, bunter ging es nicht – als »Nonplusultra« titulierte? Oder verharrt er im Nachdenken über seine Geschäfte und bleibt stumm?
Überhaupt das Wort, dieser akustische Spiegel, in dem zu erscheinen man bänglich hofft, ist der allertückischste. Man traut ihm, anders als der Erscheinung im Spiegel, eben doch nicht. Auch der Spiegel der Worte verzerrt das Bild; er lässt es zu Satzfetzen zusammenschrumpfen, die meist wohlwollend sind und gerade deshalb nur Misstrauen provozieren. Sagt einer: »Sie sehen heut’ aber gut aus«, so weiß man – oder weiß nur ich es? –, dass ich an anderen Tagen nicht gut aussehe; warum sonst hätte das bessere Aussehen eigens bemerkt werden müssen! Sagt einer: »Das ist aber eine originelle Jacke«, höre ich heraus, dass ich sonst nur Kittel trage. Sagt meine Schulfreundin beim Klassentreffen nach vierzig Jahren: »Du hast einen knackigen Hintern«, dann denke ich: O Gott, was meint die wohl zu meinem Vorderteil, über das sie schweigt. Schwärmt ein Philosoph in Tübingen: »Wie froh bin ich, wieder einmal in ihre aquamarinblauen Augen zu sehen«, dann weiß ich, dass ein homosexueller Mann einer Frau gegenüber stets übertreibt und dass ein Philosoph mit der Poesie nur ironisch umspringt. Also: das Kompliment – auch das taugt nicht als verlässlicher Spiegel! In jedem Kompliment entdecke ich nichts als den Hohn auf die Bitte: Seht mich an! Zu angemessenem Lob für das Ideal, dem man zustrebt, wäre höchstens ein Petrarca fähig, mit einem Canzoniere voller Anbetung:
Ihr Lichter auserlesen:
Euch selbst zu sehn zwar bleibt euch vorenthalten:
Doch kehrt ihr euch zu mir, so könnt ihr lesen
Im Spiegel eines andern euer Wesen.
Wenn so vor euch zutage
Die göttlich-unglaubliche Schönheit läge,
Wie sie vor jenem liegt, den sie fast blendet:
Die Freude überwöge
Des Herzens Maß. (LXXI)