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Das Ideal

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ES war in Wien, etwa um 1970, in einem vornehmen und stimmungsvoll beleuchteten Restaurant. Da habe ich das Ideal erblickt, vor mir betrat es den Speisesaal. Eine junge Frau, schön auf jeden Fall, aber das war nicht wichtig, schlank; das war schon eher wichtig; in Seide gekleidet, das war sehr wichtig; elfenbeinfarben und lang das Gewand, das war der eigentliche Effekt. In solch melodiöser Farbe und weicher Stofflichkeit illuminierte die Gestalt das Lokal und stellte alles in den Schatten, was ihr folgte. Über dem Arm trug »das Ideal« – so hieß die Figur von nun an bei mir – einen Schal aus dem Stoff ihres Kleides. Den ließ sie über den Boden schleifen, eine Schleppe, die sie nachlässig trug – es war niederschmetternd.

Kurz nach meinem Aufenthalt in Wien besuchte ich das Kloster Hirsau in der Nähe von Calw. In diesem war ein Kindergarten untergebracht. Als ich in einem meiner knöchellangen Glockenröcke, altrosa mit weißen Punkten – etwas naiv, wenn er nicht auch noch ein wenig durchsichtig gewesen wäre –, durch das kleine Pförtchen schritt, das Gebäude und Garten von der Straße trennte, riss, als er mich sah, ein kleiner Junge die Augen auf, machte einen Luftsprung und rief: »Ui! Da kommt eine moderne Dame!« Diesen Ausruf habe ich in Wien nicht getan, auch nicht gedacht, aber erlebt: Wien war vom Moment der Begegnung an nur noch Dame für mich: aristokratisch und modern, nonchalant und modisch, stolz und noch dazu wirklich. Wien war Adel und Elfenbein.

Dieses Image stand Wien gut und hätte mich beglückt, wenn nur ich nicht gewesen wäre, dieses mir unbekannte Wesen, das sich selbst nicht sah und durch die Erscheinung zum Verschwinden gebracht worden war. Die zwei, ich und das »Ideal«, wir waren unvereinbar wie Schatten und Schimmer. Ich stand im Dunkel, die andere stand im Licht. Der soziale Unterschied ist unter Frauen ein ästhetischer; schon immer konnte eine Babette eine Marquise, eine Christiane eine Charlotte in den Schatten stellen. Ich gehörte in diesen Tagen in Wien ganz eindeutig zur ästhetischen Unterschicht.

Dieses Erlebnis – eine Erfahrung war es nicht, sonst wäre sie ins Selbstbild einzuordnen gewesen –, dieses Erlebnis war nicht neu für mich; früher hatte es Carola geheißen: Die große Blonde mit den braunen Stiefeln, diesem lauten Schuhzeug, das in den sechziger Jahren eine Novität war und mir so herrisch in den Ohren klang und das Selbstbewusstsein zerhämmerte.

Der Schrecken vor dem Auftritt der anderen Frau gehört zu den rites de passage des weiblichen Daseins. Ein Mädchen bewundert in früher Jugend, in der Pubertät viele Frauen; eine Zeitlang sind sie Stellvertreter des eigenen Ich. Diese Verehrten leben – meist – nur auf Papier oder Zelluloid. Erst wenn die Bewunderte ins Leben tritt, ist sie nicht mehr das Ich, das sich in ihr beschaut und genießt. Dann ist sie anders und wirklich die andere. Entweder wird sie Freundin und geliebt oder Konkurrentin und kaltes Licht. Dieses Licht ritzt alle Fehler, die man an sich fürchtet, als scharfe Linien ins Bewusstsein ein, so als gäbe es sie wirklich, und macht sie unauslöschlich. Es entsteht eine Art ästhetisches Schmerzgedächtnis, das von nun an Verletzungen wahrnimmt, wo keine sind. Den Mängelkatalog der Schönheit, der den Frauen von der Gesellschaft vorgehalten wird, zitieren sie von nun an manisch. Ich jedenfalls habe kaum je eine Frau getroffen, die nicht über die Fehler in ihrem Aussehen klagte. Eine Gewissenserforschung, ob sie nun in der Religion oder in der Schönheitsreligion stattfindet, entdeckt immer nur den Sünder, nie den Engel.

In Wien also hatte ich den Maßstab gefunden, an dem ich mich zu messen hatte; er war nun nicht mehr nur ein Bild auf Papier, er stand mitten im Raum. Auf keinen Fall ist man wie die andere, also ist man, so die pessimistische Logik der Selbsterkenntnis, da jene makellos, nichts als missraten. Immer und immer wieder geht man nun sein ästhetisches Sündenregister durch und findet keine einzige Verfehlung, die die Natur an einem Körper begehen kann, von der man loszusprechen wäre.

Bis das »Ideal« wirklich zur Konkurrentin wird, ist es ein weiter Weg. Er führt vom Bild zum Vorbild, vom reinen Anschauen, fast möchte ich sagen: Angaffen, zum Nachmachen und schließlich zur Konkurrenz und Abgrenzung. Es ist der Weg vom Schwarm zur Rivalin. Das Wissen von der eigenen Weiblichkeit, die Erfahrung dessen, was man in der Gesellschaft zu sein hat, die Einsicht in das, was die fünf Brüder einst meinten, wenn sie sagten: »Des ist mei’ Schwesterle« und mich »Mädle« riefen, erfuhr ich freilich zunächst nicht ästhetisch, sondern haptisch und symbiotisch durch die Mutter. Eine Mutter wird nie Bild und kann nie Vorbild werden für ihr Kind. Sie ist zu wenig Anschauung und zu viel Dasein, zu wenig Kleid und zu viel Körper. In ihm haust das Kind, auch wenn es neben ihm sitzt. Die blauen Augen sind nicht schön, in ihnen sonnt es sich, auch wenn sie einmal an ihm vorbeisehen.

Erst, wenn man nach außen und über die Familie hinausdenkt, begreift man sich als Mädchen. Als Familienmitglied ist man da und handelt. In der Welt draußen entdeckt man Wesen, die fremd sind, an ihnen erkennt man Gestalt und Kontur, die der anderen und die seiner selbst. In der Familie ist alles Charakter, in der Welt – zunächst – alles Gestalt.

Erst die fremde weibliche Gestalt liefert eine Anschauung zum Begriff Frau, der die gesellschaftliche Rolle erfasst: Die Frau ist keine Mutter mehr, ist nicht Fleisch, sondern Kleid, Haar, Gang, Stil, persönliche Note. Von der Mutter wird man gekleidet, die fremde Frau regt dazu an, sich selbst zu kleiden. Das Sehen der andern ist der Eintritt des Mädchens ins gesellschaftliche Dasein. Von nun an ist es nicht mehr Kind, von nun an spielt es eine Rolle.

Den ersten Schritt auf diesem Weg tat ich, als ich in der »Ebertsklinge«, einer Schlucht in der Nähe unserer Würzburger Wohnung, den Berg zum Main hinunterlief – Sportlerin, die ich war, begann ich mein Training in dieser Klinge mit einer Art Jogging avant la lettre – und wusste, dass hier ein Mädchen wohnte, so alt wie ich, mit schönem schwarzem Haar. Schön, schwarz, nichts sonst, so sagte jeder Laufschritt, und dann verdämmerte, schon während des Laufens, dies Bild. – Oder vielleicht doch nicht? Habe ich nicht später meine Haare schwarz gefärbt? Trotzdem war dies Mädchen kein Vorbild, es war ein Märchen, eine Imagination wie alle erzählten Figuren, die auftauchen und schon wieder verschwunden sind.

Kaiserin Elisabeth, keinesfalls aber Sissi, sie war es, die mir eindrucksvoll und unvergesslich als erste gezeigt hat, was eine Frau sei, eine Frau in der Welt, eine Frau von Welt. Nie hätte ich als die Schwimmerin mit dem kurzgeschnittenen Rattenkopf, der an den eines Sträflings erinnerte, mich mit dieser Majestät verglichen, in deren Haarpracht die Sterne funkelten. Aber sie blieb Bild, lebte höchstens im Buch, das ihr Leben beschrieb.

Ein Bild ist noch lange kein Vorbild. Ein Bild veranschaulicht eine Ahnung, bestenfalls einen Begriff – und hier begriff ich, meine Erfahrung in der Familie mit der neuen Anschauung kombinierend, was eine Frau zu sein hat: wenn Mutter, dann tragische Mutter, wenn Ehefrau, dann wider Willen, wenn Kaiserin, dann auf der Flucht. Unbeugsam auf jeden Fall. Die Schönheit als Widerstand gegen die Konvention. Und doch – wurde das Bild nicht gerade deshalb zum Vorbild? Denn der Minirock, in dem ich während und nach der Zeit der Studentenbewegung durch Frankfurt schritt und den ich auch beim Unterrichten im Gymnasium trug, war provokativ wie der stoffreiche Rock der Kaiserin, er war unerwartet kurz, wie ihr Kleid unerwartet lang und voluminös, er war hauteng wie der ihre weit und schwungvoll. Der preußische Gesandte, Graf Münster, der den Comment beherrschte und wissen musste, wie man mit einer Dame umgeht, beklagte sich über die Unhandlichkeit dieser Garderobe. Elisabeth sei, so schrieb er in einem Brief, in ihrem extravaganten Aufzug »sehr schwer zur Tafel zu führen gewesen«. Die kaiserlichste der Kaiserinnen wollte Kaiserin eben nicht sein: So war also doch das Bild zum Vorbild geworden? Die Demonstration, Frau zu sein, ohne Frau sein zu wollen, Kaiserin zu sein und die höfischen Rituale zu missachten, diesen Aufstand mag ich ihr abgeschaut haben.

Warum eigentlich brauchen Mädchen Bilder von Fürstinnen und Prinzessinnen, warum regen diese unwirklichen, ihrem Leben so fernstehenden Modelle, ihre Phantasie an, warum müssen sie diesen Umweg in die Höhe gehen, um zur Selbstgestaltung auf dem eigenen Niveau zu gelangen? Auch meine Freundin Helga, aus deren hochgebildetem Haus ich alle Anregungen für mein späteres kulturelles Leben bezog, suchte nach einem Königskind, das sie verehren konnte. Sie wählte sich die junge Queen und sammelte von ihr stapelweise Fotos. Die englische Königin galt ihr als eine »bildschöne Frau«, worin ich ihr allerdings nicht zustimmen konnte.

Diese Mädchenträume nehmen sich heute traurig aus, und sie wurden auch damals schon freundlich belächelt. Welche Kinderei, hinter Prinzessinnen und Königinnen herzudenken! Jedoch: wer sich in die Gesellschaft hinein entwickeln soll, wird sich immer, ob Mädchen oder Knabe, zuerst einmal hineinimaginieren. Ob Ritter oder Fürstin, ob Eroberer oder Verführerin, ob Gelehrter oder schöne Frau – der Heranwachsende begreift an diesen Bildern nichts als die gesellschaftliche Geltung, nichts als die Haltung. Es geht ihm nicht um Nachahmung oder gar Kopie, es geht um die Rolle an sich und für ihn. Den Inhalt der Rolle wird man sich charakter- und wunschgemäß selbst hinzuerfinden. Zunächst aber braucht es den Appell, das Stichwort für den Auftritt, und das ist immer, für junge Männer wie Frauen, ein Name. Dem ehrgeizigen jungen Mann eröffnet dies Stichwort, wenn es Hegel lautet oder Nietzsche, eine ganze Bibliothek, wenn es sich Einstein nennt, ein Forschungsinstitut, und einen Berufsweg, wenn er an Bismarck oder Adenauer denkt. Die Stichwortgeber für die Frauen waren, ob Fürstin oder Filmschauspielerin, in den fünfziger Jahren ohne Inhalt, sie waren Erscheinung, nichts sonst. Also habe ich mich der Erscheinung dargebracht, wie sich Jünglinge Hegel und Bismarck hingaben.

Ich habe auch ein Gesicht gesucht und fand es, seltsamerweise, in Maria Schell. Dutzende Male habe ich diesen Filmstar porträtiert, ganze Zeichenblöcke mit den knochigen Wangen, der Hochfrisur gefüllt – es irgendwann aber aufgegeben, weil der kantige und lange Kopf mir so gar nicht gestanden hätte und weil die Schauspielerin auch keine markante Haltung zeigte. Den letzten Vorschlag für eine Gestalt, ehe ich keine Vorschläge mehr brauchte, machte mir Sophia Loren. Ich habe diesen Entwurf lange akzeptiert, ja ich schätze ihn heute noch. Dies Bildnis hatte nicht mehr den lebensfernen Adel einer Kaiserin, wohl aber den aristokratischen Hochmut des Stars und die stolze Dreistigkeit der selbstbewussten Frau. Diese Tugenden darzustellen, brauchte es keine Staatsrobe, die Provokation ließ sich ebenso gut mit der zeitgemäßen Mode bewerkstelligen.

Von der Robe zur Mode – dies war der Weg, den ich genommen hatte, indem ich vom Bild zum Vorbild, vom reinen Anschauen zum Nachahmen überging. Eine Robe hätte es nie erlaubt, sich selbst eine Gestalt zu geben. Die Mode aber machte Angebote, die jeder ausprobieren durfte. Sie führte mitten ins Leben hinein, ins Modegeschäft nämlich, und zu dem, was die Gesellschaft als Stil, als Charakter anbot und schätzte. In den Geschäften begegnete man endlich auch den anderen, den wirklichen Frauen, den gleichaltrigen, gleichgesinnten, und erfuhr an und mit ihnen, dass dem Schein ein Sein entsprach.

An diesem Punkt musste in jener Epoche der beginnenden Jugendrevolte die Entscheidung über das Aussehen fallen. Es gab nur die Alternativen, die in Modegeschäften entschieden wurden: Unterwerfung unter das dortige Angebot – und das hieß politisch: unter den Konsum, den Kapitalismus – oder Überbietung desselben durch kombinatorischen Einfallsreichtum und schöpferischen Übermut. Eine Variation dieser letztgenannten Haltung war von ebensolcher politischer Relevanz: die Verachtung der Mode überhaupt. Die Feministinnen wählten diese Version, die Frauen des frühen SDS in Erlangen hingegen das Spiel mit der Mode, damit sie die rebellischen Männer, die sie als ihre Leitbilder mehr denn je bewunderten, nicht nur durch Diskussionsbeiträge, sondern auch durch ihr Aussehen beeindrucken konnten.

Die Städte, in denen ich einkaufte, Würzburg, Nürnberg, Frankfurt, Stuttgart, stehen mir, nur mir alleine freilich, für je einen Stil, der meinem Ideal, dem Gebot der Mode und dem Stand meines politischen Bewusstseins entsprach. Das Idol der großen Stoffmassen, der weiten Röcke und langen Haare, das mir Winterhalters Gemälde der österreichischen Kaiserin eingeprägt hatte, verwirklichte sich in Würzburg, wo meine bewusste Modekarriere begann. Ich wählte die Übertreibung, aber gerade in der Umkehr, indem ich in extrem schlanken Kleidern erschien, in einem Etui aus anschmiegsamem Jersey mit Tigermuster etwa und, damals eine Novität, mit Kapuze. Das war modisch auffällig, aber immerhin noch bürgerlich. In Nürnberg begann der Abschied vom einteiligen Kleid, auch die Frauenmode wurde zweigeteilt, zudem wurden die Röcke kurz und kürzer, zum Mini kamen die Hotpants. Als ich von Marburg zum Einkauf nach Frankfurt fuhr, war die Epoche der Plateausohlen angebrochen, und Lackleder wurde das erste leuchtende, bildschirmgrelle Material, das die Mode verwandte. Ich erstand also einen Lackmantel, ein weißes Lackkostüm. In Stuttgart beruhigte sich die modische Aufregung wieder, und übrig blieb die maskulinisierte Figur im Kostüm, sehr eng, oder im Herrenanzug.

Männer in ihren Pflichtkostümen – Uniform, Anzug, Sportswear, Freizeitkleidung – tun so, als stünden Sein und Schein im Widerspruch. Je mehr Sein, je entschiedener der Charakter, je höher der Verstand, desto weniger, so sagen sie, sei der Schein wichtig. Frauen, die sich für Kleider interessieren, nennen sie oberflächlich, heiraten wollen sie nur die schöne Seele. Diese Verachtung der Äußerlichkeit der Frau, ein versteckter Orientalismus, ist bis heute nicht ganz verschwunden und verschafft den Frauen noch immer ein Schuldgefühl ihrer modischen Vergnügungen wegen. Auch die europäische Frau soll keine Blicke auf sich lenken außer nachts, und da gehört sie dem Mann.

Die Angst vor dem Schein und seinem Erscheinen in der Frau zeigt nur, wie wichtig und wahr es ist: Das Wesen der Frau zeigt sich auf den ersten Blick; so wird es gesellschaftlich und tritt als ihre Potenz hervor. In jenen Epochen, da Frauen noch wenig Möglichkeiten hatten, sich auszudrücken, war das Kleid ihre erste Sprache. Mit ihm konnten sie sich – ihren Charakter, ihren Stil, ihren Wunsch, etwas zu sein – der Gesellschaft vor Augen führen. Anders als die Feministinnen es haben wollen, ist die Aufmerksamkeit der Frau auf ihr Aussehen keine Unterwerfung unter die Wünsche des Mannes, sondern eine erste Emanzipation von ihnen. Auch Männer haben eine Kleidersprache, doch ist diese simpel und geheimnislos. Die der Frauen ist kompliziert, sie hat einen reichen Wortschatz und ist deshalb für die, die nicht mit ihm spielen, für die Männer also, unverständlich.

Männer haben eine Kleidung en gros; sie tragen, was zu ihrem Stand und Beruf passt. Rangunterschiede in diesem Rahmen werden durch raffinierte Andeutungen markiert, durch die Qualität der Stoffe etwa, durch eine Nuance im Schnitt, durch das Leder der Schuhe, eine Krawatte, ein Einstecktuch. Die Frauen verstehen diese wenigen, allerdings sehr leisen Signale und wissen, wann sie einen feinen Herrn, wann einen armen Schlucker, wann sie beides in einem vor sich haben.

Die Aussagen, die Frauenkleider machen, sind hingegen schwer zu durchschauen. Männer verstehen meist nur das eine Signal: erotisch oder nicht erotisch. Die Nuancen, die mehr und anderes aussagen können, sieht vor allem die Frau und Freundin. Ein Mann im silbergrauen Anzug ist – oder war, denn diese Farbe ist Vergangenheit – ein Senior, eine Frau im silbergrauen engen Rock – was ist denn die? Dame oder Hure? Es könnte sogar noch komplizierter sein: Spielt die Dame Hure oder die Hure Dame? – Und Rosen, ob künstliche oder echte, an der Brust oder im Haar? Gibt sie die Naive, die Exhibitionistin, ist sie die schönheitstrunkene Narzisstin, oder ist sie Naturliebhaberin, die Blütenblatt und Haut kombiniert? Ist sie für Kitsch anfällig, da sie zu viel aufträgt, ist sie die Sentimentale? Oder Schuhe mit hohem Absatz: Werden sie getragen aus Pflichtgefühl (etwa eines Festaktes wegen), sind sie ein Mittel, die für Männer reizvolle Unbeholfenheit im schwankenden Gang zu unterstreichen, oder sind sie ein turnerisches Gerät, auf dem die Trägerin den stolzen Schritt trainiert, der durch die Straßen hallt? Die Vieldeutigkeit der Geste macht diese Sprache nur verständlich für die, die sie als Muttersprache gelernt haben. Für Männer bleibt sie eine Fremdsprache. Männer verhalten sich deshalb der Mode gegenüber, die an Frauen in Erscheinung tritt, wie man sich dem Fremden gegenüber eben verhält: bewundernd oder verachtend.

Und nun wieder das Ideal, an dem sich diese Sprache erprobt, ja von dem man sie gelernt hat. Je näher das Ideal rückt, je genauer man es kennt – oder zumindest sieht, denn das Ideal der Frau ist kein intellektuelles Ideal, sondern eines, das in Erscheinung tritt –, desto anstrengender wird es. Sophia Loren blieb immer noch Bild – der Filmstar, den viele bewunderten, war etwas anderes als dieser, mein eigener Entwurf von ihr. Neben Carola aber stand ich, und wir waren vergleichbar. Von außen gesehen waren wir ein Paar. Es gab Leute, die mir sagten, welch optische Überraschung es für sie gewesen sei, als sie uns beide gemeinsam die Treppe der Universität herunterkommen sahen: Blond und Schwarz in möglichst provokativer Aufmachung, gedoppeltes Selbstbewusstsein – nach außen hin. Ich hingegen sah nur Carola, und sie sah, vermutlich, nur mich. Ich sah ihre Überlegenheit, und was sah sie? Sich zu kleiden war für mich ein Schöpfungsakt, und also eine intellektuelle Anstrengung. Carola, die bessere Kombinationen erfand als ich – oder sahen sie nur besser bei ihr aus? –, war sie auch intelligenter als ich? Ihr Aussehen war keine Aufforderung zur Nachahmung, wie sie jedes Ideal und Idol aussprach. Eine Kopie wäre im Kreis der linken Studenten und ihrer Originalitätssucht undenkbar gewesen, Carolas Auftritt war ein Appell zur Perfektionierung des eigenen Stils.

Für den beruflichen Erfolg sind solche Anstrengungen nicht förderlich. Oder doch? Der Beruf als Studienrätin sollte für mich zur Mission werden, und jeder Missionar trägt ein Gewand, das ihn von der Menge, die im falschen Glauben verharrt, unterscheidet und durch das er seinen Glauben unverhohlen kundtut. Im bayerischen Schuldienst gab es viele Mängel, gegen die ich nun meinte, antreten zu müssen, und ein abweichender Kleiderstil sollte dies ankündigen. In der Tat wurde dies auch von allen Kollegen so verstanden. Lange bevor die Studentenbewegung die Ideen der Aufklärung in der marxistischen Version verkündete, habe ich mit allerlei Frechheiten, angefangen beim Kirchenaustritt bis hin zu meinem Aussehen, das Schulsystem in Frage gestellt. Dreimal wurde ich strafversetzt; das eine Mal, weil ich beim Morgengebet die Hände nicht faltete, dann weil ich Kindern linke Theorien anhing, und noch einmal, weil mein Rock zu kurz war.

Der Auftritt spielte damals unter Intellektuellen eine große Rolle, vielleicht sogar die wichtigste, und die heftigen Diskussionen in der Schule über meinen Aufzug bewiesen mir, dass dieser als politische Geste gut geplant war. Lehrern, Schülern, Eltern wurde so mit einem Blick offenbar, dass ich abweichende Ansichten hatte, einen anderen Lebensstil vertrat. Die armen unverheirateten Lehrerinnen, die einst mich als Schülerin im Gymnasium (einer reinen Mädchenschule) unterrichteten, hatten noch für ihre geistigen Ambitionen zu büßen gehabt. Sie wurden verspottet als »alte Jungfern« und waren dies wirklich im Aussehen wie im Denken. Die intelligente Frau sollte in den frühen Epochen der Emanzipation keinen Mann haben. Zunächst wurde überhaupt keine Frau, die studiert hatte und noch dazu einen Beruf ausübte, geheiratet; Volksschullehrerinnen, so hieß das, »blieben sitzen«. Die Frauen, die herablassend von ihnen sprachen, taten es mit dem befriedigenden Gefühl, dass Intelligenz bei einer Frau Hybris sei und sie zur Einsamkeit verdamme. In vorauseilendem Gehorsam hatten denn auch Berufstätige ihr Äußeres so unscheinbar gestaltet wie möglich, nur um das Gerede zu bestätigen, sie seien wegen ihrer Reizlosigkeit nicht geheiratet worden und müssten deswegen durch eine Berufstätigkeit ihren Unterhalt sichern. (Wenn ich damals, als Studienrätin, meine Mutter besuchte, war ihre stehende Frage: »Musst du denn arbeiten? Du hast doch einen Mann, der gut verdient!« Für sie konnte eine Frau, die arbeiten »musste«, vom Schicksal nur benachteiligt sein.)

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es schon unter den Volksschullehrerinnen die eine oder andere, die einen Mutigen fand, der sich ihr gewachsen fühlte und sie heiratete. Studienrätinnen aber waren in meiner Schulzeit noch alle unverheiratet, man hätte es fast unanständig gefunden, wenn sie einen Mann gehabt hätten. Als ich selbst Lehrerin wurde, waren hingegen alle Kolleginnen bereits verheiratet – die jedoch, die eine Stelle an der Universität anstrebten, mussten noch immer mit Ehelosigkeit rechnen, und sie hatten auch durch ein möglichst unerfreuliches, ja unfrauliches Aussehen zuzugeben, dass ihre soziale Einsamkeit zu Recht bestand. Der Geist konnte unmöglich eine weibliche Gestalt haben. Lehrende Frauen sollten fleißige Bienchen sein und nicht einmal so hübsch wie diese.

Die Angst des Mannes vor der attraktiven Klugen haben erst die Studenten der Achtundsechziger überwunden. Die bürgerliche Schönheit gab es freilich immer schon, an wen sonst hätte Dior seine Kreationen verkauft, aber sie durfte nicht denken. Die Gattin des reichen und erfolgreichen Mannes war gut gekleidet und so schmuck, wie eben ein Geschenkpaket auszusehen hatte, denn das war sie für ihren Mann. Die Frau aber, die sich selbst entwarf und selbst bezahlte, die das begann, was heute jede junge Frau praktiziert, die ihre Kleider aus Vorschlägen zusammenstellt, diese Schöpferin der eigenen Erscheinung wurde erst von der Studentenbewegung hervorgebracht und sogar von ihren männlichen Kommilitonen besonders geschätzt.

Mode, an sich schon und aller männlichen Verachtung zum Trotz, eine vergnügliche Beschäftigung, wurde nun auch noch zu einer befriedigenden, weil der neueste »Look« sich immer sogleich mit dem verband, was der Geist an revolutionären Neuigkeiten vertrat. Die Mode trug dazu bei, dass diese öffentlich in Erscheinung traten. Auffällige Frauen wurden von den linken Studenten wie Fahnen vor sich hergetragen. Die Schönheit hatte sich der Revolte verbündet; schön sein zu wollen, das war keine unterwürfige Werbung um den Mann, sondern das Design neuer Ideen. So waren denn auch Carolas forscher Schritt notwendig und meine Kombinierlust gerechtfertigt als Ankündigung des Umdenkens, das von der Gesellschaft gefordert wurde.

Von nun an war Mode für mich eine Leistung, jeder Schritt auf die Straße erforderte Standhaftigkeit. Die Frage, die jede anständige Frau an sich zu richten hatte, wenn sie in die Öffentlichkeit ging: »Kann ich das tragen, falle ich nicht zu sehr auf?«, durfte überhaupt nicht aufkommen – man wäre ein Feigling gewesen und hätte Verrat am fortschrittlichen Geist begangen. Jeder Auftritt musste eine Mutprobe sein, sonst wäre er nicht berechtigt gewesen. Nie habe ich revolutionäre Taten vollbracht, nie war ich ein Held, außer wenn ich auf die Straße trat, und das hatte ich nicht nur den umstürzlerischen Ideen der Männer, sondern auch meinen weiblichen Idealen, Bildern, Vorbildern und Freundinnen zu danken, die sich in der Sprache der Mode verständigten.

Alle meine Kleider

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