Читать книгу Der Sonderermittler - Hans Becker - Страница 5
ОглавлениеAb 1948
Als ich nun 1948 von dieser Schule entlassen wurde, fuhr ich wieder zu meiner Mutter. Sie wohnte noch immer im Hallenser Stadtteil Silberhöhe. Ich spielte nun wieder mit den anderen Jugendlichen, wir waren nun bereits 14 Jahre alt, auf dem kleinen Sportplatz mit den vielen Pappeln.
Die zerstörte Flakstellung war noch da und so gingen wir oft dorthin. Nun schon etwas älter, waren wir neugieriger als vier Jahre zuvor. Wir suchten überall herum und fanden auch Verschiedenes. Am verlockendsten waren alte Pistolen, Gasmasken und irgendwelche alten Bekleidungsreste. Jeder von uns hatte irgendetwas mitgenommen. Ich war stolz auf meine Pistole, allerdings hatte ich nie ausprobiert, ob sie noch schießen konnte. Sie hätte auch eine Wende zum Schlimmen für mich werden können.
Nachdem mein Stiefvater, der sich immer sehr um mich gekümmert hatte, mir 1950 eine Lehrstelle in der Waggonfabrik in unserer Stadt besorgt hatte, lief ich nun täglich mit den anderen Lehrlingen auf einem Trampelpfad über einen großen Acker zu diesem Betrieb. Meine Pistole hatte ich immer dabei. Und legte sie im Werk in meinen Schrank. Über diese Dummheit habe ich mir damals keine Gedanken gemacht.
Erst später, als Kriminalist, erfuhr ich etwas von den »Werwölfen« und dass sie, wenn sie erwischt wurden, in Straflager in die Sowjetunion abtransportiert wurden. Mir läuft es heute noch eiskalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, durch welchen Zufall ich einem furchtbaren Schicksal entgangen bin. Aber so war das damals: Die Verlockungen für uns waren groß und niemand hat uns kontrolliert. Dass ich mit meiner Pistole nicht als »Werwolf« entdeckt wurde, ist für mich noch heute der größte Glücksfall meines Lebens.
Damals, ich lernte von 1950 bis 1952, war die Waggonfabrik ein großes Werk mit Tausenden Erwachsenen und etwa 200 Lehrlingen. Man konnte Schlosser, Tischler, Polsterer, Schmied lernen, eben alles, was ein Werk benötigte, das Schnellzugwaggons baute. Jeder Waggon war über 20 Meter lang, hatte gepolsterte Sitze in den Kabinen, die zu Schlafgelegenheiten umgebaut werden konnten, sowie eine kleine Küche und einen Dienstraum für das Personal. Wir bauten damals zwei Waggons pro Woche, später sogar fünf Waggons täglich. Die meisten wurden in die Sowjetunion und auch nach China exportiert. In das Werk kamen auch Lastkraftwagen mit einer geschlossenen Ladefläche, auf die dann Werkzeugmaschinen wie Hobelbänke, Drehbänke, Schweißgeräte und anderes aufgebaut wurden. An die Zahl dieser Werkstattwagen habe ich keine Erinnerung, da ich schon als Lehrling, aber auch nach der Gesellenprüfung beim Bau der Schnellzugwaggons eingesetzt wurde. Nach der Wende erfuhr ich, dass unser Werk damals der weltgrößte Hersteller solcher Weitstreckenwaggons war.
Das Werk hatte nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch ein großes Klubhaus mit Großküche, Speisesaal, Tischtennisplatten, Tanzsaal und Billardraum. Auch existierte ein Fanfarenzug mit etwa vierzig Akteuren, eine Fußball- und eine Handballmannschaft, in der ich als Torwart spielte.
Nach der Wende wurde das Werk abgewickelt, wie es hieß, das Klubhaus abgerissen und eine kleine Stadt, die einst mit und von diesem Werk gelebt hatte, blieb mit der üblichen Arbeitslosenrate zurück. Die verkündeten »blühenden Landschaften« waren damals in meiner Heimatstadt Ammendorf nicht angekommen.
In unserer Handballmannschaft gab es auch werksfremde Spieler, und eines Tages sprach mich einer von diesen Sportkameraden an und stellte sich als Angehöriger der Kriminalpolizei von Halle vor. Er meinte: »Wir brauchen solche Männer wie dich, komm doch mal zu einem Vorstellungsgespräch«. Und da er mich löcherte, ging ich eines Tages mit ihm dorthin.
So nahm ich im Herbst 1952 bei der Kriminalpolizei in Halle an einem Vorstellungsgespräch teil. Mir wurde zunächst ein längerer Vortrag über die Notwendigkeit der Arbeit in der Kriminalpolizei gehalten, und schließlich willigte ich zu einem Probedurchgang von sechs Monaten als Praktikant ein. Ich durchlief die Arbeitsgruppen Einbruch, Sitte, Verkehrsunfälle, Leben und Gesundheit sowie Allgemeines. Nach sechs Monaten wurde ich für tauglich befunden und trat am 1. Juni 1953 im Präsidium Halle, wie es damals hieß, meinen Dienst als Angehöriger der Kriminalpolizei an.
Leiter der Abteilung war Major Hausmann. Er war ein ruhiger, väterlicher Vorgesetzter. Sein Stellvertreter war Hauptmann Apelt. Beide waren in ihrem Handeln gute Vorbilder für einen jungen Kriminalisten. Ich wurde Oberleutnant Hackemesser zugeteilt. Er war in den nächsten Jahren mein Vorgesetzter und führte mich in die Kriminalistik ein. Er weckte auch die Neugier in mir, ohne die ein guter Kriminalist nicht erfolgreich sein kann. Damals war ich der Jüngste in der Abteilung.
Die Tätigkeit als Kriminalist war ungleich schwerer als die Arbeit in der Waggonfabrik. Endlose Überstunden, und sonnabends und sonntags zu arbeiten, war normal. Wollte ich auf einem Aktenbestand von etwa 20 Vorgängen bleiben, musste ich neben der Ermittlungsarbeit täglich zwei Schlussberichte schreiben, da der Arbeitsgruppenleiter jeden Tag neue Vorgänge brachte und mit wenigen Worten auf den Tisch legte.
1954 heiratete ich meine Sissi. Amtlich Sigrid, nannten sie ihre Eltern »Sissi«, und so habe ich nicht nur ihre Tochter übernommen, sondern auch den Kosenamen. Bis zu ihrem Tod 2017, nach langer schwerer Krankheit, war sie meine Frau, und auch das Pflegepersonal des Heimes, wo sie lange Jahre ans Bett gefesselt lebte, nannte sie so; ich war jeden Nachmittag bei ihr. Unser Sohn Udo war bereits 2009 gestorben.
Als wir am 23. Oktober 1954 heirateten, wohnte ich bei ihren Eltern und schlief auf dem Sofa. Wir hatten ein herzliches Verhältnis zueinander. Die Wohnung befand sich in einem Haus aus den dreißiger Jahren und bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Toilette. Es waren kleine Räume, und jeweils drei Mietparteien hatten im Keller ein gemeinsames Badezimmer mit Kohleofen.
Sissi arbeitete als Feinmechanikerin in den Chemischen Werken Buna, wo sie diesen Beruf auch erlernt hatte.
Es war schwer, eine eigene Wohnung zu bekommen. Aber in den Chemischen Werken Buna wurde 1954 eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) gegründet, in welcher jeder im Werk Beschäftigte eintreten konnte. Es gab Standorte, also Baugebiete in Halle, Schkopau und Merseburg. Es konnte sich jeder für »seine« Wohnung eintragen lassen, also nicht schlechthin für eine Wohnung. Dafür musste er eine von der Mitgliederversammlung beschlossene Geldsumme einzahlen und eine festgelegte Zahl von Arbeitsstunden leisten. Diese Leistungen waren abhängig von der Wohnungsgröße und von der Lage der Wohnung im Gebäude. Es kam nicht auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit an, man konnte auch dort anfangen zu arbeiten und sich am nächsten Tag bei der AWG anmelden.
Jede Wohnung hatte einen Balkon, ein Badezimmer mit Kohleofen und Toilette, im Wohnzimmer Parkettfußboden, im Kinderzimmer und im Wohnzimmer einen Kachelofen. Es waren herrliche Wohnungen, und da alle im Werk beschäftigt waren, kannte man sich in der AWG auch untereinander.
Wir mussten für unsere Wunschwohnung – drei Zimmer, Küche und Bad – 2.500 Mark einzahlen und 250 Arbeitsstunden leisten: beim Ausschachten von Fundamenten oder beim Abladen von Materialien. Alle benötigten Materialien wurden vom Werk geliefert, auch die Baubrigaden und der Bauleiter kamen aus dem Werk. Unser Vorstand Reinhold Voigt war der unermüdliche Motor auf der Baustelle »Am Rosengarten«, es handelte sich um die Jahre 1954 bis 1957. Wir kannten ein Paar, die Modelleisenbahner waren und sich für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen ließen, obwohl sie keine Kinder hatten. Gegenüber unserer Wohnung hatte sich eine Familie für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen lassen, weil sie Platz für zwei große Hunde benötigte. Das waren Chow-Chow, und aus deren Wolle wurden Pullover gestrickt. Alles war nur eine Frage des Geldes und der zu leistenden Arbeitsstunden.
Für die meisten war die zu zahlende Geldsumme kein Problem, Jeder hatte Arbeit, auch die meisten Ehefrauen arbeiteten im Werk, und damals galt das Gesetz: »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Auch die zu leistenden Arbeitsstunden waren meistens kein Problem, da viele im Drei-Schicht-System arbeiteten und so immer planbare Zeit hatten. Die Angestellten der Verwaltung hatten es noch besser.
Bei Sissi und mir war das Geld auch erschwinglich, obwohl ich nur 560 Mark als Kriminalmeister bekam. Unser Problem allerdings waren die Arbeitsstunden: Ich kam aufgrund der vielen Überstunden immer erst spät und dann auch noch im Dunklen in der Wohnung der Schwiegereltern an. Und so war die zu leistende Arbeit für uns ein echtes Problem, sie konnten auch nicht mit Geld abgegolten werden. Eines Tages kam Sissi aus dem Werk nach Hause und erzählte, dass ihre Brigade für uns Arbeitsstunden leisten würde. Und tatsächlich kamen am Samstag und Sonntag acht bis zehn Männer ihrer Brigade unter Leitung des damals sechzigjährigen Obermeisters Knauthe und leisteten für uns Arbeitsstunden. Ich war wie immer mit Überstunden im Dienst unabkömmlich, und so konnten wir uns nur dadurch bedanken, dass Sissi Bratwürste grillte. Uns war meine Abwesenheit sehr unangenehm, aber alle hatten Verständnis für meine Situation. Damals half jeder jedem.
Am 1. Oktober 1957 erhielten wir unsere Wohnung in der Bunasiedlung »Rosengarten«. Die Freude war groß. Schon die Übergabe der leeren Wohnung feierten wir gemeinsam mit den neuen Bewohnern unseres Wohnblockes in der Emil-Fischer-Straße. In der AWG trugen alle Straßen Namen von bedeutenden Chemikern.
In dieser Wohnung wohnten wir bis zu unserem Umzug nach Berlin. In Berlin erhielten wir auch eine Neubauwohnung in der Höchste Straße im Stadtzentrum. Die Wohnung war räumlich größer, aber ich erinnere mich auch heute noch gern an unsere Wohnung in der AWG, an die Jahre des Baues und des Zusammenlebens.
Fast hätte ich vergessen, dass es in dieser AWG ein Klubhaus gab. Natürlich mit Getränkeausschank in den Abendstunden und einem kleinen Imbissangebot. Dort konnten auch Zusammenkünfte bei Familienfeiern abgehalten werden. Das Tollste aber war der Waschsalon im Keller des Gebäudes: Dort standen elektrische Waschmaschinen. Jedes Mitglied der AWG konnte sich dort für die Benutzung einer Waschmaschine einen Termin geben lassen, ging dann mit seiner Schmutzwäsche dorthin, wusch und trocknete sie und ging dann nach zweieinhalb Stunden mit der trockenen Wäsche unterm Arm wieder in seine Wohnung. Heute mag das alles nach Mittelalter klingen, aber für die damalige Zeit war es eine ungeheure Erleichterung. Wir zahlten 38,00 Mark monatlich an Miete.
Später hatten wir eine Waschmaschine in der Wohnung und eine Wäscheschleuder. Diese stand auf einem luftgefüllten Gummiring und das Wasser lief unten heraus. Man trocknete dann die Wäsche im Bad mit Standtrocknern, wie sie auch heute noch gebräuchlich sind oder hatte sich nach eigener Erfindung Wäscheleinen im Bad gespannt. Das war bei uns auch noch so, nachdem wir im Herbst 1969 in unsere Berliner Wohnung umgezogen waren.